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Vom Glück mit Büchern zu leben - Leseprobe - Jahn

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F e s s le m i c h!

O l iv e r J a h n

Journalist und Chefredakteur von AD

JO

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E r hat sie alle flachgelegt. So um die

8 000. Und das ist nur ein Teil seiner

Liebhabersammlung. Oliver Jahn,

Chefredakteur der Architektur- und

Kunstzeitschrift AD Architectural Digest,

lebt und arbeitet für die Schönheit. Er reist für ein groß-

artiges Haus ohne Zögern nach Feuerland, sieht auf den

wichtigsten Kunstausstellungen der Welt nach, ob sie

wirklich so wichtig sind, er kann die revolutionäre Form

eines Stahlrohrmöbels oder die marmorne Weichheit

eines Betonkubus’ bis ins Detail beschreiben. Sein tiefes

„Ich“ ist aber nicht der Jetsetter im Dienst der guten

Form, sondern das des Bücherliebhabers. Jahn besitzt

rund 15 000 Bände, und da er gerade in eine neue Woh-

nung gezogen ist, steht ein großer Teil seiner Bücher

nicht mit dem Rücken zum Betrachter im Regal, sondern

liegt auf der Seite und gibt den Blick auf die nackten

Schnitte frei. „Ich warte auf die neuen Regale des Schrei-

ners und das ist immer noch eine Zwischenlösung. Aber

sie gefällt mir gut und vielleicht lasse ich es so“, sagt der

41-Jährige. „Die meisten Bücher erkenne ich auch ohne

Einband. Und ich mache gerade lauter Ausgrabungen,

wie ein Archäologe.“

Jahn hat dieses intensive Körpergedächtnis für

Bücher, das bei vielen Bibliomanen so ausgeprägt ist.

Bücher sind in ihn eingeschrieben, in sein Denken, sein

Wesen, in seinen Körper. Literatur war in seiner Familie

immer Teil des Lebens, auf unangestrengte Weise, nicht

mit bildungsbürgerlichem Habitus. Die Mutter arbeitete

als Buchhändlerin, der Großvater als Schriftsetzer. Bei

den Großeltern lernte Oliver die Bände der Büchergilde

Gutenberg mit ihren Künstler-Illustrationen kennen. „Ich

war immer ein richtiger Bücher-Nerd, und während meine

Schulkameraden im Badischen an ihren Mofas rum-

schraubten, habe ich mich für Literatur und Design inter-

essiert. Auf dem Land musste man das eher geheim hal-

ten“, sagt er. An sein erstes Buch erinnert er sich sichtbar

wohlig: „Ich hatte die große Ausgabe von Eric Carles Die

Raupe Nimmersatt und fand es faszinierend, die Finger

in die Löcher der dicken Pappseiten zu stecken. Ich be-

kam das Buch jeden Tag vorgelesen, konnte alles aus-

wendig, las mit und schlug die Seiten im Takt um.“ Als er

schließlich selbst lesen konnte, holten er und seine bei-

den jüngeren Brüder wäschekorbweise Bücher aus der

Leihbibliothek, und bald hatte Oliver ein eigenes Bücher-

bord. Die erste eigene Leseinsel, von der aus das mani-

sche Sammeln begann: Er gab als Schüler sein ganzes

Taschengeld für Bücher aus, ackerte die zwölfbändige

Ich habe eIn

starkes physIsches

VerhältnIs zu

büchern. Ich mag es

nIcht, wenn man

Ihnen den rücken

brIcht.

Oliver Jahn

Rechts: Wohnzimmer eines Sammlers von

Mid-century-Objekten. Um den Tisch der

Architektin Katja Buchholz Stühle von

Charles Eames. Auf dem Sideboard aus den

1960ern zwei Collagen des Schriftstellers

Ror Wolf und das Coverplakat zum ersten

Tintin-Comic von Hergé von 1930.

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Oliver Jahn

links: Auf dem Schreibtisch aus den

1950er Jahren zwei Bauhaus-Lampen, da-

vor ein Stahlrohrsessel der Firma Mauser.

Das gerahmte Foto zeigt den Dichter Arno

Schmidt in den 60ern auf dem Sprungturm

eines Freibads.

unten: Auf dem Rollen-Beistelltisch aus

den 1950ern liegen Exemplare aus Jahns

Sammlung der Zeitschrift Gebrauchsgra-

phik aus den 1920er Jahren.

Ganz unten: Bücherhimmel für jeden

Designliebhaber. Vor dem Regal zum The-

ma Mode ein Exemplar des Sessels Vostra

von Jens Risom mit original Vinylbezug.

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Oliver Jahn

Meine Mutter

schlug drei Kreuze,

als ich zuhause

auszog. ich habe

in ihrer buch-

handlung auf das

MitarbeiterKonto

jahrelang an-

schreiben lassen.

oben: Ausgesuchte Abendlektüre, griff-

bereit auf der grünen tschechischen Stahl-

rohrgarderobe aus den 1930ern. Die

Vintage-Lampe stammt aus den 50ern.

links: Spielarten der Bücherliebe: Jahn

besitzt rund 1 000 Bände zu Themen wie

Bibliotheken, Büchersammler, die Ge-

schichte des Papiers, lesende Helden und

Bibliomane.

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Shakespeare-Ausgabe durch, fuhr auf die Buchmessen

nach Frankfurt und Leipzig, besuchte Antiquariate und

kaufte Werkausgaben wie Wein – nach schönen Etiket-

ten. Heinrich von Kleist wurde in diesen Jahren zu sei-

nem Hausheiligen. „Kleists Prosatexte und die Zeitungs-

beiträge für die Berliner Abendblätter haben mich sehr

geprägt. Ich habe mich bis zum Uni-Examen viel mit ihm

beschäftigt.“

Jahn studierte Germanistik, Philosophie und

Sprachwissenschaft in Saarbrücken und Kiel. Zu seinem

großen Glück wurde er als Hilfskraft seines Kieler Philo-

sophieprofessors Chef der philosophischen Seminarbib-

oben: Vor dem Billy-Regal ein Ausstel-

lungsplakat des Designers Carlo Mollino,

den Jahn als Mann mit hoher Geschwindig-

keit und zugespitzter Eleganz in allen

Lebenslagen bewundert.

links: Rimini blu: Vier Keramikobjekte aus

der Kollektion von Aldo Londi.

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liothek. „Ich konnte jeden Tag die Büchersammlung mit

50 000 Bänden aufschließen, es war fantastisch, so et-

was wie die schweinslederne Augustinus-Ausgabe aus

dem 16. Jahrhundert rauszuholen. Mit einem Freund ha-

be ich dort wie in einer Lesehöhle gelebt, wir hatten mit

einem Bibliothekar so eine Art ‚Club der toten Dichter‘,

haben Cordhosen und dicke Pullover getragen und uns

unsere Schätze gezeigt“, sagt er. Er kaufte pro Tag zwei,

drei neue Bücher, trug jeden Titel mit laufender Nummer

in ein Kassenbuch ein, führte außerdem ein Lesetage-

buch. Diese Gesten belächelt er heute. „Dieser heilige

Ernst ist mir fremd geworden. Aber die Lust ist immer

noch dieselbe wie früher.“ Seinen Namen schreibt er bis

heute mit einem feinen Bleistift in jeden Band. „Ich wollte

in Büchern immer meine Spur hinterlassen. Das Anver-

wandeln, Einverleiben, ein Ritual, die Inkorporation in den

Bibliothekskörper – das war und ist mir wichtig.“

Während des Studiums begann er Literaturkritiken

für die Kieler Nachrichten zu schreiben, wurde später

Feuilletonmitarbeiter der SZ und der Literarischen Welt.

2002 ging er als Arno-Schmidt-Spezialist zum Suhrkamp

Verlag, wechselte danach zur Kunstzeitschrift Monopol in

Berlin und entwickelte ein großes Faible für Möbel- und

Objektdesign des 20. Jahrhunderts; von dort wurde er

zu AD Architectural Digest abgeworben, seit 2011 ist er

Chef der Zeitschrift. „In der Redaktion lachen sie über

mich, weil ich meine Bücher hüte wie meine Augäpfel. Ich

setze Himmel und Hölle in Bewegung, wenn ich einen

vergriffenen Katalog oder ein seltenes Buch brauche. Ich

bin ein knallharter Jäger, rufe Kuratoren oder Direktoren

an“, gibt er zu. „Manchmal nehme ich mir lauter Bücher,

lege sie auf den Boden, setze mich zu ihnen und schaue

sie mir einfach an. Das ist eine selige Zeit. So wie früher

das Spielen mit meinen Matchbox-Autos.“

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Jahn sieht die schönsten Häuser der Welt. Wie wür-

den denn seine Bücher wohnen, wenn er ihnen ein Zu-

hause bauen könnte? „Das weiß ich genau“, sagt er und

man spürt, dass er schon oft darüber nachgedacht hat.

„Ich träume von einem Haus aus grauem, poliertem

Sichtbeton. Einer sechs Meter hohen Wohnhalle mit einer

Glaswand mit Blick in eine Berglandschaft wie auf den

Bildern von Claude Lorrain. Bunte skandinavische Teppi-

che, Fläz-Sofas und rötliche Teakholzmöbel. Und an drei

Seiten eine Bibliothek, in der meine 15 000 Bücher ste-

hen. Alle in bischofslila Leinen gebunden, Titel und Auto-

ren in silberner Prägung.“ Er sieht diese Bücherhalle als

moderne Nachfolgerin der traditionellen Fürstenbiblio-

thek. „Früher bekamen die Fürsten nur den Buchblock,

ließen alle Bücher in eigene Gewänder binden und versa-

hen sie mit ihren Wappen. Es war eine Art sich die Bü-

cher anzueignen. Das würde ich auch gerne tun.“

linke seite: Geometrische Farbkompositi-

on beim Blick vom Flur in die Küche.

Neben der Tür ein Regal mit der Reihe

Bibliothek Suhrkamp, in der legendären

Einbandgestaltung von Willy Fleckhaus.

oben: Teile von Jahns Sammlung von

Fifties-Geschirr aus der Melitta-Kollektion

Minden von Jupp Ernst auf einem Beistell-

tisch. Dahinter ein Schulstuhl von Karl

Nothelfer, beides aus den 50ern.

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—Mein schönster erster satz: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegan-

gen.“ Aus Marcel Prousts Auf der Suche

nach der verlorenen Zeit.

Grandios ist auch der Satz: „Jakob ist

immer quer über die Gleise gegangen.“

Das ist aus Mutmaßungen über Jakob

von Uwe Johnson. Ich bin ein totaler Fan

von ersten Sätzen.

—Mein schönster letzter satz:Es ist der Schluss von Arno Schmidts

wunderbarer Sommer- und Liebesge-

schichte Seelandschaft mit Pocahontas,

die in den 1950er Jahren spielt. Nach

einigen glücklichen Ferientagen am

Dümmer verabschiedet sich die Frau

von dem Helden, mit dem sie ein paar

romantische Tage am See verbracht hat,

und steigt in den Bus, er bleibt zurück.

Und dann der Schlusssatz: „Mein Kopf

hing noch voll von ihren Kleidern und ich

antwortete nicht.“ So schön und so trau-

rig. Lesen Sie mal die Erzählung.

—ein Buch, das Mein leBen verändert hat: Wahrscheinlich die

Romane von Arno Schmidt. Ich habe sie

mit 17, 18 Jahren entdeckt. Sie sind vol-

ler Humor, mit einem starken Vibrato

und scharfzüngig. Sie sind recht kurz,

aber diese Gewalt! Diese präzise, bildrei-

che, anspielungsreiche Sprache geht in

den Händen los wie ein Feuerwerkskör-

per. Er gibt einem kleine Rätsel auf, die

man nicht immer entschlüsselt.

—ein Buch, das Mich einMal gerettet hat: Diese Idee ist für mich

zu weit gegriffen. Es gibt aber wichtige

Autoren, die mich lange begleiten wie

Heimito von Doderer und Marcel Proust.

Ich habe Auf der Suche nach der verlo-

renen Zeit dreimal gelesen, es hat mich

alle drei Male nicht gerettet, aber sie

sind ein Vademecum und in ihnen fühle

ich mich zuhause. Aber ich bin kein Es-

kapist, ich lebe sehr diesseitig, mag auch

Skifahren und Schuhe kaufen.

—ein Buch für stunden der MelanchOlie: In Stunden der Melan-

cholie lese ich keine Literatur, da schaue

ich mir meistens Kunstbücher an. Am

liebsten Claude Lorrain und Schweizer

Landschaftsmaler des 18. Jahrhunderts.

Da geht es entweder um die Idylle oder

die landschaftliche Überwältigung des

Menschen. Das beruhigt mich.

JO

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Oliver Jahn

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—ein KlassiKer, der Mich zu tOde langweilt: Ha! Der Nachsom-

mer von Adalbert Stifter. Ich habe vier-

mal versucht ihn zu lesen. Viele tote und

lebende Gewährsleute haben dieses

Buch geschätzt wegen seiner Land-

schaftsbeschreibungen. Also dachte ich,

da muss wirklich was dran sein. Aber ich

kann es nicht. Den letzten Anlauf habe

ich vor zwei Jahren gemacht, weil ein

Freund eine Doktorarbeit über die Archi-

tektur des Rosenhofs in dem Roman

schrieb. Ich habe 200 Seiten geschafft

und dann sind meine Augenlider wieder

runtergeklappt. Unmöglich.

—dieses Buch hätte ich gerne geschrieBen: Die Strudlhofstiege

von Heimito von Doderer. Ich habe ein

Faible für große panoramische Gesell-

schaftsromane und die untergehende

k.u.k.-Welt. Es ist toll, wie er die Treppen-

anlage zum Symbol der Zeitgeschichte

macht und wie der erste Satz die Ge-

schichte eröffnet.

—auf MeineM nachttisch liegt:Immer nur ein Buch. Ich lese nie mehre-

re Bücher gleichzeitig. Aber ich lese

dasselbe Buch oft mehrmals. Gerade

ist es Ein letzter Sommer von Steve

Tesich. Es geht um den Abschied von

der Jugend eines jungen Mannes, des-

sen Vater im Sterben liegt und der seine

erste Liebe erlebt. Eine typische Co-

ming-of-Age-Geschichte. Hinreißend!

links: Zeitgenossen: Das Lesesofa von

Oliver Jahn ist ein Vintage-Stück aus den

1950ern mit original taubenblauem Samt-

bezug. Dahinter eine alte Arztlampe der

Firma Baisch.