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? Sophie Scholl Wer war Barbara Sichtermann Verlagshaus Jacoby Stuart Text Barbara Sichtermann, geb. 1943, besuchte die Schauspielschule in Bochum, wo sie von 1965–68 am eater tätig war. Anschließend zog sie nach Berlin und studierte Sozialwissenschaſten und Volkswirt- schaſtslehre. Seit 1978 ist sie freie Publizistin und Schriſtstellerin. Sie arbeitet regelmäßig für Die Zeit und den Rundfunk und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Barbara Sichtermann lebt in Berlin. Illustration und Reihengestaltung Stefanie Roth, geb. 1969, studierte Kommunikationsdesign in Berlin und Prag. Seit 1997 ist sie als freie Grafik-Designerin, Buchgestalte- rin und -illustratorin tätig. Die von ihr gestalteten Bücher wurden mehrfach von der Stiſtung Buchkunst ausgezeichnet. Stefanie Roth, die außerdem den Fachbereich Grafik Design in der Design Schule Schwerin leitet, lebt mit ihrer Familie in Berlin.

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?Sophie SchollWer war

Barbara Sichtermann

Verlagshaus Jacoby Stuart

TextBarbara Sichtermann, geb. 1943, besuchte die Schauspielschule in Bochum, wo sie von 1965–68 am Theater tätig war. Anschließend zog sie nach Berlin und studierte Sozialwissen schaften und Volkswirt-schaftslehre. Seit 1978 ist sie freie Publizistin und Schriftstellerin. Sie arbeitet regelmäßig für Die Zeit und den Rundfunk und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Barbara Sichtermann lebt in Berlin.

Illustration und ReihengestaltungStefanie Roth, geb. 1969, studierte Kommunikationsdesign in Berlin und Prag. Seit 1997 ist sie als freie Grafik-Designerin, Buchgestalte-rin und -illustratorin tätig. Die von ihr gestalteten Bücher wurden mehrfach von der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet. Stefanie Roth, die außerdem den Fachbereich Grafik Design in der Design Schule Schwerin leitet, lebt mit ihrer Familie in Berlin.

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Sophie Scholl – Eine Heldin von früher? 5

Die Kinderzeit – Ein ganz normales kluges Mädchen 13

Bündisches Leben – Kameradschaft und Aben teuer 25

Der Krieg – Und ein Freund, der Soldat ist 37

Die Weiße Rose – Widerstand leisten! 50

Die Flugblätter – Es wird gefährlich 63

Verhaftung, Verhör und Urteil – Ohne mit der Wimper zu zucken 76

Das Referat – Und heute? 88

Chronik 97

Woher wir von Sophie Scholl wissen 104

Wichtige Namen und Begriffe 106

Inhalt

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Sophie SchollEine Heldin von früher?

Ihr Name wird oft genannt. Viele Schulen in Deutschland heißen nach der jungen Frau, die 1943 gestorben ist: Sophie Scholl. Sie war erst 21 Jahre alt. Sie hat Flugblätter verteilt, in denen sie dazu aufrief, die Regierung zu stürzen. Die Regierung, das war der Reichskanzler Adolf Hitler, der sich „der Führer“ nannte, mit sei-nen Ministern und Generälen. Er war ein Diktator, und das heißt: Er betrachtete sich als unantastbar. Wer ihn oder seine Politik kri-tisierte, bekam es mit der Polizei zu tun und wanderte ins Gefäng-nis, wenn nicht sogar noch Schlimmeres geschah. Sophie Scholl und ihr Bruder Hans (und später noch eine Reihe von Freunden, die ähnlich dachten) wurden verhaftet, als sie ihre Flugblätter aus-gelegt hatten. Der Hausmeister in der Münchener Universität, wo die beiden studierten und ihre Flugblätter unter die Leute bringen wollten, hatte sie beobachtet. Hans und Sophie wurden abgeführt, verhört und zum Tode verurteilt. Das alles dauerte nur ein paar Tage. Am 22. Februar 1943 starb Sophie Scholl, wie auch Hans Scholl und ein Freund der beiden, Christoph Probst, unter dem Fallbeil. Sie wurde geköpft.Das alles ist lange her. Die Todesstrafe ist inzwischen abgeschafft. Damals waren die Zeiten anders, sie waren sehr hart. Adolf Hitler und seine Anhänger, die Nationalsozialisten, lebten und regierten nach dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Und wer

Die mit einem * bezeichneten Worte werden im Anhang „Wichtige Namen und Begriffe“ (S. 106) erläutert

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Stalingrad nicht mehr möglich – zu viele deutsche Familien hat-ten ihre Väter und Söhne verloren. Da fanden Hans und Sophie Scholl, dass sie ein Zeichen setzen mussten: Schluss mit dem Krieg! Schluss mit der Nazi-Herrschaft! Das schrieben und erklärten sie in ihren Flugblättern. Für die nationalsozialistischen Machthaber war so ein Aufruf zum Umsturz fast so katastrophal wie ein wirk-licher Umsturz. Schließlich befand sich das ganze Land in einem furchtbaren und verlustreichen Krieg. Wenn Staaten, wenn Re-gierungen Krieg führen, fällt es ihnen immer schwer, Kritik der eigenen Landsleute zu ertragen. Hitler und seine Anhänger hat-ten schon lange vor dem Krieg ihre Kritiker und Gegner verfolgt und bedroht und jede Opposition mundtot gemacht. Jetzt aber, während ihre Armeen sich auf dem Schlachtfeld schlugen und ihr Leben riskierten, durfte man zu Hause, an der „Heimatfront“, nicht behaupten, dass das alles sinnlos sei und dass die Regierung verjagt werden müsse. Das galt bei den Nazis als „Verrat“, wenn nicht sogar „Hochverrat“. Und auf Hochverrat stand im national-sozialistischen Deutschland die Todesstrafe.Sophie Scholl, ihr Bruder Hans und eine Reihe von Freunden, die sich im Geheimbund Weiße Rose zusammengetan hatten, gaben ihr Leben für ein Deutschland ohne Hitler und ohne Krieg hin. Sophie wollte nicht sterben, aber sie hat gewusst, dass der Preis hoch war, wenn sie mit ihren Flugblättern ertappt würde. Als sie in ihrer Zelle dem Tod ins Auge sah, hat sie gehofft, dass nach dem Urteil ein Ruck durch Deutschland gehen und viele Menschen aufwachen und sagen würden: „Die Weiße Rose hat recht gehabt. Hans und Sophie sind für uns gestorben. Für unsere, für Deutsch-lands Freiheit. Und jetzt werden wir gegen die Nazis aufstehen, Hitler verjagen und den Krieg beenden.“ Aber so kam es nicht. Der Krieg ging noch über zwei Jahre weiter. Und obwohl immer mehr Menschen zu derselben Überzeugung gelangten wie die Geschwister Scholl, hielten sie still, auch wenn sie insgeheim den

gegen die Nationalsozialisten war, musste um sein Leben fürch-ten. Dennoch erscheint es ungeheuerlich, junge Menschen zum Tode zu verurteilen, nur weil sie Flugblätter ausgelegt haben. Was in den Flugblättern stand, war zwar die allerschärfste Kritik an Hitler, an der Regierung und deren Politik, die sich denken lässt. Aber die Kritik stand ja nur auf dem Papier. Wie konnte das die nationalsozialistischen Richter so wütend machen, dass sie die härteste Strafe verhängten, die es gab?Es waren keine normalen Zeiten. Es herrschte Krieg. Zwar hatten Kritiker des Regimes auch zuvor schon das Schlimmste befürch-ten müssen, aber seit der Zweite Weltkrieg tobte, gab es über-haupt kein Pardon mehr. Adolf Hitler wollte aus Deutschland das größte und mächtigste Reich der Welt machen. Dafür musste er Krieg führen, die benachbarten Länder unterwerfen und die weiter entfernten so einschüchtern, dass sie still hielten. Das ist ihm nicht gelungen. Die anderen großen Mächte, besonders Eng-land, Amerika und die Sowjetunion*, setzten sich zur Wehr und rangen Deutschland schließlich nieder. 1943 sah es schon nicht mehr so aus, als würde Deutschland den Krieg gewinnen können. Nachdem er anfänglich so manchen Sieg, zum Beispiel über Dä-nemark und Frankreich, errungen hatte, geriet Hitler jetzt, drei-einhalb Jahre nach Kriegsbeginn, als Feldherr in die Defensive. Eine furchtbare Niederlage hatte er gerade einstecken müssen: In Russland, bei der Schlacht um die Stadt Stalingrad*, waren die Deutschen vernichtend geschlagen worden, zigtausende Soldaten waren gefallen. Viele waren auch einfach erfroren. Es war Winter, russischer Winter, es gab zweistellige Minusgrade und keine Öfen in den Unterkünften der Belagerer. Bisher hatten Hitler und sein Propagandaminister Joseph Goeb-bels darauf geachtet, dass die deutsche Bevölkerung nur von glän-zenden Siegen der deutschen Soldaten erfuhr. Niederlagen und Misserfolge wurden verschwiegen. Das war nach der Schlacht von

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war von der Idee besessen, die jüdische Bevölkerung, der er lauter böse Eigenschaften andichtete, vom Erdboden zu tilgen. Und er fand auch noch, der Rest der Welt müsse ihm dafür dankbar sein. Als Sophie Scholl davon erfuhr, erschrak sie zutiefst. Sie wusste jetzt: Der Mann an der Spitze Deutschlands war ein Irrsinniger, der vor keinem Verbrechen zurückscheute. Sie wollte dagegen einschreiten – und wenn es sie das Leben kostete.Auf eine Schule zu gehen, die nach einem so tapferen Mädchen benannt worden ist, kann ganz schön einschüchternd sein. Die Schule trägt ja nicht nur einfach den Namen „Sophie Scholl“, sie will diesem Namen auch gerecht werden. Das beginnt damit, dass alle Schülerinnen und Schüler lernen müssen, wer Sophie Scholl war und warum es wichtig ist, sich heute und in Zukunft an sie zu erinnern. Dabei war Sophie Scholl ein ganz normales Mädchen: klug, sportlich, naturverbunden – wie so viele, die jetzt auf eine Schule mit ihrem Namen gehen. Und sie war so jung, als sie starb, nur wenige Jahre älter als die Mädchen heute, wenn sie das Abitur machen. Aber dieses „ganz normal“ kennzeichnet sie natürlich nicht völlig. Es gab da bei Sophie schon auch etwas ganz Besonde-res. Das waren ihr Gewissen und ihr Mut. Sie wollte nicht länger in einem Terrorregime leben, und sie hatte keine Angst davor, mit ihren Mitteln Nein zu sagen. Gewissen und Mut – das kann jeder haben, auch wer „ganz normal“ ist. Dazu braucht man sich nur zu fragen: Was ist eigentlich los in meinem Land? Müsste nicht man-ches ganz anders laufen? Kann ich etwas dazu tun? Ein Gewissen hat jeder Mensch. Wie genau er darauf hört, ist dann wieder seine Sache. Mutig sein, sich ein Herz fassen kann auch jeder Mensch. Ob er es tut, ist seine Sache. Sophie Scholl tat es.Gewissen. Mut. Wachsamkeit. Das sind die Stichworte und The-men, mit denen sich Sophie-Scholl-Schüler und -Schülerinnen auseinandersetzen müssen, wenn sie das tun, was sie alle irgend-wann tun müssen: ein Referat über die Weiße Rose halten.

Kriegsherrn Hitler zum Teufel wünschten, denn sie wollten leben. Sie wussten ja, was ihnen drohte, wenn sie ein Flugblatt gegen den Krieg schreiben und verteilen würden. Das Problem war, dass ihre Angst vor Gefängnis, Konzentrationslager und Todesstrafe größer war als ihre Bereitschaft, etwas gegen das Hitler-Regime zu tun – selbst wenn sie fanden, dass es richtig und höchste Zeit sei, etwas zu tun. Aber es muss ehrlicherweise gesagt werden, dass sehr viele, wahrscheinlich die meisten Deutschen auch dann noch an Hitler glaubten, als überdeutlich zu sehen war, dass der Krieg verloren ging. Doch sie sprachen nicht über ihre Befürchtungen, schon gar nicht öffentlich. Das wäre lebensgefährlich gewesen.Sophie Scholl hatte auch Angst vor den Nazis, aber ihre Entschlos-senheit, etwas gegen das Regime zu unternehmen, war stärker als bei der deutschen Mehrheit. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass ganz Deutschland dem Untergang geweiht sein würde, wenn es so weiterging mit Nazi-Herrschaft und Krieg. Inzwischen hatte sich auch herumgesprochen, dass Hitler außer dem Krieg gegen Frankreich, England, die Sowjetunion und andere Staaten noch einen Vernichtungsfeldzug gegen ein Volk führte, das in vielen europäischen Ländern lebte, dort seine Gemeinden hatte, sich aber auch in die jeweilige Gesellschaft einfügte: die Juden. „Der Führer“ Hitler ließ Konzentrationslager und Gaskammern bauen, in denen die Juden zusammengetrieben und ermordet wurden. Er

Flugblatt

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empfunden haben, als die Enthauptung begann, oder ob es so schnell ging, dass sie gar nichts spürten? Das waren die Gedan-ken und Vorstellungen, die Pilz durch den Kopf schossen, als er Sophie-Scholl-Schüler geworden war und sein erstes Referat über die Weiße Rose hörte. Klar war auch für ihn Sophie Scholl eine Figur aus der Geschichte. Aber die Aufforderung, heute wieder für Menschlichkeit aufzustehen und das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, die hat er sehr wohl vernommen, insofern ist Sophie Scholl für ihn von heute. Er wäre gar zu gern in ihre Fußstapfen getreten. Aber er muss genau wie Frank fragen: „Wogegen?“Frank, der wie Pilz schon studiert, findet es wichtig, Sophie-Scholl-Schüler, die heute auf diese Schule gehen, zu fragen, wie sie das Problem sehen. Und das ist auch gar nicht schwer, denn Pilz’ jüngere Schwester Ella besucht dort die siebte Klasse, und sie kommt gerade mit ihrer Klassenkameradin Mareike zur Tür herein. Die beiden müssen ein Referat über die Weiße Rose halten und brauchen Pilz’ und Franks Rat. „Ihr wisst doch alles“, schmei-chelt Ella, „ihr könnt uns die richtigen Tipps geben.“ „Wenn wir was aus dem Netz fischen“, sagt Mareike, „kommt es raus, und wir kriegen ne Fünf “.Frank und Pilz gucken sich an und grinsen. Sie wissen, dass sie viel vergessen haben. Aber helfen wollen sie schon. „Erst eine Frage“, sagt Frank. „Ist Sophie Scholl eine Persönlichkeit, an der ihr euch orientieren würdet?“ „Na klar“, sagt Ella, „Gewissen, Mut, Wach-samkeit. Das ist wichtig.“ „Unsere Lehrerin meint allerdings,“ fügt Mareike hinzu, „Hans und Sophie hätten auch eine Verantwor-tung für ihr eigenes Leben gehabt. Sie hätten es nicht gut genug geschützt. Man muss, wenn man gegen eine Übermacht kämpft, sehr listig sein und zur Not auch mal abwarten.“ Pilz räuspert sich. „Hinterher ist man immer klüger“, sagt er. „Die Weiße Rose, das war ja kein straff organisierter Geheimbund. Das war ein zusammengewürfelter Haufen von Jungs und Mädchen,

Frank ist ein Absolvent der Sophie-Scholl-Gesamtschule in Ber-lin. Er ist gern auf diese Schule gegangen, und er hat sich, wie alle seine Mitschüler, erzählen lassen, wer Sophie Scholl war, was sie getan hat und warum sie so früh hingerichtet wurde. Ob sie eine Persönlichkeit war, der er nachzueifern versucht hat? „Eher nicht“, sagt Frank. Für ihn war sie eine historische Figur, die er bewun-derte und der er schon deshalb nicht nacheifern konnte, weil heu-te alles ganz anders ist. „Wenn ich heute einen Stapel Flugblätter auf die Treppenstufen lege“, sagt Frank, „in denen drinsteht, dass unsere Regierung Deutschland ins Unglück stürzt, dann kommt der Hausmeister und schlägt mir vor, die Blätter lieber vor den Klassentüren an die Mitschüler zu verteilen, denn hier auf der Treppe würden die Leute bloß drauftreten und er müsste später alles zusammenfegen. Niemand würde mich verfolgen. Manche Mitschüler würden mir einen Vogel zeigen. Aber das wär’s dann auch.“

„Aber so ist das nicht gemeint mit dem Nacheifern“, sagt Pilz, der auch Sophie-Scholl-Schüler war und jetzt mit seinem alten Schul-freund Frank am Küchentisch sitzt. „Klar haben wir heute keine Nazi-Herrschaft mehr. Aber Unmenschlichkeit und drohende Katastrophen, die gibt es doch immer noch. Die Umweltzerstö-rung zum Beispiel, die Klimaerwärmung und die Hungerrevolten in der Dritten Welt. So wie ich Sophie Scholl kenne, würde sie sich heute dagegen engagieren, und zwar nicht mit Flugblättern, sondern im Internet, global.“Für ihn ist Sophie Scholl nicht bloß eine Heldin von früher. Als er ihre Geschichte hörte, klopfte sein Herz bis zum Hals. Er sah sie neben sich sterben. Er stellte sich vor, wie es sein müsste, wenn der Scharfrichter das Fallbeil aus seiner Verankerung gelöst hat, und nun saust es herab und trennt mit einem Hieb den Kopf vom Körper. Ob Sophie, ihr Bruder und alle, die noch folgten, ob sie den Bruchteil einer Sekunde einen jähen schrecklichen Schmerz

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Die KinderzeitEin ganz normales kluges Mädchen

Ein Mädchen, klein und rund und wieselflink, rennt über eine Wiese. Hinter ihr läuft ein größeres Mädchen, das wirft die Arme in die Luft und ruft laut: „Sophie! Sophie, halt!“ Der Abstand zwi-schen den beiden verringert sich nur allmählich, obwohl ja die Große viel größere Schritte machen kann. Während die Große ruft, lacht und gluckst die Kleine, guckt sich kurz über die Schul-ter nach der anderen um, rennt noch schneller, stolpert dann aber und fällt hin. Sie lacht immer noch. Sie ist barfuß.Gleich ist die Größere bei ihr, ganz außer Atem. „Hier“, sagt Sophie zu ihrer Schwester und reicht ihr eine Kleeblüte, „musst du kauen, Inge, schmeckt wie Honig.“ Inge setzt sich ins Gras, nimmt die Blüte, riecht daran und fährt mit der Hand durch Sophies Haar-schopf. „Das geht aber nicht“, sagt sie und schnauft noch, „dass du einfach wegrennst. Du findest bestimmt nicht wieder zurück nach Hause. Und was dann?“ Sophie drückt ihren linken großen Zeh. Sie hat sich beim Hinfallen ein wenig daran weh getan. „Ich bin schon fünf “, sagt sie, „ich weiß doch, wo unser Haus ist.“ Inge schüttelt den Kopf. „Das denkst du dir so. Aber dann läufst du los, und es wird Abend, und du verwechselst die Gassen –“ Sophie hat keine Lust mehr, übers Weglaufen und über den Heimweg zu sprechen. Sie zwinkert Inge zu und sagt: „Zieh sie aus, die Schuhe. Das ist barfuß viel schöner.“ Und sie bohrt ihren rechten großen Zeh in den Wiesengrund.Inge war ihrer kleinen Schwester nicht wirklich böse. Aber ein paar Sorgen machte sie sich schon. Wenn sie mit Sophie vor die

auch ein paar Ältere dabei, die es einfach nicht aushielten mit die-sen Verbrechern an der Regierung und dem sinnlosen Krieg. Man kann nicht alle Fehlschläge von vornherein vermeiden. Wer das versucht, kommt über die Vorbereitungsphase nie hinaus und tut am Ende gar nichts.“

„Stimmt schon“, sagt Frank, „aber vielleicht muss man jetzt doch mal davon reden, dass die Zeiten heute anders sind. Ich will es so sagen: Es gibt immer noch eine Menge zu kritisieren, aber es geht dabei nicht mehr um Leben und Tod. Das ist der Unterschied zu damals. Und das ist ein Fortschritt.“ Aber Pilz ist aufgestanden und sagt: „Da, wo wirklich was los ist, wo die Menschen verrecken, weil sie nichts zu essen haben oder weil Bürgerkrieg herrscht, zum Beispiel in Afrika, da geht es im-mer noch um Leben und Tod.“ So wie er es sieht, wäre Sophie Scholl heute nach Afrika gegangen.

„Lass uns lieber mehr über die echte Sophie Scholl rausbekom-men“, findet Frank. „Wenn wir euch mit dem Referat helfen sollen, brauchen wir Lesefutter. Wer war sie?“

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genannt, war Sophie im Alter sehr nahe. Hans war dann wieder ein echter großer Bruder, der schon zur Schule ging und auch hin und wieder auf Sophie aufpassen musste. Und auf den Jüngsten, Sophies kleinen Bruder Werner. Eine große Familie, diese Scholls. Man mochte sie in Forchtenberg. Vor allem die Mutter war sehr angesehen, weil sie, eine ehemalige Krankenschwester, sich nicht nur um ihre eigenen Kinder kümmerte, sondern auch um die Ar-men und Kranken in der Gemeinde. Der Vater war als tüchtiger Schultheiß anerkannt, aber nicht so beliebt wie seine Frau, weil er immer mal wieder Vorwände fand, um nicht am Gottesdienst teilnehmen zu müssen und weil er überhaupt kein Wirtshausgän-ger war. Er ging eben nicht abends mit den Forchtenbergern einen trinken, und das nahmen die ihm irgendwie übel.Die Kinder der Familie Scholl hielten zusammen, spielten aber auch mit den anderen Kindern, kletterten heimlich in der Schloss-ruine herum, was sie nicht durften, denn die alte Burg war baufällig, und wie leicht konnte da mal was einstürzen. Der Schultheiß ließ denn auch den Zugang sperren. Aber da hatten die Kinder schon andere Spielorte entdeckt: die Flussufer, den alten verwilderten Pfarrgarten, die nahen Wälder, in denen Pilze und Beeren wuch-

Tür ging, kam ihr die Kleine vor wie ein Vogel, der zuvor in einem Käfig gesessen hatte und der jetzt durch nichts mehr aufzuhalten ist, der entschlossen mit den Flügeln schlägt und das Weite sucht.

„Wenn ich so groß bin wie du, kann ich schneller rennen als ihr alle“, ruft Sophie. Und weg ist sie. Was soll Inge tun? Sie kann ihre Schwester ja schlecht an die Leine legen. Aber sie muss auf sie aufpassen. Inge ist schon neun, sie trägt Verantwortung.Der Ort, an dem Sophie Scholl, ihre Eltern und Geschwister lebten, heißt Forchtenberg. Er liegt im Süden Deutschlands, in Schwaben. Heute kann er ein hübsches Städtchen genannt werden mit vie-len Fachwerkhäusern, mit einer schönen, alten Kirche und mit einer Schlossruine. Er liegt idyllisch an den Flüssen Kocher und Kupfer, wo guter Wein wächst. Man hat viel getan in der letzten Zeit, die Stadtmauer nachgebaut und die Häuser frisch gestrichen. Aber damals, im Jahre 1926, als Sophie Scholl fünf Jahre alt war, wirkte Forchtenberg recht ärmlich. Einem kleinen Kind fällt so etwas nicht auf. Vor allem, wenn es wie Sophie die Wiesen, die Bäume und den Fluss liebt und es zu Hause gut hat. Die Scholls waren nicht wohlhabend, aber sie kamen aus. Sophies Vater Ro-bert Scholl war der Bürgermeister von Forchtenberg, damals sagte man: der Stadtschultheiß. Er hat sich große Mühe gegeben, für seine Ortschaft und die Menschen etwas zu tun, so zum Beispiel Wasserleitungen zu bauen, einen Eisenbahnanschluss zu bekom-men und eine Fest- und Turnhalle zu errichten. Er war viel unter-wegs. Aber oft arbeitete er auch in seiner Stube im alten Rathaus. Hier wurde Sophie geboren, hier wohnte auch die Familie Scholl: Vater Scholl mit Mutter Magdalena, der ältesten Tochter Inge, da-mals neun Jahre alt, dem Sohn Hans, acht, Elisabeth, sieben, So-phie, fünf, und Werner, vier Jahre. Drei Jahre nach Werner kam noch ein Schwesterchen zur Welt, Thilde, aber es starb, bevor es noch ein Jahr alt wurde. Sophie hatte zwei große Schwestern: Inge war wirklich „groß“, denn sie war vier Jahre älter. Elisabeth, Liesl

Mittelalterliche Häuser in Sophies Geburtsort Forchtenberg

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Sophie hatte die Geschichten aus der Bibel im Kindergarten gern gehört. Sie ging auch mit Freuden in das „Kinderkirchle“, das nach dem Hauptgottesdienst in der Michaeliskirche stattfand. Manch-mal hielt ihre Mutter dort die Bibelstunde ab. Die Scholls gehör-ten zur protestantischen Gemeinde. Für Sophie wird ihr Glaube an Jesus Christus und den Herrgott ihr Leben lang eine große Rolle spielen. Als kleines Mädchen und auch später als junge Frau liebte sie die Natur über alles. Aber nicht nur wegen des Blumen-duftes, des Vogelgezwitschers und der Kleeblüten, die nach Honig schmeckten. Sie hatte von ihrer Mutter, im Kinderkirchle und in der Kleinkinderschule schon früh viel über die Schöpfung gehört. Sie sah deshalb einen liebevollen Gott in allem walten, was sie draußen auf der Wiese und am Fluss entzückte. Und diesen Gott, der die schöne Welt bis hin zu den Weinbergen am Kocher ge-schaffen hatte, den liebte sie vor allem.In jenen Jahren wurde Deutschland von etwas erschüttert, was Sophie nicht verstand, dafür war sie noch zu klein. Die Großen verstanden es im Grunde auch nicht. Dieses Etwas hieß Inflati-on, man übersetzt es mit Geldentwertung. Das Deutsche Reich war Verlierer des Ersten Weltkriegs gewesen – 1918, drei Jahre vor Sophies Geburt. Der Kaiser musste abdanken, das Land wurde eine Republik. Verschiedene Parteien wetteiferten um Wähler-stimmen, und in der erschöpften Bevölkerung gab es viele, die

„ihren alten Kaiser Wilhelm wiederhaben“ wollten. Dem geschla-genen Deutschland wurden von den Siegern hohe Reparationen auferlegt. Das ohnehin am Boden liegende Land musste Riesen-summen Geldes an die Staaten zahlen, die es angegriffen und ge-schädigt hatte. Da kam die Regierung auf die Idee, einfach Geld zu drucken – fast wie ein Falschmünzer. Da nun viel zu viel Geld im Umlauf war, dem keine gewachsene Warenmenge gegenüber-stand, stiegen die Preise – sie wurden sozusagen aufgeblasen wie ein Luftballon. Irgendwann kostete ein Brot eine Million. Die

sen. Sophie war immer dabei, wenn es etwas zu entdecken gab. Sie spielte aber auch für sich allein und erntete begeistert Kräuter im Gemüsegarten. Als sie sechs Jahre alt war, lernte sie schwimmen. Mit Inge zusammen durchquerte sie den Kocher. Man kann sich denken, wie stolz Sophie war. Und Inge hatte jetzt keine Angst mehr, dass die kleine Schwester sich verlaufen könnte.Kindergärten waren damals noch etwas Besonderes und längst nicht so verbreitet wie heute. Aber in Forchtenberg gab es einen. Man nannte ihn die Kleinkinderschule. Sie war schon 1832 als

„Bewahrungs- und Beschäftigungsanstalt“ für die Kleinsten zwi-schen drei und sechs Jahren von einem Pfarrer gegründet worden. Auch jetzt, bald hundert Jahre danach, gab es dort viele erbauliche Geschichten aus der Bibel zu hören. Aber es wurden auch Lieder gesungen, und im Hof konnten die Kinder toben. Dennoch ging es keineswegs so zu wie heute in einer Kita: Eine einzige Erzie-herin musste siebzig kleine Kinder beaufsichtigen. Das ging nur, wenn sie absoluten Gehorsam verlangte und nicht duldete, dass während der Bibelstunde jemand lachte. Für freche Kinder, die dennoch aus der Reihe tanzten, gab es einen Karzer, eine dunkle Kammer, in die sie eingesperrt wurden. Davor hatten natürlich alle Angst. Liesl und Sophie gingen dennoch gerne in die Klein-kinderschule, denn sie wären sonst gar zu neidisch auf Inge und Hans gewesen, die schon in die „richtige“ Schule gingen.Dahin kam Sophie, als sie sechs Jahre alt war. Wie die meisten Erst-klässler war sie arg stolz. Mit ihren Geschwistern zog sie hinaus vor die Stadtmauer, wo das Schulgebäude am Fuße eines Hügels lag. Es umfasste nur drei Klassenräume. Deshalb mussten immer mehrere Klassen zugleich in einem Raum unterrichtet werden. Sophie kannte ihren Lehrer schon, denn er war ein Freund des Vaters. Sophie, die überhaupt keine ängstliche Natur war, freute sich auf alles, was da kommen würde. Zur Schule gehen hieß ja eigentlich groß sein.

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1918

berger seine Verdienste anerkennen und ihn wiederwählen wür-den. Aber es kam anders. Der Gegenkandidat erhielt mehr Stim-men, und Robert Scholl fand sich unversehens im Millionenheer der Arbeitslosen wieder. Sophie begriff genau, was vor sich ging. Sie fühlte sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen wegge-zogen. Und so war es ja auch. Die achtköpfige Familie – es gehörte noch ein Pflegesohn dazu – musste das Städtchen im Kochertal verlassen. Hier hätte der Vater keine neue Arbeit gefunden. Aber er bekam eine neue Stellung bei einer Malerinnung in Stuttgart. Er erledigte für diesen Verband die Rechtsgeschäfte. Wohnen aber wollte die Familie im nahen Ludwigsburg, dort hatten sich die El-tern einst kennengelernt. Man zog in eine große Wohnung in der Nähe des Bahnhofs. Die Kinder hatten es zu ihren Schulen nicht weit. Und obwohl sie oft an das Kochertal, die Weinberge, die Wiesen, den verwilderten Pfarrgarten und das alte Rathaus den-ken mussten, auch an die Spielgefährten, die sie zurückgelassen hatten, lebten sie sich schnell ein. Sophie ging auf die „Evangeli-sche Mädchenschule“ und gehörte hier, wie auch schon in Forch-tenberg, bald zu den Besten in ihrer Klasse.Inzwischen hatten sich die wirtschaftliche Lage und auch die Stim-mung im Land noch weiter verschlechtert. Die Regierung ver-suchte durch strenge Sparsamkeit der Lage Herr zu werden, aber das war genau genommen das falsche Signal. Es ging nur immer weiter abwärts. Damals begannen hellsichtige Wirtschaftswissen-schaftler eine Theorie auszuarbeiten, nach der Regierungen in einer tiefen Krise lieber im großen Stil Geld leihen und Aufträ-ge vergeben sollten, damit Menschen arbeiten können, Geld ver-dienen und dieses Geld auch ausgeben, sodass die Wirtschaft in Schwung kommt. Von den Steuern, die der Staat dann einnimmt, kann er die Schulden wieder zurückzahlen. In deutschen Regie-rungskreisen wusste man von solchen Ideen nichts, und wenn doch, glaubte man nicht, dass sie funktionierten. Die Wirtschaft

Sparstrümpfe der kleinen Leute, aber auch große Geldvermögen waren wertlos geworden. Viele Menschen verarmten. Die Wirt-schaft steckte sowieso schon in einer schlimmen Krise. Die Ar-beitslosigkeit war hoch. Viele Firmen gingen bankrott, manche Menschen hungerten. Eine Währungsreform beendete schließ-lich die Inflation. Aber auch Jahre später sah es in Deutschland immer noch trü-be aus. Auch die Forchtenberger schnallten ihre Gürtel enger, zu Geburtstagen und an Weihnachten gab es bei Scholls nur noch Kleinigkeiten. Mutter Magdalena war froh, wenn es zu einem Ku-chen reichte. Die Menschen sorgten sich, sparten wie verrückt – und suchten nach Schuldigen. In Forchtenberg fragte man sich, ob Schultheiß Scholl wohl auch alles richtig gemacht habe. Ob ein anderer nicht einen wirtschaftlichen Aufschwung angeregt und neue Arbeitsplätze geschaffen hätte. Im Dezember 1929 war eine Wahl fällig, und Robert Scholl hoffte inständig, dass die Forchten-

Die Geschwister Scholl um 1931, hinten von links Inge, Hans und Elisabeth, vorne Sophie und Werner

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ausgebauten Mauer umgeben und beherbergte einst viele Solda-ten. Zu den Auflagen, die Deutschland nach seiner Niederlage im Weltkrieg zu erfüllen hatte, gehörte eine weitgehende Abrüstung. Die Soldaten also mussten nach Hause gehen, sie waren arbeitslos geworden, wie auch all die Menschen in den Fabriken, Läden und Behörden, die mit dem Militär zu tun hatten. In Ulm hatte die Krise deshalb zu noch größeren Problemen geführt als anderswo. Am Elend der Arbeitslosen konnte niemand vorbeisehen.In der Familie Scholl war Hilfsbereitschaft, war Altruismus ein wichtiger Wert. Aber der Arbeitslosigkeit, das begriffen alle, war mit milden Gaben nicht beizukommen. Hier ging es um Politik. Und es war deutlich, dass die Politiker versagten. Inge und Hans, die beiden ältesten Scholl-Kinder, waren jetzt fünfzehn und vier-zehn Jahre alt. Sie sprachen oft mit ihrem Vater über die Lage. Sie waren voller Skepsis gegen das politische „System“ mit den vielen Parteien, die immer neue Koalitionen bildeten und nichts zum Besseren wendeten. Sie hatten kein Vertrauen in die Republik, so wie sie jetzt aussah. Vater Scholl war auch unzufrieden, wollte aber weder den alten Kaiser Wilhelm wiederhaben noch ein anderen starken Mann. Er hielt an der Republik fest und auch an der De-mokratie mit ihrem Parlament, in dem sich die Führer der Frakti-onen, vor allem die der ganz rechten und der ganz linken Parteien, regelrecht anpöbelten. Das war, fand Scholl, nicht gut. Man müsse aber die Demokratie reformieren, anstatt sie abzuschaffen.Sophie interessierte sich noch nicht für Politik. Sie hörte dies und das, aber die großen Probleme und Themen der Zeit rauschten an der Elfjährigen vorbei. Wichtig für sie war das Klavierspiel, da genoss sie es sehr, wenn sie fühlte, dass sie weiterkam. Und dann das Malen und Zeichnen. Dafür war Sophie wirklich begabt. Inge Scholl, die später, nach dem Krieg, viel über ihre Schwester er-zählt hat, berichtet, dass sie Sophies Talent schon früh erkannt hatte und ihre Schwester förderte, indem sie ihr Pinsel und Far-

schrumpfte weiter. In den Städten saßen ausgehungerte Männer auf den Treppenstufen der Mietskasernen mit einem Schild um den Hals, auf dem stand: „Nehme jede Arbeit an.“ Kinder starben an einfachen Krankheiten, weil sich die Eltern keine Medizin leis-ten konnten. Im Innenministerium und auf den Polizeidezerna-ten bereitete man sich auf die Niederschlagung von Revolten vor. Es waren Zeiten großer Not.Robert Scholl war mit seiner Arbeit alles andere als glücklich. Als Bürgermeister hatte er tun können, was er für richtig hielt. In Stuttgart, bei der Innung, musste er tun, was andere ihm sag-ten. In Abendkursen bildete er sich zum Wirtschaftsprüfer wei-ter. Und in diesem Bereich erhielt er dann auch einen Posten in der Stadt Ulm. Der Familie stand also ein weiterer Umzug bevor. Kaum hatten sich die Kinder in Ludwigsburg eingelebt und neue Freundschaften geschlossen, hieß es Koffer packen! Wir ziehen nach Ulm. Aber der Vater war in Lohn und Brot; alle Kinder, von der großen Inge bis zum kleinen Werner, wussten, wie wichtig das war. Also packten sie folgsam ihre Koffer. Sophie war schon zehn und für ihr Alter sehr vernünftig. Aber ein paar Tränen gab es doch.Ulm ist eine schöne alte Stadt, an der Donau gelegen. Sie besitzt mit ihrem evangelischen Münster die größte Kirche Deutsch-lands, ein gotisches Wunderwerk mit einem himmelhohen Turm, dessen Anblick einem den Atem verschlägt. Die Familie Scholl mietete sich auf dem Michelsberg ein, in einem damals neu er-bauten Stadtviertel. Von den Fenstern der Wohnung aus konnte man das Münster sehen. Sophie und ihre beiden Schwestern be-suchten die Oberrealschule, die nicht weit weg vom Münster lag. Der Schulweg war lang. Er führte durch die Innenstadt, und hier konnten die Kinder sehen, dass auch Ulm von der Wirtschafts-krise nicht verschont worden war. Ganz im Gegenteil. Ulm war eine „Festung“ gewesen. Die Stadt war mit einer besonders stabil

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das Deutsche Reich, dieses eigentlich mächtige Land in der Mit-te Europas, zu demütigen und klein zu halten, sollte rückgängig gemacht werden. Das Schuldbewusstsein der Deutschen, die im Ersten Weltkrieg ihre Nachbarländer angegriffen und viel Unheil angerichtet hatten, sei überflüssig, meinten die Nazis. Stattdessen braucht Deutschland wieder Selbstbewusstsein, braucht einen Führer, der ihm Hoffnung und Kraft gibt. Was es nicht braucht, ist ein Parlament mit vielen Parteien, die sich nur unnütz zanken. Und die jüdische Minderheit, die überall Schlüsselpositionen im Reich besetzt halte und großen Einfluss ausübe, die müsse eben-falls weg, meinten die Nazis. Der Judenhass, etwas vornehmer An-tisemitismus genannt, gehörte als zentraler Bestandteil zur Propa-ganda der NSDAP. Sündenböcke werden immer gesucht, wenn es einem Land schlecht geht. Deutschland ging es miserabel – da war es einfach und tat gut, jemandem die Schuld aufzuladen. Dem Ausland wurde ohnehin die größte Schuld zugeschoben. Aber im Inland musste auch jemand der Böse sein. Die Juden, denen man leicht irgendeine Andersartigkeit – sie hatten ja ihre eigene Reli-gion – zuschreiben konnte, boten sich auch deshalb an, weil der Antisemitismus in Deutschland, und nicht nur dort, weit verbrei-tet war, lange vor Hitler und den Nazis.Wer Ohren hatte zu hören, der hörte aus diesen Programmen he-raus: Hitler will Krieg. Er will die Niederlage von 1918 vergessen machen. Er will im Grunde den Weltkrieg weiterführen und be-weisen, dass die Deutschen damals hätten gewinnen können, weil sie jetzt gewinnen würden. Robert Scholl hatte Ohren, um dies herauszuhören und machte sich große Sorgen. Hitler versprach den Deutschen neuen „Lebensraum“, und das konnte nur heißen, dass er andere Länder überfallen und besetzen wollte. Auf den Straßen Ulms hörte man immer wieder den klackenden Marschtritt von Hitlers Sicherheitstrupps: der Sturmabteilung (SA*) und der Schutzstaffel (SS*). Auch Sophie sah Mannschaften

ben besorgte. „Manchmal stellte ich sie vom Geschirrabwaschen und Abtrocknen frei, damit sie Zeit zum Malen hatte.“ Was ein Leben lang am Wichtigsten für Sophie blieb, war die Na-tur. In Ulm, um Ulm und um Ulm herum gab es wunderschöne Ausflugsziele: an der Donau, in den Bergen und Wäldern, und die Familie Scholl war ausgesprochen wanderlustig. Aber man fuhr auch mit dem Fahrrad hinaus, brachte Blumensträuße, Waldbee-ren, Pilze und den Duft nach Sommer mit. Als Achtzehnjährige hat Sophie in einem Aufsatz geschrieben, was für eine Art von Glück die Berührung mit der Natur für sie war: „An nichts anders mehr denkend, stolpere ich die blumenüberwucherte Böschung hinab und stehe bis über die Knie inmitten saftiger Gräser und Blumen. Sie streifen meine Arme beim Niederknien, ein Hahnen-fuß kühlt meine Wange, eine Grasspitze kitzelt mein Ohr, dass mich einen Augenblick eine Gänsehaut überrieselt.“ Die Gänse-haut war das Bewusstsein, dazuzugehören: zur Natur, zum Leben, zur Schöpfung. Und dass dieses Leben voller Schönheit war.Ende Januar 1933, als Sophie schon manchmal an den Mai dachte, an ihren zwölften Geburtstag und was sie sich wohl wünschen sollte, war Deutschland in einer seltsamen Aufregung, denn in der Politik war eine folgenschwere Entscheidung gefallen. Adolf Hitler war an die Macht gekommen. Seine Partei, die NSDAP*, also die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, war zuvor schon stärkste Partei im Reichstag geworden und hatte mit ihrer Ideologie, ihrem Weltbild, einen erheblichen Einfluss auf deutsche Stammtische, also auf die einfachen Leute, die gern mit ihrem Bür-germeister einen trinken gehen, aber auch auf die Gespräche und Hoffnungen kluger Leute aus allen sozialen Schichten gewonnen. Das Programm der Nazis* hieß, kurz zusammengefasst: Deutsch-land muss wieder groß werden. Die Politik der Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg, die hohen Reparationen, die Gebietsver-luste und die Abrüstung, alles, was die Sieger getan hatten, um

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Bündisches LebenKameradschaft und Abenteuer

Sophie kippelt mit dem Küchenstuhl. „Das finde ich ungerecht! Hans macht sich den ganzen Tag wichtig mit seinem Jungvolk* und mit seinem Braunhemd und mit all dem. Und du, du kannst sogar Mädels anführen und bist eigentlich noch gar nicht alt ge-nug. Und jetzt haben sie schon Werner aufgenommen –“ Sophies Stimme bricht fast. Sie greift sich eine der Zwiebeln, die Inge gleich hacken will und zieht die äußere braune Schale ab, damit es einen unverfänglichen Grund gibt für ihre aufsteigenden Tränen.Inge grinst. Und wiegt den Kopf. „Nun mal langsam, das muss erst Formen annehmen mit den Jungmädelschaften*. Da gibt’s nen Haufen Organisationsaufgaben, die erledigt sein müssen. Du kommst schon noch dran.“ Jetzt tränen auch Inge die Augen, sie schiebt Sophie Brett und Messer zu. Und sagt in ernstem Ton: „Es geht in der HJ und im BDM* nicht nur um Spaß an der Freud, So-phie. Wandern, Feuer machen, auf Bäume klettern, alles das, was du so gern magst. Das gehört dazu, natürlich, aber das Wichtigste ist die Überzeugung. Dass wir jetzt hier einen neuen Staat aufbau-en. Und uns rein erhalten als Mädel, die dem Führer dienen. Rein erhalten, verstehst du, innen und außen.“ Sophie verzieht das Ge-sicht. „Rein?“, fragt sie und schießt der Schwester einen typischen Sophie-Blick zu: verwundert, ungläubig, leicht belustigt. „Um das zu verstehen“, fährt Inge fort, „braucht man nun mal … ja, man braucht Reife. Du bist doch grad mal erst zwölf.“Sophie nimmt das Küchenhandtuch und fährt sich damit über die Augen. „Reife? Und Werner darf schon mit? Der ist ja wohl

in ihren braunen Uniformen vorbeimarschieren. Viele schauten mit Hoffnung auf diese Männer: Wenn Hitler die Wehrpflicht wieder einführte und die Armee vergrößerte, dann könnten die Soldaten wieder in ihre Kasernen einziehen und für den Ernstfall proben. Ulm wäre wieder eine bedeutende Festung.Den Kindern machte das Militär eher Angst. Sophie schaute nicht voll Stolz zu, wenn die Braunhemden der Sturmabteilung vorüberzogen, sie verdrückte sich lieber. Zumal der Vater nicht viel Gutes über die zu sagen wusste. Aber auch für die Jüngeren hatten die Nazis sich etwas ausgedacht. Sie gründeten einen gro-ßen, landesweiten Jugendbund, in dem alle Bünde, die es damals schon gab, aufgehen sollten: die Hitler-Jugend (HJ*). Es gab sie schon seit 1926, als Jugendorganisation der Partei. Aber erst nach der Machtübernahme durch die Nazis wurde die HJ innerhalb der jungen Generation allmächtig. Möglichst alle Kinder und Jugendlichen sollten mitmachen. Dafür versprach die HJ: Heim-abende, Wanderungen, Lagerfeuer, Kameradschaft, Großfahrten* durch die schönen deutschen Landschaften, Kochen, Schmausen und Singen unter freiem Himmel, Sonnenwendfeiern, Heimatlie-be und immer wieder Volksgemeinschaft. Das gefiel den Scholl-Kindern ungemein. Da wollten sie unbedingt dabei sein. Robert Scholl zog die Stirne kraus. Aber er hatte gegen die Verlockungen dieser begeisternden Jugendkultur keine Chance.

Uniform der Hitlerjugend

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 Verlagshaus Jacoby & Stuart, BerlinAlle Rechte vorbehaltenLitho: Sepp Barske und typoceptaSatz: typocepta, KölnSatz aus der Corporate, der Minion und der ReporterDruck und Bindung: CPI, UlmPrinted in Germany

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Bildquellen:© Manuel Aicher, Dietikon: 18, 40Alle anderen Fotos mit freundlicher Genehmigung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Quellen für die Chronik:Weiße Rose Stiftung e.V.: www.weisse-rose-stiftung.deDeutsches Historisches Museum: www.dhm.deBundeszentrale für politische Bildung: www.bpb.deSophie Scholl / Fritz Hartnagel, Damit wir uns nicht verlieren. Briefwechsel 1937–1943, hrsg. v. Thomas Hartnagel, Frankfurt am Main 2005, darin: Historischer Überblick. Herbst 1937 bis Früh-jahr 1943, S. 469–488.

Nina SchindlerWer war Karl May?Karl May ist der meistgelesene Schriftsteller deutscher Sprache. Der Schöpfer von Winnetou und Old Shatterhand, dem berühmtesten Indianer und seinem besten Freund, stammte aus ärmlichen Verhältnissen und sprühte vor Ideen. Er träumte von fernen Ländern und merkte, dass er davon schreiben konnte und dass die Leute ganz gebannt lasen, was er schrieb. Dass er als Schriftsteller so erfolgreich wurde, lag wohl nicht zuletzt daran, dass er nicht zwischen Wirklichkeit und Phantasie unterscheiden wollte: Er selbst war Old Shatterhand!112 Seiten, isbn 978-3-941087-10-1

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