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Weiter mit Lenin! (LO 1 - 4/92)

Mit der Losung »Vergesst Lenin« will uns die sog. "linke" Mo-natszeitung "PROWO" der 4. Internationale der ISL-Linie in ihrer92er Februarausgabe zur Fahnenflucht aufrufen. Um uns angeblichmarxistische Treue zu beweisen, setzt sie sich erst einmal von denbürgerlichen Tiefdenkern wie z.B. den Spiegelschrei-berlingen ab,die natürlich den Schuldigen des »sozialistischen Debakels« beiMarx selber sehen.

Wir wollen uns mit diesem Artikel beschäftigen, weil er typischfür das Durchdringen bürgerlicher Ideologie in die Köpfe der Ex-linken ist. Die eine Linie stellt die Arbeiterklasse als revolutionäresSubjekt in Frage, die andere, mit der wir es hier zu tun haben,schießt sich auf die revolutionäre Theorie und die Partei als Trägerder Theorie ein. Bei beiden Linien wird als Endpunkt der totaleVerrat der Idee der klassenlosen Gesellschaft stehen müssen. Parteiund Basis ist gleichermaßen notwendig und das jeweils eine nurmit dem jeweils anderen vital lebensfähig. Wir müssen uns also alsMarxisten gegen den Verrat sowohl der Arbeiterklasse, als auch derPartei wehren, um künftige Irreleitungen der Arbeiterbewegung zuverhindern. In der nächsten Ausgabe werden wir uns dann mit derArbeiterklasse als zukünftiger führender Klasse auseinandersetzen.

Nachdem die PROWO sich also von den Antimarxisten distan-ziert hat, wird schon in dem nächsten Atemzug den sog. »traditio-nalistischen Kommunisten«, die »leider« nur Stalin zum »Abschussfreigegeben« haben, »alberne Geschichtsauffassung« bescheinigt.In einem Zitat von H. Krauss stellt sich aber der scheinbare »tradi-tionalistische Kommunist« als ein Ewigstalinist heraus: »Der Stali-nismus ist ein... System der...Vulgarisierung der Theorien vonMarx, Engels und Lenin«. Stalin hat aber die Theorien von Marxund Lenin nicht 'vulgarisiert', was ja hieße, sie nur zu einer vulgä-ren Abart des Marxismus entstellt zu haben, sondern Marxens The-orien, und zwar alle, in ihr Gegenteil verkehrt, um sie in den Dienst

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der neu entstandenen herrschenden Klasse, der Bürokratie, stellenzu können.

Die PROWO benutzt also einen "Schafspelz" Stalinisten, um ihreantileninistischen Moralausdünstungen als in der marxistischenTradition stehend darstellen zu können.

Ohne dies mit einem Zitat zu belegen, weiß sie, dass

»von Bewusstseinstheorie im eigentlichen Sinne bei Lenin nichtgesprochen werden kann... Die Klasse wird als notwendig zu füh-rende, weil bewusstseinsmäßig nur mäßig - auf den eigentlichenLohnkonflikt gerichtet - ausgestattet interpretiert«.

Bei Lenin im Original liest sich das aber fast anders herum:

»Die Arbeiterklasse ist instinktiv und spontan sozialdemokra-tisch, und die mehr als zehnjährige Arbeit der Sozialdemokratiehat schon sehr, sehr viel dazu beigetragen, diese spontane in einebewußte Einstellung zu verwandeln. Malt keine Schreckbilder andie Wand, Genossen! Vergesst nicht, dass es in jeder lebendigenund sich entwickelnden Partei stets unbeständige, wankelmütigeund schwankende Elemente geben wird. Aber diese Elemente las-sen sich von den erprobten und fest zusammengeschweißten sozi-aldemokratischen Kern beeinflussen und werden sich weiterhinvon ihm beeinflussen lassen.«

Die Aufgabe der Partei bei Lenin ist also nicht, die Massen auf-zuklären, sondern die spontan entstandene Entdeckung der objekti-ven Interessen zu verallgemeinern und zu konservieren. Geführtwerden von der Theorie des marxistischen Kompasses und den Er-fahrungen der Arbeiterbewegung müssen alle Sozialisten, sowohldie Massen, als auch die Parteimitglieder, auch hier Führung wieBasis. Durch die unterschiedliche Entwicklung des Bewusstseinsim Kapitalismus besteht die ständige Gefahr, dass die bewusstenElemente wieder zurückfallen, bevor die nächsten Teile derArbeiterklasse sich ihrer Lage bewusst werden.

Der Marxismus ist auch nicht irgendeine Theorie, die vielleichtam grünen Tisch entstanden den Arbeitern aufgedrängt werden

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sollte. Der Marxismus ist eine Methode, die Welt zu verstehen undgibt Anleitung zum Handeln. Marx konnte seine Ideen erst entwi-ckeln, nachdem die Arbeiter in Lyon und die Chartisten in Englandstreikten. Seine Theorie bezieht sich auf die Arbeiterklasse und erst,wenn man den Klassenstandpunkt verlässt, ist man unrettbarverloren und irrt verstört im Dunkel der Zeit.

Die marxistische Theorie kommt aus der Arbeiterklasse und fließtzu ihr zurück. Die Marxisten sind auch kein gesonderter Teil mitbesonderen Interesse, sondern der zuerst erwachte Teil. Durch dieunterschiedliche Entwicklung des Bewusstseins im Kapitalismusbesteht die ständige Gefahr, dass die bewussten Elemente wiederzurückfallen, bevor die nächsten Teile der Arbeiterklasse sich ihrerLage bewusst werden. Die Aufgabe der Partei bei Lenin ist, diesenWiderspruch zu erkennen und eine Lösung zu geben, dass die Er-kenntnisse der Arbeiterklasse nicht im Strudel der Geschichte un-tergehen. Auch wenn er den Begriff des Berufsrevolutionärs ge-braucht, heißt das nicht, dass dieser über den Massen stehen soll,sondern nur, dass der zuerst erwachte Teil verantwortungsbewusstden Marxismus für die nächst erwachenden Teile bewahren undvermitteln soll. Eine Spaltung zwischen Partei und Klasse gibt esbei Marx und Engels nicht und auch nicht bei Lenin. Die gibt esnur in den Köpfen von Kleinbürgern, die die Dynamik des Klas-senkampfes nicht verstehen können und wollen.

Als schulmeisterliche Erzieher der Massen haben nur die Stali-nisten Lenin immer verstanden, er selber hat den Arbeitern aberviel mehr zugetraut. Im Oktober 1917 stützte er sich auf die Basisin den Fabriken und der Partei, als außer ihm und Trotzki alle ande-ren ZK-Mitglieder vor der Inangriffnahme der Revolution zögerten:

»Mehr als einmal hatte Lenin gesagt, die Massen seien linker alsdie Partei. Er wusste, dass die Partei linker war als die Ober-schicht der 'alten Bolschewiki'«.

Natürlich geht Lenin richtigerweise von der Notwendigkeit derFührung aller aus, also sowohl der Parteibasis als auch der Partei-leitung und natürlich auch der Masse. Die Klasse muss aber bei Le-nin nicht deshalb geführt werden, wie die PROWO schreibt, weil

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sie "bewusstseinsmäßig nur mäßig ausgestattet" sei, sondern weildas Bewusstsein nicht gleichzeitig und nur spontan entsteht unddaher von einer theoretischen Führung konserviert werden muss.Wir finden also bei Lenin ein Wechselverhältnis des Lernens. Die-ser Lernprozess muss auch von beiden Seiten auf freiwilliger Basisberuhen, mit eigenen Erfahrungen verinnerlicht werden.

Die Kritik sollte also nicht dem Begriff der Führung gelten, son-dern dem Zwang zum Geführtwerden. Einen Zwang zum Geführt-werden und der "Die Partei hat immer Recht"-Anschauung findenwir bei Stalin und seinen Epigonen. Bei der Lektüre des PROWO-Artikels drängt sich bei mir die Vermutung auf, dass der Verfasserhier seine eigene Vergangenheit zu bewältigen versucht und da erblind im Marxismus herumstapft, dabei auch gleich Lenin mit überBord wirft.

Diese blinde Ursachenforschung setzt sich dann auch in derStaatsauffassung fort:

»Staat gibt es bei Lenin nur als Herrschaftsinstrument! Meta-phern wie Maschine, Knüttel, Herrschaftsapparat usw. für denStaat zeigen deutlich, wie simpel Lenins Vorstellung der gesell-schaftlichen Aufgaben das Staates war. etc.«

Nur zur Information sei ihnen gesagt, dass auch bei Marx, an demja die PROWO angeblich noch festhalten will, mit entsprechenWörtern die gleichen Zusammenhänge zwischen Kapital und Staataufgezeigt werden:

»...Jene Staatsmacht ist in Wirklichkeit die Schöpfung der Bour-geoisie, zuerst als Mittel, den Feudalismus zu zerbrechen, dannals Mittel, die Freiheitsbestrebungen der Produzenten, der Ar-beiterklasse, zu unterdrücken... Sie hatte den herrschenden Klas-sen als Mittel der Unterjochung und der Bereicherung gedient.«und weiter hinten

»Aber die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerieeinfach in Besitz nehmen und diese für ihre eigene Zwecke in Be-wegung setzen. Die zentralisierte Staatsmacht, mit ihren allge-genwärtigen Organen - stehende Armee, Polizei, Bürokratie,

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Geistlichkeit, Richterstand, Organe, geschaffen nach dem Planeiner systematischen und hierarchischen Teilung der Arbeit -stammt her aus den Zeiten der absoluten Monarchie, wo sie derentstehenden Bourgeoisgesellschaft als eine mächtige Waffe inihren Kämpfen gegen den Feudalismus diente.«

Es ist geradezu absurd, Lenin in der Frage der Staatstheorie vonMarx und Engels spalten zu wollen. In allen seinen Schriften überden Staat bezog sich Lenin immer wieder auf deren Analyse mitZitaten und sah seine Aufgabe darin, diese mit seinen neueren Er-kenntnissen zu untermauern.

»Der Staat gehört nicht den Kapitalisten, auch nicht dem Kapital... Die Vielschichtigkeit bourgeoiser Disparitäten und Konkur-renzen multipliziert mit den Ausgleichsnotwendigkeiten einer Klassengesellschaft, dies alles ist durch Herrschaft nicht und durch Unterdrückung schon gar nicht zu leisten«

lesen wir vielbedeutend in der PROWO. Nur dadurch aber, dassman Fremdwörter mit der Mathematik vermischt und dann nochdies mit grammatikalischen Fehlern verknüpft, so dass am Endeniemand mehr irgend etwas versteht, wird eine Aussage nicht rich-tig. Bei Marx und Lenin ist auch von einem juristischem Eigentumdes Staates keine Rede, beide gehen von dem Staat als „relativ un-abhängigen idealem Gesamtkapitalist“ aus.

Was soll also im zweiten Satz geleistet werden? Die Vielschich-tigkeit bürgerlicher Disparität (Ungleichheit), die Konkurrenz, dieMultiplikation oder die Ausgleichsnotwendigkeit? Wenn die Un-terdrückung des Kapitals nichts bewirken könnte, denn frage ichmich, warum ich unterdrückt werde und mir mein Mehrprodukt,die Differenz zwischen meinem Gebrauchs- und Tauschwert, ent-wendet wird? Dadurch, dass ich über mein Mehrprodukt nicht ver-füge, ich also entfremdet werde, ist mein ganzes Leben mir fremdund verfügt der Kapitalist, der sich dieses Mehrprodukt aneignetüber mein Leben, über das produktive wie das reproduktive. DerUnterdrückungsapparat sind die Justiz, das Militär, die Polizei, dieAdministration usw. Sie werden nicht gewählt, doch sie sind es, die

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mir im Alltagsleben ständig begegnen. Den "gewählten Abgeord-neten" sehe ich nur am Sonntag auf dem Bildschirm und er führtauch nicht das letzte Wort. Die Presse wähle ich nicht, sondern manbraucht das von mir angeeignete Mehrprodukt, und zwar Millionen,um über die Presse zu verfügen. Die Justiz, die Polizei und meinenChef wähle ich nicht. Der Produktionsmittelbesitzer aberbeispielsweise verfügt direkt über 8 Stunden am Tag und indirektüber den Rest meines Lebens.

Was die PROWO mit dem geheimnisvollen, bedeutungsschwan-gerem, mystischen Zauberformelsatz meint, drückt sie im Absatzdanach klarer aus:

»Moderne Varianten von Regulation, Klassenausgleich und-kompromiss, wenn auch zugunsten des Systems der bürger-lich/kapitalistischen Grundlage, kommen bei Lenin als Analyse-ansatz des bürgerlichen Staates nicht vor«.

In Aufschwungszeiten ist der Klassenkompromiss aber gerade derKnüppel zur Ausbeutung der Arbeiter, wenn auch der sanfte Knüp-pel. Die Unterdrückung wird subtiler durchgesetzt. Umgesetzt wirddie mehr versteckte Unterdrückung mit den reformistischenBürokraten. Diese behindern damit die Entwicklung desBewusstseins der Arbeiter und die Erkenntnis der Notwendigkeit,die Lohnarbeit insgesamt abzuschütteln und sorgen somit für dieFestigung des kapitalistischen Systems. In der Gegenüberstellungvon Knüttel und Klassenversöhnung steckt die Verniedlichung derbürgerlichen Diktatur in den Boomzeiten. Als ob die Zeiten derAusbeutung vorüber seien und eine 'moderne' Phase eingeleitetworden sei, in der der Kapitalismus die Bedürfnisse aller Menschennach Brot und Frieden für alle Zeiten lösen könnte. Der Vorwurfgegen Lenin ist absolut nichts Neues. Auch er musste sich schon zuLebzeiten mit den Vorwürfen auseinandersetzen, dass er dieVeränderungen des Kapitalismus gegenüber den Zeiten von Marxnicht bemerkt hätte. Aber natürlich sah er die Phase der Prosperitätsehr wohl und die den Arbeitern von den Klassenversöhnlernangelegten Fesseln der 'Sozialpartnerschaft'. 1917 schrieb er:

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»Die in Jahrzehnten einer verhältnismäßig friedlichen Entwick-lung angesammelten Elemente des Opportunismus haben die inden offiziellen sozialistischen Parteien der ganzen Welt herr-schende Strömung des Sozialchauvinismus geschaffen« DerenNeigung zum Klassenausgleich beschreibt er weiter:

»Auf der einen Seite pflegen bürgerliche und besonders kleinbür-gerliche Ideologen - die sich unter dem Druck unbestreitbarergeschichtlicher Tatsachen gezwungen sehen, anzuerkennen, dassder Staat nur dort vorhanden ist, wo es Klassengegensätze undKlassenkampf gibt - Marx in der Weise "zu verbessern", dass derStaat sich als Organ der Klassenversöhnung erweist. Nach Marxhätte der Staat weder entstehen noch bestehen können, wenn eineVersöhnung der Klassen möglich wäre. Sei den kleinbürgerlichenund philisterhaften Professoren und Publizisten kommt es - oftunter wohlwollenden Hinweisen auf Marx! - so heraus, dass derStaat gerade die Klassen versöhne ... Nach Ansicht der kleinbür-gerlichen Politiker ist die Ordnung gerade die Versöhnung derKlassen und nicht die Unterdrückung der einen Klasse durch dieandere; den Konflikt dämpfen bedeute versöhnen und nicht, esden unterdrückten Klassen unmöglich machen, bestimmte Mittelund Methoden des Kampfes zum Sturz der Unterdrücker zugebrauchen.«

Die PROWO stellt mit ihrer Gegenüberstellung von offenem undverstecktem Knüttel, von Aussaugung und Kompromiss, diesen alsneue Fähigkeit des Kapitalismus dar, seine Probleme nicht mehrmit Krieg und relativer Verelendung lösen zu müssen. Bei 1000Entlassungen lautet der Kompromiss mit dem Kapital nur 500 Ent-lassungen plus Arbeitsplatzgarantien für die restlichen 500 auf demPapier. Diese sind dann so eingeschüchtert, dass 1 Jahr später derRest entlassen werden kann. 2,5 Millionen Arbeitslose in der altenBRD ist das Ergebnis lauter Kompromisse. Dass der Arbeiter vonseinen geschaffenen Werten immer geringere Anteile erhält ist dasErgebnis lauter Kompromisse. Die Integrationsfähigkeit des Kapi-tals in Aufschwungsphasen hat Wohnungsnot und Massenarbeitslo-sigkeit nicht abgeschafft. Das Stillhalten der Massen entstand nichtdurch eine 'moderne' Fähigkeit des Kapitals, sondern durch den

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einlullenden Verrat der Reformisten. Den Kompromiss als eine be-sondere Fähigkeit des 'modernen' Kapitals hinzustellen, heißt, ihnletztlich indirekt anzupreisen. Die PROWO entlarvt den Kompro-miss nicht als das, wozu er schließlich führt: Zu Massenarbeitslo-sigkeit, Völkervernichtung, globale Umweltkatastrophen, Massen-kindermord, Obdachlosigkeit, psychische und physische Verelen-dung. Was soll denn da der Hinweis auf den Kompromiss? Viel-leicht, dass er nur 30.000 statt 50.000 verhungernder Kinder täglichoder 800.000 statt 1.000.000 Wohnungsloser in der BRD schafft?Nein, dieser Kompromiss ist viel tödlicher als die offene Aussau-gung, da er die Arbeiter einschläfert und dennoch unsere Welt zer-stört.

Trotz der Anpreisung der Kompromisslerei kann der Verfasserseine stalinistische Herkunft aber nicht verstecken: »...die Perpe-tuierung des Unterdrückungscharakters hätte sich ja durch dieschnelle Realisierung wirklich sozialistischer Möglichkeiten aufhe-ben lassen.« Obwohl er in dem Satz danach feststellt, daß der »re-volutionäre Funke nach Deutschland nicht übergesprungen ist«,kritisiert er Lenin, daß er den Sozialismus nicht realisiert hatte.Dies ist nichts anderes als die stalinistische Theorie des Aufbausdes Sozialismus in einem Lande.

Im Russland von 1920 bestand nur noch eine Arbeiterklasse von1,5%. Der Rest von den vorher 5% war an der Front gefallen oderin der Bürokratie aufgegangen. Die letzten Arbeiter wurden durchElend und Hunger politisch atomisiert. Wie aber kann man einenSozialismus, eine Arbeiterdemokratie ohne Arbeiter aufbauen? Si-cher kann das ein Stalin in Jalta, indem er hinter den Aufteilungs-vorschlägen der Weltimperialisten seine Häkchen macht. Nur dassomit der Sozialismus in der "DDR" eingeführt wurde, will ichbestreiten und Lenin als Marxist war auch nicht so vermessen, zuglauben, er könnte ohne die Selbstbefreiung der Arbeiterklassenanderer Länder weiter zum Sozialismus schreiten. Den Sozialismuskann man nicht exportieren. Lenin hat aber mit seiner KominternPolitik alles für ihn Mögliche getan, damit der Funke der Arbeiter-revolution überspringen kann. übrigens hat er diesen Funken niemit Sicherheit vorhergesagt, wie uns die PROWO Glauben machen

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will, sondern er entsprach einer notwendigen Hoffnung, die dies-mal noch nicht eingetreten ist. Was wäre aber wenn, liebe PROWO,dann hätte auch dies wieder nichts genutzt, weil in Rußland dieRevolution ausgeblieben wäre, wenn Lenin und Trotzki demVorschlag der PROWO gefolgt wären und gezögert hätten.

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Lenin hat zumindest nach der Geschichte gegriffen. Die erste Schlacht wurdeschließlich verloren, weil die Weltrevolution ausblieb. Aber diesem erstenExperiment verdankt die Arbeiterbewegung heute unendlich vieleErfahrungen. Der Mut der russischen Arbeiter und der Bolschewiki1917 war auf alle Fälle nicht umsonst. Diese Einschätzung beant-wortet auch schon die Frage, warum wir uns über alte Theoretikermit relativ unbekannten Zeitungsmachern streiten. Lenin hatinsbesondere die Notwendigkeit der revolutionären Partei zum Siegder Arbeiterklasse propagiert. Mit dem Abgesang Lenin's wollenuns die unter die Rockschöße des Reformismus flüchtendenScheinmarxisten auch die Einsicht in die unabhängige Organisationder Arbeiter rauben und uns somit in die Arme der Klassenver-söhnler treiben.

Die PROWO stellt ihr Erscheinen ein und in einigen Jahren wer-den sich nur noch die Herausgeber an ihren Namen erinnern. ÜberLenin wird man noch in tausend Jahren sprechen und er wird unsMarxisten Kompass sein, bis Staat und Partei wegen der Auflösungaller Klassen unnötig geworden und 'abgestorben' sind. Daher kanndie Parole für alle Arbeiter und Kommunisten nur lauten:

"Vergeßt die PROWO, weiter mit Marx, Engels, Trotzkiund ... Lenin"

BebilderteBebilderte Len Len inwerke u.a.inwerke u.a.

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Leserbrief zur Rezension von Manfred Behrend über "Mandel: 'Zur Oktoberrevolution und zu Trotzki'"

Lenin und Trotzki, Wegbereiter Stalins?

War das Verbot der anderen Sowjetparteien und das Fraktionsver-bot innerhalb der KP-Russlands wirklich ein »schlimmer Fehler«?Gab es bei Trotzki und Lenin ein »substitutionistisches Konzept«,das für diese vermeintlichen Fehler verantwortlich wäre? Die Rea-lität sah doch anders aus.

Die Arbeiterklasse wurde von 4,5% der Bevölkerung seit der Okto-berrevolution 1917 auf ca. 1,5% 1921 dezeimiert. Sie verblutete ander Front des Bürgerkrieges oder ging in der Verwaltung auf. DerRest war politisch durch den Hunger desorientiert.

Ohne Arbeiter aber ist keine Arbeiterdemokratie möglich. Die Bol-schewiki mussten - ob sie wollten oder nicht - stellvertretend fürdas Proletariat die Aufgaben der Arbeiter übernehmen. Und siewaren sich darüber bewusst. Mit den anderen Parteien wurde langesehr liberal verfahren. Die Sozialrevolutionäre wurden z.B. sogarnoch nach ihrem ersten Putschversuch mit den Kadetten EndeNovember 1917 nicht verboten. Das Fraktionsverbot auf dem 10.Parteikongress wurde als »vorübergehende Maßnahme«angesehen. Darüber hinaus setzte sich Lenin sogar auch weiterhinfür Meinungsfreiheit in der Partei ein: »Sollten aber die Umständegrundlegende Meinungsverschiedenheiten hervorrufen, kann manes dann verbieten, dass sie vor dem Richterstuhl der gesamtenPartei ausgetragen werden? Das kann man nicht! Das ist einübertriebener Wunsch, der unerfüllbar ist und den ich abzulehnenempfehle.« 1

Lenin stützte sich bei der Oktoberrevolution auf die Arbeiterbasisgegen die ZK-Führung, die entweder gegen die Revolution war

1 Lenin: "Bemerkungen zur Resolution über die Einheit der Partei", Gesammelte Werke, Band 32, Seite 267

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oder sich enthielt (außer Trotzki). Er hat oft die Massen linker alsdie Partei eingestuft. Ein grundlegendes Stellvertretertum kann ihmnicht vorgeworfen werden.

Nun könnte man sagen, die Bolschewiki hätten ja bei dem Wissenum die Schwäche des russischen Proletariats die sozialistische Re-volution unterlassen können und nach den Vor-April-Thesen Leninseine bürgerliche Etappe durchführen sollen. Wir Marxisten sehenaber die Arbeiterklasse als einen Teil der Weltarbeiterklasse und dieHoffnungen Lenins und Trotzkis lagen in der Initialzündung desOktobers für die permanente Revolution in den entwickelterenLändern. Die Arbeiter in Europa haben in der Folge auch ihre Auf-gabe durchgeführt, was sich nicht so schnell entwickelt und versagthatte, war die Führung, die revolutionäre Partei. Der erste Versuchder Machtübernahme durch das Proletariat ist gescheitert, aber Le-nin und Trotzki hatten nach der Geschichte gegriffen und ihnenkönnen wir heute wertvolle Erfahrungen für die Arbeiterbewegungverdanken.

Sicher kann man nur das als "Fehler" bezeichnen, was man damalshätte anders machen können. Wie ich Mandel verstehe, will er auchnicht sagen, daß man grundsätzlich vor 1921 eine andere Arbeiter-politik hätte durchführen können. In seinem Buch sieht er denFehler auch mehr in der Zeit nach 1921: »Lenins und Trotzkis Irr-tum bestand darin, die momentanen Ausnahmebedingungen zu the-oretisieren und zu verallgemeinern. Mit dem Beginn der NEP1921/1922 waren die zahlenmäßige Schwächung und Deklassie-rung der Arbeiterklasse gestoppt. Die Tendenz kehrte sich um«2.

Daß die Verhältnisse sich bereits 1992 umkehrten und Le-nin/Trotzki die Ausnahmebedingungen verallgemeinerten, ent-spricht aber auf alle Fälle nicht den Tatsachen und Mandel irrt andiesem Punkt. Es wurde zwar der direkte Hunger gestoppt, aber dasIndustriekapital wuchs dennoch noch nicht, und man lebte weiter-hin von der Substanz. Schon 1923 droht eine neue Krise. Und ob-wohl die "Deklassierung" der Arbeiter 1923 noch nicht umgekehrtwar, fordert das ZK in der Erfüllung der 1921er Idee der "vorü-

2 Mandel: "Oktober 1917", Seite 101

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berge- henden Maßnahme" bereits im November 1923 - sicher auchmit dem Einverständnis Lenins - eine Umkehr der Politik in Rich-tung Arbeiterdemokratie3.

Die »Ausgangspunkte« der Stalinschen Diktatur über die Arbeitermit den »gesellschaftlichen Kräften und ihren Wechselbeziehun-gen« bei Lenin zu erklären, zeigt Mandels Unverständnis dergrundsätzlichen ökonomischen revolutionären Veränderungen. Mitder Stalinschen Formel des "Aufbaus des Sozialismus in einemLande", die dem Interesse der neu entstandenen Bürokratie ent-sprach, sich von der der internationalen Arbeiterklasse unabhängigzu machen, wurde dem Kapitalismus in der Form des Staatskapita-lismus wieder Tür und Tor geöffnet4. Man setzt der imperialisti-schen Expansion nicht mehr die Expansion des Arbeiterbewußt-seins und der Solidarität entgegen, sondern muss nun in derSprache des Kapitals auch Kapital akkumulieren, was sich zuerstim Rüstungswettlauf ausgedrückt hat. Sklavenarbeit zurHerstellung von Massenvernichtungsmittel war die Geburt derbürokratisch herrschenden Klasse und auch ihr Ende, als dieMassenvernichtungsmittel immer qualitativere Arbeit (Elektronik)erforderten. Es mußte eine politische und ökonomischeKonterrevolution von Stalin durchgeführt werden, um denArbeiterweg umzukehren.

Die 6 Millionen Tote in den Arbeitslagern, die Moskauer Prozesse1936, an deren Ende nur noch Stalin vom 1917er-ZK überlebte, diePogrome gegen jegliche Opposition mit Schlägerbanden und ab-soluter Bespitzelung, all das sind doch Anzeichen dafür, daß derProzeß von 1917 mit brutaler Gewalt umgekehrt, nicht auf seine»Fehler« und schon gar nicht linear auf ihn aufgebaut wurde. Na-türlich sagen wir Marxisten auch, dass die Widersprüche des Kapi-talismus zur sozialistischen Revolution beitragen. Das ist dann aberein revolutionärer Prozess. Die ökonomischen Bedingungen derLenin-Ära waren noch das Erbe des Imperialismus. Diese alten ka-pitalistischen Bedingungen trugen zum Emporkommen der Büro-

3 Vgl. Norbert Nelte: "Mandel entdeckt den Ausgang aus dem Leninismus", Linke Opposition Nr. 4, Köln 1993, Seite 14 und das Dokument des ZK, Seite 194 Siehe Tony Cliff: "Staatskapitalismus in Rußland", Frankfurt 1972

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kratie als neue herrschende Klasse bei. Dennoch benötigte sie eineUmkehrung des Oktobers, eine Konterrevolution. Der Ausgangs-punkt des Stalinismus ist genau so viel oder so wenig bei Trotzkiund Lenin zu finden, wie der Ausgangspunkt des Sozialismus imKapitalismus zu finden ist.

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Mandel entdeckt den Ausgangaus dem Leninismus

- (LO 4 - 1/93)

Die ehemaligen Stalinisten haben mit dem Stalinismus auch denMarxismus über Bord geworfen. Damit wurde die geistige Ver-wandtschaft des Stalinismus und bürgerlicher Ideologien offenbar:der Idealismus. Die trotzkistische Weltbewegung konnte sich bishervor dem Verrat am Marxismus bewahren. Nach ihrer Theoriebedeutete der Stalinismus einen Bruch mit dem Marxismus. Diekapitalistische Agentenschaft Stalins und seiner Epigonen wurdebisher deshalb nie mit dem Marxismus gleichgesetzt.

In seinem Buch "Zur Verteidigung der Oktoberrevolution"5 hatjetzt aber Ernest Mandel, der Weltvorsitzende der Hauptströmungder von Trotzki gegründeten IV. Internationale entgegen seinerTitelankündigung einen Weg gefunden, um die stalinistischen Er-gebnisse doch in der Oktoberrevolution verursacht zu sehen.

Er stellt zwar zuerst auch fest, daß es keine Leninsche "Erbsünde"gibt6. In dem Absatz danach sieht er aber die »Ausgangspunkte desStalinismus ... in den gesellschaftlichen Kräften und ihren Wech-selbeziehungen« während der Leninschen Periode von 1918 bis '23verursacht. Die Feststellung Mandels entlang der trotzkistischenTheorie des "degenerierten Arbeiterstaates", daß nur das StalinscheOrganisationskonzept eine Negierung des Leninschen sei, dass esalso nur in der Parteifrage zu einer Konterrevolution, zu einemBruch gekommen sei, impliziert, daß es auf der sozialen Seite keineKonterrevolution, keinen Bruch gegeben habe. Der Übergang vonLenin zu Stalin sei auf der sozialen Seite bruchlos und logisch ver-laufen. Die zum Stalinismus führenden »gesellschaftlichen Kräfte«bis 1923 wurden nach Mandel schon unter Lenin auf Grund dessenIrrtums nicht gebändigt: »Lenins und Trotzkis Irrtum bestanddarin, die momentanen Ausnahmebedingungen zu theoretisieren

5Mandel, "Oktober 1917", Köln 19926Ebda., Seite 100

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und sie zu verallgemeinern«7. 1922 hätte nach Mandel die Arbeiter-demokratie wieder schrittweise hergestellt werden können, da es abdann wirtschaftlich in der UdSSR wieder aufwärts ging. Unabhän-gig von der Frage, ob der wirtschaftliche Aufschwung 1922 zu ei-ner politischen Konsolidierung der Arbeiterklasse hätte führenkönnen, was wir bezweifeln, stimmt es nicht, daß Lenin undTrotzki die Ausnahmesituation theoretisierten.

1920 betrug die Industrieproduktion nur noch 18% des Vor-kriegsstandes8. Der Anteil der Arbeiterklasse war von 5% vor demKrieg auf 1 - 1,5% gesunken. Der Rest war an der Front des Bür-gerkrieges verblutet oder in der Bürokratie aufgegangen. Dieverbleibenden Arbeiter verhielten sich im tagtäglichen Überlebens-kampf wie Kleinbürger, tauschten ihre Arbeits- gegen Lebensmit-tel. Der Hunger entsolidarisierte sie. Die Überlebenden waren oftauch keine Arbeiter mit Tradition und Gewerkschaftsbewusstsein,sondern die Kinder vom Lande, die im Bewusstsein noch die aner-zogenen Bauerninteressen vertraten. »Diese zahlenmäßige Schwä-chung und Deklassierung« zwang die Bolschewiki, stellvertretendfür die Arbeiter vorübergehend in den Sowjets die Macht zu über-nehmen, d.h. keine freien Wahlen zuzulassen. Ohne Arbeiter kannman keine Arbeiterdemokratie durchführen. Freie Wahlen in denSowjets, wie in Kronstadt z.B. gefordert, hätten 1921 bedeutet, daßdie Bolschewiki ihre Mehrheit verlören. Nur sie waren aber in derLage, das Vordringen des Imperialismus zu verhindern. Sogar dermeist syndikalistisch argumentierende Victor Serge meint zu die-sem Dilemma: »Wenn die Diktatur [der Bolschewiki, d.Verf.] fiel,so bedeutete das in Kürze das Chaos, und durch das Chaos hin-durch das Vordringen der Bauern, das Massaker der Kommunisten,die Rückkehr der Emigranten und am Ende durch die Macht derUmstände eine andere, antiproletarische Diktatur.«9 Die Anar-chisten oder die Menschewiki wären nicht in der Lage und auchnicht Willens gewesen, dem Druck der Kapitalisten und sonstigerReaktionäre standzuhalten. Spanien 1936 hat bewiesen, daß dielibertären Träumer ja selber fordern: »Keine Macht für Niemand«

7Ebda., Seite 101 (hier dokumentiert)8Chris Harman, "Rußland - wie die Revolution scheiterte", Köln 1994, Seite 8, IS-Broschüre9Victor Serge, "Erinnerungen eines Revolutionärs", Hamburg 1977, Seite 148

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und sie somit auch folgerichtig selber auf die Macht verzichten unddas Feld für alle Gangster der Welt räumen. Die ökonomischenUmstände erforderten also ein vorübergehendes Stellvertretertumder Bolschewiki, die Diktatur einer kleinen Minderheit. Aber vorü-bergehend wohlgemerkt. So beschloss der 10. Parteitag der Bol-schewiki 1921 ein formelles Fraktionsverbot. Er betonte abergleichzeitig, daß dies nur aus der momentanen Not heraus das klei-nere Übel ist und eine »vorübergehende Maßnahme« bedeute.

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Der Hunger im revolutionären Russland des langen Bürger-krieges führte stellenweise zu Kannibalismus. Eine Demokratieinnerhalb der Arbeiterklasse war in dieser Zeit nicht möglich.Nur die permanente Revolution, deren Ausweitung auf weiterentwickelte europäische Länder, hätte einen Ausweg aus diesertragischen Situation weisen können. 1922 gab es zwar nichtmehr diesen existenziellen Hunger, die Wirtschaftssituationhatte sich aber dennoch nicht grundlegend geändert. Das Kapi-tal war gegenüber 1921 nur um 0,4% gewachsen.

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Es bestand aber weiter das Recht auf Kritik. Es gab immer nochlebendige Diskussionen, in denen auch von Gruppen die Führungkritisiert wurde. »Selbst nach 1921 wurde das Programm der 'Ar-beiteropposition' in einer Auflage von einviertel Million von derPartei selbst gedruckt; zwei Mitglieder der 'Arbeiteroppositionwurden ins Zentralkomitee gewählt. Als sich 1923 die 'Linke Oppo-sition' bildete, konnte sie immerhin noch ihre Ansichten in der'Prawda' veröffentlichen.«10

Soweit stimmt Mandel noch mit uns überein. Er meint aber, dasdie ökonomischen Verhältnisse sich 1922 so verändert hätten, dassdie vorübergehenden Notmaßnahmen bereits hätten aufgehobenwerden können. Lenin und Trotzki hätten die Ausnahmebedingun-gen von 1921 verallgemeinert, so daß sie an eine Aufhebung da-mals nicht gedacht hätten. Beides hält einer genauen Überprüfungnicht stand.

Zuerst zur Frage der Ökonomie. Durch die Einführung der NEP(Neue Ökonomische Politik - 1921), dem freien Handel für dieBauern, konnte der massenhafte Hunger in der Tat zurückgedrängtwerden. Serge berichtete: »Die neue Wirtschaftspolitik erbrachte inwenigen Monaten wunderbare Ergebnisse. Die Milderung desHungers und der Abbau des Schwarzmarktes wurde von Woche zuWoche fühlbarer.«11 Das Bruttosozialprodukt stieg: »Der Bruttoer-trag sämtlicher Zweige unserer Wirtschaft betrug im Jahre 1921nicht ganz 4½ Milliarden Goldrubel, im Jahre 1922 5 1/3 Milliar-den.«12 So weit, so gut. Aber hatte dieser Aufschwung auch ausge-reicht, das Selbstbewußtsein der Arbeiter wieder herzustellen, da-mit sie ihre objektiven Klasseninteressen selber vertreten konnten?Diese Frage müssen wir mit aller Entschiedenheit verneinen.

Serge spricht ja nur von einer Milderung des Hungers, nicht vonseiner totalen Beseitigung. Und was ist eine Steigerung des Sozial-produktes von 4½ auf 5 1/3 angesichts des Vorkriegsniveaus von 11

10 Chris Harman, "Rußland...", Seite 1711 V. Serge, Erinnerungen..., Seite 16712 Leo Trotzki, "Referat des Genossen Trotzki über die russische Industrie" aus:"Die Linke Opposition", Band I, Westberlin 1976, Seite 110

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Milliarden Goldrubel, das Trotzki erwähnt. Diese Steigerung zeigtnur die Wende auf, das Licht am Ende des langen Tunnels. Umaber die Politik gravierend ändern zu können, muß ich erst aus demTunnel heraus und feststellen, ob er nicht doch noch einbricht,bevor ich wirklich weiß, daß ich auch hinauskomme. Noch ist esrelativ unsicher, ob die ökonomischen Fortschritte gehalten werdenkönnen. Die Produktionserweiterungen geschehen nämlich nichtauf Grund einer Produktivitätserhöhung oder Kapitalerweiterung.Das Kapital der Großindustrie ist von 7.930 Mill. Rubel in 1921nur auf 7.935 in 1922 angewachsen, also nur um 0,1%. 1923 wurdemit 7.969 Mill. Rubel Kapital und 0,4% Steigerung auch nicht we-sentlich schneller akkumuliert13. Die Produktionssteigerungen unddamit einhergehend die leichten Lohnerhöhungen können also nurdas Ergebnis von höheren Kapazitätsauslastungen sein, von reinerMehrarbeit. Die sowjetische Wirtschaft lebte weiterhin von derSubstanz. Und wer profitierte überhaupt hauptsächlich von dieserunsicheren Erholung? Trotzki beantwortet diese Frage eindeutig:»Aber auf die Frage, wem dieser Aufschwung zum Nutzen ge-reichte, müssen wir sagen: In erster Linie unseren Konkurrenten,dem kleineren, beweglicheren Kleingewerbetreibenden.«14

Die kleine Errungenschaft für die Massen war schnell wieder be-droht. Daß die Erholung der Wirtschaft noch auf tönernen Füßenstand, beweist sich schon 1923, denn es droht eine neue Krise. Am15.10.1923 fordern 46 Oppositionelle, angeführt von Preobra-zenskij (Ökonom und führender trotzkistischer Theoretiker), ener-gische Schritte: »Wir stehen vor einer nahenden Erschütterung derTschervonetschwährung [sowjetische Währungseinheit], ... ; voreiner Kreditkrise, in der die Staatsbank weder die Industrie undden Industriegüterhandel noch den Ankauf von Getreide für denExport länger finanzieren kann.«15. Wir sehen also - die kleinenLebensstandarderhöhungen waren nicht das Ergebnis von Produk-tivitätserhöhungen, sondern das Ergebnis von Staatsschulden.Diese Wirtschaftspolitik konnte natürlich nicht so weiter geführt

13 Tony Cliff, "Staatskapitalismus in Russland", Köln, 1996, Seite 3614 Leo Trotzki; Referat..., Seite 11215Erklärung der Sechzundvierzig, aus: Die Linke Opposition, Band I, Seite 212

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werden. Deshalb schlug die "Linke Opposition" eine leichte Kapi-talakkumulationen vor, aber bei einer gleichzeitigen leichten Aus-weitung des Konsumsektors und nicht auf dessen Kosten, wie esspäter Stalin mit zeitweise jährlichen Steigerungsraten des Indust-riekapitals von 25% aus den Arbeitern ausgepreßt hatte.

Im Gegensatz zu Mandel muß man nach dem genauen Studiumder Leninperiode zwingend feststellen: Was 1920 utopisch war, wares 1922 auch.

Dennoch gingen Lenin und Trotzki nicht davon aus, daß diesePeriode längere Zeit andauern werde, weshalb sie sie auch nichttheoretisierten. Im November 1923 bereits beschloß das ZK der KPeinstimmig, also auch mit Übereinstimmung von Lenin undTrotzki, eine Resolution zur Normalisierung des Aufbaus des Sozi-alismus, in der die Fragen der Demokratisierung breiten Platz ein-nahm:

»Die negativen Erscheinungen der letzten Monate sowohl im Le-ben der gesamten Arbeiterklasse wie auch innerhalb der Parteiführen notwendigerweise zu der Schlußfolgerung, daß sowohl imInteresse des erfolgreichen Kampfes der Partei gegen die Ein-flüsse der neuen Wirtschaftspolitik wie auch im Interesse derSteigerung ihrer Kampffähigkeit auf allen Arbeitsgebieten einernster Wechsel des Parteikurses erforderlich ist, und zwar in derRichtung der wirklichen und systematischen Durchführung derPrinzipien der Arbeiterdemokratie.«16

Wir möchten Herrn Mandel das Studium dieser Resolutionwärmstens ans Herz legen. Wird er dann immer noch behauptenwollen, daß Lenin und Trotzki die Ausnahmebedingungen von1920 theoretisierten? Aber Professor Mandel kennt diesen Text. Erkritisiert seine eigenen Lehrmeister wider besseres Wissen.

Im Zuge des weltweiten Niedergangs der Arbeiterbewegungdurch den stalinistischen Verrat und schließlich dessen Zusammen-bruch verliert auch die IV. um Mandel Mitglieder und marxistischeStandfestigkeit. Er schaut sich um und sucht andere Gruppen. Die

16Ebda., Resolution des ZK und der Zentralen Kontrollkommission der KP Rußl.: Über denParteiaufbau, S. 2258

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Theorie der Stalinisierung auf Grund von leninschen politischenFehlern finden wir auch bei Bordiga (Ultralinker Mitbegründer deritalienischen KP), der zur Zeit sehr intensiv im Orient bei Ex-Ma-oisten und Ex-Trotzkisten diskutiert wird. Diese Position habensich z.B. die iranische KPI, Teile der türkischen SI und andere zueigen gemacht. Hier finden wir als reine bordigistische Theorie der"Erbsünde", daß die Entdemokratisierungen unter Lenin schon im-mer theoretisiert worden sei. Noch distanziert sich Mandel vondieser absoluten Kritik. Aber er ebnet bereits einen Weg zu dieserAnschauung mit seiner Theorie, daß die Ausnahmezeiten von 1920von Lenin verallgemeinert wurden. Hofft er damit, vielleicht un-bewußt, auf neue Mitglieder?

Außenstehende werden sich jetzt fragen, was soll dieser Streit umdie Einschätzung der Wirtschaft in Rußland des Jahres 1922. Dassind doch gegessene Geschichten? "Kopfwichserei" - wird dieMehrheit der Altlinken sagen, weiter ihre Tarotkarten legen oderden Brei der Restlinken zu einer Figur modellieren wollen. Leninsteht aber für die Notwendigkeit des Aufbaus einer Kaderpartei undTrotzki für die permanente Revolution. Es liegt mir fern, diese bei-den von Fehlern frei zu sprechen. Es waren aber keine grundsätzli-chen Fehler, auf denen sie beharrt und ganz bestimmt keine Fehler,die zum Stalinismus geführt hätten. Auch die Ausnahmezeit mitihren Fraktions- und Sowjetwahlverboten, aber freien Diskussionenweist einen gravierenden Unterschied zur Stalin-Ära auf. Die Ver-sammlungen der Opposition wurden von stalinistischen Schläger-trupps auseinandergetrieben: »Noch symptomatischere Bedeutungbesitzt jene rasende organisatorische Hetze, die der Apparat gegendie Opposition betreibt: Sprengung ihrer Versammlungen mitKnüppelmethoden; Anwendung jeder Art physischer Gewalt...«17

berichtet Trotzki. Es gab also keinen bruchlosen Übergang vonLenin und Trotzki zu Stalin; der stalinistische Terror lag nicht inden Fehlern der Beiden begründet sondern im Gegenteil: er war dieNegation auch der Ausnahmezeit unter Führung der Bolschewiki.Die Leninsche Theorie der Parteidisziplin ist nicht der Ausgangs-punkt für die Stalinsche Unterdrückung der Arbeiter.

17Leo Trotzki, "Der einzige Weg", 1932, Köln 1993, Seite 45

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Die »Ausganspunkte« der bürokratische Machtübernahme mitden »gesellschaftlichen Kräften und ihren Wechselbeziehungen« zuerklären zeigt eine undialektische Herangehensweise. Ohne grund-legende Veränderung der Produktionsverhältnisse, ohne Zerschla-gung der sozialen Arbeitermachtinstrumente hätte Stalin allenfallskurzfristig gegen die Arbeiter die Interessen der Bürokratie durch-setzen können. Eine andere Auffassung widerspräche der marxisti-schen Staatstheorie der Einheit von Ökonomie und Politik. Nein, esmuß auf allen Gebieten, im politischem und sozialem Bereich, eineKonterrevolution gegeben haben, sonst würden sich die 70 JahreStalinismus nicht erklären lassen. Daß es auf der politischen Seitezu einem Bruch und nicht zu einer logischen Verlängerung "Lenin-scher Irrtümer" gekommen ist, haben wir bereits aufgezeigt. Diefreie Diskussion wurde ab 1924 mit dem Knüppel erstickt. Nochaber glaubten die meisten Bürokraten, daß diese Knüppelorgie imInteresse des Sozialismus auf die Opposition niederprassele.

Um ihre Positionen in Sicherheit zu bewahren, mußten sie wegvon dem ungewissen Ausgang der internationalen Revolution.Stalin ließ durch Bucharin für sie die "Theorie des Aufbaus desSozialismus in einem Lande" entwickeln. Statt der internationalenSolidarität wurde der Expansion des Imperialismus jetzt die Pro-duktionsschlacht entgegengestellt. Der sozialistische Aufbau ineinem Land öffnete den Gesetzen des Weltmarktes Tür und Tor:1927/28 betrug der Anteil der Konsumgüter an der Gesamtproduk-tion 67,2%. 1950 betrug er nur noch 31,2%.18 Das Privatkapitalhätte die Ausplünderung der Arbeiter nicht besser durchführenkönnen. Die Instrumente der Arbeiterklasse wie die Plan- und dieAußenhandelsmonopolgesellschaft wurden zu Instrumenten derBürokratie, um deren Konkurrenz mit dem Privatkapitalismus or-ganisieren zu können. Tony Cliff faßt die Machtübernahme und-festigung der Bürokraten folgendermaßen zusammen:

»In Kapitel I und II haben wir gesehen, daß die Einführung desFünfjahresplans [1928, NN] den Wendepunkt in der Entwicklungder Distributionsverhältnisse markiert, im Verhältnis zwischen

18Tony Cliff, "Staatskapitalismus...", Seite 33

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Akkumulation und Konsumtion, zwischen Arbeitsproduktivitätund Lebensstandard der Arbeitenden, in der Kontrolle über dieProduktion, in den gesetzmäßigen Rechten der Arbeiter, in derIntensivierung der Arbeit, im Verhältnis der Landarbeiter zu ih-ren Produktionsmitteln, im ungeheuren Anschwellen der Umsatz-steuer, und schließlich in der Struktur und Organisation derStaatsmaschinerie. Die Wirklichkeit der Industriealisierung undKollektivierung begann sich in das Gegenteil dessen zu verkeh-ren, was sich die Massen davon erhofften und was selbst die Bü-rokratie als Illusion gehegt hatte. Sie dachten, der Fünf-Jahres-Plan brächte Rußland ein gutes Stück auf dem Weg zum Sozia-lismus weiter. Doch es ist nicht das erstemal in der Geschichte,daß sich die Ergebnisse der Handlungen der Menschen als dasgenaue Gegenteil dessen erweisen, was sich die Handelndenselbst gewünscht und erhofft hatten. Wie können wir die Fragebeantworten, warum der erste Fünf-Jahres-Plan solch ein Wen-depunkt war? Zu diesem Zeitpunkt machte die Bürokratie denersten Versuch, die historische Aufgabe der Bourgeoisie soschnell wie möglich zu verwirklichen. Eine schnelle Akkumula-tion des Kapitals auf der Basis eines niedrigen Produktionsni-veaus, auf der Basis eines geringen Nationaleinkommens proKopf, mußte einen sehr schwer erträglichen Druck auf den Kon-sum der Massen und auf ihren Lebensstandard ausüben. Unterdiesen Bedingungen mußte die Bürokratie, die sich zu Personifi-kation des Kapitals gewandelt hatte und für die Kapitalakkumu-lation das ein und alles war, alle Hindernisse der Arbeiterkon-trolle loswerden, mußte sie im Arbeitsprozeß Überzeugung durchZwang ersetzen, die Arbeiterklasse atomisieren und das gesamtegesellschaftliche und politische Leben in eine totalitäre Formpressen. Es liegt auf der Hand, daß die Bürokratie, die für denAkkumulationsprozeß des Kapitals notwendig und zum Unterdrü-cker der Arbeiterschaft geworden war, nicht zögern würde, Nut-zen aus ihrer gesellschaftlichen Überlegenheit zu ziehen, um fürsich selbst innerhalb der Distributionsverhältnisse Vorteile zu si-chern. Daher verwandelt die Industrialisierung und die techni-sche Revolution in der Landwirtschaft ("Kollektivierung") in ei-

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Page 27: Weiter mit Lenin! - marktende.de Nelte - Lenin und Trotzki.pdf · nisten Lenin immer verstanden, er selber hat den Arbeitern aber viel mehr zugetraut. Im Oktober 1917 stützte er

nem rückständigen Land im Belagerungszustand die Bürokratieaus einer Schicht, die unter direkter und indirekter Abhängigkeitund Kontrolle durch das Proletariat steht, in eine herrschendeKlasse, in Manager "der allgemeinen Angelegenheiten der Ge-sellschaft: Arbeitsteilung, Staatsgeschäfte, Justiz, Wissenschaft,Künste usw."

Die dialektische historische Entwicklung, voll mit Widersprüchenund Überraschungen, brachte es mit sich, daß der erste Schritt,den die Bürokratie in der Absicht unternommen hatte, den Aufbaudes "Sozialismus in einem Land" zu beschleunigen, zum Grund-stein für den Aufbau des Staatskapitalismus wurde.«19

Ein Nicht-Verstehen der sozioökonomischen konterrevolutionä-ren Veränderungen in der UdSSR kann nur zu der Erklärung füh-ren, daß die soziale Unterdückung der Arbeiter nach Lenin undTrotzki bei ihnen schon angelegt war. Wenn man dann Stalin kriti-siert, muß man sich demzufolge auch logisch von den Vätern derOktoberrevolution abwenden. Mandel ist dabei, diesen Schritt,wenn auch noch zaghaft und mit Magenbrummen - es gilt jaschließlich, sich von 50 Jahre Überzeugung zu verabschieden -, zuvollziehen. Die Logik der zaghaften Abwendung von Lenin ist alsobereits durch die falsche Beschreibung der Stalin-Ära als "Degene-rierter Arbeiterstaat" verursacht, und deshalb ist auch ein ständigerDrang nach rechts innerhalb der 4. Internationale zu verzeichnen.Es gibt zwar unterschiedliche Auffassungen innerhalb der orthodo-xen trotzkistischen Bewegung - einige wollen noch an wichtigenanderen Grundpfeilern des Marxismus festhalten, andere sichschneller von diesen lösen - weshalb die 4. Internationale heuteauch in unzählige Richtungen gespalten ist20. Langfristig aber undals Antwort für die Massen ist die Weiterentwicklung der "Arbei-terstaats"-Theorie notwendig. Sie jedenfalls ist kein griffigesWerkzeug, daß den Arbeitern den Aufbau der neuen Welt, demSozialismus von unten, ermöglichen kann. Ein Abschied von Lenin

19Ebda., Seite 13720Mit der Entwicklung der 4. Internationale und ihrer diversen Tendenzen wollen wir uns in dernächsten Ausgabe der LO beschäftigen.

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und Trotzki bedeutet auch ein Abschied von Marx, denn beide sinddessen zwingende und notwendige Ergänzung.

Der Marxismus ist eine lebendige Wissenschaft und es gilt im-mer, ihn weiterzuentwickeln. Zu der Theorie des "degeneriertenArbeiterstaates" schrieb Trotzki selber 1935:

»Die wissenschaftliche wie die politische Aufgabe besteht nichtdarin, einen unvollendeten Prozeß mit einer vollendeten Defini-tion zu versehen, sondern darin, ihn in all seinen Etappen zuverfolgen, seine fortschrittlichen und reaktionären Tendenzenherauszuschälen, deren Wechselwirkung aufzuzeigen, die mögli-chen Entwicklungsvarianten vorauszusehen und in dieser Vor-aussicht eine Stütze fürs Handeln zu finden.«21

Mandels Festhalten an einer Theorie, die noch während des Pro-zesses der schleichenden Konterrevolution entwickelt wurde, seineAbkehr von Lenin und damit auch von seinen Prinzipien der Not-wendigkeit der Organisierung der Avantgarde werden keine An-leitungen für das Handeln der proletarischen Avantgarde sein kön-nen, allenfalls eine Anleitung dafür, wie es sich im Zuge nach demkleinbürgerlichen "Utopia" bequem einzurichten ist.

21Leo Trotzki, Verratene Revolution, Hamburg 1988, Seite 958

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Vorwort zu Lenins Aprilthesen

(LO 13 - 8/96)

Die UdSSR ist zusammengebrochen. Die Zeit der Stalinisten istzumindest in den Metropolen abgelaufen. Nun können wir uns inRuhe, ohne ständiges Dazwischengequäke der kleinbürgerlichenGeschichtsverfälscher, den wirklichen Aussagen der Bolschewikizuwenden und hier Klarheit schaffen.

Eine große Lüge der Stalinisten ist die Behauptung, Lenin wärenach einer Revolution der Arbeiter auch für eine bürgerliche Etappeeingetreten. Diese Strategie vertreten die Stalinisten auch für dieausgebeuteten Länder. Ebenso behaupten die Stalinisten, daß Leninfür den Aufbau des Sozialismus in einem Lande eingetreten wäre.

Nun stimmt dies für den letzten Teil überhaupt nicht, und für denersten Teil nur bis zum Jahr 1917. Lenin entwickelte 1905 dieFormel der "demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bau-ernschaft" und unterschied sich dadurch nicht so sehr von denMenschewiki mit ihrer Formel der "Diktatur der revolutionärenDemokratie".

Der Unterschied liegt zwischen den Menschewikis und den Vor-April-Bolschewikis liegt darin, daß bei den Bolschewikis die Ar-beiter die Aufgabe des Kapitals erledigen sollten. Dies ist abernicht möglich, denn wenn sie dies konsequent tun würden, dannmüßten sie das Akkumulationsgesetz als letzte Entscheidungsin-stanz anerkennen und gegen sich selber arbeiten, genauso, wie die"revolutionäre" Bourgeoisie der Menschewiken selber. Trotzkilehnte deshalb Lenins Formel immer ab: »Zwischen der Kerenski-ade [bürgerliche Regierung] und der bolschewistischen Macht,zwischen der Kuomintang und der Diktatur des Proletariats gibt es

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keine Zwischenstufe und kann es keine geben, d.h. es gibt keinedemokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern.«22

Die Bolschewiki handelten nach der Formel der "demokratischenDiktatur" noch nach der Februarrevolution 1917. Die Redakteureder 'Prawda' - Stalin und Kamenjew - unterstützten die "Provisori-sche Regierung" und unterschieden sich nicht sehr von den sozial-demokratischen national ausgerichteten "Menschewiki", die dengroßen Krieg "vaterlandsverteidigend" unterstützten.

Nun muß man die Zeit sehen, in der Lenin die Formel der "de-mokratischen Diktatur" entwickelte. Der Kapitalismus besaß nochmehr konstruktive Kräfte wie die Entwicklung der Produktivkräfteund der Arbeiterklasse als destruktive Momente wie eben Welt-kriege usw. Selbst Marx hatte 1848 - nachdem er erst dazu aufrief,Arbeiterforderungen aufzustellen - letztlich die Forderungen derBourgeoisie gegen die Monarchie zu unterstützt.

Der Kapitalismus war 1848 noch kaum entwickelt, und es galt fürMarx, daß er sich erst durchsetzen und reifen müsse. Diese Überle-gung gilt nur für die weltweite Entwicklung des Kapitals. Natürlichwar auch 1917 das Kapital in Rußland noch nicht entwickelt. Aberes war inzwischen weltweit entwickelt. Der 1. Weltkrieg war selberAusdruck dafür, daß die destruktiven Momente des Kapitalismusjetzt stärker wurden als die konstruktiven.

Nur mit der internationalen Perspektive machte die russische Re-volution auch Sinn, Lenin und Trotzki waren sich sehr wohl be-wußt, daß die Revolution in Rußland alleine keine Überlebens-chance hatte. Sie konnte aber sehr wohl ein Fanal für weitere Re-volutionen in der Welt sein.

Es war also das Genie Lenins, daß er zum richtigen Zeitpunktauch gesehen hatte, daß man 1917 zu einer anderen Formel alsnoch zur Jahrhundertwende, wo der Kapitalismus weltweit noch inder Blüte stand, finden mußte. Er kam im April 1917 nach Rußlandzurück und nur seiner Autorität ist es zu verdanken, daß die Bol-schewikis von der alten Formel abrückten und die Arbeitermassen

22Leo Trotzki: "Parmanente Revolution". Punkt 6 der Grundsätze. IS-Broschüre

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unterstützten, die mehr wollten als nur eine "fortschrittliche" Bour-geoisie und die Beendigung des Krieges.

In dieser Sache hat sich Lenin klar Trotzki angeschlossen, so wieTrotzki sich die Leninsche Parteitheorie zu eigen machte. Eine Tat-sache, die die Stalin-Anhänger niemals wahr haben wollten. Eszeigt nämlich, daß in der Sache des Internationalismus und der"Permanenten Revolution" Trotzki noch weiter blickte als Lenin, daer schon 1905 diese Formel in seinem gleichnamigen Buch ent-wickelte.

So sah Trotzki auch nach dem April klarer als Lenin, daß dasBündnis zwischen Arbeitern und Bauern nur unter der Führung derArbeiter laufen konnte. Lenin versucht diese wichtige Frage damitzu lösen, daß er von Landarbeitern und den armen Bauern spricht.Wir wissen aber, daß diese, nachdem sie von den Bolschewiki einkleines Land erhalten hatten, sich von den Arbeitern abgewandtund der Reaktion angeschlossen hatten. Also sind auch die armenBauern wie alle Kleinbürger immer unsichere Bündnispartner undkönnen nur unter einer klaren Führung der Arbeiter voran schreiten.

Aber auch Lenin sah letztlich den Zwittercharakter der Bauern-schaft und, daß die »Bauern nicht unbedingt weiter gehen werdenals die Bourgeoisie«.23 Deshalb konnte er sich stützend auf die Ba-sis in den Fabriken und in der Partei gegen die restliche Führungder Bolschewiki die Parole: "Alle Macht den Räten" entwickeln.

Aber nicht direkt. »Nicht Einführung des Sozialismus als unsereunmittelbare Aufgabe...«, war die Losung, und damit wird bewie-sen, daß Lenin entgegen der Lügen der Stalinisten meint, daß inRußland der Sozialismus nicht isoliert aufgebaut werden kann,sondern nur mit der internationalen Fortführung diese Aufgabe zuihrer Vollendung kommen wird.

Das große Verdienst Lenins war es jedenfalls, zur richtigen Zeit,die Aufgaben der permanenten Revolution auch über die richtigeTaktik des Parteiaufbaus in die Massen getragen zu haben. Er hatte

23Lenin: "Referat zur politischen Lage", vom 24.4., LW, Bd. 24

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den Mut gehabt, alte Formeln ad acta zu legen und aufzuzeigen,daß 1917 eine neue Formel galt.

So galt es nun, den bürgerlichen Krieg zu bekämpfen (Punkt 1).

So konnten die Arbeitermassen weg von der demokratischenDiktatur und dem bürgerlichen Parlament, hingeführt werden zuder Republik der Sowjets (Punkt 5 der April-Thesen).

So verabschiedeten die Arbeitermassen die alte Formel der Kon-trolle des alten Staatsapparates hin zur für die Diktatur des Proleta-riats notwendigen "Zerschlagung, Abschaffung der Polizei, Wähl-barkeit aller Beamter etc. (Punkt 5).

So konnten sie von der Entwicklung des Kapitalismus erlöst wer-den und die Enteignung der Banken und die Abschaffung desMarktes in Angriff nehmen (Punkt 8).

Und nicht zuletzt konnte mit dieser Perspektive die internationaleRevolution ins Ziel genommen werden. Der Aufbau eines bürgerli-chen Rußlands hätte die Weltarbeiterklasse nicht inspirieren können- sehr wohl konnte dies aber eine freie Arbeiterrepublik!

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Lenin, der Taktiker der Revolution

(Referat)

Lenin, der Kopf, der 1917 die Welt auf den Kopf stellte, erblickte1870 das Licht derselben. Sein Werk wurde zwar erst einmal 1924von Stalin unterbrochen. Durch seine Aktivität hinterließ er aberden Klassenkämpfern unendlich wertvolle marxistische Analysenund praktische Erfahrungen.

Seine Stärke war, eine Strategie und Taktik entwickelt zu haben,wie die Ideen von Marx in der Realität umgesetzt werden konnten.Dazu gehörte in erster Linie, die Entwicklung einer Parteitheoriedes demokratischen Zentralismus, nach der alle Parteimitglieder als"Berufsrevolutionäre" - ob einfache Arbeiter oder Intellektuelle -unbedingte Disziplin üben sollten. Er schwächte zwar diese Theo-rie, die er 1902 in "Was Tun? entwickelte, zwar dergestalt ab, daßer die Erkenntnisse dieses Buches nur für die Bedingungen in derDiktatur des Zarismus aufstellte und das Buch nicht für die Über-setzung und damit für die Verallgemeinerung empfahl.

Ich denke, daß die Bedingungen einer Taktik mit "nur" Berufsre-volutionären nicht nut in der Diktatur, sondern auch in der Isoliert-heit der damaligen Bewegung liegt. Ein Zentralismus, der in Zeitendes Klassenkampf-Stillstandes besonders in theoretischen Fragenliegen muß. In Zeiten des Aufschwunges ist der Zentralismus un-bedingt in der Praxis gefragt, nicht jedes Parteimitglied muß unbe-dingt alle Detailfragen des Programms berherrschen.

Seine Hauptstärke aber lag in seinem taktischen Verständnis. DieIdealisten haben ein Weltbild im Kopf und versuchen diese und ihreInterssen einfach umzusetzen. Wir Marxisten dagegen sehen, daßder Klassenkampf zu der Gesellschaft unserer Vorstellung führenwird und unterstützen alles, was diesen Klassenkampf fördert.

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Dabei fordern wir oft etwas, was unseren Interessen zuwiderläuft.Lenin hat diese Taktik zur Meisterschaft entwickelt. Dabei will ichnur einige Punkte nennen:

- April 1917 - Eisenbahnfahrt durch Deutschland

- Juli 1917 - Bremsen des Arbeiteraufstandes

- August 1917 - Verteidigung seines Häschers Kerenski gegen Kornilow.

- 21 Bedingungen 1920 (Parteiöffnung für Mitläufer)

- NEP-Politik 1921

Wie entwickelte sich die Stärke von Lenin? Der Vater war einkonservativer Bildungsbürger, der seinen Kindern Bildung, Ge-rechtigkeitssinn, Einfachheit und Eifer mitgab.

1887 Alexander Uljanow wegen Beteiligung an Vorbereitungen für ein Attentat auf Alexander III. in Petersburg hingerichtet.

Herbst: Relegation Wladimir Uljanows (Lenins) von der KasanerUniversität,

Verbannung auf das Gut seiner Großeltern mütterlicherseits, Kokuschkino

1890 Lenin darf sein Studium beenden

1892 Lenin als Rechtsanwalt in Samara zugelassen

1893 Lenin übersiedelt nach Petersburg, erste marxistischeArbeiten, Kontakte mit Arbeitergruppen.

1895 Erste Auslandsreise Lenins nach Genf, Paris, Berlin,Kontakte mit Plechanows Gruppe "Befreiung der Arbeit"; Herbst:Lenin gründet in Petersburg den "Kampfbund zur Befreiung derArbeiterklasse". Verhaftung Lenins.

1897 Lenin wird nach Sibirien verbannt;

Mit den Aprilthesen ist Lenin Trotzkist geworden. Die Bedin-gungen für den Sozialismus sind in Russland selber noch nicht ge-

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geben, wohl aber die weltweiten Bedingungen. Daher geht Leninmit den Aprilthesen auch von der permanenten Revolution aus.

Lenin hat sicher auch verschiedene Fehler gemacht. Unter ande-rem sein anfängliches Vertrauen in Kautsky. Dennoch war Leninder erste, der eine organisatorische Unabhängigkeit für notwendigerkannt hatte.

Der stärkste Fehler aber ist sein großes Vertrauen in Stalin, derihn dann 1924 verraten hat, und daß es diesen aufgebaut hat. Dieabtimarxistischen Beschlüsse Stalins können teilweise mit altenFehler Lenins argumentiert werden, z.B. konnte Stalin seine Etap-pentheorie mit Lenins vor-April Haltung der demokratischen Dik-tatur der Arbeiter und Bauern begründen.

Lenins Fehler ist aber auch verständlich, denn auch die weltwei-ten Bedingungen für den Sozialismus sind erst seit der Jahrhun-dertwende gegeben. Da sieht man auch das Genie Trotzkis, der dasschon 1903 gesehen hat.

Dieser Fehler ist auch aus der Etwicklungsgeschichte Lenins zuverstehen. Er war ja noch bis 1993 Narodnik und mußte sich mitdiesen überhaupt um die Möglichkeit der kapitalistischen Ent-wicklung rumstreiten. Trotzki schreibt in "Der junge Lenin":

»Entsprechend der Narodniki-Doktrin, die dem russischen Kapi-talismus jede Zukunft absprach, wurde dem Proletariat in derRevolution überhaupt keine selbständige Rolle zugebilligt. Aberes ergab sich ganz von selbst, daß die ihrem Inhalt nach für dasDorf berechnete Propaganda nur in den Städten Zustimmungfand. Die Schule der Geschichte ist reich an Lehrmitteln. DieBewegung der siebziger Jahre ist vor allem dadurch lehrreich,daß sich um das sorgfältig für die Maße der bäuerlichen Revolu-tion zugeschnittene Programm ausschließlich Intellektuelle undvereinzelt auch Industriearbeiter sammelten.«

Lenin hatte also 1993 erst für die Möglichkeit des Kapitalismusin Rußland gekämpft, nun müßte er auch schon weitergehen. In derEmigration dann stellte sich auch nicht so sehr die Dringlichkeit

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dieser Frage. Als sie mit der Februarrevolution dann dringlichwurde, hat Lenin sie auch gleich richtig beantwortet.

In diesem Sinne überwiegt seine Stärke bei weitem seine Schwä-che. Im Gegenteil, er konnte seine Fehler, die jeder Mensch machtals aktiver Mensch, in glorreiche Siege umändern. (Vor-April-Kor-nilow)

04.07.: Die Massen von Petrograd revoltieren. Lenin flieht

08.07.: Kerenskij Regierungschef

24.08.: Ausbruch der Kornilow-Revolte

07.10.: Lenin kehrt nach Petrograd zurück

10.10.: Revolutionskomitee unter Trotzkis Führung gegründet

24.10.: Beginn der Oktoberrevolution

25.10.: Sturz und Flucht Kerenskijs

26.10.: Bildung der neuen Regierung als Rat der-Volkskommissare. Vorsitz Lenin

1918 -1921 Russischer Bürgerkrieg

1924 21. Januar. Lenin stirbt

Die kommunistische Weltbewegung konnte nicht mehr auf dasGenie Lenin, der Niederlagen in Siege verwandeln konnte, setzen.Aber seine Hinterlassenschaft wird beim nächsten Arbeiteraufstandaus den Massen tausende kleine Lenins machen.

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Trotzki - 1919

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Trotzkisten ratlosoder kann man mit der Formel des "degenerierten Arbeiter-staates" die Veränderungen in der Welt erklären?Ist Gorbatschow der Vollender oder der Verräter?

1990

Wie beurteilen revolutionäre Sozialisten "Glasnost" und "Perest-roika". Im Gegensatz zu den heute weitgehend zu den grünen Re-formisten abgewanderten Maoisten, denen eine systematische Kri-tik des Staatskapitalismus nie gelang, vertreten die "orthodoxenTrotzkisten" die Theorie des "degenerierten Arbeiterstaates", des-sen Weg zum Sozia1ismus über einen politischen Sturz der Büro-kratie durch die Arbeiterklasse führe, wobei diese aber die Institu-tionen der heutigen UdSSR in ihre Dienste stellen könne. Für In-ternationalisten ist es daher interessant, die Haltung der Trotzkistenzu dem russischen Umbau zu hinterfragen: Können sie mit ihrerhalbherzigen Theorie des "degenerierten Arbeiterstaates" die Vor-gänge in Rußland richtig beurteilen?

Auch, wenn Gorbatschow von einer »2. Revolution«24 bzw. der»Weiterführung oder Vollendung der Oktoberrevolution«25 spricht,seine Maßnahmen dienen nur der Sicherung der Herrschaft derBürokratie über die Arbeiterklasse. Durch die Verschärfung derWeltwirtschaftskrise wird die Bürokratie zu einem härteren Rüs-tungswettlauf gezwungen, der massenhaft Rubel für das russischeSDI-Programm verschlingt. Ein wirklicher Arbeiterstaat könntedem viel besser mit internationalen Aufrufen zum revolutionären"Defätismus" begegnen. Eine herrschende Klasse wie die Bürokra-tie im Staatskapitalismus aber würde darüber selber straucheln, undihr bleibt nur, für mehr russische Weltraumraketen mehr Leistungund Qualität aus den Arbeitern herauszupressen. GorbatschowsWorte von der »Festigung und Erhöhung des Ansehens des Ru-bels«1 sind nur als die direkte Unterordnung unter die Gesetze des

24Gorbatschow: Rede vor der Plenarsitzung des ZK der KPdSU, Juni 1987, Spiegel vom 6.7.8725eda.

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internationalen kapitalistischen Konkurrenzkampfes zu verstehen.Der Preis dafür ist mehr Leistungsdruck in den Betrieben und mehrArbeitslose (alte Bürokraten rechnen mit 10 Millionen) durch die»Herstellung einer direkten Abhängigkeit der Einkommen desKollektivs von der Effektivität seiner Arbeit«26.

Um die ökonomischen Maßnahmen gegen die Arbeiter durchset-zen zu können, sucht sich Gorbatschow die Intelligenz als Bünd-nispartner und verspricht ihr einige Brocken mehr Demokratie:liberalere Zensur (nicht Abschaffung), mehr Presse-, Kritik- undReligionsfreiheit, mehr Reisemöglichkeiten und die Erlaubnis, sichzu organisieren.

Die Opportunisten

Die "Voran"-Gruppe27 kommt zu der Erkenntnis, daß »fürGorbatschow, der sich nun einmal auf dem Weg der Reformen ein-gelassen hat, es jedoch nicht so einfach sein wird, wieder zur Un-terdrückung zurückzukehren«28. Als ob es keine Unterdrückung inRußland gebe. Diese Fehleinschätzung resultiert aus der unklarenHaltung über die bürokratische Klasse als "Schicht", "Kaste" odermanchmal auch als "Klasse" sowie aus dem Gedanken, daß diesozialen Errungenschaften von 1917, der Plan und das Außenhan-delsmonopol auch heute noch zum bewußten Handeln führe unddamit das Wertgesetz und die internationale Konkurrenz in Ruß-land keine Gültigkeit hätten. Nun wird der Plan aber im Interesseder Bürokratie, die sich dem internationalen Wettbewerb beugenmuß, um ihre Herrschaft zu behalten, aufgestellt.

Eine Gleichsetzung des bürokratischen Planes mit einem von derArbeiterklasse aufgestellten Plan hieße, daß die Arbeiterklasse diesozialen Errungenschaften nur übernehmen brauche, oder, wieTrotzki schreibt, daß eine bolschewistische Partei »zunächst dieDemokratie in Gewerkschaften und Sowjets wiederherstellen

26ebda.27"Trotzkisten" in der SPD (Schwesterorganisation von Militant)28Ted Grant: "Sowjetunion - Reform oder politische Revolution", Köln 1987, Seite 3

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würde«29. Er spricht aber auch davon, daß »die Arbeiterklasse dieBürokratie auf dem Weg zum Sozialismus stürzen müßte«30. Nachder Staatstheorie von Marx kann eine revolutionäre Klasse abernicht den alten Staatsapparat in ihren Dienst stellen, sondern mußihn zerschlagen - wie sollte sie auch die Demokratie in Gewerk-schaften und Sowjets wiederherstellen, wo es diese in Wirklichkeitin Rußland nicht gibt.

An anderer Stelle31 wird auch davor gewarnt, daß die Bourgeoisieden Staatsapparat übernehmen könnte, als ob der gleiche Staatsap-parat einmal von der Bourgeoisie und ein andermal von der Arbei-terklasse benutzt werden könnte. Dieses tiefe Mißverständnis dermarxistischen Staatstheorie führt bei den "Voran"-Genossen zwareinmal zu der Feststellung (Seite 8) , daß »nicht Evolution, sondernpolitische Revolution unvermeidlich als Wegbereiter für die Herr-schaft der Arbeiterklasse ist«. Weiter oben hat aber für sie die »po-litische Revolution bereits begonnen«. Da niemand etwas von einerArbeiterrevolution in Rußland mitbekommen hat, scheint es sichum einen heimlichen und schleichenden Prozeß zu handeln. Grantprophezeit dann auch am Schluß, daß »in den nächsten fünf biszehn Jahren der Weg zum Sozialismus geebnet« sein wird. Gorbat-schow soll also selber den Weg für seinen Sturz ebnen. Von diesendiffusen Überlegungen ist es dann nicht mehr weit zu der anderenFeststellung, daß er eben nicht mehr zur Unterdrückung zurückkeh-ren kann, also letztlich nicht mehr unterdrückt.32

Das Wort der »politischen Revolution« sucht man bei "Inprekorr"(Vereinigtes Sekretariat der 4. Internationale/Mandel-Linie) verge-bens. D. Seppo fordert in dieser Schrift: »wenn Gorbatschow be-deutende und unumkehrbare Veränderungen in seinem Landdurchführen will, muß er ein offenes und ehrliches Bündnis mit denArbeitern eingehen«33. Hier wird so getan, als ob Bürokratie und

29Leo Trotzki: "Verratene Revolution", Ffm. 1968, S. 24530ebda., S. 24831ebda., S. 18732Inzwischen hat "Voran" die gegenteilige Position übernommen, und wirft Gorbatschow denAusverkauf der sozialen Errungenschaften vor, ohne zu begründen, an welchen Punkten esauszumachen sei, daß er erst den Sozialismus vorbereitete und dann verraten hat.33D. Seppo: "Wirtschaftsreform und Demokratisierung", 'Inprekorr' Nr. 198, Nov. Ffm. 1987, S. 38

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Arbeiter nicht zwei verschiedene Klassen wären und der Umbaunicht die härteste Auspressung der Arbeiter im Interesse derMachterhaltung der Bürokratie zum Ziele hätte. Auf Seite 36 lobtSeppo seinen »politischen Reformer« schon klarer: »DieBedeutung der politischen Veränderungen kann nicht unterschätztwerden, vor allem nicht in Anbetracht der Bedingungen in derSowjetunion. Doch die sozialistische Demokratie ist noch weitentfernt und die Maßnahmen zu ihrer Verwirklichung sind häufigunbestimmt und zweideutig«. Rußland befindet sich also auf demWeg zum Sozialismus, der Weg ist zwar noch weit, aber derAnfang, wenn auch zweideutig, ist getan. Auf Grund all dieserIllusionen, die Seppo über Gorbatschow verbreitet, schreibt derHerausgeber in dem Hinweis zu dem Artikel, daß »Seppo denheutigen Versuch Gorbatschows darstellt, diesen Hemmschuh Nr. 1[die Bürokratie, NN] für die Entwicklung der Sowjetunionloszuwerden«. Bei all diesen unkritischen, fast hoffnungsfrohenThesen dem Oberbürokrat gegenüber ist es dann auch kein Wunder,wenn die VSP (Vereinigung von GIM und der maoistischen KPD)den Jubelchor anstimmt: »Weiter so, Genosse«34.

Die Sektierer

Ganz anders als die beiden vorgenannten, die im Osten die roteSonne des Sozialismus aufgehen sehen, sieht der BSA (Internatio-nales Komitee der 4. Internationale) dort die dunklen Wolken derkapitalistischen Restauration heraufziehen. Nach seiner Meinungverrät Gorbatschow die angeblich bis heute bestehenden sozialenErrungenschaften des Oktobers, das Außenhandelsmonopol, dieStaatswirtschaft und insbesondere den Plan: »Gorbatschows Rede[Juni 1987] ist eine Kriegserklärung an die sowjetische Arbeiter-klasse. Sie bestätigt Trotzkis Analyse, daß die Hauptgefahr für einekapitalistische Restauration in der Sowjetunion von der stalinisti-schen Bürokratie ausgeht...«35. Dabei wird einfach übersehen, daßmit der Bürokratie unter Stalin eine neue herrschende Klasse ent-standen ist, die eigene Interessen verfolgt, und die den staatlichenKapitalismus bereits vor 50 Jahren etabliert hat.

34SOZ-Magazin Nr. 1, Ffm 198735"Neue Arbeiterpresse", Sonderausgabe "Gorbatschow und die DKP", ohne Datum

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Trotzkis Arbeiterstaats-Theorie, keine Antwort für die Welt-vorgänge

Gorbatschow beschreitet weder den Weg hin zum Sozialismus,indem er die Bedingungen für eine politische Revolution ebnet,noch weg vom Sozialismus, indem er die soziale Konterrevolutioneinleitet. Die Theorie des "degenerierten Arbeiterstaates" vonTrotzki, die nur von der politischen Konterrevolution Stalins aus-geht und beinhaltet, daß die sozialen Errungenschaften des Okto-bers wie Plan, Außenhandelsmonopol und Staatswirtschaft von ei-ner sozialistischen Arbeiterregierung übernommen werden können,führt unabhängig seiner sonstigen Leistungen zur Verwirrung derSozialisten und setzt falsche Hoffnungen. Nach der politischen undsozialen Konterrevolution Stalins muß die revolutionäre Linke sichendgültig von dem "Übervater" UdSSR trennen, anders wird sie dieMasse der Arbeiter in der Welt nicht für einen Kampf für eine klas-senlose Gesellschaft gewinnen können und diesen Kampf an denRockzipfeln der Bürokratie auch niemals zum Sieg führen. Bei denStreiks der russischen Arbeiter gegen die Einführung der Schicht-arbeit und Leistungslöhne und bei der Haltung zu den "Reformen"im gesamten Comecon, heißt es, sich an die Seite der Arbeiter-klasse zu stellen. Nur der Kampf für den internationalen Sozialis-mus wird uns aus den brennenden Häusern des Privat- sowie desStaatskapitalismus in die Welt führen, in der der Mensch die Ge-schichte selber in die Hand nimmt und bewußt seine Geschickelenkt.

In Trotzkis

Militärzug

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Trotzkis Übergangsprogramm zur Gründung der VI. Interna-tionale

(KK 31 - 12/2001)

Nachdem Trotzki in seiner Schrift von 1936 Die verratene Re-volution festgestellt hatte, dass in Russland unter Stalin eine neue -zumindest politische - Revolution notwendig ist, gründete er 1938mit nur wenigen Intellektuellen die Vierte Internationale. Er rech-nete damit, dass ein neuer - der Zweite - Weltkrieg kommen undnach seinem Ende weltweit revolutionäre Aufstände entflammenwürden, woraufhin er entsprechende Übergangsforderungen entwi-ckelte, die in revolutionären Zeiten von den Massen verstanden,aber vom Kapital nicht mehr erfüllt werden können. Die 4. Interna-tionale beschreibt die Aufgaben der Gründungsresolution:

»Das zentrale Dokument der Konferenz, der von Trotzki verfassteText Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV.Internationale, knüpft an das programmatische Erbe der Bol-schewiki an. Dieses Übergangsprogramm will ,den Massen in ih-ren Tageskämpfen helfen, die Brücke zu finden zwischen ihrenaktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischenRevolution. Diese Brücke sollte aus einem System von Über-gangsforderungen bestehen, die ausgehen von den heutigen Be-dingungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten derArbeiterklasse und unweigerlich zu ein und demselben Schlußführen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.‘ Das,Übergangsprogramm‘ ist der ,,klassische‘ Text der IV. Internati-onale, der auch 50 Jahre nach seinem Entstehen und trotz derwichtigen Veränderungen seither seinen methodischen Wert nichtverloren hat.«36

36Alles, Wolfgang (Hg.), Die kommunistische Alternative: Texte der Linken Opposition und IV. Internationale 1932-1985, Frankfurt a.M. 1985, S. 60

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Im Übergangsprogramm selber beschreibt Trotzki dessen Aufga-ben:

»Nur ein allgemeiner revolutionärer Aufschwung des Proletariatskann eine vollständige Enteignung der Bourgeoisie auf die Ta-gesordnung setzen. Es ist die Aufgabe von Übergangsforderun-gen, das Proletariat auf die Lösung dieses Problems vorzuberei-ten.«37

Und weiter:

»Die strategische Aufgabe der nächsten Periode - einer vorrevo-lutionäre Periode der Agitation, Propaganda und Organisation -besteht darin, den Widerspruch zwischen der Reife der objektivenBedingungen der Revolution und der Unreife des Proletariatsund seiner Vorhut (Verwirrung und Entmutigung der älteren Ge-neration, mangelnde Erfahrung der jüngeren) zu überwinden.Man muss den Massen in ihren Tageskämpfen helfen, die Brückezu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Pro-gramm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke sollte auseinem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehenvon den heutigen Bedingungen und dem heutigen Bewusstseinbreiter Schichten der Arbeiterklasse und unweigerlich zu ein unddemselben Schluß führen: der Eroberung der Macht durch dasProletariat.«38

In der ,Übergangsgesellschaft‘ entwickeln sich aus Streikkomi-tees die Arbeiterräte und Trotzki rechnete nach dem Krieg mit die-sen.

37 Trotzki, Leo, Das Übergangsprogramm: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale (1938), in: Alles, Wolfgang (Hg.), Diekommunistische Alternative, a.a.O., S. 7238 Ebd., S. 64 Wenn die 4. Internationale diesen Satz ernst genommenhätte, dann hätte sie nicht im Rahmen des Ostblocks von Arbeiterstaatenreden dürfen, da deren Führung ja „auf die Seite der bürgerlichen Ordnung“übergegangen ist und sie „ihre zynisch konterrevolutionäre Rolle in derganzen Welt“ spielt. Aber spätestens dann müsste auch ins Auge fallen,dass die neuen Staaten ein genaues Abbild von Moskau sind, nämlich eineEinparteiendiktatur. Also ist Russland selbst zur „bürgerlichen Ordnung“zurück übergegangen.

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»Sobald ein solches [Fabrik]-Komitee entsteht, ergibt sich in derFabrik faktisch eine Situation der Doppelherrschaft. Ihrem Wesennach verkörpert sie eine Übergangssituation, weil sie zwei unver-söhnliche Herrschaftssysteme beinhaltet. das kapitalistische unddas proletarische. Die grundsätzliche Bedeutung der Fabrikko-mitees besteht genau darin, eine vorrevolutionäre, wenn nicht garunmittelbar revolutionäre Periode zwischen der bürgerlichen undder proletarischen Herrschaft einzuleiten. Dass die Propagandafür die Fabrikkomitees weder verfrüht noch künstlich ist, bezeu-gen am deutlichsten die Wellen von Sitzstreiks, die sich in einerReihe von Ländern ausgebreitet haben. Weitere derartige Bewe-gungen sind in naher Zukunft unvermeidbar. Es ist notwendig,rechtzeitig eine Kampagne für Fabrikkomitees zu beginnen, umnicht unvorbereitet überrascht zu werden.«39

In der Tat gab es in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg räteähn-liche ,Antifakomitees‘. Nur, nicht bloß die amerikanische Besat-zungsmacht hat diese verboten, sondern auch die DDR, womit dieArbeiter so geschwächt waren, dass sie sich sofort der starken im-perialistischen Gewalt beugen mussten.

Dies bekam Trotzki allerdings nicht mehr mit, da er 1940 von ei-nem stalinistischen Agenten ermordet wurde. Seine 1938 getroffeneEinschätzung ging von anderen Umständen aus. Sie mutmaßte,dass die Machtfrage nach dem Zweiten Weltkrieg gestellt wird.

»Die Doppelherrschaft ist ihrerseits der Höhepunkt der Über-gangsperiode. Zwei Herrschaftsformen, die bürgerliche und dieproletarische stehen einander unversöhnlich gegenüber. Der Zu-sammenstoß zwischen beiden ist unvermeidlich, Von seinem Aus-gang hängt das Los der Gesellschaft ab: im Fall einerNiederlage der Revolution die faschistische Diktatur derBourgeoisie, im Falle ihres Sieges - die Rätemacht, d.h. dieDiktatur des Proletariats und der sozialistische Neuaufbau derGesellschaft.«40

39Ebd., S. 6940Ebd., S. 85

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Aber Trotzki machte seine Rechnung ohne die sozialdemokrati-schen und neu entstandenen stalinistischen Bürokraten. Stalin hatihnen 1924 mit der Theorie vom ,Aufbau des Sozialismus in einemLande‘ ihr eigenes Interesse eröffnet und ihnen Selbstbewusstseinals Klasse gegeben, sie wurde eine Klasse ,für sich‘. Sie haben, wieauch später, jede beginnenden Kämpfe der Arbeiter im eigenenLand unterdrückt und im Ausland verraten.

Durch die Unterschätzung der Verbürgerlichung der kommunisti-schen Parteien beinhaltet Trotzkis Analyse entsprechend eine totaleFehleinschätzung. Er sieht zwar die Bürokratie als ,Hindernis‘, abernicht soweit, dass sie die ganze Weltarbeiterklasse für ein halbesJahrhundert paralysieren kann. Selbst am Anfang des 21. Jahrhun-derts haben die Wellen des Stalinismus sich immer noch nicht be-ruhigt, und stalinistische Politiker wie Che Guevara oder Milosovicwerden immer noch für Sozialisten gehalten. Aber den FehlerTrotzkis, die Voraussage von baldigen revolutionären Zeiten, hat ergemein mit allen marxistischen Klassikern, von Marx bis Lenin:

»Ökonomie, Staat und Politik der Bourgeoisie sowie ihre inter-nationalen Beziehungen sind völlig von einer sozialen Krise er-faßt, wie sie für vorrevolutionäre Situationen kennzeichnend ist.Das Haupthindernis für die Umwandlung der vorrevolutionärenin eine revolutionäre Lage ist der opportunistische Charakter derproletarischen Führung, ihre kleinbürgerliche Feigheit gegen-über der Großbourgeoisie und ihre gemeine Kumpanei mit ihr,selbst noch in deren Todeskampf.

In allen Ländern ist das Proletariat von einer tiefen Unruhe er-faßt. Immer wieder schlagen Millionenmassen eine revolutionäreRichtung ein.«41

In der Realität aber geschah genau das Gegenteil. Weiter hintensieht Trotzki selber die verräterische Funktion der Bürokratie:

»Der endgültige Übergang der Komintern auf die Seite der bür-gerlichen Ordnung, ihre zynisch konterrevolutionäre Rolle in derganzen Welt, insbesondere in Spanien, Frankreich, den Verei-

41Ebd., S. 62

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nigten Staaten und den anderen "demokratischen" Ländern - hatfür das Weltproletariat außerordentliche zusätzliche Schwierig-keiten geschaffen. Unter dem Banner der Oktoberrevolution ver-urteilt die versöhnlerische ,Volksfront‘-Politik die Arbeiterklassezur Ohnmacht und bahnt dem Faschismus den Weg.«42

Anhand dieser Worte kann man nur zu dem Schluss kommen,dass der sonst so geniale Trotzki hier die Hoffnung zum Vater sei-ner Gedanken gemacht hat und deshalb für die notwendige Veran-kerung der Vierten Internationale die Zukunft in rosigen revolutio-nären Bildern malte, so dass der Nachfolger in der Vierten, JamesP. Cannon noch Monate nach dem Zweiten Weltkrieg sagte, dass ernoch nicht zu Ende sei, nur damit Trotzkis Einschätzung nochstimmte.

Eine Internationale kann man aber nur gründen, wenn man min-destens in einem oder zwei Ländern auch in der Arbeiterklasse ver-ankert ist. Wir müssen unsere Theorien in der Praxis überprüfen,um ihre Machbarkeit testen zu können. Solange wir in der Arbei-terklasse nicht verankert sind, können wir keine Partei und erstrecht keine Internationale mit international bindenden Beschlüssengründen, die nirgendwo in der Praxis getestet wurden.

Statt auf den Prüfstein der Realität hat Trotzki gleich auf eine fürihn sicher bevorstehende Doppelherrschaft gesetzt und seine ent-sprechenden Forderungen gestellt, die besonders im Nachhinein fürdie damalige Zeit als Tagesforderungen nur als absurd bezeichnetwerden können:

»Der Losung der Reformisten nach Besteuerung der Kriegsge-winne setzen wir die Losungen entgegen: Beschlagnahme derKriegsgewinne und Enteignung der Rüstungsindustrie. Wo die

42Ebd., S. 64

Wenn die 4. Internationale diesen Satz ernst genommen hätte, dann hätte sienicht im Rahmen des Ostblocks von Arbeiterstaaten reden dürfen, da derenFührung ja „auf die Seite der bürgerlichen Ordnung“ übergegangen ist undsie „ihre zynisch konterrevolutionäre Rolle in der ganzen Welt“ spielt. Aberspätestens dann müsste auch ins Auge fallen, dass die neuen Staaten eingenaues Abbild von Moskau sind, nämlich eine Einparteiendiktatur. Also istRussland selbst zur „bürgerlichen Ordnung“ übergegangen.

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Rüstungsindustrie - wie in Frankreich - bereits ,nationalisiert‘ ist,behält die Losung der Arbeiterkontrolle ihre volle Geltung. DasProletariat vertraut dem bürgerlichen Staat ebenso wenig wiedem einzelnen Kapitalisten.

Keinen Mann und keinen Groschen für die bürgerliche Regie-rung!

Kein Aufrüstungsprogramm, sondern ein Programm gemeinnüt-ziger öffentlicher Arbeiten!

Vollkommene Unabhängigkeit der Arbeiterorganisationen vonmilitärischer und polizeilicher Kontrolle!

Die Entscheidung über das Schicksal der Völker muss ein für al-lemal den Händen der raubgierigen und erbarmungslosen impe-rialistischen Cliquen entrissen werden, die hinter dem Rückender Völker ihre Pläne schmieden.

In Übereinstimmung damit fordern wir:

Vollständige Abschaffung der Geheimdiplomatie; alle Verträgeund Abkommen müssen jedem Arbeiter und Bauern zugänglichsein.

Militärische Ausbildung und Bewaffnung der Arbeiter und Bau-ern unter der unmittelbaren Kontrolle von Arbeiter- und Bauern-komitees.

Schaffung von Militärschulen für die Ausbildung von Offizierenaus den Reihen der Werktätigen, die von den Arbeiterorganisati-onen gewählt werden. Ersetzung des stehenden Heeres durch eineuntrennbar mit den Betrieben, Bergwerken, Bauernhöfen usw.verbundene Volksmiliz.«43

Weitere Forderungen zum Übergangsprogamm finden sich imlaufenden Text:

»Gleitende Lohnskala [mit der Preissteigerung wachsende Tarife]und gleitende Skala der Arbeitszeit

Fabrikkomtees43Ebda.

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Enteignung bestimmter Gruppen von Kapitalisten und der Pri-vatbanken.«44

Es ist hinreichend deutlich geworden, dass diese Forderungennur durchgesetzt werden können, wenn die Arbeiter auch dieMachtfrage stellen. Man sieht auch erschreckend klar, in welcheSackgasse so eine falsche Einschätzung führen kann. Nur aufgrundder Hoffnung auf den Aufschwung des Klassenkampfes wurde dieVierte Internationale am grünen Tisch gegründet. Nach dem Aus-bleiben revolutionärer Zeiten überlebte auch nur ein klapprigesGerüst von ihr, ein paar kleine Sekten isoliert von der Arbeiter-klasse, die nicht mehr in der Lage sind, das Erbe Trotzkis weiter zuentwickeln.

Als einziger Führer der Bolschewiki nach Lenins Tod hat er dasSystem Stalins grundlegend kritisiert. Obwohl die Geschehnissenoch neu waren, hat er bereits geahnt, dass Moskau unter Stalinzum Kapitalismus übergeht und mahnte seine Anhänger, die For-mel des ,degenerierten Arbeiterstaates‘ weiter zu entwickeln:

»Seinem Wesen nach kann sich der Bonapartismus nicht langehalten: Eine Kugel, die man auf der Spitze der Pyramide legt,muß unweigerlich auf die eine oder die andere Seite herunterfal-len.«45

und dann sagt er in der Verratenen Revolution:

»Die wissenschaftliche wie die politische Aufgabe besteht nichtdarin, einen unvollendeten Prozess mit einer vollendeten Defini-tion zu versehen, sondern darin, ihn in seinen Etappen zu verfol-gen ... und in dieser Voraussicht eine Stütze für das Handeln zufinden«46

Entsprechend dieser Einsicht fiel auch seine Analyse Moskausvorsichtig aus; über die internationale Situation der ehemaligen

44 Ebd., S. 8045 Trotzki, Leo, Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus, in: ders., Schriften, Band 1.1, Hamburg 1988, S. 60746Trotzki, Leo, Verratene Revolution, in: ders., Schriften, Band 1.2, Hamburg 1988, S. 958

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Kommunistischen Parteien urteilte er sogar, dass sie bürgerlich, jasogar konterrevolutionär geworden sind:

»Die Linke Opposition ist im Jahre 1923, vor zehn Jahren, imLande der Oktoberrevolution, in der regierenden Partei des ers-ten Arbeiterstaates entstanden. Die Verzögerung in der Entwick-lung der Oktoberrevolution hatte zwangsweise eine politischeReaktion im Lande der Oktoberrevolution hervorgerufen. Dievollendete Konterrevolution bedeutet die Ablösung der Herr-schaft einer Klasse durch die einer anderen, die Reaktion beginntund entwickelt sich noch unter der Herrschaft der revolutionärenKlasse. Als Träger der Reaktion gegen den Oktober trat dasKleinbürgertum, hauptsächlich die Spitzen der Bauernschaft, auf.Ihr Sprecher wurde die dem Kleinbürgertum nahestehende Büro-kratie. Gestützt auf den Druck der kleinbürgerlichen Massen ge-wann sie sehr weitgehende Unabhängigkeit vom Proletariat.«47

Trotzki sieht hier bereits, dass eine herrschende Klasse entstehenwird, zwar noch gestützt von der Bauernschaft, aber immerhin eineherrschende Klasse. Dass historisch eine ganz neue Klasse mit derBürokratie entstanden ist, konnte man 1938 noch kaum absehen.

Die Nachfolger

Das gilt aber nicht für Trotzkis Nachfolger. Weil sie eben nichtverankert waren, ihre Theorien in der Praxis nicht überprüfenkonnten und trotzdem weltweit bindende Beschlüsse fällten, entwi-ckelten sie das theoretische Gebäude des Marxismus nicht weiter -keine Arbeiterbasis drängte sie nach vorne.

Nicht nur, dass sie im Gegensatz zu Trotzki die weltweiten KPsals revolutionär einschätzten, sondern auch ihre Texte zu Moskautrieften vor Lob. Erst einige Beispiele zur internationalen Lage:

»Die fortschrittliche Entwicklung in Jugoslawien hat jedochsehr stark auf die Arbeiterstaaten eingewirkt und besonders dieWiederbelebung der Arbeiterräte - so begrenzt sie auch mangels

47Trotzki, Leo, Die internationale Linksopposition: Ihre Aufgaben und Methoden [Zur bevorstehenden internationalen Konferenz] (1932), in: Alles, a.a.O., S. 48

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politischer Macht sein mag - war fähig, Polen und Ungarn zu be-einflussen.«48

»Man kann nicht ernsthaft behaupten, dass in jedem Land derWelt der Sieg der Revolution immer nur unter einer revolutionär-marxistischen Führung stattfinden kann. Hier und da können sichwie in Kuba, Grenada oder Nicaragua revolutionäre Kräfte auseinem im wesentlichen nationalen oder ,regionalen‘ Differenzie-rungsprozess entwickeln und diese Beispiele wiederholen. Umdiese Möglichkeit zu beurteilen, darf man nicht vondogmatischen und vorgefassten Meinungen ausgehen, weder in,negativer‘ noch in ,positiver‘ Hinsicht, sondern man muss anOrt und Stelle konkret die Möglichkeiten, die Aktivitäten und dieDynamik der jeweiligen revolutionären Organisation (z.B. in ElSalvador, Guatemala oder auf den Philippinen) untersuchen. DieAntwort steht niemals im voraus fest. Sie hängt von der konkretenPraxis der fraglichen Organisation auf lange Sicht ab.«49

»Alle siegreichen Revolutionen nach 1917, einschließlich der Er-richtung von Arbeiterstaaten durch revolutionäre Erhebungen inJugoslawien, China, Vietnam und Kuba, fanden so in relativ zu-rückgebliebenen Ländern statt, ohne die Perspektive eines un-mittelbaren revolutionären Sieges in den imperialistischen Län-dern.«50

Ein Land musste demnach diktatorisch und sehr verbrecherischsein und seine Arbeiteraktivisten ins Gefängnis werfen, damitTrotzkis Epigonen sie als ,fortschrittlich‘ ansehen.

,Fortschrittlich‘ in diesem Sinne ist überhaupt ein Begriff desStalinismus. Für uns Marxisten gibt es diesseits der Revolutionkeinen Fortschritt. Ein Land kann höchstens ,vorangeschritten‘ sein- ein von Lenin benutzter Begriff, und ihn gebrauchte er für Staatenmit vorangeschrittener Produktivkraftentwicklung. Demnach sindUSA, Europa und Japan vorangeschritten, nicht Vietnam und

484. Internationale, Die Dialektik der Weltrevolution (1963), in: Alles, a.a.O., S. 11749Mandel, Ernest, Einleitung [zum Übergangsprogramm], in: Alles, a.a.O., S. 30504. Internationale, Die Dialektik der Weltrevolution (1963), in: Alles, a.a.O., S. 105

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China. China hat erst knapp die Phase der ,ursprünglichen Akku-mulation‘ hinter sich, Vietnam noch nicht mal.

Kuba hat die Mitglieder der Vierten Internationale ins Gefängnisgeworfen. Aus Dankbarkeit bezeichneten die Trotzkisten die unter-drückende Partei als „revolutionäre Organisation“, ohne die Be-zeichnung ,national‘ dazu zu setzen. Dadurch denkt jeder bei derbloßen Bezeichnung ,revolutionär‘ an sozialistisch und fühlt sichauch bestätigt, weil dann gleich der Begriff ,Arbeiterstaat‘ nachge-schoben wird.

Nur eine Abspaltung der Vierten Internationale, der Bund sozia-listischer Arbeiter (BSA), hält Kuba nicht für einen degeneriertenArbeiterstaat. Aber dann kann sie nicht erklären, warum Russlandunter Stalin und seinen Nachfolger ein degenerierter Arbeiterstaatwar, wo doch Kuba ein genaues Abbild der UdSSR ist.

Die Feststellung der Vierten, dass auch Nichtmarxisten den „Siegder Revolution“ herbeiführen können, ist ein Widerspruch zu Marx’Feststellung „Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werkder Arbeiterklasse selbst sein“. Aber die orthodoxen Trotzkistenwollen uns weis machen, dass die Bürokratie den Arbeitern dasBett aufwärmen kann, und die Kollegen brauchen sich nur hineinzu legen.

Marx wies aber ganz deutlich darauf hin, dass nur die Arbeiterselbst sich befreien können. Auch ein Arbeiterstaat muss schonanfangen, die Produktion weltweit mit den anderen Arbeiterstaatensoweit wie möglich solidarisch geplant zu organisieren, um dieKonkurrenzproduktion, die die Ursache der Kriege und des Hun-gers in der Welt ist, zurückzudrängen. Das können nur die Arbeiter,denn sie müssen darunter leiden, wenn die Fließbänder wegen desWeltmarktes schneller gestellt werden oder sie auf die Straße ge-setzt werden. Dem Bürokraten ist da sein Hemd näher.

Aber die Notwendigkeit einer weltweit solidarischen und plan-vollen Produktion kann der Arbeiter nur in einem emanzipiertenKampf erkennen. Erst wenn er sich in seinen Kämpfen für Lohnund seinen Arbeitsplatz emanzipiert, wird er die ,nationalsozia-

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listischen‘ Bürokratenparasiten erkennen und gegen sie stimmen.Der Sozialismus muss durch die Köpfe der Arbeiter selbst laufen,da muss der Marxist ,dogmatisch‘ bleiben, wie die Vierte sichausdrückt.

Trotzki hatte darauf hingewiesen, dass die Bürokratie sich zu ei-ner herrschenden Klasse entwickeln wird. Nach der marxistischenStaatstheorie nun können die Arbeiter nicht den Staatsapparat mitseinen Sozialenstrukturen einer anderen Klasse übernehmen, son-dern müssen ihn zerschlagen. Warum sollten sie auch die bürokra-tische Staatsgewerkschaft oder den bürokratischen Plan überneh-men, der gegen die Konsuminteressen der Arbeiter gerichtet war.Ergo muss der Staat der Bürokraten zerschlagen werden, die Ar-beiter können ihn nicht übernehmen. Es langt nicht nur eine politi-sche Revolution, in den staatskapitalistischen Ländern benötigtman neben der politischen auch eine soziale Revolution.

In ihren Texten über Moskau lobt die Vierte die ökonomischenEntwicklungsmöglichkeiten der Ein-Parteien-Diktatur, obwohldoch der sonst weitsichtige Trotzki wegen der Qualitätsmängelbereits ihr Ende angedeutet hatte:

»Aber je weiter die Entwicklung voranschreitet, um so mehr wirdsich in der Wirtschaft das Problem der Qualität stellen, das derBürokratie wie ein Schatten entgleitet. Die Sowjetproduktionscheint geprägt vom grauen Stempel der Indifferenz. In einer na-tionalisierten Wirtschaft sind die Demokratie des Produzentenund Konsumenten, Kritik- und Initiativfreiheit, d.h. Bedingungen,die mit einem totalitären Regime der Angst, der Lüge und derKriecherei unvereinbar sind, die Voraussetzung für Qualität.«51

51 Trotzki, Leo, Verratene Revolution, in: ders., Schriften, Band 1.2, Hamburg 1988, S. 976

In der Fußnote steht: „Rabinowitz (Arbeitszeit- und Arbeitslohnpolitik, S. 82)schreibt, das Akkordlohnsystem habe zwar eine mengenmäßige Steigerung derProduktion ermöglicht, gleichzeitig sei aber ,die Qualität des Produkts inbeängstigender Form zurückgegangen‘. In einem Prawda-Artikel vom 21.5.1931hieß es beispielsweise über die Produktion eines sowjetischen Musterbetriebs:,Leider läßt die Qualität der Stalingrader Traktoren zu wünschen übrig. Vor unsliegen zwei große Aktenstücke. Diese Aktenstücke sind Anklageschriften gegendie Metallarbeiter der Stalingrader Traktorenwerke.‘ Anschließend wurden eine

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Und genau das hat sich bewahrheitet. Am Ende der DDR betrugihr Ausschuss 50%. Das bedeutet das Ende jeder Gesellschafts-form, noch dazu wurden die staatskapitalistischen Länder totge-rüstet. Aber die orthodox-trotzkistischen Gesänge triefen vor Lob:

»Selbst ohne die Wiederherstellung der proletarischen Demokra-tie übt die Sowjetunion schon eine ungeheure Anziehungskraftauf die Massen der Kolonialländer aus und sei es nur durch dieTatsache, dass die Sowjetunion die Möglichkeit bewiesen hat,dass die Wirtschaft und der Lebensstandard eines rückständigenLandes innerhalb von weniger als einem halben Jahrhundert aufdas Niveau eines fortschrittlichen Industriestaates gebracht wer-den können.«52

Wir Marxisten weisen darauf hin, dass die Stalinisten das,sozialistische Vokabular‘ nur benutzen, um die Massen für dieInteressen der Bürokratie einzuspannen. Und was machen die or-thodoxen Trotzkisten daraus? Eine perfide Lobeshymne.

»Wie wir schon festgestellt haben, hat der ständige kulturelle undwirtschaftliche Aufstieg der Arbeiterstaaten das Vertrauen derKolonialmassen in einen ,kapitalistischen Weg‘ zur Lösung desProblems der Rückständigkeit unterhöhlt und hat ihr Vertrauen indie sozialistische Lösung des Problems gestärkt. Der wirt-schaftliche Fortschritt, besonders der der Sowjetunion, der dasGewicht der Arbeiterstaaten in der Weltwirtschaft erhöht, befä-higt sie, das imperialistische Monopol für den Kauf von Rohstof-fen in zahlreichen zurückgebliebenen Ländern zu durchbrechenund versetzt sie in die Lage, eine andere und attraktivere Aus-wahl als die drückenden Zuteilungen an Ausrüstungsgütern undEntwicklungsprojekten des Imperialismus anzubieten. Der techni-sche und wirtschaftliche Fortschritt der Arbeiterstaaten begüns-tigt objektiv die Kolonialrevolution und die Tendenz, mit dem ka-

Vielzahl von technischen Mängeln (lockere Schrauben und Nieten, undichteKühler, Ventilfederbrüche, fehlendes Zubehör usw.) festgestellt. (Der Prawda-Bericht wurde in dem Artikel Stalingrader Traktoren arbeiten: Und dieAbnehmer stöhnen, in: RSD: Mitteilungsblatt der russischen Sozial-Demokratie,Nr. 22, 4.6.1931, zitiert).“

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pitalistischen Weltmarkt bei den Geburtswehen dieser Revolutionzu brechen. Das kubanische Beispiel hat dies sehr klar gezeigt.Es ist offensichtlich, dass die plötzliche Blockade und der Ver-such, Kuba auf die Knie zu zwingen, als Washington sich wei-gerte, länger kubanischen Zucker zu kaufen, viel wirkungsvollergewesen wäre, wenn die UdSSR und China nicht in der Lage ge-wesen wären, ersatzweise als Kunden einzuspringen.«53

»Wenn die Modernisierung und Industrialisierung der UdSSRspektakuläre Ergebnisse gebracht hat, so wurde der Fortschrittbeim Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft im allgemeinen ge-bremst und umgekehrt.«54

Man kann die Trotzkisten kaum mehr von den Stalinisten unter-scheiden und wenn man dem Arbeiter erzählt, dass sie sich bitteschön von der Bürokratie ausbeuten lassen anstatt vom Privatkapi-tal, dann werden sie uns zu recht den Vogel zeigen. Ergebnis ist,dass beide deutschen Vertreter der Vierten Internationale zur Be-deutungslosigkeit zusammengeschrumpft sind - die gross angekün-digte Vereinigte Sozialistische Partei (VSP)55 auf bundesweit nurnoch 10 Aktivisten, und der Revolutionäre Bund (RB) bringt esauch kaum auf mehr.

Die emanzipierten Arbeiter werden diesen Leuten natürlich nichtdie Führung in ihren Kämpfen geben. Aber auch wenn man sichvorstellt, dass sie durch ein Versehen an die Arbeiterregierungkommen würden, werden sie natürlich auch die von ihnen so hochgelobten Bürokraten in die Führung nehmen (sie hatten sich ja be-reits mit ihnen zusammengeschlossen). Und schon hätten wir wie-der den ,Nationalkommunismus‘, wie Trotzki die Theorie vom,Aufbau des Sozialismus in einem Lande‘ genannt hat, mit dem wirauch wieder den Kapitalismus durch die Hintertür eingeführt hät-ten.

53Ebd., S. 12354Mandel, Ernest, Einleitung [zum Übergangsprogramm], in: Alles, a.a.O., S. 1255Die VSP ist ein Zusammenschluss der trotzkistischen GIM (Mandel-Linie) und der mao-

stalinistischen KPD. Hier hatten die Trotzkisten bereits gezeigt, dass ihnen der Trennungsstrich

zwischen internationalem Sozialismus und ,Nationalkommunismus‘ nicht mehr so wichtig ist.

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Aber nicht nur die orthodoxen Trotzkisten haben sich durch ihrenRealitätsverlust von jedem Lernprozess entfernt.

Die unorthodoxen Trotzkisten

Jetzt erleben wir das gleiche auch bei den unorthodoxen Trotz-kisten. Hier war die Klarheit der Theorie immer die wichtigste Sa-che. In den 90-er Jahren aber schwenkte die britische SocialistWorkers Party (SWP) plötzlich um und machte die Türen weit auffür neue Mitglieder, weil sie die Arbeiterbewegung vor großen Ak-tionen sah. Trotzkis Übergangsprogramm sollte nun auch aktuellsein. Kurz vor seinem Tode, 1999, schrieb der Gründer der SWP,Tony Cliff:

»Der Kapitalismus in den entwickelten Ländern breitet sich nichtmehr aus und so passen die Worte des Übergansprogramms von1938 wieder zur Wirklichkeit, in der von systematischen Sozial-reformen oder von einer Hebung des Lebensstandards der Mas-sen überhaupt keine Rede mehr sein kann. Die klassische Theorieder permanenten Revolution, wie sie von Trotzki entwickeltwurde, steht wieder auf der Tagesordnung, wie die indonesischeRevolution von 1998 zeigt.«56

Sicher stimmt es, dass es Sozialreformen oder eine Hebung desLebensstandards nicht mehr gibt. Dennoch stehen die Revolutions-fragen oder Fragen des Übergangsprogrammes nicht auf der Ta-gesordnung. Noch halten die Arbeiter still und es scheint, dass diesnoch einige Zeit anhalten wird. Hier war auch, wie 1938 bei Trotzi,die Hoffnung der Vater des Gedankens.

Ergebnis dieser Fehleinschätzung ist, dass die marxistische au-thentische Tradition zu verschütten droht. Die deutsche Sektion derSWP, Linksruck, ist zwar mit 1.200 Mitgliedern eine für unsereVerhältnisse große Gruppe, sie wissen aber nichts mehr vom Mar-xismus und empfehlen die Wahl der PDS, nicht aus taktischenGründen, sondern weil sie ein kleineres Übel als die anderen Par-teien sei.

56Cliff, Tony, Die Ursprünge der Internationalen Sozialisten, Frankfurt a.M. 1999, S.

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Die Parteitüren sind eben zu einem falschen Zeitpunkt weit ge-öffnet worden. In Übergangszeiten ist das ein Gebot der Stunde.Die Massen und damit auch die unerfahrenen Parteimitgliederdrängen dann nach links. Heute aber drängen alle nach rechts unddas hat sich auch nach 10 Jahren Linksruck nicht geändert. Sie sindals Organisation genau wie die orthodoxen Trotzkisten für die Re-volution verloren und allenfalls noch fähig, gegen die Nazis oderden Krieg zu kämpfen, aber nicht mehr für den Sozialismus.

Die SWP selbst diskutiert inzwischen ein Zusammengehen mitden Mandel-Trotzkisten. Ihre eigene Staatskapitalismus-Theoriescheint ihnen nicht mehr so wichtig zu sein. Sie hat heute keineAktualität mehr, scheinen sie zu denken - Quantität vor Qualität.

Die Staatskapitalismus-Theorie ist aber nach wie vor aktuell.57 Eswird bei jeder Revolution Bürokratenköpfe geben, die sich unab-hängig von der internationalen Arbeiterbewegung machen wollenund deshalb einen nationalen Weg des Sozialismus einschlagenwerden. Da gilt es für die Partei, wachsam zu sein und ein klarestheoretisches Wissen zu haben, um den Weg zu kennen, den maneinschlagen muss und vor was man Acht geben sollte, sonst wirdman sein Ziel nicht erreichen.

Dieses Wissen wird jetzt bei Linksruck verschüttet, und man hältsich an der Hoffnung fest, dass jetzt schnell die revolutionärenZeiten kommen, sonst landet man durch seine Theoriegleichgültig-keit und dem Opportunismus ganz schnell bei den Reformisten.

Wollen wir aber das Reich der Vernunft erreichen, dann müssenwir an der Tradition von Marx, Engels, Luxemburg, Lenin undTrotzki festhalten.

Ihre Theorien müssen wieder neu erarbeitet werden. Diese Auf-gabe haben sich die Internationalen Sozialisten und befreundeteGruppen in den USA, Australien und Griechenland vorgenommen.

57Vgl. Norbert Nelte, Zur Aktualität der Staatskapitalismus-Theorie, in: Linke Opposition, Nr. 5 (1993)

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Die Tradition Trotzkis!Warum kann man als Marxist nur in seiner Tradition überle-ben 1? (Referat)

Trotzki ist ein wesentlicher Bestandteil des Marxismus. Er stehtheute in der marxistischen Weltbewegung für die zwei wichtigenGesichtspunkte der "Arbeiterdemokratie" und des "Internatio-nalismus". Trotzki war auch vor 1917 "Bolschewist" im Geiste,außer in der Parteifrage. In allen anderen Fragen war er klarer Mar-xist und in manchen anderen Fragen wie der des Internationalismusauch mehr "Bolschewist" als Lenin. Wenn Lenin damals sagte, ersei vor 1917 kein "Bolschewist" gewesen, dann meint er mit "Bol-schewismus" eben die Parteifrage.

Ich selber war mit 17 Jahren überzeugter Arbeiterdemokratiean-hänger. Meine persönlichen Erfahrungen mit der DDR stießen michaber von einer intensiveren Beschäftigung mit der marxschenMaterie ab. Erst, als ich in dem Alter die "Münchner Räterepublik"und Trotzki als frühen Kämpfer für die Arbeiterräte kennen lernte,wurde ich von unserer Sache überzeugt.

Trotzki stellt in der Arbeiterbewegung eine wesentliche Säule darund hat zu der Weiterentwicklung des Marxismus Bedeutendesbeigetragen. Marx und Engels sind für uns als Gründer unsererBewegung die wichtigsten Leute. Rosa Luxemburg bereicherte dieIdee mit der Frage der "Spontaniität", Lenin leistete in der "Par-tei"frage seinen Beitrag und Trotzki in der Bedetung der "Räte" unddes "Internationalismus". Daß Cliff auch mit seiner "Staatska-pitalimustheorie" in diese Reihe gehört, wird die Geschichte nochzeigen und zeigen müssen. So, wie alle diese Personen aus der Ar-beiterbewegung nicht wegzudenken sind, so ist es ebenfalls natür-lich mit Trotzki. Das ist eine wesentliche grundsätzliche Haltungvon uns Internationalisten. Schauen wir uns einige Wort von Dun-can Hallas über Trotzki an:

»Es war seine unvergängliche Leistung, die Tradition des revo-lutionären Marxismus in den Jahrzehnten, in der sie fast von ih-

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ren vorgeblichen Trägern ausgelöscht wurde, am Leben zu er-halten.

Trotzki war weit davon entfernt, unfehlbar zu sein. Lenin hatte inseinem Testament von Trotzkis »zu weitreichendem Selbstver-trauen« geschrieben, und es war Trotzkis Unglück in seinen letz-ten Jahren, daß nur wenige seiner Anhänger fähig waren, unab-hängig zu denken.

Daß er seine Genossen überragte, war gleichzeitig seine Stärkeund seine Tragödie. Vielleicht hätte niemand anders der Isolationund den Angriffen Widerstand leisten können, wie er es tat.

Sein Beitrag zum revolutionären Sozialismus und zur Arbeiter-bewegung ist unübertroffen. Er war einer der Handvoll wahrhaftgroßen Persönlichkeiten, die die Bewegung hervorgebrachthatte.«

Unsere Haltung hat nicht im Entferntesten etwas mit einem"Kult" zu tun. Gerade wir Internationalisten sind unter den Trotz-kisten als "Verräter" verschrieen, weil wir wesentliche Bestandteileder Theorien Trotkis weiterentwickelt haben. Aber so, wie derMarxismus nur lebendig bleiben konnte, in dem Trotzki ihn anwichtigen Punkten weiterentwickelte, so wird sein Werk nur in derWeiterentwicklung von Cliff überleben können. Gerade uns diesenVorwurf zu machen ist eine Umdrehung der Tatsachen. Alle Stali-nisten gehen orthodox mit Lenin um, alle Trotzkisten ebenso mitihm selber. Mich hatte unsere Theorie angesprochen, gerade weilsie unorthodox und kritisch mit den Leitfiguren umgeht.

Es ist aber eine verkehrte Herangehensweise, wenn ich sage, daßsind die richtigen Sachen, hinter die stelle ich mich und das sinddie falschen, die kritisiere ich. Das mache ich mit bürgerlichen Po-litikern oder Wissenschaftlern. Wenn der bürgerliche Revolutionärdie Feudalen stürzte, unterstütze ich ihn, wenn er aber heute dasKapital unterstützt, dann bekämpfe ich ihn.

Bei den Marxisten sehen wir das anders. Die Marxistische Theo-rie ist ja etwas in sich Logisches und Geschlossenes. Und so sehenwir auch die Marxisten. Ich sage ja auch nicht bei Marx oder Lenin,

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die guten Dinge nehme ich, die schlechten nicht. Nein. Ich stellemich hinter diese Genossen und sage dann vielleicht, da gibt esdiese oder jene Fehler, aus denen wir lernen müssen. Weil Leninden Fehler begangen hatte, die "Permanente Revolution" erst nichtzu verstehen oder die Fehler, in Warschau gegen sein eigenes Wortund das von Marx, daß der Sozialismus nicht exportiert werdenkönne, einmarschierte, Kautsky erst falsch einschätzte oder Stalingegenüber zu unkritisch war, sehe ich ihn dennoch asls Marxist undals ein wesentlicher Bestandteil unserer Tradition. Ihn gilt es alsogegen alle unberechtigten Angriffezu verteidigen. So war auchTrotzki erst einmal ein Marxist und hatte in seinen GrundsätzlichenAussagen bis auf einmal immer recht. Einmal hatte er sich in derParteifrage bis 1917 vertan, diesen Fehler hatte er später auch zu-gegeben. Die anderen Fehler, die AW aufzählt, sind taktischer Na-tur.

Wenn ich die Konterrevolution Rußlands richtig analysieren will,muß ich mich in die Tradition Trotzkis stellen. Stelle ich mich au-ßerhalb dieser Tradition, werde ich unweigerlich im theoretischen"Schwarzen Loch" verschwinden.

Zu der konkreten Debatte um M. Clemens Schrift muß ich nocheinmal betonen, daß ich zu keinem Zeitpunkt das Buch wegen in-haltlicher Differenzen ablehnte. Die Ablehnung geschah wegen derBeleidigungen Trotzkis. (Übrigens hatte ich auch nicht nach an-fänglicher Durchsicht erst für die Bestellung plädiert, sondern weilich erstblind der Analyse von WA vertraute, daß dieses Buch ver-tretbar sei.)

Der Fakt, daß Trotzki nicht sofort auf der ZK-Sitzung die Sachezur Sprache brachte, stimmt natürlich und wird auch nicht bestrit-ten. Nun wissen wir aber selber aus unserer Praxis, daß die wesent-lichen Sachen vor einer Sitzung angesprochen werden und dieKarten dort vergeben werden. Nun wußte Trotzki bereits, als er indie Sitzung ging, daß alle anderen auf Seiten Stalins waren. Dar-über schreibt C. selber in der Diskussion mit Kamenew (S. 237).1000 andere verständliche Gründe haben ihn ebenfalls veranlaßt,den öffentlichen Streit um diesen Punkt hinauszuzögern. Das Trio-

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Komplott gegen Trotzki war bereits heimlich beschlossen worden,da hätte T. keine Chance mehr gehabt und es ist absoluter Unsinnvon C. zu behaupten, daß T. die »Bombe gegen Stalin« [LeninsPapiere] »hätte nur zu zünden brachen, und Stalin wäre erledigtgewesen«. Ein wichtiger und m.E. auch richtige Punkt war, in derfür die Bolschewiken schwierigen Situation die Diskussionen nichtöffentlich und als Eklat zu führen. Hier hatte er auch vorher anderezu Recht kritisiert und konnte dann nicht so ohne weiteres selberdiese Haltung aufgeben. Seine Schwäche gegenüber der Einschät-zung der Bürokratie ist bekannt. Aber wer hatte sie denn 1923 we-niger als er? Er hatte Lenin auf Stalins Fehler in Georgien vorherhingewiesen. Lenin fand es nicht so bedeutsam, zu reagieren. Nun,wo es m.E. auch zu spät war, sollte er plötzlich springen? Da wirddoch irgendwie die Realität verdreht, wenn man ihn eine Mitschuldan dem Aufstieg Stalins gibt. Da könnte man 100 mal eher Leninselber die Schuld geben, daß er Stalin so sehr vertraute, daß er ihnzum Generalsekretär machte und ihn lange gewähren ließ. Sicherhatte Trotzki alleine zu wenig Autorität, um sich gegen Stalindurchzusetzen, aber auch "zu wenig Autorität" kann man niemen-dem zum Vorwurf machen. Die Stalinisten haben ihn 70 Jahre langzum Vorwurf gemacht, daß er ständig rumquängele, massenhaftBriefe schriebe und sich destruktiv zur ZK-Arbeit verhielte. Jetzthat sich der Stalinismus selber ad absurdum geführt und plötzlichist es ihn, Trotzki wegen zu wenig Quängelei zu kritisieren.

Die Gesamtdarstellung zum Trotzkis Verhalten stimmt also nichtin dem Buch, aber das wäre alein kein Grund für eine Ablehnung,wenn es sich hier um ein interessantes Thema handelte (Aber auchdies ist relativ uninteressant, viel wichtiger wäre die Darstellungder theoretisch grundsätzlichen Differenz über die Frage des "In-ternationalismus" gegen den "Aufbau des Sozialismus in einemLande"). Die Ablehung resultiert aus den ständigen BeleidigungenTrotzkis und sonstigen Falschdarstellungen:

Das fängt schon auf S. 73 an, wo das Wort Lenins über den"Nichtbolschewismus" Trotzkis zitiert wird und Clemens die Ein-schätzung von Deutscher, Fischer und Carmichael des Nichtbol-schewismus' als einen vorrevolutionären mit den Worten kritisiert:

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"Sehr nett, nur steht das nicht da." Frage? Woher weiß denn C. bes-ser als Fischer und Deutscher, was Lenin mit seinen Wortenmeinte? Weiter geht auf der nächsten Seite, daß Trotzki nur aufDrängen seiner Mitredakteure den Bolschewiken sich anschloß. Erbedrängte aber umgekehrt die Bolschewiken (Stalin, Kamenew,Sinowjew), endlich ihren Unterstützerkurs für die Menschewikenaufzugeben und eine revolutionäre Politik zu verfolgen. Als dannLenin nach seiner Rückkehr diesen Opportunistenkurs änderte, warnatürlich für Trotzki ein Zusammengehen klar.

Dann wird ein genzes Kapitel dem »Verrat« Trotkis gewidmet. Erbaue für Stalin »Goldene Brücken«, «Über Don Quichotte kannman ja noch lachen, aber über Trotzki?«. Er »lamentiere«, beweiseseinen »Nichtbolschewismus«, er »scheute bewußt seinen Kampfgegen Stalin« (gerade Trotzki), »er benahm sich wie die kleinbür-gerlichen Menschewiki«, er »greift zu zu lügenhaften Ausflüchten«,»Oh Trotzki«, »Intrigantentum«, »Intrige«, »Betrug« und ein»Komplott des Schweigens« (Mit wem ?). »Trotzki verfälscht auferbärmliche Weise Lenins Intention« und »paktierte mit Stalin«.

Nachdem man sich also so durch das halbe Buch gequält hat,wird man kaum die Geschichte aus der Sichtder Internationalistenverstehen, gerade weil einiges an den Fakten stimmt, aber ebennicht an den Erklärungen. Sicher hatte er 1924 Stalin noch zu we-nig frontal angegriffen. Sein Fehler und der fast aller der LinkenOpposition war aber die Fehleinschätzung, daß der Hauptfeind der"Bauernvertreter" Bucharin sei und Stalin das Zentrum. Das Prob-lem war damals schwer zu erkennen. Der Privatkapitalist - obBauer oder Händler - war zu einem Schlag gegen die UdSSR kaummehr fähig. Es entstand aber erstmalig in der Welt still und leiseeine ganz neue Klasse, zu der es noch keine Erfahrung gab. DieBedeutung dieser neuen herrschenden Klasse wurde von der LOsicher noch unterschätzt, aber immer noch am wenigsten von allenanderen Fraktionen und Führern unterschätzt. Es wäre natürlichlächerlich, denjenigen als Verräter und Komplotteur zu benennen,der die Bürokratie damals am weitestgehenden kritisierte. Zu dieserZeit waren die Komplotteure die Trimveratsmitglieder Sinowjewund Kamenjew und dann Bucharin, der mit Stalin einen Pakt

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schloß. Wenn man dann auch noch Trotzki dazuzählte, bliebe in derTat von der Oktoberrevolution nichts anderes übrig als das "GenieLenin" und da kaum mehr neue Genies geboren werden, da ja fastalles grundsätzlich marxistische bereits gesagt ist, würde es dannkeinen neuen Oktober mehr geben. Die Geschichte verläuft aberdialektisch und die Oktoberereignisse haben nicht nur das "GenieLenin" hervorgebracht, sondern ganze Generationen, die sich in diemarxistische Tradition stellten bis hin zu uns selber.

Daß man nicht aus dem Null eine marxistische Tradition gründenkann, weiß auch Clemens. Und da er ununterbrochen auf Trotzkieindrischt, kommt der spätere Stalinist "Bucharin" in dem Buchlobend davon: »Bucharin trat Stalin entgegen« (S. 119). Die gan-zen kapitellangen Entstellungen der Geschichte Trotkis kann nichtmit einem Beiblatt ausgeglichen werden. Wenn wir eine Buch-handlung hätten oder einen Vertrieb, dann wäre vieles im Angebot.In unserer Bücherkiste befinden sich aber nur Bücher, die unsereTradition wiederspiegeln. (Außer ein Satz bei der CNT-Broschüre,zu dem wir in der Broschüre auch selber unsere Haltung erwäh-nen). Wir verkaufen die Bücher aus Überzeugung, nicht gegen Be-zahlung. Dann kann man nicht erwarten, daß wir etwas verkaufen,was vollkommen gegen unsere Überzeugung läuft und ansonstenrelativ unwichtig ist. Es wird auch kein Kontakt verstehen können,daß wir uns in die Tradition Trotzkis stellen und andererseits einBuch mit einer Trotzki-Hetze anbieten.

Wir wollen alle Menschen gewinnen, auch diejenigen, die in derVergangenheit Irrtümer begangen haben und aus einer anderenTradition kommen. Wir haben aber eine Idee, die des authentischenMarxismus, des internationalen Sozialismus, und wir wollen andereLeute für diese Idee gewinnen und nicht alle Leute, egal ob alleTrotzkisten oder alle Antistalinisten und Pro-Leninisten unter einenHut verfrachten.

NN, 23.12.1993

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Leben und Werk Trotzkis!Warum kann man als Marxist nur in seiner Tradition überle-ben 2? (Referat)

»Trotzki wurde 1879 in der Ukraine als Sohn eines jüdischenBauern geboren. Zu dieser Zeit existierte im zaristischen Reichnoch keine Arbeiterbewegung. Tatsächlich gab es fast noch keineindustrielle Arbeiterklasse.«58

Trotzki ist ein wesentlicher Bestandteil des Marxismus. Er stehtheute in der marxistischen Weltbewegung für die zwei wichtigenGesichtspunkte der "Arbeiterdemokratie" und des "Internatio-nalismus". Trotzki war auch vor 1917 "Bolschewist" im Geiste,außer in der Parteifrage. In allen anderen Fragen war er klarer Mar-xist und in manchen anderen Fragen wie der des Internationalismusauch mehr "Bolschewist" als Lenin. Wenn Lenin damals sagte, ersei vor 1917 kein "Bolschewist" gewesen, dann meint er mit "Bol-schewismus" eben die Parteifrage.

Trotzki stellt in der Arbeiterbewegung eine wesentliche Säule darund hat zu der Weiterentwicklung des Marxismus Bedeutendesbeigetragen. Marx und Engels sind für uns als Gründer unsererBewegung die wichtigsten Leute. Rosa Luxemburg bereicherte dieIdee mit der Frage der "Spontaniität", Lenin leistete in der "Par-tei"frage seinen Beitrag und Trotzki in der Bedetung der "Räte" unddes "Internationalismus". Daß Cliff auch mit seiner "Staatska-pitalimustheorie" in diese Reihe gehört, wird die Geschichte nochzeigen und zeigen müssen. So, wie alle diese Personen aus der Ar-beiterbewegung nicht wegzudenken sind, so ist es ebenfalls natür-lich mit Trotzki. Das ist eine wesentliche grundsätzliche Haltungvon uns Internationalisten. Schauen wir uns einige Wort von Dun-can Hallas über Trotzki an:

»Es war seine unvergängliche Leistung, die Tradition des revo-lutionären Marxismus in den Jahrzehnten, in der sie fast von ih-

58Duncan Halla: "Trotzki". S. 3

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ren vorgeblichen Trägern ausgelöscht wurde, am Leben zu er-halten.

Trotzki war weit davon entfernt, unfehlbar zu sein. Lenin hatte inseinem Testament von Trotzkis »zu weitreichendem Selbstver-trauen« geschrieben, und es war Trotzkis Unglück in seinen letz-ten Jahren, daß nur wenige seiner Anhänger fähig waren, unab-hängig zu denken.

Daß er seine Genossen überragte, war gleichzeitig seine Stärkeund seine Tragödie. Vielleicht hätte niemand anders der Isolationund den Angriffen Widerstand leisten können, wie er es tat.

Sein Beitrag zum revolutionären Sozialismus und zur Arbeiter-bewegung ist unübertroffen. Er war einer der Handvoll wahrhaftgroßen Persönlichkeiten, die die Bewegung hervorgebrachthatte.«59

Unsere Haltung hat nicht im Entferntesten etwas mit einem"Kult" zu tun. Gerade wir Internationalisten sind unter den Trotz-kisten als "Verräter" verschrieen, weil wir wesentliche Bestandteileder Theorien Trotkis weiterentwickelt haben. Aber so, wie derMarxismus nur lebendig bleiben konnte, in dem Trotzki ihn anwichtigen Punkten weiterentwickelte, so wird sein Werk nur in derWeiterentwicklung von Cliff überleben können. Gerade uns diesenVorwurf zu machen ist eine Umdrehung der Tatsachen. Alle Stali-nisten gehen orthodox mit Lenin um, alle Trotzkisten ebenso mitihm selber. Mich hatte unsere Theorie angesprochen, gerade weilsie unorthodox und kritisch mit den Leitfiguren umgeht.

Es ist aber eine verkehrte Herangehensweise, wenn ich sage, daßsind die richtigen Sachen, hinter die stelle ich mich und das sinddie falschen, die kritisiere ich. Das mache ich mit bürgerlichen Po-litikern oder Wissenschaftlern. Wenn der bürgerliche Revolutionärdie Feudalen stürzte, unterstütze ich ihn, wenn er aber heute dasKapital unterstützt, dann bekämpfe ich ihn.

Bei den Marxisten sehen wir das anders. Die Marxistische Theo-rie ist ja etwas in sich Logisches und Geschlossenes. Und so sehen

59Ebda, S.12

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wir auch die Marxisten. Ich sage ja auch nicht bei Marx oder Lenin,die guten Dinge nehme ich, die schlechten nicht. Nein. Ich stellemich hinter diese Genossen und sage dann vielleicht, da gibt esdiese oder jene Fehler, aus denen wir lernen müssen. Weil Leninden Fehler begangen hatte, die "Permanente Revolution" erst nichtzu verstehen oder die Fehler, in Warschau gegen sein eigenes Wortund das von Marx, daß der Sozialismus nicht exportiert werdenkönne, einmarschierte, Kautsky erst falsch einschätzte oder Stalingegenüber zu unkritisch war, sehe ich ihn dennoch als Marxist undals ein wesentlicher Bestandteil unserer Tradition. Ihn gilt es alsogegen alle unberechtigten Angriffe zu verteidigen. So war auchTrotzki erst einmal ein Marxist und hatte in seinen GrundsätzlichenAussagen bis auf einmal immer recht. Einmal hatte er sich in derParteifrage bis 1917 vertan, diesen Fehler hatte er später auch zu-gegeben.

Wenn ich die Konterrevolution Rußlands richtig analysieren will,muß ich mich in die Tradition Trotzkis stellen. Stelle ich mich au-ßerhalb dieser Tradition, werde ich unweigerlich im theoretischen"Schwarzen Loch" verschwinden.

»Er kämpfte nicht wie Don Quichotte oder der ÜbermenschNietzsches gegen seine Zeit, sondern wie die Pioniere kämpfen -nicht im Namen der Vergangenheit, sondern in dem der Zukunft.Gewiß, wenn wir das Antlitz eines großen Wegbereiter forschendbetrachten, so mögen wir in ihm einen Zug Don Quichotte erbli-cken; aber der Pionier ist dennoch kein Don Quichotte oder Uto-pist. Sehr wenige Menschen der Geschichte stimmten mit ihrerZeit so triumphierend überein wie Trotzki im Jahre 1917 und da-nach; und so geriet er mit seiner Zeit nicht in Konflikt, weil ersich innerlich von den Realitäten seiner Generation entfremdethatte, sondern weil Charakter und Temperament des Vorläufersihn dazu trieben. Er war 1905 der Vorläufer von 1917 und derSowjets gewesen; im Jahre 1917 gab es als Sowjetführer nichtseinesgleichen; er war seit Anfang der zwanziger Jahre der Manngewesen, der das Stichwort für die Planwirtschaft und Industrie-alisierung gab; und er sollte der große, wenn auch nicht unfehl-

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bare Bote eines künftigen Wiedererwachens der revolutionärenVölker bleiben.«60

Trotzki, Lenin und Kamenew

60Isaac Deutscher: "Trotzki, Bd. II", S 447

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Leo Davidowitsch Bronstein (Trotzki)

Am 25. Oktober 1879 in Janowka (Gouv. Cherson), Ukraine, alsSohn eines jüdischen Mühlenpächters geboren.

Am 20. August 1940 in Mexiko gestorben.

1886 Besuch der deutsch-jüdischen Schule in Gromoklej.

1888 Besucht die Schule "Zum Heiligen Paulus" in Odessa. Lerntdort Deutsch und Französisch.

1896 Macht in Nikolajew das Abitur mit Auszeichnung. Erste Kontakte zu revolutionären Zirkeln. (Verwirft den Marxismus).

1897 Gründet den "Süd-Russischen Arbeiterbund".

1898 Auflösung des "Arbeiterbundes". Gefängnis in Cherson undOdessa.

1899 Bekenntnis zu Karl Marx. Zu 4 Jahren Verbannung verurteilt.

1900 Heiratet Alexandra Sokolowskaja.

1901 Nimmt den Namen Trotzki an. Illegal in Österreich. Im Oktober in London.

1904 Schreibt die Broschüren"Unsere politischen Aufgaben" und "Vor dem 9. Januar".

1905 Illegal in St. Petersburg. Vorsitzender des ersten Sowjets. Wird im Dezember verhaftet. Schreibt mit Parvus das "Finanzmanifest".

1907 Flieht aus Sibirien über St. Petersburg nach Finnland, von dort nach Deutschland.

1908 Gibt in Wien »für einfache Arbeiter« die Zeitung 'Prawda' jheraus.

1911 Auf dem Parteitag der SPD in Jena.

1913 Begegnung mit Stalin in Wien.

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1914 Tagung der II. Internationale in Brüssel. Wendet sich gegen Lenins Taktieren. Wieder in Wien. Im August mit der Familie in der Schweiz.

1915 Zimmerwalder Konferenz. Verfasser des "Manifest". Leninin Paris. Versöhnung mit Trotzki.

1916 Ausweisung aus Frankreich. Mit dem Schiff in die USA.

1917 In New York. Nach der Märzrevolution wieder in Rußland. Zusammen mit Lenin Vorbereitung des Umsturzes. Wird Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten. Führer der bolschewistischen Friedensdelegation in Brest-Litowsk.

1925 Bis Januar Volkskommissar für Krieg und Marine.

1926 Ausschluß aus dem Politbüro.

1927 Verbannung nach Turkestan, Kasachstan, Alma-Ata.

1929 Ausweisung aus der Sowjetunion. Lebt in der Türkei. Beendet die Schriften "Mein Leben" und die "Geschichte der russischen Revolution".

1935 Erhält Einreisevisum für Norwegen. Beendet seinBuch "Verratene Revolution".

1936 Anschlag auf sein Haus.

1937 In Mexiko. Gorki, Scholochow, Ehrenburg, Dreiser, Feuchtwanger, Barbusse und Aragon verlangen seinen Tod.

1938 Arbeitet an einer "Lenin-Biographie". Sein jüngster Sohn wird in Workuta ermordet.Schreibt das letzte Buch „Stalin“

1940 Falsche Polizeibeamte überfallen sein Haus. Er entkommt.

Am 20. August schlägt Jackson-Mercador Trotzki mit einem Eispickel nieder.

Trotzki stirbt am Tage darauf.

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Die Infragestellung der Theorie des degenerieten Arbeiterstaa-tes.

2006

Schon 1936, als Trotzki in der „verratenen Revolution” die Ana-lyse des „degenierten Arbeiterstaates” entwickelte, weist er daraufhin, dass der Prozeß der Degenerierung noch nicht abgeschlossensei, folglich seine Formel des „degenierten Arbeiterstaates” keineendgültige und ewige Gültigkeit häte.

»Die wissenschaftliche wie die politische Aufgabe besteht nichtdarin, einen unvollendeten Prozeß mit einer vollendeten Defini-tion zu versehen, sondern darin, ihn in seinen Etappen zu verfol-gen ... und in dieser Voraussicht eine Stütze für das Handeln zufinden«61

1938 dann, im Übergangsprogramm hat er zumindest schon dieKommunistischen Weltparteien und ihre Zentrale schon als bür-gerliche Kräfte und Konterevolutionäre bezeichnet:

»Der endgültige Übergang der Komintern auf die Seite der bür-gerlichen Ordnung, ihre zynisch konterrevolutionäre Rolle in derganzen Welt, insbesondere in Spanien, Frankreich, den Verei-nigten Staaten und den anderen "demokratischen" Ländern - hatfür das Weltproletariat außerordentliche zusätzliche Schwierig-keiten geschaffen. Unter dem Banner der Oktoberrevolution ver-urteilt die versöhnlerische ,Volksfront‘-Politik die Arbeiterklassezur Ohnmacht und bahnt dem Faschismus den Weg.«62

61 Leo Trotzki: "Verratene Revolution", Trotzki-Schriften, Hamburg 1988,Band 1.2, Seite 95862 Trotzki, Leo, Das Übergangsprogramm: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale (1938), in: Alles, Wolfgang (Hg.), Diekommunistische Alternative, a.a.O., S. 64

Wenn die 4. Internationale diesen Satz ernst genommen hätte, dann hätte sienicht im Rahmen des Ostblocks von Arbeiterstaaten reden dürfen, da derenFührung ja „auf die Seite der bürgerlichen Ordnung“ übergegangen ist und

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In seinem Buch Stalin 1940 aber dann sah er sie schon als herr-schende Klasse mit eigenen Interessen, die sich nur deshalb alsArbeiterfreunde verkleiden, um sie als Bündnispartner zu gewin-nen. Und er sieht hier ganz deutlich auch die soziale Konterrevolu-tion. Er negiert hier indirekt seine Formel für den degeneriertenArbeiterstaat:

»Die Substanz des Thermidor war sozialen Charakters undkonnte nur sozialen Charakters sein. Sie war die Kristallisierungeiner neuen privilegierten Schicht, die Schöpfung eines neuenUnterbaus für die ökonomisch herrschende Klasse. Zwei Anwär-ter auf diese Rolle waren vorhanden: das Kleinbürgertum und dieBürokratie selbst. Sie kämpften Schulter an Schulter (in derSchlacht um die Brechung) des Widerstandes der proletarischenAvantgarde. Als diese Aufgabe erfüllt war, brach ein wütenderKampf unter ihnen los. Die Bürokratie in ihrer Isolierung undTrennung vom Proletariat bekam Angst. Allein war sie nicht im-stande, weder den Kulaken niederzuhalten noch das Kleinbür-gertum, das auf der Basis der NEP gewachsen war und weiterwuchs. Sie brauchte die Hilfe des Proletariats. Daher ihre plan-mäßigen Anstrengungen, den Kampf des Proletariats gegen diekapitalistischen Restaurierungsversuche darzustellen.«63

Den Widerspruch, dass es einen Arbeiterstaat geben kann, mit ei-ner fremden herrschenden Klasse mit einem eigenen Interesse fürihre Privilegien und einem sozialem Thermidor, müssen die ortho-doxen Trotzkisten lösen, wenn sie nicht in der Praxis versagenwollen.

sie „ihre zynisch konterrevolutionäre Rolle in der ganzen Welt“ spielt. Aberspätestens dann müsste auch ins Auge fallen, dass die neuen Staaten eingenaues Abbild von Moskau sind, nämlich eine Einparteiendiktatur. Also istRussland selbst zur „bürgerlichen Ordnung“ übergegangen.

63 Leo Trotzki: "Stalin - Eine Biographie" - 1940, Köln-Berlin 1952, S.519.

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Der Befreier, Poster – 25 Cent 1921

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Natalia Sedowa Trotzki Bruch mit der 4. Internationale

(Der folgende Text ist ein Brief, den Natalja Trotzki 1951 an dieFührung der Vierten Internationale und die Führung der SocialistWorkers Party (SWP)64 schrieb, in dem sie jede politische Verbin-dung mit diesen Organisationen abbrach. Der Brief wurde zuerst inder amerikanischen Presse veröffentlicht.)

64Die Socialist Workers Party ist die Sektion der Vierten Internationale in den USA

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An das Exekutivkomitee der Vierten Internationale

An das Politische Komitee der SWP (USA)

Genossen,

ihr wißt genau, daß ich mit Euch in den letzten fünf oder sechsJahren seit dem Ende des Krieges und schon vorher nicht überein-gestimmt habe. Die Haltung, die Ihr zu den wichtigen Fragen derjüngsten Zeit eingenommen habt, zeigt mir, daß Ihr auf Euren poli-tischen Irrtümern besteht und sie vertieft, anstatt sie zu korrigieren.Auf Eurem Weg habt Ihr den Punkt erreicht, wo ich nicht längerschweigen oder mich auf private Proteste beschränken kann. Ichmuß meine Auffassung öffentlich darlegen.

Der Bruch, zu dem ich mich genötigt sehe, ist für mich schwer-wiegend und schwierig, und ich kann ihn nur ernstlich bedauern.Aber es gibt keinen anderen Weg. Nach langen Überlegungen undZögern über eine Frage, die mir außerordentliche Sorgen bereitet,muß ich Euch sagen, daß ich keinen anderen Weg sehe als den, öf-fentlich zu erklären, daß unsere Meinungsverschiedenheiten es mirunmöglich machen, noch länger in Euren Reihen zu bleiben.

Die Gründe für diesen meinen letzten Schritt sind den meistenvon Euch bekannt. Ich wiederhole sie hier kurz nur für diejenigen,denen sie nicht vertraut sind und berühre nur die Differenzen vongrundlegender Bedeutung und nicht die Differenzen um Fragen derTagespolitik, die sich auf diese grundlegenden Differenzen bezie-hen oder aus ihnen folgen.

Von alten und überlebten Formeln besessen fahrt Ihr fort, denstalinistischen Staat als einen Arbeiterstaat zu bezeichnen. Ich kannund werde Euch darin nicht folgen.

Im Grunde genommen hat L.D.Trotzki in jedem Jahr seinesKampfes gegen die usurpartorische stalinistische Bürokratie wie-derholt, daß dieses Regime sich unter den Bedingungen einer ver-zögerten Weltrevolution und der Eroberung aller politische Positiondurch die Bürokratie nach Rechts entwickelt. Wieder und wiederhat er darauf hingewiesen, wie die Festigung des Stalinismus in

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Rußland zur Verschlechterung der wirtschaftlichen, politischen undsozialen Lage der Arbeiterklasse und zum Triumph einer tyranni-schen und privilegierten Bürokratie führte. Wenn diese Entwick-lung anhält, sagte er, wird es mit der Revolution zu Ende und dieRestauration des Kapitalismus erreicht sein.

Dies ist es, was sich unglücklicherweise ereignet hat, wenn auchin neuen und unerwarteten Formen. Es gibt kaum ein Land in derWelt, wo die ursprünglichen Ideen des Sozialismus und ihre Ver-treter so barbarisch gehetzt werden. Es sollte jedermann klar sein,daß die Revolution durch den Stalinismus vollständig zerschlagenwurde. Ihr jedoch fahrt fort zu behaupten, daß Rußland unter die-sem unaussprechlichen Regime immer noch ein Arbeiterstaat ist.Ich sehe darin einen Angriff auf den Sozialismus. Stalinismus undder stalinistische Staat haben nicht das Geringste gemeinsam miteinem Arbeiterstaat oder mit Sozialismus. Sie sind die schlimmstenund die gefährlichsten Feinde des Sozialismus und der Arbeiter-klasse.

Ihr haltet daran fest, daß die Staaten Osteuropas, über die derStalinismus während und nach dem Krieg seine Vorherrschaft er-richtet hat, ebenfalls Arbeiterstaaten sind. Das ist das Gleiche wiezu sagen, der Stalinismus hat eine revolutionäre sozialistische Auf-gabe durchgeführt. Ich kann und will Euch darin nicht folgen.

Nach dem Krieg, ja bevor er endete, entwickelte sich in diesenosteuropäischen Ländern eine revolutionäre Massenbewegung.Aber es waren nicht die Massen, die die Macht gewannen, und eswaren keine Arbeiterstaaten, die durch ihren Kampf errichtet wur-den. Die stalinistische Konterrevolution gewann die Macht und in-dem sie die arbeitenden Massen, ihre revolutionären Kämpfe undihre revolutionären Ziele strangulierte, machte sie diese Länder zuVasallen des Kremls.

Indem Ihr der Meinung seid, die stalinistische Bürokratie habe indiesen Ländern Arbeiterstaaten errichtet, schreibt Ihr der stalinisti-schen Bürokratie eine fortschrittliche und sogar revolutionäre Rollezu. Indem Ihr diese monströse Lüge gegenüber der Vorhut der Ar-beiter propagiert, leugnet Ihr alle entscheidenden Gründe für das

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Bestehen der Vierten Internationale als einer Weltpartei der sozia-listischen Revolution. In der Vergangenheit waren wir immer derAnsicht, daß der Stalinismus eine konterrevolutionäre Kraft ist, imvollen Sinn dieses Begriffes. Ihr sagt das nicht mehr. Aber ichwerde weiterhin darauf bestehen.

1932 und 1933 erklärten die Stalinisten, um ihre schamlose Ka-pitulation vor Hitler zu rechtfertigen, daß es nicht viel ausmachenwürde, wenn die Faschisten an die Macht kämen, weil der Sozia-lismus nach und durch die Herrschaft des Faschismus kommenwürde. Nur unmenschliche Scheusale ohne die Spur sozialistischenDenkens oder Geistes haben auf diese Weise argumentieren kön-nen. Nun, ungeachtet der revolutionären Ziele, die Euch bewegen,haltet Ihr daran fest, daß die despotische stalinistische Reaktion, diein Europa triumphiert hat, einer der Wege ist, mit denen man viel-leicht zum Sozialismus kommt. Diese Sicht bezeichnet einen un-heilbaren Bruch mit den tiefsten Überzeugungen, an denen unsereBewegung immer festgehalten hat und die ich weiter teilen werde.

Ich sehe mich außerstande, Euch in der Frage des TitoistischenRegimes in Jugoslawien zu folgen.65 Die ganze Sympathie, dieganze Unterstützung von Revolutionären und selbst aller Demo-kraten sollte dem jugoslawischen Volk zu Gute kommen, das ent-schieden den Anstrengungen Moskaus Widerstand leistet, es undsein Land in ein Lehen zu verwandeln. Die Zugeständnisse, die dasjugoslawische Regime jetzt gezwungen ist, dem Volk zu machen,müssen voll ausgenützt werden. Doch Eure ganze Presse widmetsich einer unentschuldbaren Idealisierung der Titoististischen Bü-rokratie, für die es keinen Grund in der Tradition und den Prinzi-pien unserer Bewegung gibt.

Diese Bürokratie ist nur eine Kopie der alten stalinistischen Bü-rokratie in neuer Form. Sie wurde erzogen in den Ideen, der Politikund der Moral der GPU (Stalins Geheimpolizei). Ihre Herrschaft

65 1948 kam es zum Bruch zwischen Stalin und Tito. Tito war nicht längerbereit, die Entwicklung der jugoslawischen Wirtschaft den Bedürfnissen derrussischen Wirtschaft unterzuordnen. Tito und die jugoslawische KP wurdendeshalb wegen "antisowjetischer" und "nationalistischer" Haltung aus derKominform ausgeschlossen.

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unterscheidet sich von Stalins Herrschaft in keinem grundlegendenGesichtspunkt. Es ist absurd zu glauben oder zu lehren, daß sichaus dieser Bürokratie heraus eine revolutionäre Führung des ju-goslawischen Volkes entwickeln wird, oder daß sie in einer anderenWeise entstehen kann als im Kampf gegen diese Bürokratie.

Am allerwenigsten zu unterstützen ist Eure Haltung zum Krieg.Der Dritte Weltkrieg, der die Menschheit bedroht, stellt die revolu-tionäre Bewegung vor die schwierigsten Probleme, die verwi-ckeltsten Situationen, die schwerwiegendsten Entscheidungen. Un-sere Position kann nur nach der ernsthaftesten und freiesten Dis-kussion bezogen werden. Aber angesichts aller Ereignisse derjüngst vergangenen Jahre macht Ihr Euch weiter zum Anwalt derVerteidigung des stalinistischen Staates und verpfändet die ganzeBewegung. Selbst heute noch unterstützt Ihr die Armeen des Stali-nismus in dem Krieg, den das gequälte koreanische Volk erduldet.66

Ich kann und will Euch darin nicht folgen.

Vor langer Zeit, 1927, erklärte Trotzki als Antwort auf eine ver-räterische Frage Stalins im Politbüro seine Ansichten wie folgt:»Für das sozialistische Vaterland, ja! Für das stalinistische Re-gime, nein!« Das war 1927. Heute, 23 Jahre später, hat Stalin vomsozialistischen Vaterland nichts übrig gelassen. Es ist ersetzt wor-den durch die Versklavung und Erniedrigung des Volkes durch die

66 Mit Beendigung des 2. Weltkriegs entstanden in Korea zwei Staaten, die vonMarionettenregimes der USA im Süden und der UdSSR im Norden beherrschtwurden. 1950 kam es zum offenen Krieg in Korea. Die nordkoreanischenTruppen scheinen als erste in den Süden einmarschiert zu sein, allerdings nacheiner Reihe scharfer Provokationen des Südens. Die USA versuchte ganzKorea zu erobern. Ihr Ziel war die vollständige Kontrolle über die Küsten desPazifischen Ozeans, den sie seit dem 2. Weltkrieg kontrollierte. Besondersdringend erschien diese Absicherung nach dem Sieg der chinesischenRevolution. Das Ziel der UdSSR war ebenfalls eine Kontrolle Koreas, um dieHegemonie der USA über Japan zu verhindern und die östliche Flanke derUdSSR abzusichern. Die UdSSR griff selbst nicht militärisch in den Konfliktein - sie schickte die Chinesen für sich auf das koreanische Schlachtfeld. Daßdieser Krieg nur ein Krieg zwischen den beiden Großmächten war, auf demBoden Koreas und unter unendlichem Leid der koreanischen Bevölkerung,zeigt der Friedensschluß 1953. Sofort nachdem sich die USA und die UdSSRgeeinigt hatten, war der Krieg beendet.

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stalinistische Selbstherrschaft. Das ist der Staat, den Ihr empfehlt,im Krieg zu verteidigen, den Ihr schon in Korea verteidigt.

Ich weiß sehr gut, wie oft Ihr wiederholt, daß ihr den Stalinismuskritisiert und ihn bekämpft. Aber die Tatsache ist, daß Eure Kritikund Euer Kampf ihren Wert verlieren und zu keinem Ergebniskommen können, weil sie von Eurer Position der Verteidigung desstalinistischen Staates bestimmt werden und ihr untergeordnet sind.

Wer immer dieses Regime barbarischer Unterdrückung verteidigt,egal mit welchen Motiven, gibt die Prinzipien des Sozialismus undInternationalismus preis.

In der Nachricht, die mir von der jüngsten Tagung der SWP ge-schickt wurde, schreibt Ihr, daß Trotzkis Ideen Euer Wegweiserbleiben. Ich muß Euch sagen, ich lese diese Worte mit großer Bit-terkeit. Wie Ihr aus dem oben Geschriebenen sehen könnt, sehe ichnicht seine Ideen in Eurer Politik. Ich habe Vertrauen in seineIdeen. Ich bleibe überzeugt, daß der einzige Weg aus der gegen-wärtigen Lage die soziale Revolution ist, die Selbstbefreiung desWeltproletariats.

Natalja Sedowa Trotzki, Mexiko, D.F., 9. 51

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Das revolutionäre Erbe Trotzkis - 50 Jahre nach seiner Ermordung»Solange ich atme hoffe ich«- Tony Cliff -

Keiner der großen politischen Persönlichkeiten unserer Be-wegung wurde mehr verfolgt und verleumdet als Trotzki. SeinLeben war eine Kombination besonders heroischer und tragi-scher Ereignisse. Nicht nur Trotzki wurde von einem AgentenStalins ermordet. Seine erste Frau wurde in Sibirien ermordet,ebenso wurden alle seine vier Kinder ermordet oder zumSelbstmord gedrängt. Von seinen Enkelkindern überlebten nurzwei.

Er war in den ersten 4 Jahrzehnten dieses Jahrhunderts aktiv.Seine umfangreichen Schriften behandeln jedes bedeutende inter-nationale Ereignis dieser Zeit und sind eine Quelle der Inspirationvon Anfang bis Ende.

Am Anfang des Jahrhunderts schrieb Trotzki: »Solange ich atme,habe ich Hoffnung. Solange ich atme, werde ich für die Zukunftkämpfen, jene leuchtende Zukunft, in der die Menschen Herrenüber den fließenden Bach ihrer Geschichte sein werden und ihn inden grenzenlosen Horizont der Schönheit, Freude und Glück len-ken.« Dieser Geist gab ihm die Energie für mehr als 40 von großenSiegen und noch schlimmeren Niederlagen gekennzeichneten Jah-ren. Aber es reicht nicht aus zu diskutieren, was ihn inspirierte.Wichtig sind vor allem die aus seinen Inspirationen folgenden Re-sultate.

Im Alter von 26 Jahren war er der Vorsitzende des PetrograderSowjets, dem ersten Arbeiterrat auf der Welt. In dieser Zeit produ-

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zierte er seinen bedeutenden theoretischen Beitrag, die Theorie der"Permanenten Revolution".

Seit Marx wurde akzeptiert, daß die weiterentwickelten Länder inder Welt den zurückgebliebenen Ländern ihre künftige Entwick-lung zeigen.

Deswegen würde Deutschland Englands Entwicklung folgen undRußland dementsprechend Deutschlands. Trotzki betonte, daß dieeinzelnen Länder sich nicht in einem Vakuum entwickeln, sondernals ein Teil des internationalen Weltsystems des Kapitalismus.

Weil alle Länder Teil dieses Weltsystems sind, wird ihre Ent-wicklung in zweierlei Hinsicht beeinflußt. Erstens durch das vonTrotzki so benannte "Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung"."Ungleichmäßig" bedeutet ganz einfach, daß sich die verschiede-nen Länder mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickeln. Sieentwickeln sich nicht parallel, sondern ein Land entwickelt sichschnell, ein anderes langsam. Zweitens: Da die Länder aber Teil ei-nes Weltsystems sind, haben sie eine gemeinsame Entwicklung,was er die "kombinierte Entwicklung" nannte.

Das bedeutet, daß einzelne Länder zwar ihre eigenen nationalenBedingungen haben, aber nichtsdestotrotz in ihrer Entwicklung voninternationalen Beziehungen und Zwängen geprägt sind. So habendie eingeborenen amerikanischen Indianer keine Entwicklung vonder Stein- über die Bronzezeit zum Gewehr nach 50.000 Jahrenvollzogen. Vielmehr übersprangen sie ganze Entwicklungsstufenund ihre Kultur verband sich mit dem durch die europäische Zivili-sation eingeführtem Gewehr.

Ähnlich war Rußland 1905 wirtschaftlich rückständig, in man-chen Gebieten hingegen fortgeschritten. Es war rückschrittlich,weil Millionen von russischen Bauern wie in mittelalterlichen Zei-ten lebten und hölzerne Pflüge gebrauchten.

Aber gleichzeitig gab es dort die größten Fabriken der Welt. DiePutilow-Metallbetriebe hatten 40.000 Beschäftigte. Keine ver-gleichbare Fabrik stand in den USA, England oder Deutschland.Diese Situation spiegelte sich in den Erwartungen und Ideen der

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Arbeiter wider. Sie kombinierten ihre Rückständigkeit mit denfortgeschrittensten Ideen dieser Zeit.

In England brauchte es Generationen, bevor die Arbeiter den 8-Stunden Tag forderten. Der jungen Arbeiterklasse in Rußland fehltees an Erfahrung, aber sie kam sofort auf die Idee des 8-StundenTages. Nicht nur das, sondern sie gingen viel weiter als das, was dieArbeiter in England zu dieser Zeit diskutierten. Der Slogan desPetrograder Sowjet von 1905 war "8-Stunden und ein Gewehr".

Es dauerte Jahre in England, bis Frauen Gewerkschaftsmitgliederwerden konnten. Obwohl z.B. die "Amalgamated Society", dieMetallergewerkschaft in England, bereits 1852 gegründet wurde,war es Frauen erst 1943 erlaubt, beizutreten. Dazu hatte es also 91Jahre und 2 Weltkriege gebraucht. In Rußland waren die Frauenvon Anfang an in den Gewerkschaften. Deshalb sah Trotzki in derkommenden russischen Revolution die Kombination zweier Ex-treme in der Entwicklung des Kapitalismus.

Die Anfänge des Kapitalismus sind die Zeit der Bauernaufstände.In Rußland gab es gleichzeitig sowohl die Bauernaufstände wegendes Beginns des Kapitalismus als auch die proletarische Revolution- das Ende des Kapitalismus. Aber Bauern sind keine Arbeiter. Siehaben eine andere Haltung zum Leben. Sie sind keine kollektiv or-ganisierte Klasse, sondern wollen das Land in individuelle Einhei-ten privaten Eigentums aufteilen.

Im Gegensatz dazu sagen Arbeiter nicht : »Laßt uns die Putilow-Fabrik in 40.000 Teile aufteilen, dann kann jeder sein kleines StückMaschine mit nach Hause nehmen«. Deshalb würde die Revolutionsich aus einer Kombination jener beiden Extreme entwickeln, aberunter Führung der städtischen Arbeiterklasse.

Die Oktoberrevolution von 1917 bestätigte Trotzkis Theorievollkommen. Diese Theorie bildete die Grundlage für TrotzkisSchlußfolgerung, daß die Idee vom "Sozialismus in einemLand" reaktionär sei. Die Natur des Kapitalismus als Weltsystembedeutet, daß man ihm nirgends entrinnen kann. Trotzkis Opposi-tion gegen die Idee des "Sozialismus in einem Land", wurzelte in

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seinem Internationalismus, der Theorie von der "Permanenten Re-volution".

Die Lebenstragödie Trotzkis lag darin, daß allein die Richtigkeitvon Ideen nicht unbedingt ihren Sieg bedeutet. Ideen werden nur zueiner materiellen Kraft, wenn sie von Millionen Menschen aufge-nommen werden. Über Jahre hinweg wuchs so Trotzkis Position:Er organisierte den Oktoberaufstand, führte die fünf Millionen Sol-daten umfassende Rote Armee und er stand an der Spitze der "Ko-mintern", der kommunistischen Weltbewegung mit ihren Millionenvon Anhängern. 1920 gab es etwa in der Tschechoslowakei 350.000Mitglieder, in Deutschland eine halbe Million.

Aber mit der Niederlage der deutschen Revolution 1923 folgtedie Isolation der Russischen Revolution. Die Niederlage der Welt-revolution führte zu einem abnehmenden Selbstvertrauen der Ar-beiterklasse. Die Verbindung zwischen Trotzkis Ideen und der un-mittelbaren Entwicklung der Arbeiterklasse wurde immer schwä-chen

Aber die schlimmste Niederlage für die Arbeiterbewegung warHitlers Machtübernahme 1933. Sie wog genauso schwer wie derSieg von 1917. Seit mehreren Jahren hatte Trotzki argumentiert,daß Hitler deutsche Arbeiter ermorden und ihre Organisationenzerstören würde, wenn es der Arbeiterklasse nicht gelinge, ihreKräfte zu vereinigen, um ihn zu stoppen.

Zu dieser Zeit war die Linke gespalten, in die Sozialdemokratie,die den Widerstand nicht organisieren konnte und die Kommunisti-sche Partei, die Stalins Linie befolgte, wonach Sozialdemokratieund Faschismus Zwillinge seien. Trotzki argumentierte dagegen,daß die Sozialdemokratie das Kind des aufsteigenden Kapitalismussei, während der Faschismus das Resultat des niedergehenden Ka-pitalismus sei. Weiter behauptete Stalin, daß sich Sozialdemokratieund Faschismus wohlwollend gegenüber stünden, weil sie dem sel-ben Herren dienen - dem kapitalistischen System.

Trotzkis Forderung nach einer "Einheitsfront" war hingegen rich-tig. Die Tragödie lag in dem Abgrund, der zwischen den großen

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Zielen und den beschränkten Mitteln ihrer Verwirklichung klaffte.Als Hitler die Macht in Deutschland übernahm, gab es in Deutsch-land nur 100 Trotzkisten. Mit diesen 100 Trotzkisten konnte keineEinheitsfront erzwungen werden.

Trotzki war mehr und mehr isoliert. Jener Trotzki, der einstfünf Millionen in der Roten Armee und Millionen in der Kom-munistischen Internationale leitete, führte jetzt nur noch win-zige Gruppen von Anhängern. Sie konnten nicht aus ihrer Isola-tion ausbrechen, weil Hitlers Sieg eine massive Stärkung Stalinsbedeutete. Die Demoralisierung war so groß, daß die Arbeiter nachirgendeinem Halt vor dem Abgrund suchten. Der Stalinismuswurde zu einer Art Religion.

In diese Zeit fallen Trotzkis größte Leistungen. Jetzt, in den drei-ßiger Jahren, versuchte er die revolutionäre Tradition praktisch ausdem Nichts heraus wiederaufzubauen. Was Trotzki in diesen Jahrenso großartig machte, war seine Fähigkeit, seine Leiden in Kraft, inbrillante Schriften über eine Vielzahl von Fragen umzuwandeln.

Die Spanische Revolution, der langanhaltende Kampf in Chinaselbst nach der Niederlage der Revolution in den Zwanzigern, derKlassenkampf in den USA, die Entwicklung des russischen Re-gimes, Philosophie waren seine Themen bis zum Ende seines Le-bens, und er bewies dabei eine Offenheit, die ihn vollständig vonseinen heutigen "orthodoxen" Anhängern unterscheidet. Gleichzei-tig verband Trotzki seine Analyse mit dem unaufhörlichen Strebennach dem Aufbau revolutionärer Organisation.

Trotzki machte in den 30er Jahren in seiner Analyse und in seinenpolitischen Einschätzungen viele Fehler. Wir können über dieseFehler diskutieren und aus ihnen lernen, aber sie sind nichts imVergleich zu Trotzkis positiven Beiträgen. Er suchte auf der ganzenWelt Einzelne, um eine neue Generation die marxistische Traditionzu lehren. Er brachte diese Generation dazu, marxistische Ideennicht einfach nur aufzunehmen, sondern aktiv in den Klassenkampfeinzugreifen. Trotzkis Schriften aus den 30er Jahren sind eineunverzichtbare Quelle für uns. Sie sind unser Ausgangspunkt indem Versuch, die revolutionäre sozialistische Tradition vor dem

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Hintergrund des Zusammenbruchs des Stalinismus in der ganzenWelt wiederaufzubauen. Ein Revolutionär zu sein heißt, über dieMöglichkeiten der Zukunft der Menschheit nachzudenken.

Für lange Zeit waren Trotzkis Ideen kaum sichtbar, aber nachfünf Jahrzehnten des Stalinismus sind sie noch immer lebendig.Trotzki ist eine Brücke in die Zukunft. Die kommenden Jahrzehntewerden seine sein.

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