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Friederike Wursthorn Der Misanthrop in der Literatur der Aufklärung Leseprobe (c) Rombach Verlag

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Der Misanthrop in der Literatur der Aufklärung

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ROMBACH WISSENSCHAFTEN · REIHE LITTERAE

herausgegeben von Gerhard Neumann, Günter Schnitzlerund Maximilian Bergengruen

Band 195

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Auf dem Umschlag: Willy Pogány, Illustration zu Jonathan Swifts Gulliver’s Travels, in: Jonathan Swift: Gulliver’s Travels. Edited by Padraic Colum. Presented by Willy Pogány, London 1919.

Die Rechteinhaber konnten trotz intensiver Recherche der Verfasserin nicht eruiert werden. Bei etwaigen Ansprüchen wird darum gebeten, direkt mit dem Verlag in Verbindung zu treten.

Bibliografische Informa tion der Deutschen Na tionalbibliothek

Die Deutsche Na tionalbibliothek verzeichnet diese Publika tion in der Deutschen Na tionalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013. Rombach Verlag KG, Freiburg i. Br./Berlin/Wien1. Auflage. Alle Rechte vorbehaltenUmschlag: typo|graphik|design, Herbolzheim i. Br.Satz: TIESLED Satz & Service, KölnHerstellung: Rombach Druck- und Verlagshaus GmbH & Co. KG, Freiburg im BreisgauPrinted in GermanyISBN 978–3–7930–9733–4

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INHALT

Einleitung ............................................................................................ 9

Misanthropie in der Antike

1. Der »Prototyp« der Misanthropie: Timon von Athen ................................................................... 212. Eine alternative Spielart antiker Misanthropie: Menanders Dyskolos ................................................................. 37

Misanthropie zwischen Antike und Aufklärung

1. Menschenhass als Gotteshass: Misanthropie im mittelalterlichen Verständnis ..................... 472. Menschenhass als Universalhass: William Shakespeares Timon of Athens .................................... 513. Der Menschenfeind als verkannter Menschenfreund? Molières Le Misanthrope ........................................................... 59

Das 18. Jahrhundert:Gesellschaftsvorstellungen der Aufklärung, Seelenkrankheiten und Misanthropie

1. Adel und Bürgertum .............................................................. 712. Gesellschaft und Individuum ................................................. 763. Seelenkrankheiten .................................................................. 824. Misanthropie in der Popularphilosophie ............................... 895. Misanthropie in den Moralischen Wochenschriften ............. 99

Literarische Ausformung von Misanthropie in der Aufklärung

1. Der Misanthrop in der Kritik ................................................ 123

1.1 Moralische Erzählungen und gebesserte Menschenfeinde: Jean-François Marmontels Le Misanthrope corrigé und Sophie von La Roches Das wahre Glück ist in der Seele des Rechtschaffenen .............. 123

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1.2 Der Misanthrop zwischen Aufklärungstradition und -kritik: Johann Friedrich von Cronegks Der Mistrauische ................................................................. 139

Exkurs: Noch ein Alceste – Cronegks Missvergnügter ........ 140

1.3 Ein Konglomerat von Misanthropenmotiven: Johann Gottfried Pahls Oswald, der Menschenhasser .......... 1521.4 Timon als Schwärmer: Christoph Martin Wielands Musarion ............................ 166

2. Der Misanthrop als Kritiker ................................................... 171

2.1 ›Not in Timon’s manner‹: Gulliver als der etwas andere Misanthrop ..................... 171

2.1.1 Gulliver’s Travels – ein Misanthropenbuch? ............ 1792.1.2 Gulliver’s Travels – Ausgeburt eines Misanthropen? ...................................................... 182

2.2 Belphegor und Agathon oder Zwei Schwärmer und die Misanthropie ......................... 191

2.2.1 Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne ......................................................... 196

»Man stoße ihn aus seiner idealen Welt in die wirkliche« Der Schwärmer im Gefecht mit der Welt ................... 196Zwischen Schwärmerei und Menschenhass ................ 201

2.2.2 Geschichte des Agathon ............................................... 211

»In eine Welt ausgestoßen, worin mir alles fremd« Realitätsbewältigung als Schwärmerkur ...................... 211Ein Seufzer als »Bürge dafür, daß er noch Agathon ist«. Von der Schwärmerei zur Misanthropie und zurück ........................................................................ 220

2.2.3 Die Finalkonstruktionen des Belphegor und Agathon ............................................................ 229

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»Als Belphegorn sein Enthusiasmus von neuem ergriff« ..................................................................... 229Agathons »Sprung aus dem Fenster« ......................... 237Aufbruch und Entsagung .......................................... 239

2.2.4 »A world without vice! Rational beings without immorality!« Asem, the Manhater, und die verkehrte Welt ....................................................... 244

2.3 ›Der Kerl ist ein Genie‹ – Misanthropie zwischen Aufklärung und Sturm und Drang: F.M. Klingers Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt ......................................................... 251

2.3.1 Faust als Menschen- und Gotteshasser ................. 2582.3.2 Die Verantwortung des Handelns in einer undurchschaubaren Welt: Fausts Scheitern ......... 263

2.4 Der romantische Misanthrop gegen die ›aufgeklärten Achtzehnjahrhunderter‹: Jean Pauls Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch .............................................................. 268

2.4.1 Jean Paul und sein Seebuch in der Kritik des 18. Jahrhunderts ............................................. 2682.4.2 Die Aufklärer im Visier des Luftschiffers ............. 2712.4.3 Die Erhebung des Misanthropen .......................... 2802.4.4 Der Fall des Misanthropen .................................... 287

Schluss ................................................................................................. 293

Bibliografie .......................................................................................... 297

Dank .................................................................................................... 315

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Einleitung

»Hast du denn gar die Narrheit begangen, ein Misanthrop zu werden?«, wird Belphegor, der Protagonist in Johann Karl Wezels gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1776, gefragt1 – und die Problematik der Aufklä-rung zugleich benannt, welche Misanthropie und ihre Darstellungen wie kaum ein anderes Phänomen bespielen: Es ist das prekäre Verhältnis zwi-schen Vernunft und Unvernunft – im 18. Jahrhundert ›das Andere der Vernunft‹, gleichsam ›das Irrationale‹2 –, das das Individuum von der Gesellschaft trennt. Das misanthropische Individuum, das die Menschen hasst und deren Gesellschaft mittels einer Flucht in die Einsamkeit meidet, setzt sich über die von der Aufklärung postulierten Werte, Erwartungen und Handlungsnormen, wie Menschenliebe, Geselligkeit, Tätigkeit, hin-weg und schafft damit einen Konflikt, dem die Aufklärung ihrerseits mit Missachtung und Repression begegnet: Der Misanthrop gilt als Narr und wird als ein von den Tugenden Abgerückter, ja Verrückter zur lasterhaf-ten Figur – doch die Lächerlichkeit wird zur Gefährlichkeit, wenn der Misanthrop zum Asozialen verkommt, der aufbegehrt und gegen die von der Gesellschaft gesetzten Grenzen stößt. Die Misanthropendarstellungen des 18. Jahrhunderts decken dergestalt Spannungen auf, die das Zeitalter der Aufklärung birgt. So droht der Erwartungshorizont eines aufgeklärten Jahrhunderts im Angesicht des Anderen zu zerfallen, treffen die Misanth-ropengestalten mit ihrem Zweifel an der Menschlichkeit des Menschen doch dessen Herzstück.In Anbetracht des offensichtlichen Reizes, der sich im Thema »Der Mi-santhrop in der Literatur der Aufklärung« aufgrund der ihm innewoh-nenden und zugleich deutlich aufscheinenden Polaritäten dartut, ist das Forschungsdesiderat, das sich in der Literaturwissenschaft hier gebildet hat, umso erstaunlicher.In Deutschland ist seit Gerhard Hays 1970 erschienener Monografie Die Darstellung des Menschenhasses in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhun-derts3 kein umfassender Versuch mehr unternommen worden, das The-

1 Johann Carl Wezel: Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne [1776], Frankfurt a.M. 1965, S. 17.

2 Vgl. Hartmut Böhme/Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft, Frankfurt a.M. 1985, u.a. S. 246: »Was Vernunft ist, definiert sich selbst […], das Andere ist nur das Andere, das Irrationale […].«

3 Gerhard Hay: Darstellung des Menschenhasses in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1970.

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ma »Misanthropie« in der Literatur der Aufklärung zu beleuchten und zu vertiefen. Hay selbst gibt an, »die jeweilige literarische Gestaltung des Menschenhasses und das Verhältnis von Misanthrop und Gesellschaft, d. h. zu den Menschen, denen er sich in der Darstellung ausgesetzt sieht, zu analysieren.«4 Mit mehr als 300 Quellen liefert er zwar einen beein-druckenden Sinnzusammenhang; allerdings verhindert diese thematische Fülle eine Vertiefung der analytischen Untersuchung. Die spezifische Er-giebigkeit, so könnte man sagen, die schon allein in der Darstellung des Menschenhasses in der Literatur des 18. Jahrhunderts für eine größere Forschungsarbeit gegeben ist, wurde damit nicht erfasst. Denn Hay ver-säumt es, anhand intensiverer Einzelinterpretationen der vorgestellten Werke neben dem geleisteten typisierenden Abriss der literarischen Gestal-tungsformen von Misanthropie (wie »Misanthropische Gefährdung in der Empfindsamkeit«, »Menschenhaß im Familiendrama um 1800«, »›Roman-tische‹ Formen der Misanthropie«) die divergierenden, ja angesichts der geistigen Voraussetzungen überraschend gegensätzlichen Konzeptionen herauszuarbeiten, die zu einem differenzierten und äußerst spannungsvol-len Bild – vor allem der Epoche der Aufklärung – geführt hätten. Nach Hay ordnet nur noch Bernhard Sorg die Misanthropie in einen größeren literarischen Zusammenhang ein: In seiner Studie über Der Künstler als Mi-santhrop. Zur Genealogie einer Vorstellung5 aus dem Jahr 1989 zeichnet er an-hand von fünf Werken (William Shakespeares Timon of Athens, Molières Le Misanthrope, Friedrich Schillers Der versöhnte Menschenfeind, Arno Schmidts Pharos oder von der Macht der Dichter und Thomas Bernhards Das Kalkwerk) eine Genese der Misanthropen- zur Künstlergestalt nach, die sich seines Erachtens aus den dem Misanthropen charakteristischen Eigenschaften schon von Anfang an ergibt:

Fünf literarische Darstellungen von Misanthropie, fünf Menschenfeinde, aber nur eine Geschichte: die von seiner allmählichen Verwandlung in eine Künstlergestalt, genauer: eine Vorstellung von Kunst und Künstler, die ihr Zentrum hat in der konstitutiven Opposition von Empirie und Geist. Von Anfang an (und das heißt in diesem Kontext: von Shakespeares Timon an) ist der literarische Misanthrop durch Eigenschaften gekennzeichnet, die ihn, zu Ende gedacht, prädestinieren zum Künstler – durch den Glauben an eine dichotomische Welt, der die Fülle der Erscheinungen abwertet gegenüber einer apriorischen Idee vom Menschen und den Dingen.6

4 Ebd., S. 6.5 Bernhard Sorg: Der Künstler als Misanthrop. Zur Genealogie einer Vorstellung,

Tübingen 1989.6 Ebd., S. 1.

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Leider unterlässt es Sorg in seiner ansonsten ergiebigen Analyse, den Misanthropengestalten aus der Epoche der Romantik nachzuspüren, welche hinsichtlich ihres ästhetischen Programms sowie der immer pro-vokanter zutage tretenden Identitätsproblematik für seine Fragestellung doch geradezu prädisponiert gewesen wäre. Durch die Wahl des The-mas bedingt, wird die konfliktreiche Auseinandersetzung der Aufklärung mit dem Phänomen Menschenhass nur peripher behandelt, sodass sich ein produktiver Rückbezug auf Sorgs Monografie für den Kern meiner Arbeit als nur in geringem Maße lohnend erwies. Neben diesen beiden breiter angelegten Monografien sind zum Thema »Misanthropie« ledig-lich Einzelstudien erschienen, die sich entweder auf einen Autor und dessen Gesamtwerk konzentrieren, die beide gleichermaßen misanthropi-sche Züge aufweisen (sollen) – so zum Beispiel die Beiträge in Wendelin Schmidt-Denglers 1987 erschienenem Sammelband Statt Bernhard 7 oder die von der Psychoanalyse geprägte Abhandlung Adolf Heidenheins aus den 1930er Jahren: Über den Menschenhass. Eine pathographische Untersuchung über Jonathan Swift 8 –, oder die jene Werke im Blick haben, in denen Mis-anthropie geradezu augenfällig verhandelt wird, wie etwa in Molières Le Misanthrope. Zu dieser Komödie existiert eine Fülle von Aufsätzen; nur we-nige allerdings, wie zum Beispiel Frank-Rutger Hausmanns Melancholie und Misanthropie im 17. und 18. Jahrhundert – Molière und Rousseau und Cerstin Bauer-Funkes ›Le misanthrope corrigé‹ – Zur Rezeption des Molièreschen ›Misan-thrope‹ im 18. Jahrhundert,9 schlagen den Bogen zur Misanthropenliteratur des 18. Jahrhunderts, in dem Molières Misanthrope Alceste, quasi revi-talisiert, eine zentrale Bedeutung, nicht zuletzt als Umdeutung, erfährt. Einzelstudien zur literarischen Darstellung von Misanthropie hingegen, die sich ausschließlich dem 18. Jahrhundert, und genauer: der Literatur der Aufklärung, zuwenden, sind selten. Zu nennen ist an dieser Stelle besonders Dieter Martins 2005 veröffentlichter Essay Über den Umgang mit

7 Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Statt Bernhard. Über Misanthropie im Werk Thomas Bernhards, Wien 1987.

8 Adolf Heidenhein: Über den Menschenhass. Eine pathographische Untersuchung über Jonathan Swift, Stuttgart 1934.

9 Frank-Rutger Hausmann: Melancholie und Misanthropie im 17. und 18. Jahrhundert – Molière und Rousseau, in: Hans-Joachim Lope (Hg.): Aufsätze zur Literaturgeschichte in Frankreich, Belgien und Spanien, Frankfurt a.M./Bern/New York 1985, S. 29–58; und Cerstin Bauer-Funke: ›Le misanthrope corrigé‹ – Zur Rezeption des Molièreschen ›Misanthrope‹ im 18. Jahrhundert, in: Andrea Grewe/Margarete Zimmermann (Hg.): Theater-Proben. Romanistische Studien zu Drama und Theater, München 2001, S. 63–81; zudem Peter Schunk: Zur Wirkungsgeschichte des Misanthrope, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 52 (1971), S. 1–15.

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Menschenfeinden. Zu August von Kotzebues ›Menschenhaß und Reue‹ und Friedrich Schillers ›Der versöhnte Menschenfeind‹.10 Martin zeigt an diesen beiden – zwar zur gleichen Zeit erschienenen, aber Misanthropie höchst unterschiedlich darstellenden – Werken jene »Bedingungen« auf, die »die poetischen Aus-formungen des Motivs im späten 18. Jahrhundert« bestimmen: »die ex-akte Anamnese der Misanthropie sowie der philanthropische Kern in der misanthropischen Schale«,11 und kommt zu folgenden Ergebnissen:

Erstens zieht Schillers Fragment den empfindsam-heilsamen Umgang mit Men-schenfeinden, wie ihn die populäre Spätaufklärung eines Kotzebue vorführt, ganz erheblich in Zweifel. Zweitens bringt Schiller in der Figur eines Misanthropen, der das Ideal der Kalokagathie zur Rache an der Menschheit pervertieren möchte, die Gefahr eines Idealismus auf die Bühne, der aus der Aufklärung Kants herkommt, deren Spannung einer ›ungeselligen Geselligkeit‹ aber nicht auszuhalten vermag.12

Die literarische Verarbeitung und die damit einhergehende Beurteilung des Phänomens Misanthropie gestaltet sich demnach als Zusammenspiel von Autorpersönlichkeit und den Ansprüchen der Zeit, das je individu-ell ausgefochten wird – eine Blickrichtung, die die meisten Studien außer Acht lassen. Dadurch versäumen sie es, die Brisanz der unterschiedlichen misanthropischen Darstellungen der Aufklärung zu erfassen sowie den Facettenreichtum jener Epoche herauszustellen, der lange Zeit Einseitig-keit vorgeworfen wurde.Die französische Literaturwissenschaft bleibt ihrerseits bei der Frage nach der Darstellung von Misanthropie hauptsächlich einem Autor – Moli-ère – verpflichtet, wie auch die beiden jüngsten, umfangreicheren Veröf-fentlichungen belegen: Daniel-Henri Pageaux und Élisabeth Rallo Ditche untersuchen beide Le misanthrope au théâtre bzw. La misanthropie au théâtre,13 wobei sie neben Menanders Dyskolos und Shakespeares Timon Alceste den größten Platz einräumen. Auch die englischsprachige Literaturwis-

10 Dieter Martin: Über den Umgang mit Menschenfeinden. Zu August von Kotzebues ›Menschenhaß und Reue‹ und Friedrich Schillers ›Der versöhnte Menschenfeind‹ in: Andrea Heinz u.a. (Hg.): Ungesellige Geselligkeit. Festschrift für Klaus Manger, Heidelberg 2005, S. 165–176.

11 Ebd., S. 167.12 Ebd., S. 176.13 Daniel-Henri Pageaux (Hg.): Le misanthrope au théâtre: Ménandre, Molière,

Griboïedov, Mugron 1990; Élisabeth Rallo Ditche: Le misanthrope dans l’imaginaire européen – la misanthropie au théâtre, Paris 2007. Von Molière ausgehend, stellt auch die Romanistik einen Zusammenhang zum 18. Jahrhundert her: vgl. Brigitte Weltman-Aron: ›Le Misanthrope‹ mis en tropes: Molière, Marmontel et Rousseau, in: L’Esprit Créateur 36 (1996), S. 82–90; Claire Zanetta: Marmontel et Molière, in: Jean Erhard (Hg.): Jean-François Marmontel (1723–1799), Clermont-Ferrand 1970, S. 105–116.

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senschaft nimmt sich zwar des Vergleichs dieser dramatischen Misanth-ropengestalten an,14 doch ist sie ansonsten breiter aufgestellt: Der von R. Howard Bloch und Frances Ferguson in den 1980er Jahren herausgege-bene und den gender studies Rechnung tragende Sammelband Misogyny, Misandry and Misanthropy15 zum Beispiel stellt einen Zusammenhang her zwischen Menschen- und Frauenhass – wobei die Misanthropie der Mi-sogynie thematisch letztlich untergeordnet bleibt; Christopher Lane zeigt 2004 in seiner Monografie Hatred & Civility. The Antisocial Life in Victorian England »what happened when the Victorians’ faith in community buckled under the pressure of sustaining fellow feeling, letting more intemperate emotions emerge«16 und untersucht Hass im Allgemeinen, Misanthropie im Besonderen unter anderem in Werken von Charles Dickens und Char-lotte Brontë. Mit »Feeling, Misanthropy, and Satire in Eighteenth-Century England« setzt sich 1975 Thomas R. Preston in seiner Monografie Not in Timon’s Manner17 auseinander, indem er die sogenannte benevolent misan-thropy (d.i. »hating man and loving the individual«) in den Mittelpunkt der Untersuchung rückt:

The tradition of benevolent misanthropy, delicately balancing optimistic and pes-simistic tendencies in the Age of Sensibility, pointed to the fact of universal human evil and the improbability of social man’s moral transformation; but at the same time it defended the individual’s potential for significant moral progress through the development of his benevolent feelings.18

Dieser für das Individuum zum Problem werdenden dualistischen Sicht auf die Menschen, die sich auf einem gedachten So-Sein-Sollen des Men-schen gründet, dem das menschliche So-Sein realiter nicht gerecht wird bzw. werden kann, spürt Preston nach und stellt anhand eines zusam-menfassenden, den philosophischen, popularphilosophischen und lite-rarischen sensibility-Diskurs im England des 18. Jahrhunderts aufgreifen-den Überblick verschiedene Konzeptionen des »man of feeling« in einer »unfeeling world« vor. Aufgrund dieser Widersprüchlichkeit, so Preston, rückt der Misanthrop schließlich in die Nähe des Satirikers:

14 Vgl. z.B. David Konstans Essay A Dramatic History of Misanthropes, in: comparative drama 17.2 (1983), S. 97–123.

15 R. Howard Bloch/Frances Ferguson (Hg.): Misogyny, Misandry and Misanthropy, Berkeley/London 1989 (zuerst publiziert als Representations 20 [1987]).

16 Christopher Lane: Hatred & Civility. The Antisocial Life in Victorian England, New York 2004.

17 Thomas R. Preston: Not in Timon’s Manner. Feeling, Misanthropy, and Satire in Eighteenth-Century England, Alabama 1975, S. xxi.

18 Ebd., S. 2.

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Most importantly, however, benevolent misanthropy conferred psychological va-lidity on the satirist’s frequent assertion that his attack is benevolently motivated, for the new tradition reinterpreted misanthropy to mean the psychological state of disappointment and frustration arising in a man of feeling attempting to exercise his benevolence in an unfeeling world.19

Was Preston hier aufscheinen lässt und besonders an Werken von Tobias Smollett und Samuel Johnson darlegen möchte, tritt in anderen Misanth-ropenstudien kaum zutage: die der Misanthropie zukommende Doppel-funktion als Kritik an der bestehenden Welt und als Verweismöglichkeit auf eine bessere.Genau dies ist der Problemhorizont, an dem sich meine Arbeit entzündet: an der spannungsreichen Wirkungskraft, die das Phänomen der Misanthro-pie in der Konfrontation mit den Ambitionen der Aufklärung auf der einen und den Gegebenheiten des 18. Jahrhunderts auf der anderen Seite entfal-tet. Das 18. Jahrhundert weist dem Misanthropen die Rolle des Narren, des Unvernünftigen, mithin des Lasterhaften zu, der sich nicht in die menschli-che Gemeinschaft einzugliedern weiß. Doch im Laufe der Zeit bricht er aus dieser Rolle aus, weil seiner Erkenntnis, dass die Gesellschaft, bzw. dass der Mensch selbst unzureichend ist, mehr und mehr recht gegeben wird. Der in der Kritik der Aufklärung stehende Menschenfeind wird auf diese Weise allmählich zum Kritiker derselben, er wandelt sich von der lächerlichen Gestalt zum sich aufbegehrenden Kraftgenie oder zum rebellischen Kämp-fer für Freiheit und Unabhängigkeit. Diesen gleichsam als Gegenentwürfe konzipierten Misanthropengestalten begegnet die Vielzahl der sogenannten Achtzehnjahrhunderter jedoch mit tiefster Missbilligung; und sie schlagen zurück, indem sie die aus ihren Reihen ausbrechenden Autoren, die in ihren meist satirischen Werken Misanthropie als notwendiges Übel der Zeit prä-sentieren, denunzieren: als Misanthropen, ja als dem Wahnsinn Anheimge-fallene. Diese scharfe Aburteilung sowohl der Autoren als auch ihrer Wer-ke muss rezeptionsästhetisch als Folge von Verdrängungsstrategien seitens einer normativen Aufklärung gedeutet werden, die einem aufkommenden, Aufklärung der Aufklärung betreibenden Skeptizismus keine Berechtigung zuteilwerden lässt.Im Hauptteil meiner Studie stelle ich diese konträren aufklärerischen Haltungen heraus, indem ich die verschiedensten Misanthropendarstel-lungen dahingehend analysiere, wie die Misanthropengestalten und die ihnen zugeordnete Gesellschaft gezeichnet werden, wie Misanthropie sich aus dieser Konstellation (Individuum versus Gesellschaft) überhaupt erst

19 Ebd., S. 3.

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entwickelt hat, wie sie in diesem Zusammenhang beurteilt wird und was die Autoren mit ihrer je individuellen Gestaltung von Misanthropie ver-handeln bzw. zum Ausdruck bringen möchten. Dabei führe ich zuerst Werke an, die einer ›gemäßigten Aufklärung‹20 zuzurechnen sind, die Mi-santhropie im Sinne der aufklärerischen Grundkonzeptionen als wider-natürliches Verhalten aburteilen, und die im Verlauf der Geschichte den Menschenfeind zum Menschenfreund (um)erziehen und ihn resozialisie-ren. Sie dienen als Folie für die Analyse kritisch-skeptizistischer Werke, die die vorgestellte Verfahrensweise aufnehmen, um sie unmittelbar so zu verkehren, dass nicht länger der aufklärerische Idealtypus, sondern der Misanthrop als moralischer Held gilt.Meine Textauswahl strebt dabei weder Vollständigkeit an noch konzent-riert sie sich ausschließlich auf die von der Literaturwissenschaft heraus-gehobenen Werken des Literaturkanons. Sie orientiert sich vielmehr an Werken, die exemplarisch sind für die divergierenden Misanthropenge-staltungen der Aufklärung (wie zum Beispiel Jean-François Marmontels Moralische Erzählung Le Misanthrope corrigé auf der einen Seite, die, obwohl sie den literarischen Geschmack der Zeit beispielhaft widerspiegelt, in der Literaturwissenschaft kaum Beachtung fand, und Johann Karl Wezels Ro-man Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne auf der ande-ren Seite, der als schreckliches Misanthropenbuch erst diskreditiert, dann geschätzt wurde) – ganz gleich, ob sie häufig oder kaum mit Misanthropie assoziiert werden (Jonathan Swifts Gulliver’s Travels oder Christoph Mar-tin Wielands Geschichte des Agathon), ob sie heute vergessen sind (Johann Gottfried Pahls Roman Oswald, der Menschenhasser) oder aber besonders gewürdigt werden (Wielands Verserzählung Musarion). Dadurch sowie durch den Einbezug englischer und französischer Texte zum einen, durch die Beachtung der Strömungen der Zeit, wie Empfindsamkeit und Sturm und Drang, zum anderen, entsteht ein buntes, zugleich exemplarisches (Mi-santhropen-)Konglomerat, das dezidiert die entscheidenden Impulse und Gestaltungen des Stoffes im 18. Jahrhundert herausstellt, anhand derer ich die differenzierten Haltungen der Aufklärung herausarbeite.Doch um die Wesenszüge und Eigenarten der Misanthropendarstellun-gen in der Literatur der Aufklärung präzise erfassen und verstehen zu

20 Ich verwende den Begriff der gemäßigten Aufklärung, um eine Haltung des 18. Jahrhunderts zu fassen, die die aufklärerischen Grundpositionen im Allgemeinen eher unkritisch übernimmt, fest- und fortschreibt. Es ist eine als normativ zu betrachtende Aufklärungshaltung, die jedoch nicht mit der sogenannten Frühaufklärung verwechselt werden darf, bilden sich Werke gemäßigten Inhalts doch noch am Ende des Jahrhunderts heraus.

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