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3. Berliner Pflegekongress 08. November 2016 Workshop 5: Sucht im Alter Prof. Dr. Gerd Glaeske Universität Bremen, SOCIUM, vormals Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) Kein Interessenskonflikt im Sinne der Uniform Requirements for Manuscripts submitted to Biomedical Journals der ICMJE

Workshop 5: Sucht im Alter - berliner-pflegekonferenz.de · Welche Probleme bringt die Demographie? Die Prävalenz wird in vielen altersassoziierten, v.a. aber altersbe-dingten chronischen

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3. Berliner Pflegekongress

08. November 2016

Workshop 5: Sucht im Alter

Prof. Dr. Gerd Glaeske Universität Bremen, SOCIUM, vormals Zentrum für Sozialpolitik (ZeS)

Kein Interessenskonflikt im Sinne der Uniform Requirements for Manuscripts

submitted to Biomedical Journals der ICMJE

Daten und Fakten zum demografischen Wandel

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Welche Probleme bringt die Demographie?

Die Prävalenz wird in vielen altersassoziierten, v.a. aber altersbe-dingten chronischen Krankheiten ansteigen

Hiervon sind psychische (z.B. Depression, Abhängigkeitserkrankun-gengen), neurodegenerative (v.a. Alzheimer Demenz) oder auch somatische Krankheiten (KHK, Diabetes) besonders betroffen

Die Medizin ist auf den Umgang solchen Chronischen Krankheiten und Multimorbidität (50% >65 haben >2 Krankheiten) noch schlecht vorbereitet – zu wenig Kooperation, oft auch Qualifika-tion von Ärztinnen und Ärzten

Neue Versorgungskonzepte – multimorbiditätsorientierte Leit-linien, geriatrisch ausgerichteter Forschung, auch in der Arzneimit-telthera-pie, und Professionenmix statt schneller „Pillenlösungen“ Cave: UAW, Interkationen, Abhängigkeit.

Sozialschichtsbedingte Krankheitshäufigkeiten (SVR, 2009)

Tabelle 1.1: Übersicht über empirische Ergebnisse zum statistischen Zusammenhang von SES und Morbidität

(Quelle: Eigene Darstellung SVR)

Zusammenhang von SES und Morbidität Zusammenhang von SES und

Morbidität

Überproportional hohe Morbidität bei

einem niedrigen SES

Überproportional hohe Morbidität

bei einem hohen SES

Allgemeiner Gesundheitszustand bei Kindern und

Jugendlichen

Allgemeiner Gesundheitszustand bei Erwachsenen

Herz-Kreislauf-Krankheiten

Diabetes mellitus

Magen-/Darmkrebs, Lungenkrebs, Nieren-/

Blasenkrebs, Leukämie und maligne Lymphome

Krankheiten des Magens

Zahngesundheit

evtl. Bronchitis (bei Erwachsenen)

Bandscheibenschäden, rheumatische Krankheiten,

Gicht Unfälle (bei Kindern)

psychische Morbidität

Multimorbidität

Allergien (bei Kindern und

Erwachsenen)

‚Pseudokrupp‘ (bei Kindern)

evtl. Bronchitis (bei Kindern)

Einige Hautkrankheiten z. B.,

Neurodermitis (bei Kindern)

eingeschränktes Sehvermögen

(Kurz-, Weitsichtigkeit).

Arme sterben früher: Der Ärztetag bezeichnete

dies als „Schande“ (SZ 31. Mai 2013)

Die Abhängigkeiten in D im Überblick (DHS 2015)

Statistiken geben folgende Auskunft: Tabak / Nikotin ca. 5 – 6 Mio Alkohol ca. 1,5 Mio. Illegale Drogen (v.a. Cannabis) ca. 220 Tsd.

Medikamente (v.a. Hypnotika, Tranquilizer, Opioide) ca. 1,5 – 1,9 Mio.

Die Medikamentenabhängigkeit wird am wenigsten in der Öffentlichkeit diskutiert und problematisiert – warum? - Experten (ÄrztInnen, ApothekerInnen) sind in den meisten Fällen daran beteiligt - Medikamente haben ein positives und „sauberes“ Image - Wir alle sind an die Einnahme von Medikamenten gewöhnt (verordnet oder selbstgekauft)

Und was bedeuten diese Zahlen?

Mit zunehmendem Alter sinkt der Alkoholkonsum der Menschen, dafür steigt der Missbrauch und die Abhängigkeit von psychoaktiven Medikamenten

Der Alkoholkonsum fällt deutlich niedriger aus: 2-3% der älteren Männer und 0,5-1% der älteren Frauen über 60 trinken (viel) zu viel (ca. 400.000) (Missbrauch/Abhängigkeit)

Ältere Frauen trinken deutlich seltener zu viel Alkohol als ältere Männer, dafür besteht bei Frauen sehr viel häufiger eine Medikamentenabhängigkeit

Ein problematischer Medikamentenkonsum wird bei 8 – 13% der über 60jährigen gesehen (1,7 – 2,8 Mio. Menschen), überwiegend Frauen, z.T. in Dauermedikation

Und die Mengen- und Altersverteilung (DHS 2015) ?

Reinalkohol: Pro Kopf der Bevölkerung: 12,9 Liter (Max. 16,6 CZ, Min. NL 9,7, I 9,6, N 8,3, Türkei 3,6)

Prävalenz riskanter Konsum nach Geschlecht und soz. Status > 65 Jahre: Hoch ♂ 17,2%♀7,6% (Durchschnitt 26,2/8,7), Mittel ♂ 24,9%♀8,1% (Durchschnitt 32,8/11,3), Niedrig: ♂ 21,0%♀6,3% (Durchschnitt 31,5/10,7)

Auch die aus dem Krankenhaus entlassenen Patienten mit z.B. akuten Intoxikationen durch Alkohol sind bei den > 65jährigen am niedrigsten (am höchsten im Alter 10-20 Jahren)

Anteil Raucher und Raucherinnen: Ab 60 z.T. deutlich niedriger als z.B. bei den 20 bis 59 (30-39: ♂40,7%♀27,8%, ab 70 ♂ 9,8% ♀5,2%

Übrigens: Tabaksteuern 14,3 Mrd. € (2014), Alkohol 3,2 Mrd. € (2013)

Gründe, Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Der Konsum von psychotropen Substanzen (Mittel, die zumeist euphori-sierend auf unser Gehirn wirken) ist eine Form von (Stress)Bewältigung (Lazarus-Modell)

Stress entsteht durch Über- und Unterforderung, aber auch durch Belastungen, Probleme und Ängste im Alltag

Entwertung im Alter, das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, am Rand der Gesellschaft zu stehen, (Zukunfts)-Ängste vor Altersarmut und Einsamkeit führen zu Unzufriedenheit, Sorgen, Schlafstörungen und depressiven Gedanken

Der Umgang mit solchen Problemen und die Vorbereitung auf das Altern und das Alter gelingt längst nicht allen Menschen, Bewältigungsstrate-gien wurden oft nicht gelernt und gelehrt

Substanzbasierte Bewältigung bleibt dann als „resignative Autograti-fikation“ – Selbstbelohnung in Aussichtslosigkeit!

Gründe, Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Über den Alkohol- und Tabakkonsum wird selbst entschieden, die Mittel werden überall angeboten, sind breit verfügbar gesellschaft-lich akzeptiert und legitimiert (Tankstellen, Automaten…)

„Der Tag geht und Johnny Walker kommt!“ „Wenn einem Gutes widerfährt, das ist schon einen Asbach uralt wert.“

Alkohol und Tabak selbstentschieden, auch über Grenzen und Missbrauch, der zur Abhängigkeit werden kann

Arzneimittel sind dagegen expertenlegitimiert – ÄrztInnen verord-nen, ApothekerInnen verkaufen – die Mittel sollen indikations-gerecht und bestimmungsgemäß angewendet werden.

Arzneimittel werden zugelassen, die Risiko-Nutzen-Abschätzung muss positiv ausfallen, die Mittel werden zur Behandlung oder Vorbeugung von Krankheiten eingesetzt

An Schlafstörungen leiden mehr Frauen als Männer…

…und darum bekommen sie auch häufiger Schlafmittel und Beruhigungsmittel (Tranquilizer) vom Benzodiazepin-Typ oder Z-Drugs („Benzos“, Zolpidem und Zopiclon)

Diese Mittel haben ein bekanntes Abhängigkeitspotenzial und bestimmen schon seit Jahrzehnten die Häufigkeit der Arzneimittelabhängigkeit (ca.3/4), daneben v.a. stark wirkende Schmerzmittel,

Die noch immer häufigen Verordnungen von Benzos und Z-Drugs haben dazu geführt, dass 2/3 von 1,2 – 1,5 Mio. Arzneimittelabhängigen insbesondere ältere Frauen sind

Die Geschichte dieser Mittel ist von Fehlinformationen der ersten Hersteller begleitet, die dieses Risiko verschwiegen haben, v.a. Hoffmann LaRoche.

Die „Benzos“ – ein kleiner Rückblick…

1960 kam Librium, 1963 Valium auf den Markt (Hoffmann LaRoche), Mittel dieses Typs sind auch heute noch unverzichtbar (z.B. bei Krämpfen, Angst-/Panikattacken, pre-operativ, akute Schlafprobleme)

Die Firma hatte bereits 1961 Kenntnisse von Absetzerscheinungen und Abhängigkeitspotenzial – diese Information wurden zugunsten von Absatz und Profit verschwiegen

Die gute Verträglichkeit der Mittel führte nach den vorher angebo-tenen problematischen Barbitursäure-haltigen Mittel (z.B. Veronal) zu einem schnellen Markterfolg.

1973 wurde diese gravierende unerwünschte Wirkung den ÄrztInnen in den USA mitgeteilt, erst 1984 den deutschen.

Begrenzung der Anwendungsdauer auf 8 – 14 Tage, ansonsten Verordnungen zur Entzugsvermeidung bei low-dose-dependency“

„.bei fortgesetzter Einnahme Gefahr der Abhängigkeit (Sucht)“

Die 15 meistverkauften Tranquilizer nach Packungen 2015

(nach IMS Health 2014)

Rang Präparat Wirkstoff Absatz

2015

in Tsd.

Missbrauchs-/

Abhängigkeitspotenzial

1 Diazepam ratiopharm Diazepam 1.317,8 +++

2 Tavor Lorazepam 1.249,9 +++

3 Lorazepam ratiopharm Lorazepam 856,3 +++

4 Oxazepam ratiopharm Oxazepam 645,9 +++

5 Bromazanil Hexal Bromazepam 603,6 +++

6 Adumbran Oxazepam 393,2 +++

7 Lorazepam neuraxpharm Lorazepam 355,0 +++

8 Bromazep CT Bromazepam 320,1 +++

9 Oxazepam Al Oxazepam 260,0 +++

10 Lorazepam Dura Lorazepam 256,5 +++

11 Tranxilium Dikaliumclorazepat 178,6 +++

12 Lexotanil 6 Bromazepam 175,9 +++

13 Diazepam Stada Diazepam 168,1 +++

14 Normoc Bromazepam 159,6 +++

15 Faustan Diazepam 155,9 +++

Die 20 meistverkauften Schlafmittel nach Packg. 2014 (Gesamt ca. 28 Mio.Packg)

Rang

Präparat OTC-ohne Rezept Wirkstoff Absatz 2014

in Tsd.

Missbrauchs-/

Abhängigkeitspotenzial

1 Hoggar N (OTC) Doxylamin 2.097,5 Eher nicht*)

2 Zopiclon CT Zopiclon 1.172,7 +++

3 Vivinox Sleep (OTC) Diphenhydramin 1.157,5 Eher nicht*)

4 Zolpidem ratiopharm Zolpidem 1.142,9 +++

5 Zopiclon AL Zopiclon 810,8 +++

6 Zolpidem AL Zolpidem 752,3 +++

7 Zopiclon ratiopharm Zopiclon 677,2 +++

8 Zopiclon AbZ Zopiclon 668,9 +++

9 Schlafsterne (OTC) Doxylamin 663,4 Eher nicht*)

10 Zolpidem 1A Pharma Zolpidem 561,0 +++

11 Lendormin Brotizolam 456,1 +++

12 Betadorm D (OTC) Diphenhydramin 451,8 Eher nicht*)

13 Zolpidem Stada Zolpidem 436,2 +++

14 Stilnox Zolpidem 420,1 +++

15 Zolpidem Neuraxpharm Zolpidem 393,9 +++

16 Zopiclon Stada Zopiclon 385,4 +++

17 Flunitrazepam ratiopharm Flunitrazepam 275,8 +++

18 Zopiclon Hexal Zopiclon 274,7 +++

19 Zopiclodura Zopiclon 263,6 +++

20 Rohypnol Flunitrazepam 242,2 +++ *) Missbrauch nur in hoher Dosierung über längere Zeit

Verteilung aller Benzodiazepine und Z-Drugs nach Alter und Geschlecht (GEK, 2010)

Etwa 2% sind

abhängig von

diesen Mitteln –

rd. 1,5 Mio. in D

Regionale Unterschiede: Z-Drugs

Anteil Packungen Privatrezepte bei Zolpidem 2008 (grau), Bundesdurchschnitt: 50%

Medikamenteneinnahme letzte 12 Monate bis 64jährige (in%) – und die Älteren?

Da fängt es erst „richtig“ an! Tabuzone? (Kraus et al., 2014)

Kein Geld für Forschung bei Älteren? 18 - 39 40 - 64

„Benzos“ – die Mittel für Frauen im „Gefängnis Haushalt“

1966

Warum vor allem Frauen?

Probleme Schlafstörungen, Entwertung im Alter, Einsamkeit, Unzufriedenheit, Ängste und depressive Verstimmungen – aber: „Pharmawatte“ ist keine Bewältigungsstrategie

Frauen im Alter um die 50: „Empty-Nest-Syndrom“, Kinder aus dem Haus, Zweifel an der eigenen Wertigkeit, psychi- sche Belastungen

Frauen äußern viel stärker als Männer solche Gefühle Ärzten gegenüber, die Reaktion ist oft und zu schnell die Verordnung von Benzodiazepinen (oder Antidepressiva)

„Nicht Scheinlösung für Probleme, sondern Lösung für Scheinprobleme.“

„Die Tablette ist für mich wie ein Freund.“ Lehrerin, die jeden Tag nach der Schule ein „Benzo“ nimmt, „….mit einem Tee.“

„Omas kleine schlimme Helfer“ (H. Grassegger, SZ Magazin 42/2012)

Ein Gedicht zum Thema von Eva Strittmatter (1930 – 2011)

Verzweiflung I (1975)

Meine Verzweiflung ist mir lieber Als die Verzückung aus der Tablette. Jeder sein eigener Stimmungsverschieber! Wir legen uns chemisch an die Kette Und trachten uns pharmazeutisch zu ändern.

Wir suchen Sanftmut bei Radepur (Librium) Und bei Faustan (Valium), den Ungücksabwendern, Den Stützen von Intellekt und Kultur.

Gelingt es uns nicht, uns selber zu fassen, So hilft uns ein winziges giftiges Ding, Vorübergehend von uns abzulassen, Und Weltprobleme werden gering.

Es ist schwer, sich abseits zu stellen Und sich als Eigenprodukt zu verstehn Und ohne Verzweiflung in sich die Quellen Von Glück und Unglück springen zu sehn.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

Kontakt

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