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Wieviel ist genug?

Wieviel ist genug? Laun

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Eine Frage an über 1.000 Menschen in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft Wieviel ist genug? Eine einfache Frage, die viele Antworten erlaubt: persönliche, ironische, humorvolle, philosophische, biologische, ökonomische, religiöse und so weiter und so fort. Wieviel ist genug? kann also zu den universalen Fragen des Menschseins gezählt werden.

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„Wieviel ist genug?“ Gegenfrage: Wovon ist die Rede? Die Fragesteller meinen die Wirtschaft, den Gewinn, das Wachstum, und da könnte ein Bischof sagen: „Nicht meine Baustelle!“ Vielleicht kann er aber doch einen Weg finden, wenn man eine evidente, von allen Menschen anerkannte Antwort voraussetzt: „Endlos kann es nicht gehen. Nicht mit den Ressourcen, die nötig sind zur Pro-duktion, und nicht mit den verkauften Waren und daher auch nicht mit der Steigerung der Gewinne.“ Das leuch-tet ein, ist „evident“. Aber dann könnte man die Achsel zucken und hinzufügen: Planen und verordnen kann man das „Genug“ nicht, es wird sich ergeben – früher oder besser noch später, wenn wir keine Verantwortung mehr haben, weil es doch länger dauern wird als wir sel-ber „dauern“. Man kann auch sagen: „Es wird halten, bis dann nach uns alles zusammenbricht.“

Hält das System wirklich, angepasst an unsere Lebens-erwartung? Geht nicht doch das alte „Gespenst“ wieder um, das Karl Marx geschaut hat – nicht nur in Europa, sondern dieses Mal weltweit? Vielleicht sollte man tat-sächlich sein Manifest neu lesen. Trotz des Schreckens, der uns dabei befällt, weil bei Marx vieles so klingt, als lebte er heute und beobachtete, was und wie es läuft. Wir meinen uns schnell auf ein künftiges Paradies hin zu be-wegen, aber in Wirklichkeit steuern wir in Richtung ei-nes Abgrunds, dessen Tiefe wir noch gar nicht ausgelotet haben. Übertrieben? Nein, denn klingt es nicht bekannt, wenn man bei Marx liest: „Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt. Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zer-stört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwi-schen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘: Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritter-lichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufge-löst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohl erworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handels-freiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.“

Sicher ist auch: Ein „moralischer Appell“, dass sich alle „bescheiden“ sollten, wird nichts, wirklich nichts än-dern. Vor allem die armen Länder würden den Reichen der Erde sagen: „Zuerst beutet ihr uns und die Erde aus,

jetzt aber sollen wir auf alles verzichten, während ihr nicht aufhört zu verbrauchen und immer noch mehr zu verbrauchen? Das täte euch so passen! Uns aber passt es nicht, und nennt uns gefälligst nicht ‚Terroristen‘, wenn wir uns wehren und um die Rechte kämpfen, die ihr uns genommen habt! Fahrt ihr nur eure Produktion herun-ter, schon recht. Aber wir fangen jetzt an, wir wollen auch unsere Autos, unseren Urlaub und unsere Wellness. Wenn ihr als zahlende Touristen kommt, willkommen! Aber hört auf, die moralisch Überlegenen zu spielen, die uns ermahnen und Vorschriften machen! Das gilt sogar für die Atom-Waffen, die auch wir fürchten. Und doch, ihr seid Heuchler: „Uns wollt ihr sie verbieten, die glei-chen Waffen, die ihr selbst in unvorstellbarer Menge auf-gehäuft habt!“

„Wieviel ist genug“ wirft auch die Frage auf: Bei wem soll es „genug“ sein? Bei denen, die arm sind oder bei den Reichen? Und wer bestimmt, wer kann bestimmen, was genug ist? Das würde der heutigen Wirtschaftskrise ähneln: Diejenigen, welche die die Schulden anwachsen ließen, spielen sich nun mit Sparprogrammen als gut bezahlte Retter auf, bei denen die anderen den Gürtel enger schnallen sollen, nicht sie selbst! Eigentlich sollte man diese Retter vor Gericht stellen wie einen Unter-nehmer, der eine Firma fahrlässig an die Wand gefahren hat.

Doch mit solchen Fragen und Antworten, mit morali-schen Urteilen, die in alle Richtungen verteilt und her-umgeschoben werden, kommt man nicht weiter um die gestellte Frage zu beantworten. Man könnte an Leo Tolstoi erinnern, der die Geschichte eines Mannes er-zählt hat, dem der Besitz so viel Landes zugesagt wird, wie er an einem Tag umwandern könne. Der Mann geht den ganzen Tag, so schnell und vor allem so weit er kann, um möglichst viel Land besitzergreifend zu umzuschrei-ten. Beinahe schafft er es, zu seinem Ausgangspunkt zu-rückzukehren, doch dann fällt er auf den letzten Metern einfach tot um. Ähnliches widerfährt jenem Mann im Evangelium, der seine Ernte in großen Speichern lagert und es sich einfach nur noch gut gehen lassen will. Ihm aber sagt Gott: „Du Tor, heute Nacht fordere ich von dir dein Leben zurück!“

Ein Bild für die heutige Welt? Die Moral aus den Ge-schichten: Wir brauchen viel weniger als wir tagtäglich verbrauchen, als wir Dinge kaufen, die wir nicht brau-chen außer, dass uns das Kaufen das Vergnügen des Kaufens bereitet – das Kaufen um des Kaufens willen. Man sollte die Frage, wie es beim Billardspiel heißt „von der Bande anspielen“ und ihr andere Fragen vo-

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rausschicken: Wieviel Habgier, wieviel Lüge, wieviel Verdrängung, wieviel Heuchelei verträgt diese Welt bevor sie an unserer Lebensweise zugrunde geht? Dass ihre Belastbarkeit endlich ist, beweisen heute schon die verwüstete Umwelt, aussterbende Tierarten, leere Kin-derbetten, verödete Kinderspielplätze und eingesparte Schulklassen! Dazu kommen die Nachrichten von gan-zen Ländern, die an ihren Schulden – selbst gemachten Schulden – zu ersticken drohen, während neben ihnen die Menschen in anderen Ländern entweder weiter im Überfluss feiern oder in wieder anderen Ländern die Wahl haben, entweder zu Hause zu verhungern oder auf der Flucht über das Meer auf dem Weg zum Überleben bei den Reichen zu ertrinken. Die Reichen sehen es in ih-ren Abendnachrichten; helfen aber nur, solange die Hilfe ihr eigenes Leben nicht stört. Sie helfen einerseits um ihr Gewissen wenigstens ein kleines bisschen zu beruhigen und andererseits um die Angst vor dem eigenen Konkurs und dem eigenen Hunger zu besiegen, die auch sie betref-fen könnten – wer weiß das schon! Dann wäre „Schluss mit lustig“. Bis dahin freilich helfen sie und bauen zu-gleich Schutzmauern gegen die Armen und sind dankbar für das trennende Meer!

„Wieviel ist genug?“ Wie wäre es mit der biblischen Ant-wort: „Die Wahrheit wird euch frei machen!“? Die Fra-ge, wieviel genug sei, sollten wir „an die Bande spielen“. Diese Bande ist die Wahrheit über uns und unser Leben, über den Sinn dieses Lebens und unsere Verantwortung. Die erste Wahrheit widerspricht dem, was Manfred Lütz den „Gesundheitswahn“ und die „Gesundheitsreligion“ nennt: Es ist schön und es ist auch wichtig, gesund zu sein. Aber es ist nicht das Wichtigste. Denn wahr ist: Wir alle werden sterben. Vielleicht „sehr gesund ster-ben“, aber eben doch! Und wenn das, was uns soviel Spaß macht, „alles ist“, ist das Leben wirklich sinnlos. „Wir amüsieren uns zu Tode“, brachte Neil Postman auf der Frankfurter Buchmesse die Sache auf den Punkt! Daraus folgt: Die Gesellschaft müsste bereit sein, die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht weiter zu verhöhnen – in-dem man sie verdrängt, in jedem Kabarett über Religion – besonders über die katholische, die am meisten „nach Wahrheit schmeckt“ – Witze macht und so tut, als könne man den Sinn-Hunger durch unbegrenzte „Spaßangebo-te“ stillen. Es ist, als wollte man richtiges Essen durch Kaugummi ersetzen.

Die zweite Wahrheit ist: Der Mensch braucht Gott. Gott lässt sich durch nichts ersetzen, nicht einmal durch ei-nen anderen Menschen! Lebt der Mensch nur für sich allein, verfolgt er nur seine Karriere, sucht er nur nach Gewinn und strebt er nur nach Luxus ohne Ende, lebt

er in Einzelhaft. Und zwar in selbst verordneter Einzel-haft, in der er selbst von innen die Zelle abschließt und den Schlüssel zum Fenster hinauswirft. Teresa von Ávila sagt dagegen: „Gott allein genügt.“

Ihn ersetzen geht nicht. Er ist unersetzbar, und das ist wörtlich zu nehmen. Und Gott verhöhnen hat vor und nach dem Tod (ja, auch danach) schlimme Folgen. Die dramatische Geschichte aus dem Buch Daniel wiederholt sich wieder und wieder! Wer den Mut hat, sie zu lesen, wird sie nicht mehr vergessen – zu seinem Heil: „König Belschazzar gab ein großes Gastmahl für seine Großen und zusammen. In seiner Weinlaune nun ließ Belschaz-zar die goldenen und silbernen Gefäße holen, die sein Vater Nebukadnezzar aus dem Tempel in Jerusalem mitgenommen hatte. Jetzt sollten der König und seine Großen, seine Frauen und Nebenfrauen daraus trinken. Sie tranken Wein und lobten die Götter aus Gold und Silber, aus Bronze, Eisen, Holz und Stein. In derselben Stunde erschienen die Finger einer Menschenhand und schrieben etwas auf die weißgetünchte Wand des könig-lichen Palastes. Der König sah den Rücken der Hand, als sie schrieb. Da erbleichte er, und seine Gedanken er-schreckten ihn. Seine Glieder wurden schwach, und ihm schlotterten die Knie. Der König schrie laut, man solle die Wahrsager und Astrologen holen. Dann sagte er zu den Weisen von Babel: Wer diese Schrift lesen und mir deuten kann – was er auch sei: er soll als der Dritte in meinem Reich herrschen. Da kamen alle Weisen des Kö-nigs herbei; aber sie waren nicht imstande, die Schrift zu lesen oder dem König zu sagen, was sie bedeutete. Darüber erschrak König Belschazzar noch mehr, und sein Gesicht wurde bleich. Auch seine Großen gerieten in Angst. Da die Rufe des Königs und seiner Großen bis zur Königin drangen, kam sie in den Festsaal und sagte: O König, lass dich von deinen Gedanken nicht erschre-cken; du brauchst nicht zu erbleichen. In deinem Reich gibt es einen Mann, in dem der Geist der heiligen Götter wohnt. Schon zu deines Vaters Zeiten fand man bei ihm Erleuchtung und Einsicht und Weisheit, wie nur die Göt-ter sie haben; deshalb hat König Nebukadnezzar, dein Vater, ihn zum Obersten der Zeichendeuter, Wahrsager und Astrologen ernannt, dein eigener Vater, o König! Bei diesem Daniel also fand man außergewöhnlichen Geist sowie Erkenntnis und Einsicht und die Gabe, Träume auszulegen, Rätsel zu erklären und schwierige Fragen zu lösen. Darum lass jetzt Daniel herrufen; er wird die Deu-tung geben. Daniel wurde vor den König gebracht, und der König sagte zu ihm: Du also bist Daniel, einer von den verschleppten Juden, die mein Vater, der König, aus Juda hierher gebracht hat. In dir, so habe ich gehört, ist der Geist der Götter, und bei dir fand man Erleuchtung

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und Einsicht und außergewöhnliche Weisheit. Man hat die Weisen und die Wahrsager vor mich gebracht, damit sie diese Schrift lesen und mir deuten. Sie konnten mir aber nicht sagen, was das Geschriebene bedeutet. Doch du, so habe ich gehört, kannst Deutungen geben und schwierige Fragen lösen. Wenn du nun die Schrift lesen und mir deuten kannst, sollst du als der Dritte in meinem Reich herrschen. Daniel gab dem König zur Antwort: Be-halte deine Gaben oder schenk sie einem andern! Aber die Schrift will ich für den König lesen und deuten. Mein König! Der höchste Gott hat deinem Vater Nebukadnez-zar Herrschaft und Macht, Herrlichkeit und Majestät gegeben. Vor der Macht, die ihm verliehen war, zitterten und bebten alle Völker, Nationen und Sprachen. Er töte-te, wen er wollte, und ließ am Leben, wen er wollte. Er erhöhte, wen er wollte, und stürzte, wen er wollte. Als aber sein Herz überheblich und sein Geist hochmütig wurde, stürzte man ihn von seinem königlichen Thron, und er verlor die Herrscherwürde. Man verstieß ihn aus der Gemeinschaft der Menschen. Sein Herz wurde dem der Tiere gleichgemacht. Er musste bei den wilden Eseln hausen und sich von Gras ernähren wie die Ochsen. Der Tau des Himmels benetzte seinen Körper, bis er erkann-te: Der höchste Gott gebietet über die Herrschaft bei den Menschen und gibt sie, wem er will. Obgleich nun du, sein Sohn Belschazzar, das alles weißt, bist du in deinem Herzen doch nicht bescheiden geblieben. Du hast dich gegen den Herrn des Himmels erhoben und dir die Ge-fäße aus seinem Tempel herbeischaffen lassen. Du und deine Großen, deine Frauen und Nebenfrauen, ihr habt daraus Wein getrunken. Du hast die Götter aus Gold und Silber, aus Bronze, Eisen, Holz und Stein gepriesen, die weder sehen noch hören können und keinen Verstand haben. Aber den Gott, der deinen Lebensatem in seiner Hand hat und dem all deine Wege gehören, den hast du nicht verherrlicht. Darum hat er diese Hand geschickt und diese Schrift geschrieben. Das Geschriebene lautet aber: Mene mene tekel u-parsin. Diese Worte bedeuten: Mene: Gezählt hat Gott die Tage deiner Herrschaft und macht ihr ein Ende. Tekel: Gewogen wurdest du auf der Waage und zu leicht befunden. Peres: Geteilt wird dein Reich und den Medern und Persern gegeben. Da befahl Belschazzar, Daniel in Purpur zu kleiden und ihm eine goldene Kette um den Hals zu legen, und er ließ verkün-den, dass Daniel als der Dritte im Reich herrschen sollte. Aber noch in derselben Nacht wurde Belschazzar, der König der Chaldäer, getötet.“

Die Moral aus der Geschichte: Die Mächtigen dieser Welt sollten klüger sein als dieser König, es gibt keinen ande-ren Weg zum „Genug“ als aus der Geschichte zu lernen! Vielleicht sind Fukushima, Tsunamis, Wirtschaftskrisen

und Kriege, die sich nicht und nicht beenden lassen, die „Hände“, die an die Wände unserer Zeit schreiben und die es endlich zu lesen und zu verstehen gilt: Ergänzend könnte man, wiederum bei Daniel, die Geschichte des unerschütterlich scheinenden Standbildes lesen, dessen Füße ein Stein zerschmettert und das so in sich zusam-menstürzt wie die Türme des World-Trade-Centers. „Alte Märchen“? Ja, alt, aber keine Märchen, genauso wenig die das „große Licht“ vor dem Ausbruch des 2. Weltkrieges, das die Muttergottes in Fatima vorausge-sagt hat und dann auch kam, wen wundert es? Ohne Gott geht’s auch? Nein, es geht nicht nur nicht, es ist viel schlimmer, die Welt taumelt und stürzt!

Die dritte Wahrheit: Der Mensch braucht den Menschen. Er braucht ihn aber nicht nur als Kunden, als leistungs-fähigen Mitarbeiter oder als Bewunderer der eigenen Größe, sondern als die Bedingung für die Möglichkeit der Liebe. Bereits in der Schöpfungsgeschichte heißt es: Gott sah, dass es nicht gut für den Menschen ist, allein zu sein. Dies Einsamkeit konnten auch die Tiere nicht wettmachen, mit deren Benennung der einsame Mensch seine Langeweile erträglicher zu machen versuchte und dann doch entdeckte: Ich bin allein!

Weil auch Gott diese Menschennot sah, schuf er die Frau! Was der Mensch braucht, ist das Gegenüber in Lie-be. Ohne Liebe geht es wirklich nicht. Dieses Gegenüber aber muss anerkannt sein. Nicht als „gleicher“ Mensch, der keine Erlösung wäre, wohl aber als „gleichwertiger“ Mensch, der Jubelschreie des Mannes auslöst. End-lich „Bein von meinem Bein“ und „Fleisch von meinem Fleisch“! Den Unterschied von Mann und Frau zu leug-nen, ist als wollte man ein Gleichbehandlungsgesetz für Sonne und Mond erlassen, das verpflichtet, den Mond nicht länger zu „diskriminieren“ und ihn endlich auch „Sonne“ zu nennen und zu verschweigen, dass „Mond-kollektoren“ zur Stromgewinnung ungeeignet sind. Auch die Ausdehnung der Definition von „Familie“ reicht schnell ins Absurde. Wenn all das schon „Familie“ ist, „wo Menschen zusammenwohnen“ oder „wo Menschen für einander Verantwortung übernehmen“, dann ist selbst ein Gefängnis Familie und eine Taxifahrt reicht, um eine „Familie mit Ablaufdatum“ zu gründen.

Die vierte Wahrheit heißt in der jüdisch-christlich ge-prägten Tradition des Abendlandes „Umkehr“. Das ist genauso wörtlich zu nehmen wie die Ansage des Navi-gationssystems im Auto, wenn es nach verpasster Aus-fahrt „Drehen Sie womöglich um!“ empfiehlt, weil die Fahrtrichtung nicht mehr stimmt. Ebenso gut wäre es zu sagen: Gebt dem Hausverstand wieder eine Chance

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und lernt lesen, was Gott in euer Herz geschrieben hat, wie Paulus im Römerbrief es audrückt! Dann wäre es „politisch korrekt“ wieder korrekt, sich auf allen Ebe-nen des Lebens von absurden und in sich widersprüch-lichen Ideologien und Praktiken zu verabschieden: Vom Gender-Begriff, von der Homoehe, von der Fristenlösung und anderem mehr.

So könnte die fünfte Wahrheit lauten: Wir können nicht das Leben lieben und gleichzeitig Krieg gegen das Leben führen! Geht der Krieg gegen das Leben in der westlichen Welt weiter, gibt es irgendwann keine Menschen mehr in dieser Welt. Dann brauchen wir auch gar nicht mehr fragen, „wieviel genug ist“. Denn dann gibt es weder den, der fragen, noch den, der Antwort geben und auch den nicht, der etwas in Richtung Leben ändern könnte. Dann gibt es nur noch jene anderen, die nicht alle Ab-surditäten der westlichen Welt mitgemacht haben, heute abschätzig „Imigranten“ genannt, dann aber glückliche Bewohner und Besitzer schöner Länder! Millionen von ungeborenen Menschen zu töten und dann über die de-mografischen Probleme zu jammern, kann nur jemand, der den Verstand verloren hat. Wer nicht wissen will, der weiß auch nicht! Es gehört zu den wesentlichen Eigen-schaften des Menschen, nach den Ursachen dessen zu fragen, was er sieht, erlebt, beobachtet, erleidet.

Die Frage nach dem Warum mag nicht immer beant-wortbar sein. Sie aber zu verbieten ist auch ein Zeichen jener „Pathologie der Vernunft“, von der Papst Benedikt XVI. in Regensburg sprach. Sie ist das so Gegenteil von jener so nötigen „gesunden Vernunft“, wie sie Thomas von Aquin nannte! Der Begriff „gesunde Vernunft“ mag aufreizend sein für alle Wahrheitsleugner und Relativis-ten, die sich in der Tradition des Pilatus für intellektuell überlegen halten, wenn sie hilflos auf der Stelle treten und immer nur wiederholen: „Was ist Wahrheit?“ Aber jede Zeit und jede Gemeinschaft braucht sie, die „gesun-de Vernunft“ als Immunsystem gegen geistige Erkran-kungen!

Keine Kinder zu haben, freut vielleicht den Kurzsich-tigen, der nur Karriere machen und dabei ungestört bleiben will. Dem denkenden Menschen aber macht die sinkende Kinderzahl begründete Sorge, vielleicht sogar Angst – eine Angst, die möglicherweise lebenserhaltend ist wie andere Ängste auch!

Die Frage nach den Ursachen zu verbieten ist Folge jener Dummheit, von der Nestroy sagt: „Leider ist Dummheit ist keine Schwäche, sondern eine furchtbare Stärke: Sie steht unerschüttert wie ein Fels, wenn auch Meer von

Vernunft ihm seine Wogen entgegenschleudert. Die Dummheit verschanzt sich hinter einem festen Bollwerk von Eigensinn, pflanzt beim Angriff noch die spitzen Pa-lisaden der Bosheit drauf und steht so unbesieglich da!“Die sechste Wahrheit: Wir sollten unsere eigenen Ideale ernst nehmen, vor allem die große Sehnsucht des Men-schen nach Freiheit! Statuen zu ihrer Ehre aufzustellen und sie in politischen Sonntagsreden als „europäischen Wert“ zu preisen, ist zu wenig. Genauso, wie es eher kon-traproduktiv sein kann, mit Memorials an Verbrechen in der Vergangenheit zu erinnern, wenn dieses Erinnern sich nicht verbindet mit der Frage: Haben wir denn ge-nügend Kontrollsysteme, mit deren Hilfe wir darauf ach-ten, dass der alte Ungeist nicht in neuer Gestalt wie der Teufel in einem anders gefärbtem Pelz wiederkommt? Könnte, wie es in Macbeth heißt, die „Schlange nur zer-hackt sein, nicht getötet“? Oder wie Bertolt Brecht im Epiolg zum „Unaufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui“ reimt: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ In diesem Sinne sollten wir darauf achten, was in un-serer Gesellschaft „kriecht“. Oder in der Sprache des Terrorismus: Welche Ideen sind nur „Schläfer“, die auf ihren Einsatz warten? Wehe uns, wenn sie jemand ernst nimmt und dann „ernst macht“! War die Denk- und Redefreiheit nicht eines der großen Ideale des Abend-landes, mühsam errungen gegen die uralte Versuchung der Mächtigen, sie den anderen zu nehmen? Wenn wir diese Freiheit aber angeblich noch haben: Warum ist es so schwierig und manchmal sogar gefährlich geworden, über bestimmte Fragen zu reden?

Freiheit, geliebte Freiheit! Man behauptet, heute hät-ten die Frauen endlich die Freiheit, die sie früher nicht hatten. Richtig, manche Freiheiten haben sie, die ih-nen früher auch in Europa vorenthalten waren und in manchen muslimischen Kulturen bis heute immer noch vorenthalten bleiben. Aber dafür werden Frauen heute anders unterdrückt. Und zwar durch Manipulation, die sie sich selbst entfremdet: Zuerst redet man ihnen ein, ihr Glück liege vor allem in einer „Karriere“ – auch wenn diese „Karriere“ oft nur darin besteht, im Supermarkt Waren in Regale einzuschlichten! Dann redet man ihnen ein, ihr Muttersein wäre nur eine Art Ungerechtigkeit der Natur, die die Männer bevorzugt habe, und Kinder wären vor allem eine Last. Man sucht sie zu überzeugen, wie unglücklich sie wären, wenn sie „nur“ für die Kinder zu sorgen hätten. Dann gestattet man ihnen per Gesetz, ihre ungeborenen Kinder töten zu lassen und verbietet ihnen gleichzeitig, am Tag nach der Abtreibung traurig sein zu dürfen oder gar über ihre Trauer zu reden! Brin-gen sie ihre Kinder zur Welt, verhilft man ihnen zu ihrem „Glück“, indem man die Kinder möglichst rasch in einer

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Kinderkrippe „verstaatlicht“ und die armen Mütter auf diese Weise „befreit“, ohne dass sie Frauen selbst ent-scheiden können, ob sie diese Beglückung auch wollen! Selbsternannte Zukunftsforscher denken bereits daran, noch einen Schritt weiter zu gehen: Mädchen sollen ste-rilisiert werden und später im Falle eines Kinderwun-sches künstlich befruchtet werden – natürlich nur, wenn sie dazu eine Genehmigung erhalten haben.

Vielleicht lässt sich die Frage „Wieviel ist genug?“ über diese Wahrheiten „von der Bande anspielen“. Dann wür-de sich zeigen: Die Frage beantwortet sich von selbst, indem sie sich erübrigt. Dazu muss man nur dem Rat des Konfuzius folgen, der meinte, man möge zur Heilung eines in die Krise geratenen Landes als erste Maßnahme den Worten wieder ihren Sinn geben! Auch eine andere Geschichte voll Weisheit, wie sie der große vietnamesi-sche Kardinal Thuan erzählt, wäre hilfreich: Nach einer alten asiatischen Tradition wurde Jahr für Jahr am kai-serlichen Hof die Geschichte des Reiches fortgeschrieben. Mit dieser Aufgabe wurden zwei hohe Minister des Kai-sers betraut. Der eine musste alles Gute aufschreiben, das sich im Reich zugetragen hatte; der andere musste eine Liste dessen aufstellen, was an Negativem vorgefal-len war. Aber keiner der beiden war auf dem Laufenden über das, was der andere schrieb. In einer öffentlichen Sonderaudienz zu Beginn des neuen Jahres mussten die beiden Schreiber in Anwesenheit des kaiserlichen Hofes ihre Bilanz vorlesen. Alle erwarteten, aus dem Kontrast der beiden Aufstellungen die Wahrheit zu erkennen. Nachdem er die Berichte angehört hatte, wandte sich der Kaiser an den Hof und bat: „Wer von euch etwas dazu zu sagen hat, möge es tun.“ So geschah es, dass der Kai-ser eines Tages alle aufforderte, ihre Meinung kundzu-tun. Aber keiner wagte, etwas zu sagen. Es herrschte die größte Stille, bis plötzlich ein leises Seufzen und Weinen zu hören war. Da fragte der Kaiser: „Wer weint da? Der-jenige, der geweint hat, soll vor mich hintreten und re-den.“ Darauf trat ein Mandarin vor, verneigte sich drei-mal tief vor dem Kaiser und sagte mit großem Respekt: „Majestät, niemand an diesem Hof mag es, die Wahrheit zu sagen. Ich fürchte, dass unsere Nation in Gefahr ist und untergehen könnte!“

Die Moral von der Geschicht‘: Europa, ja die ganze Welt, braucht das freie Wort. Nicht um zu verhöhnen und den anderen lautstark zu übertönen. Sondern um im Ge-spräch mit dem anderen ohne Ansehen der Person Argu-mente auf die Waagschale legen zu können, Argumente, die gehört, überlegt, diskutiert werden!Wie oft würde es genügen, zum Hausverstand zurückzu-kehren – zurück zur gesunden Vernunft, zurück zu dem,

was den Menschen zum Menschen macht. Selbst wissen-schaftliche Erkenntnisse lassen sich fast immer auch in die „Sprache des Hausverstandes“ übersetzen. Wirklich gute Wissenschaftler können diese Übersetzung ihrer Forschungen meist auch selbst mitliefern! „Zurück zum Menschen“. Eine Banalität? Nein! Wenn Papst Benedikt XVI. in seiner Berliner Rede an die Bundestagsabgeord-neten, die teilweise „aus Protest“ (wogegen eigentlich?) den Saal verließen, um nicht zuhören zu müssen, den-noch recht hat, ist diese Wiederentdeckung unverzicht-bar, um unserem geliebten, ersehnten „freiheitlichen Rechtsstaat“ (das war sein Thema!) ein sicheres Funda-ment zu geben! Zurück zum Menschen, zu seiner Natur, zu dem, was der Mensch ist! Atheisten seien gewarnt: Bei der Frage nach dem Menschen, nach seinen Sehnsüch-ten, nach seinen Bedürfnissen stößt man unvermeidbar auch auf die Frage nach Gott. Zum Menschen zurückzu-kehren: Das wäre genug, um die Welt zu verändern. Sie würde dadurch noch kein Paradies – aber eine bessere, lebbare und überlebensfähige Welt würde sie allemal, und das wäre schon viel! Mehr kann man sich nicht er-warten, und in diesem Sinn wäre es auch schon genug!

Andreas LaunKatholische KircheWeihbischof in Salzburg

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