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Überlegungen zu einer Soziologie personalen und organisationalen Scheiterns Werner Vogd ,,Die Lösung des PrObleIDB, das Du im Leben siehst, ist eine Art zu le- ben, die das Problemhafte zum Verschwinden bringt. Daß das Problem problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt Du mußt dann Dein Leben verändern, und paßt es in die Form, dann verschwindet das Problematische," Ludwig Wittgenstein 1 In dem folgenden Beitrag werden einige grundlegende Überlegungen zu einer soziologischen Theorie des Scheiterns entfaltet. Wir fragen zunächst nach den Eigenschaften, die ein System haben muss, um von sich selbst sagen zu können, dass es scheitert (I). Von hier aus gelaogen wir zu der für uosere Aufgabe bedeut- samen Unterscheiduog zwischen psychologischer und sozialer Identität, über die sich erst verstehen lässt, warum soziale Systeme solch einen Aufwaod treiben, um beschädigte soziale Identitäten zu reparieren (2). Im aoschließenden Kapitel werden wir den Blick auf Organisationen lenken. Wie schon bei personalen Ak- teuren haben Orgaoisationen Antworten auf das Problem zu finden, dass sich ihr Selbst in Hinblick auf den eigenen normativen Status in Diskrepanz zu sich selbst befinden kann (3).2 Am Beispiel der institutionellen Bearbeituog des Scheiterns medizinischer Behaodlungen im Krankenhaus wird der analytische Wert der hier vorgestellten Überlegungen verdeutlicht (4). Abschließend werden einige allge- meine organisationssoziologische Überlegungen aogestellt. 1. Differenz von System und Selbstsystem ,Scheitern' ist kein soziologischer oder psychologischer Gruodbegriff. Vielmehr muss immer schon eine Reihe von komplexen, ineinaoder verschachtelten semao- tischen Prozessen vorausgesetzt werden, um überhaupt von Scheitern sprechen zu können. Scheitern setzt eine Identität voraus, die sich nicht im Einklaog mit sich selbst befindet uod dies darüber hinaus - in welcher Form auch immer - thema- 1 Zitiert nach Kroß (1993, S. 108). 2 Scheitern hat dann, wie auch Klemm in diesem Band ausführt, in der Tat immer etwas mit ,Bewertung' zu tun. J. Bergmann et al. (Hrsg.), Scheitern – Organisations- und wirtschaftssoziologische Analysen, DOI 10.1007/978-3-658-01652-4_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

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Überlegungen zu einer Soziologie personalen und organisationalen Scheiterns

Werner Vogd

,,Die Lösung des PrObleIDB, das Du im Leben siehst, ist eine Art zu le­ben, die das Problemhafte zum Verschwinden bringt. Daß das Problem problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens

paßt Du mußt dann Dein Leben verändern, und paßt es in die Form, dann verschwindet das Problematische,"

Ludwig Wittgenstein1

In dem folgenden Beitrag werden einige grundlegende Überlegungen zu einer soziologischen Theorie des Scheiterns entfaltet. Wir fragen zunächst nach den Eigenschaften, die ein System haben muss, um von sich selbst sagen zu können, dass es scheitert (I). Von hier aus gelaogen wir zu der für uosere Aufgabe bedeut­samen Unterscheiduog zwischen psychologischer und sozialer Identität, über die sich erst verstehen lässt, warum soziale Systeme solch einen Aufwaod treiben, um beschädigte soziale Identitäten zu reparieren (2). Im aoschließenden Kapitel werden wir den Blick auf Organisationen lenken. Wie schon bei personalen Ak­teuren haben Orgaoisationen Antworten auf das Problem zu finden, dass sich ihr Selbst in Hinblick auf den eigenen normativen Status in Diskrepanz zu sich selbst befinden kann (3).2 Am Beispiel der institutionellen Bearbeituog des Scheiterns medizinischer Behaodlungen im Krankenhaus wird der analytische Wert der hier vorgestellten Überlegungen verdeutlicht (4). Abschließend werden einige allge­meine organisationssoziologische Überlegungen aogestellt.

1. Differenz von System und Selbstsystem

,Scheitern' ist kein soziologischer oder psychologischer Gruodbegriff. Vielmehr muss immer schon eine Reihe von komplexen, ineinaoder verschachtelten semao­tischen Prozessen vorausgesetzt werden, um überhaupt von Scheitern sprechen zu können. Scheitern setzt eine Identität voraus, die sich nicht im Einklaog mit sich selbst befindet uod dies darüber hinaus - in welcher Form auch immer - thema-

1 Zitiert nach Kroß (1993, S. 108). 2 Scheitern hat dann, wie auch Klemm in diesem Band ausführt, in der Tat immer etwas mit

,Bewertung' zu tun.

J. Bergmann et al. (Hrsg.), Scheitern – Organisations- und wirtschaftssoziologische Analysen,DOI 10.1007/978-3-658-01652-4_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

martin
Textfeld
In: Bergmann, J., Hahn, M., Langhof, A. & Wagner, G. (Hrsg.)(2014). Scheitern - Organisations- und wirtschaftssoziologische Analysen. Wiesbaden: Springer VS.

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tisiert. Dies wiederum ist nur möglich, wenn ein Selbst entstanden ist, das nicht mehr mit dem Prozess identisch zu sehen ist, welches dieses Selbst konstituiert. Um mit den Worten der Systemtheorie zu sprechen: Wir finden jetzt nicht mehr nur einen autopoietischen Prozess vor, der eine System! Umwelt Differenz repro­duziert, um auf diese Weise Systeme hervorzubringen. Darüber hinaus treffen wir jetzt noch auf eine zweite Ebene der Emergenz, mit der aus diesem Prozess heraus ein Selbst entstehen kann, das in Konflikt mit der durch die eigenen Au­topoiesis reproduzierten Form treten kann.

Wir treffen jetzt auf Diskrepanzen in Bezug auf das System mit sich selbst, und insofern wir darüber hinaus noch zwischen dem Selbst psychischer und sozi­aler Systeme unterscheiden, wäre dann nicht nur auf psychischer Ebene, sondern auch in Hinblick auf entsprechend komplexe soziale Systeme - insbesondere im Falle von Organisationen - mit Identitätsproblemen zu rechnen.

Beginnen wir zunächst mit psychischen Systemen. Von ihrer Eigendynamik her gedacht, treffen wir jetzt auf sogenannte "Ich-Sager" (Fuchs 2010, S. 55ff.), die ein Selbstbild oder Selbstkonzept mitfübren, das allein schon aus Komplexi­tätsgründen niemals mit der gelebten Wirklichkeit übereinstimmen kann. Das Be­wusstsein kann nur einen Bruchteil von dem wahrnehmen und verarbeiten, was die unbewussten, komplexen Verarbeitungsprozesse des Gehirns zur Verfügung stellen und das Gehirn kann wiederum nicht alles verarbeiten, was ein Organis­mus in seinen Umweltkontakten realisiert. Informationsverarbeitung beruht per se auf Abstraktion und damit auf Ausblendung von Komplexität.

Der wohl wichtigste Befund der modemen Systemtheorie besteht in der Ein­sicht, dass die hiermit verbundenen Komplexitätsgefälle altemativlos sind. "Exis­tence is selective blindness".' Kein System kann sich reproduzieren, wenn es nicht auf eine hochgradig selektive Weise seine Umweltbezüge realisiert. Die Autono­mie von Systemen basiert auf struktureller Ignoranz. Systeme sind nur deshalb handlungs- und überlebensfähig, weil sie den Großteil der Weltbeziehungen, in denen sie eingebettet sind, ignorieren.

Struktorell gesehen erscheint ein Selbst - sei es ein psychisches oder soziales Selbst - sozusagen als ein weiteres System innerhalb eines Systems, das darauf beruht, das die Selektivität des Weltzugangs durch Abstraktion nochmals poten­ziert wird, und die durch diese Verdichtung gewonnenen Elemente sich rekursiv aufeinander beziehen.' Indem auf diese Weise eine Instanz mit noch höherer Stur-

3 Sponcer Brown (2005, S. 192). 4 Siehe zur Entwicklung der Grundidee des Ichs als einer verkörperten semantischen Rekursion

immer noch Maturana und Varela (1987).

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heit und Begrenztheit etabliert wird, lässt sich die Systemautonomie des Systems, auf dessen Basis daa Selbst emergiert, noch stärker pointieren.

Man lebt und empfindet jetzt nicht mehr einfach nur das, was man lebt, son­dern kann sich jetzt seiner eigenen leiblichen Erfahrung gegenüber handelnd oder erleidend verhalten (z. B. zu dem etwas denken und empfinden, waa man erlebt oder fühlt und aufgrund dieser Metakognition erneut erleben und handeln).' Auf diese Weise kann sich das System von einem Teil seiner realisierten Vollzüge di­stanzieren. In Hinblick auf seine Steuerung entstehen hiermit einhergehend Frei­heitsgrade, welche es dem System gestatten, vom Selbst gesetzte Ziele zu verfol­gen. Das System und das Selbst des Systems - im Folgenden: das Selbstsystem - treten hiermit mehr oder weniger in eine Spannungslage. Es ist weder garan­tiert, dass es dem Selbstsystem gelingt, eine brauchbare Kognition hinsichtlich der Umweltbeziehungen zu gewinnen, in die daa System eingebettet ist, noch ist gewährleistet, dass die steuernden Impulse des Selbstsystems vom System in ei­ner Weise aufgegriffen werden, wie es dem Selbstbild entspricht.

Aufgrund dieser Disposition ergeben sich auf psychologischer Ebene eine Reihe von komplexen kognitiv-emotionalen Lagerungen, die daraufbasieren, dass das vermeintlich gelebte Leben nicht mit den Bildern, Konzepten und Empfin­dungsprojektionen übereinstimmt, welche das Selbstsystem im Rahmen seiner Autopoiesis hervorgebracht hat. Scham, Schuld, Neid, Eifersucht und Reue be­mben allesamt auf Diskrepanzen zwischen Selbstsystem und dem, was das Sys­tem, welches daa Selbst als Grundlage hat, realisiert.

All diese Siundiskrepanzen setzen das System - wie auch das Selbstsystem -unter Veränderungsdruck. Neid beispielsweise veranlasst zu Aktivitäten, welche den Status des Beneideten anstreben lassen.' Reue erlaubt es Handlungsmotivati­onen in einer Weise zu korrigieren, dass Selbstbild und künftiges Handeln mögli­cherweise in ähnlichen Situationen angemessener aufeinander abgestimmt werden.

Funktional gesehen stellt die Beziehung zwischen System und Selbstsystem ein Steuerungsverhältnis dar, mit dem IST- und SOLL-Werte generiert werden, die reflexiv in Beziehung gesetzt werden können, um auf diese Weise eine dy­namischere Umweltanpassung des Systems zu ermöglichen. Mit dem zentralen diesbezüglichen Begriff der philosophischen Tradition gesprochen: es erwächst hier eine normative Dimension, mit der Werte in die Autopoiesis von Sinnsyste­men eingeführt werden, denn bei all dem, was sonst noch im Sinnprozedere ge­schieht, geht es jetzt auch um den Abgleich von IST und SOLL. Auf diese Weise

5 Mit Plessner (1964) gesprochen treffen wir jetzt auf eine exzentrische Positionalität. 6 Wobei das zunächst die Beschreibung von Nachahmungsprozessen im Allgemeinen betrim,

siehe Tarde (2008). Vg!. zu den komplexen Emotionen Neid und Eifersucht auchKottnor (2007).

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bekommt das System die Möglichkt.it, sich mit der Sturheit zu versorgen, die für die Verfolgung abstrakterer und zeitlich fernerer Ziele nötig ist. Zugleich gewinnt es hierdurch das strukturelle Potential zur Metaprogrammierung. Das Selbstsys­tem. erscheint damit zugleich als eine besondere Form des Gedächtnisses, welche das System mit einer übergrcifcnden Wertidentität ausstattet.

Im Sinne von Weicks Prozcssschema ,Gestaltung-Se1ektion-Retention'Jrann man das Selbstsystem als eine Retention begreifen, über die bestimmt wird, wel­che Aspekte vom Systemverhaltcn gesondert aufzugreifen und zu bewerten sind, was also alles für das System als von besonderer Relevanz zu betrachten ist

Abbildung 1: Das Weickschc Prozessschema (Wci.ck 1998)

Die ,GestaltuJlg' ontspricht dabei a11 den violililtigen Vollziigen des Systems, die jedoch überwiegend vom. Selbstsystcm nicht zur Kenntnis genommen werden (es wird vielmehr gelebt, als vom Selbst erkannt und bewertet werden kann). Dcr Pro­zess der ,Selektion' stellt den vom System programmierten Fitter dar, über den die Form der Kopplung zwischen System und Selbstsystem geregelt wird (also alt das, was von dem Systemsystem überhaupt wahrgenommen und verarbeitet werden kann). Bei a11 dem ist zu beachten, dass das K.omp1cxitätsgcra11c von Sys­tem und Sclbstsystcms in der Regel mit einer erheblichen Ambiguitätsto1eranz einhergeht. Werte sind viel zu grobe Raster, als dass sie sich eins zu eins auf die vielfiiltigen und komplexen Verhaltensweisen des zu steuernden Systems herun­terbrechen lassen. Zudem sind viele Situationen per sc mehrdeutig. Eine zu rigide

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Wertkopplung würde das System eher behindern als seine Autonomie zu steigern (,Zwangsueurosen fUhren nicht zur Entfaltung der Persönlichkeit').

All dies lässt deutlich werden, dass die Beziehung von System und Selbst­system nicht als ein Repräsentationsverhältnis begriffen werden kann (das Selbst kann niemals wahrnehmen, was das System tnt, auf dem es reitet). Sie stellt viel­mehr ein Arrangement dar, das dem System ermöglicht, sich selbst in einer raf­finierten Weise so zu stören, dass Selbstreflexion und Lernen möglich werden, indem in hochselektiver Form entweder Elemente des Systemverhaltens oder die Identität des Selbstsystems in Frage gestellt und damit korrigiert werden können.

Offensichtliche Diskrepanzen zwischen System und Selbstsystem können entsprechend dem Weickschen Schema in zwei Richtungen hin entfaltet werden. Eine Differenz zwischen IST und SOLL kann zu Steuerungsversuchen rühren, welche die Gestaltungen oder aber auch die Retention des Systems verändern, Letzteres nämlich, indem im Selbstsystem andere Wertstrukturen ausgebildet werden (sozusagen das Ich ein anderes wird). Das Arrangement zwischen Sys­tem und Selbstsystem ermöglicht eine abgestnfte Umweltanpassung im Sinne von Assimilation oder Akkommodation (Piaget), von Einordnung in bereits be­stehende Systemschemata oder von Veränderung der Schemata.' Beispielsweise kann Reue das Verhalten beeinflussen (man arbeitet an seinen Fehlern) oder auch in ein anderes Selbstbild münden (beispielsweise indem man beginnt, sich in ei­ner devianten Karriere einzurichten).

2. Soziologie des Scheiterns: Verzahnung von psychologischer und sozialer Identität

Scheitern, dies ist in den vorangehenden Überlegungen deutlich geworden, stellt per se ein normatives Konzept dar, denn es beruht auf einem Wer!evergleich, der einen Akteur (also ein System, dem von sich selbst oder einem anderen System der Akteursstatus zugeschrieben wird') in Bezug auf Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit reflektiert. Die Zuschreibung des Scheiterns beruht dabei auf einer besonderen Form des Vergleichs, also einer Reflexionsbeziehung, die Werte mit Beobachtungen in Beziehung setzt.

7 Siehe hierauf aufbauend zu einem psychologischen Konzept positiver Entwicklung Brandt­städter (2011).

8 Mit Robert Brandom gilt hier: .,Daß etwas von jemandem als intentionales System betrachtet oder behandelt wird, rangiert in der Reihenfolge der Erklärung vor der Tatsache, daß es ein intentionales System. ist" (2000, S. 109).

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Darüber hinausgehend ist diese normative Reflexion immer auch in soziale Erwartungsstrukturen eingebettet. Wir haben es nicht nur mit Selbst- und Fremd­bildern zu tun, die innerhalb eines Systems miteinander abgeglichen werden, son­dern darüber hinaus mit Reflexionen anderer Systeme, die beobachten, inwieweit die durch das System gelebte Praxis mit dem vermeintlichen Selbstsystem in Ein­klang steht. Dies ist ein entscheidender Punkt innerhalb unserer Argumentation, denn hiermit kommt unweigerlich die Frage des Images und der sozialen Iden­tität mit ins Spiel. Analytisch ist damit die soziale Identität von der psychologi­schen Identität zu unterscheiden.

So kann beispielsweise auf Ebene der Letzteren eine bestimmte Ambigui­tätstoleranz bestehen, die das Selbstbild des Selbstsystems nicht durch Eruptio­nen des übergreifenden Handlungssystems irritieren lässt (ein Mann mag sich für einen frommen Katholiken halten, der eine gute Ehe führt, selbst wenn ihm ab und zu ein Seitensprung unterläuft). Auf Ebene der sozialen Identitäten ist dem­gegenüber mit Bewertungen zu rechnen, die gerade auf der Beobachtung solcher Diskrepanzen beruhen. Sei es in Form des Vorwurfs von Doppelmoral und Bigot­terie oder der Zurechnung von Verdrängungsleistungen und anderer psychischer Macken' - sozialen Akteuren wird innerhalb der Kommunikation ein normativer Status zugeschrieben, der sich aus der Diskrepanz von Rollenerwartungen und Verhaltensbeobachtungen errechnet. Diese normativen Status stehen nicht außer­halb der kommunikativen Praxis, vielmehr sind sie als ,deontisches Kontofüh­ren' (Brandom 2000) iuhärenter Bestandteil einer jeden Kommunikation. Immer wenn im kommunikativen Prozess ,Mitteilung' und ,Information' ,verstehend' se­legiert werden, geht dies mit der Zuordnung einer normativen Dimension zu dem zugerechneten Akteursstatus einher. Kommunikation bildet immer auch Erwar­tungen darüber aus, inwieweit ein Akteur seine soziale Rolle angemessen erfüllt.

Aus diesem Grunde macht es einen wichtigen Unterschied, ob die Diskre­panz zwischen System und Selbstsystem psychisch oder sozial beobachtet wird. Letzteres führt zu einer Änderung des normativen Status des solchermaßen be­obachteten Akteurs.

Sich selbst als schuldig, versagend, reumütig oder schamvoll fühlend zu er­leben, mag zur Verdrängung oder Veränderung führen. Auf psychischer Ebene kennen wir bereits die Weichenstellungen, die hier möglich sind: Ignorieren und Aussitzen der peinlichen Situation oder eine Krise des Selbstsystems, was dann in Verhaltensänderungen oder in eine Rekonfiguration des Selbstbildes münden kann.

9 Eine schöne Form. der Beobachtung einer solchen Diskrepanz ist die Diagnose von "Inkom­petenzkompensationskompetenz" (Marquard 1974).

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Von signifikanten Anderen als ,gescheitert' beobachtet zu werden, geht demgegenüber mit einer beschädigten sozialen Identität einher, insofern dabei kommunikativ bedeutsame Rollenerwartungen betroffen sind. Kommunikative Netzwerke, die in der verstehenden Zurechnung von Information und Mitteilung Akteure hervorbringen, erscheinen damit zugleich immer auch als Evaluations­systeme, die Akteure als Knotenpunkt eines kommunikativen Netzwerkes reflek­tieren und diesen einen normativen Status zuordnen. Entsprechend folgt jedem Gesichtsverlust immer auch ein Verlust an ,sozialem Kapital' (Bourdieu 2001) des betroffenen Akteurs.

Erst mit Blick auf die immense Bedeutung, welche die soziale Bewertung für psychische Systeme hat, wird verständlich, warum Akteure solchen Aufwand betreiben, um ihre soziale Identität aufzubauen, auszubessern oder zu reparieren. Ein Großteil von Goffmans Arbeiten kreist um nichts anderes als um die Frage, wie sich beschädigte soziale ldentitäten wieder reparieren lassen - etwa indem das offensichtliche Stigma im kommunikativen Vollzug aktiv ausgeblendet, also zugleich wahrgenommen, wie auch kommunikativ ignoriert wird.1O Mit Blick auf die Koproduktion zwischen Psychischem und Sozialem ließe sich gar vermu­ten, dass dies eins der wesentlichen Bezugsprobleme des Systems ,Selbst' darin liegt, solche Imageprobleme zu antizipieren und zu bearbeiten, da die sozialen Verhältnisse des Menschen die eigentlich prekären Umwelten darstellen, an die sich psychische Systeme anpassen müssen (niedere Tiere, Pflanzen und Maschi­nen stört es nicht, wenn jemand aus der Rolle fällt)." Erst mit Blick auf die exis­tenzielle Schnittstelle zum Sozialen werden jetzt all jene komplexen Formen der Identitätsarbeit verständlich, mit denen versucht wird, die soziale Identität selbst dann aufrechtzuerhalten, wenn die Diskrepanzen zwischen IST und SOLL nicht mehr zu verbergen sind.

In diesem Sinne erscheint dann auch die These wohlbegründet, dass das psy­chische System erst durch die soziale Komplexität, mit der es auskommen muss, getrieben wird, sich zu einem Selbstsystem zu doppeln, um dann jene Diskrepan­zen zu generieren, an denen es systematisch scheitern muss. Dies wiederum/or­dert das Selbst zu einer Imagearbeit heraus, um seine soziale Anpassung zu hal­ten, wenngleich hierdurch die Diskrepanzen umso unüberwindlicher werden. 12

10 Siehe insbesondere Goffman (1961, 1967). 11 Dieser Gedanke hat dann auch Soziobiologen auf die Idee gebracht, dass wir Menschen nur

deshalb unsere Großhirnrinde und unser Gehirn so weit entwickelt hätten, um besser täuschen und Täuschungen erkennen können (vgl. Noonan 1987, S. 44f.).

12 Der erste Teil der These ist innerhalb der soziologischen Tradition gut begründet Man denke etwa an die Arbeiten im Anschluss an Mead (1998), der zweite Teil ist bislang noch nicht in hinreichend analytischer Schärfe herausgearbeitet worden.

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Wir begegnen hier all den bekannten Problernen des modemen Selbst, dem nichts anders übrig bleibt, als sich darauf einzustellen, dass es permanent an sich selbst scheitert, in Hinblick auf die gesellschaftlichen Ansprüche an es selbst, je­doch dennoch nicht darin zu Ruhe kommen kann, sein Scheitern einfach zu ak­zeptieren. Oder anders herum: Scheitern tut weiterhin weh und Identitätsarbeit bleibt unverzichtbar. Dies ergibt sich allein schon aus den mit der Semantik des Scheiterns verwobenen normativen Implikationen.

3. Kompensationsmechanismen sozialer Systeme -Seihstsysteme von Organisationen

An dieser Stelle lohnt sich zu schauen, ob - und wenn ja - welche Mechanismen soziale Systeme zur Generieruog und Kompensation von Wertdiskrepanzen ent­wickelt haben. Sowie sich psychische Systeme in einem Selbstsystem ,doppeln', wäre zu fragen, ob nicht auch bestimmte soziale Systeme eine homologe emer­gente Ebene hervorbringen, wodurch sie ebenfalls in Spannung zu sich selbst treten können.

Das Beispiel par excellence für solche Systeme sind Organisationen. Wie Akteure sind sie adressierbar und haben darüber hinaus einen mehr oder weni­ger personenähnlichen Rechtsstatus. Ebenso erzeugen Organisationen etwas, dass man als organisationales Selbst bezeichnen könnte. Gemeint sind hiermit Instan­zen der Organisation, in denen Selbstbeschreibungen zur organisationalen Iden­tität angefertigt werden. Mit Fuchs (2010, S. 267ff.) lassen sich hieruoter narra­tiv verfertigte Konstrukte verstehen, die den Sinn und Zweck der Organisation reaffirmieren und das Selbstverständnis der Organisation aktualisieren. Wie das postmoderne Individuum ist dabei auch das organisationale Selbst in der Regel in seinen Selbstbeschreibungen vielstimmig."

Sei es das Controlling, die Corporate Identity oder das Management, in Or­ganisationen lassen eine Reihe kommunikativ reproduzierter Systemdynamiken feststellen, die homolog zum psychischen Selbst, Ansprüche an organisationale Identitäten formulieren. Solche organisationalen Selbstprozesse können als Selbst­beschreibung der Organisation nicht die systemischen Prozesse der Organisati­on repräsentieren. Vielmehr können sie sich - wie schon beim personalen Selbst - nur hochselektiv zu diesen in Beziehung setzen, indem IST-SOLL-Vergleiche evoziert werden. Die Organisation wird hierdurch kontinuierlich zu Anpassungs­leistungen herausgefordert, indem Spannungen generiert werden, die - wie auch

13 Mit AkerstnJm (2007) lässt sich auch sagen: Organisationen sind polyphon und heterophon.

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immer - bearbeitet werden müssen. Auch die Organisation wird auf diese Wei­se mit einer gesteigerten Reflexivität ausgestattet, über die sich Spannungslagen erzeugen lassen, die als intern forcierter Veränderungsdruck dann entweder die organisatorischen Abläufe (Assimilation) oder das organisationale Selbst (Ak­kommodation) beeinflussen und verändern.l

'

Insofern man bereit ist, einer analytischen Perspektive zu folgen, die von ei­ner Differenzierung zwischen Organisation und organisationalen Selbst ausgeht, lässt sich wiederum auf das Problem referieren, dass Organisationen beständig in ihren sozialen und psychischen Umwelten auf ihre Diskrepanzen hin beob­achtet werden. Da das Scheitern einer Organisation in Hinblick auf ihren An­spruch nicht unbemerkt bleibt, ist entsprechend auch innerhalb der Organisation mit Prozessen zu rechnen, die Imagearbeit leisten, um das Scheitern von Orga­nisationen zu kompensieren. Homolog zur Goffmans Reparaturarbeit an der so­zialen Identität von menschlichen Akteuren wäre also dann Entsprechendes bei Organisationen zu beobachten.

Der soziologisch orientierten Organisationsforschung ist Letzteres durchaus bekannt. Man weiß hier um die Heuchelei von Organisationen, dass sich Rede und Handeln leicht entkoppeln lassen, und dass der Modus des ,Als Ob' zum Standardrepertoire von Organisationen gehört.l ' Im Sinne der zuvor formulier­ten Ausfiihrungen vermuten wir jedoch, dass die Bezugsprobleme, welche diesen Phänomenen zugrunde liegen, nur dann angemessen verstanden werden können, insofern man sie als ,Selbstprobleme' von Organisation begreift (und nicht nur als sozialpsychologische Problemlagen der involvierten Akteure).

Wir kommen hiermit zu der These, dass auch Organisationen Systeme dar­stellen, die ein Selbst herausbilden, um dann an den Diskrepanzen zwischen Selbst und System zu scheitern, gleichzeitig aber von dieser Diskrepanz in ihrer Entwicklung profitieren, zugleich jedoch hierdurch gezwungen sind, ein Image aufbauen, um dieses Scheitern vor anderen Akteuren zu verschleiern. Vom Sys­tem der Organisation aus betrachtet, stellen ihre kritischen Beobachter vor allem (aber nicht nur) psychische Systeme dar, etwa ihre Mitarbeiter, ,Kunden', ,Kli­enten', ,Patienten' etc., die bei alledem mitspielen müssen.

Mit Blick auf die Koproduktion von psychischen und sozialen Systemen lie­ße sich gar vermuten, dass das ein wichtiges Bezugsproblem des ,Selbstsystem' der Organisation darin liegt, Interferenzen mit den psychischen Systemen ihrer Rollenträger zu antizipieren, und Bearbeitungsformen anzubieten, mittels der

14 Folgerichtig lässt sich dann mitBaeck.cr (2006) auch das Management als "Störung im System" auffassen.

15 Vgl. Brunsson (1989) und Ortmann (2004).

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sich Konflikte und Inkommensurabilitäten neutralisieren lassen. Die Frage hie­ße dann gewissermaßen, durch welche Arrangements es der Organisation gelin­gen kann, zu scheitern ohne scheitern zu müssen (siehe zu ähnlichen Überlegun­gen Knudson in diesem Band).

4. Ein Beispiel: Scheitern in der ,permanently failing' Organisation Krankenhaus

Im Folgenden möchten wir den Sinn und den analytischen Nutzen der hier vorge­legten Überlegungen am Beispiel der "permanently failing orgaoization" Kran­kenhaus" aufzeigen. Entsprechend ihrer Selbstbeschreibung sind Krankenhäu­ser ,zweckorientierte Hierarchien', die der Diagnose uud Therapie sowie Pflege von Menschen mit einer schweren Erkrankung dienen. Jedes Scheitern in Bezug auf diesen Zweckauftrag kann aus dieser Bestimmung heraus bestenfalls noch als Ansporn mitgeführt werden, es das nächste Mal besser zu machen. Der Prä­ferenzwert bleibt das mit dem Zweck der Organisation verbundene Erfolgsver­sprechen einer Krankenbehandlung, welche den Gesundheitszustand des behan­delten Patienten bessert oder zumindest ihre Leiden lindert.

Nun scheitern medizinische Behandlungsversuche häufig und entsprechend ist zu erwarten, dass Krankenhäuser nicht umhin kommen, sich in ihrer Praxis darauf einzustellen. Auf Ebene der organisationalen Programme wird dies etwa geleistet, indem die Steuerung der Abläufe an inputorientierten anstelle von oul­pUlorientierten Programmen ausgerichtet wird." Die Krankheit impliziert als An­schluss innerhalb der orgaoisationalen Routinen jetzt ein bestimmtes diagnos­tisches und therapeutisches Handeln, wobei das, was zu tun ist, von dem Erfolg der Maßnahme entkoppelt wird. Kleingliedrig lässt sich jetzt von einer Maßnah­me zur nächsten voranschreiten, ohne dabei den Sinn des Ganzen im Sinne eines nachweisbaren medizinischen Erfolgs evaluieren zu müssen." Man uimmt Kran­ke auf, behandelt sie entsprechend der gewählten Diagnose und entlässt sie dann wieder. Probleme, die auftreten, stellen dieses Prozedere nicht grundsätzlich in Frage, sondern leiten einen weiteren Zyklus ein. Der Patient wird jetzt erneut un-

16 Mcyor und Zucl= (1989). 17 Vgl. Luhmann (2000, S. 26If.). 18 In der Regel würde eine solche Bewertung im Rahmen derüblichcn klinischen Kontexte auch

nicht gelingen, da die medizinischen Sachverhalte einfach zu komplex sind. Deshalb kann dann auch die externe wissenschaftliche Betrachtung im Rahmen der evidence based medicine zu dem verstörenden Schluss kommen, dass bislang für die Mehrzahl der medizinisch angewendeten Prozeduren noch keine wissenschaftliche Evidenz im Sinne der harten Parameter Mortalität oder Morbidität festgestellt worden ist (vgl. Vogd 2002).

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tersucht und behandelt. Nach wiederholten Zyklen wird man ihn jetzt vielleicht als chronischen Fall betrachten, der zwar nicht mehr zu heilen ist, dann aber den­noch regelmäßig einer medizinischen Behandlung bedarf. Der Zweck der Maß­nahme wird dann gegebenenfalls voo Heilung auf Linderung abgeschwächt, die medizinische Selbstbeschreibung, dass es bei der Behandlung um das Wohle des Patienten gehe, bleibt dabei aber trotzdem bestehen. Auch hier mag der wirkli­che Behandlungserfolg fraglich sein, aber dies stellt nicht die Selbstbeschreibung der organisierten Krankenbehandlung in Frage, denn diese richtet sich ja nicht am Output aus, sondern an den durch das Diagnose-Therapie-Schema gegebe­nen Input-Programmen. Entsprechende Kooditionierungen in der einschlägigen Berufssozialisation, Routinisierung und Ritualisierung der Behandlungsprozes­se sowie eine institutionalisierte Distanz zum Patienten, welche diesen nicht in ,Gänze' sehen lässt, tragen an sich schon dazu bei, dass Patienten, Ärzte und Pfle­gekräfte in der Regel mitspielen.

Nun gibt es aber klinische Bereiche, man denke etwa an die Onkologie oder die Psychosomatik, in denen das Scheitern der Behandlungsversuche in einer solch prägnanten Weise evident wird, dass die Selbstbeschreibung der medizinischen Einrichtung bedroht ist. Kommunikativ mag es jetzt zwar weiterhin um Behand­lung gehen, aber für die psychischen Systeme rückt jetzt die sinnliche Präsenz des Misserfolgs so stark in den Vordergrund, dass sie unhintergehbar wird. Eine Re­paraturarbeit, die darauf abzielt, den offensichtlichen Makel aktiv auszublenden wird jetzt immer schwieriger. Damit ist aber auch das Selbstsystem der Organi­sation bedroht, denn die psychisch erlebten Diskrepanzen drohen jetzt kommu­nikativ durchzubrechen und gefährden damit die organisierte Krankenbehand­lung selbst, denn wenn allzu dentlieh wird, dass die Behandlung nichts bringt, dann steht auch der Zweckauftrag der Krankenbehandlung und damit die Selbst­beschreibung des Krankenhauses in Frage.

In organisatorischen Einheiten, die durch solche Prozesse bedroht sind, las­sen sich vielfach eine besondere Art von kommunikativen Praxen beobachten, die Erfahrungen des Scheiterns als Ausgangs- wie auch als Zielpunkt organisa­tiooseigener Operationen werden lässt. Wir begegnen hier einer Reihe institutio­nalisierter Formen, die hier gleichsam eine Identitätsarbeit leisten. Etwa in Form von Supervision, Teambesprechungen und Leitbildarbeit können Spezialseman­tiken zur Verfügung gestellt werden, um die Erfahrungen chronischen Scheiterns in den Aufbau stabiler organisationaler Eigenwerte münden zu lassen. Auf diese Weise lässt sich dann die Erfahrung von Scheitern in einer Form bearbeiten und integrieren, ohne dabei die Organisation selbst zu gefahrden.

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Schauen wir auf das Beispiel einer Abteilungsbesprechung einer onkologi­schen Abteilung eines Universitätsklinikums:

Nach der Klärung einiger organisatorischer Dinge fragt der Chefarzt, ob es letzte Woche Todesf"älle oder schwierige Therapieentscheidungen auf den Stati­onen gegeben habe. Der Professor lässt dabei seinen Blick in die Runde schwei­fen. Ein Oberarzt erklärt, dass es zurzeit zwei Patienten mit einer Transplantat­niere gebe. Bei dem einen habe man eine Antikörpertherapie versucht, die leider nicht angeschlagen habe. Die Ärztin im Praktikum ergänzt zu dem anderen Pa­tienten, dass dieser 42 Jahre alt sei und mittlerweile Lebermetastasen habe. Der Oberarzt ergänzt weitere Details zur Therapie. Daraufhin antwortet der Chef­arzt, dass man solche Fälle kaum behandeln könne, schließlich kämen ja noch die Komplikationen durch die Infektionen hinzu. Der Oberarzt schlägt vor, noch ein Medikament zu probieren, das die Gef"äßbildung innerhalb des Tumorgewe­bes blockiert. Der Chefarzt erwidert, dass man dies auch noch probieren könne, und spricht daraufhin den Stationsarzt der Nachbarstation an. Der Assistent er­zählt, dass er zurzeit eine Patientin behandele, bei der der Tumor schon das Ge­sicht und einen Teil der Zunge zerstört habe. Der Chefarzt bemerkt hierzu, dass es sich hier jetzt um wirklich schwierige Fälle handele, die die ganze Kraft der Stationsärzte aufzehren würden. Entsprechend müsse man sich jetzt gegenseitig stützen, denn schließlich würden die Kollegen eine hohe Verantwortung tragen!'

Die Ärzte einer onkologischen Klinik orientieren sich an der Behandlung von Krankheit und nicht am Scheitern der Behandlung. Erklärtes Ziel der High­Tech-Veranstaltung der Universitätsmedizin bleibt immer der Versuch zu heilen, zumindest jedoch noch ein wenig mehr an Lebenszeit herauszuholen. Die Ärz­te müssen jedoch in ihrer Lebenswelt hautnah erfahren, dass man therapeotisch oft nicht weiterkommt und oftmals gezwungen ist, den grausamen Zerfall eige­ner Patienten hilflos mit anzuschauen. Für den Funktionsvollzug des ,Systems Krankenhaus' stellt diese ernüchternde Realität kein Problem dar, denn man ori­entiert sich an der Behandlung von Krankheit und nicht an der Erzeogung von Gesundheit. 20 Konterfaktisch zu den von ihren Akteuren erlebten ernüchternden Realitäten fordert das System Krankenhaus auch im Angesicht von hoffnungs­losen Fällen weiterzumachen und sich dabei nicht durch die eigenen Paradoxien lähmen zu lassen - nämlich zu fragen, ob es überhaupt noch gesund ist, in die­ser oder jener Form die Krankenbehandlungen durchzuführen. Für die Akteure

19 Aus Vogd (2004, S. 259f.), dort auch mit ausführlichen Beobachtungsprotok.ollen. 20 In der Hinsicht auf den Funktionsvollzug der Krankenbehandlung unterscheidet sich die mo­

derne Medizin nur unwesentlich von den vormodernen, aus heutiger Sicht skurrilen Versuchen der Krankenbehandlung (z. B. Aderlass und Quecksilbertherapie). denn auch hier bildet die Krankheit das Anschlusskriterium für den Heilversuch und nicht der Erfolg.

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des medizinischen Systems mussjedoch angesichts der allzu deutlichen Grenzen mancher Therapieversuche die Systemreferenz ständig reaktualisiert werden, denn der erlebte Widerspruch zwischen den sichtbaren und erlebbaren Grenzen des ei­genen Handelns und dem medizinischen Therapieanspruch - der ja schließlich die Legitimation ärztlicher Arbeit darstellt - darf nicht zu lähmenden Zweifeln f"Uhren. Um als Organisation handlungsf"lihig bleiben zu können, müssen diesbe­zügliche ,Depressionen' und Durchbrüche des ,Zweifels' innersystemisch neu­tralisiert werden.

In der Abteilungsbesprechung geschieht dies hier, indem das Scheitern ri­tuell thematisiert wird. Die Frage des Chefarztes nach den Todesf"ällen auf der Station würdigt scheinbar dieses Problem, schließt jedoch gleichzeitig den kriti­schen Diskurs, indem die Haltung vermittelt wird, die Dinge einfach anzuneh­men, ohne weiter nach dem Sinn der Arbeit zu fragen. Die schwierigen Fälle mit der Transplantatniere werden zwar als schwer zu behandelnde Fälle gewürdigt. Die Behandlung selber steht dabei jedoch nicht in Frage.2l Selbst der entstellen­de hässliche Zerfall einer Patienten gibt hier keinesfalls Raum für Verzweiflung, Depression oder Trauer, sondern wird in den Rahmen einer ärztlichen Verant­wortung gestellt, die nun sogar besonders hoch erscheint und deshalb auf mehre­re Schultern zu verteilen ist. Das hier eracheinende Paradoxon, dass die Verant­wortung der Ärzte im Falle der offensichtlichen Machtlosigkeit hier als besonders hoch erscheint, lässt sich nur so deuten, dass nicht mehr das Leben der Patien­tin verhandelt wird - ihr weiteres Sterben ist unaufhaltbar -, sondern noch viel schlimmer: Die ärztliche Identität selber steht auf dem Spiel, denn es droht die Gefahr, dass im Angesicht solch dramatischer Fälle die Ärzte den Glauben an ih­ren Funktionsvollzug verlieren. Erst unter dieser Voraussetzung bekommt die pa­radoxe Thematisierung der Verantwortung eine wichtige Funktion, nämlich als ein Ritual, das allen Anwesenden demonstriert, dass, egal was mit den Patienten passiert, die Arbeit im Krankenhaus Sinn hat, und entsprechend dem State 01 the Art der jeweiligen Institution weiter vorgegangen werden kann. Hierin und nicht in der Verantwortlichkeit für den Patienten liegt die hohe Verantwortung, welche der Chefarzt einfordert. Die Rede zielt darauf ab, weiterhin die Rolle des Arztes

21 Diesbezügliche Infragestellungen sind nur außerhalb des MedizinsystemB möglich. Hier können sich die Dinge dann durchaus so darstellen, dass viele multimorbide Patienten nichts anderes als Behandlungsartefakte einer High-Tech-Medizin darstellen, die zwar die Grenze des Todes geschickt raus schieben kann, jedoch nur um den Preis, neues Leiden zu erzeugen. Gerade die Transplantationsmedizin erzeugt eine Vielzahl von medizinischen Folgeproblemen. Durch die immunsuppressiven Mittel, die ein Fremdorganempianger einnehmen muss, werden zusätzliche Krebserkrankungen, aber auch Infektionen geradezu provoziert

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als heilenden Helfers beizubehalten, wenngleich auf Ebene der Wahrnehmung der beteiligten psychischen Systeme offensichtlich das Gegenteil der Fall ist.

Obwohl die Diskrepanz den Ärzten ins Bewusstsein dringt, sind nicht nur auf Seiten des Patienten, sondern gerade auch fiir die Ärzte die "Bewusstheitskontexte"" geschlossen zu halten, denn ansonsten wäre die soziale Identität der Organisation Krankhaus gef"ährdet. Da der Zweckauftrag des Krankeuhausauftrags nicht mehr erfüllt werden kann, ist hier kommunikative Reparaturarbeit zu leisten. Die Dis­krepanz zwischen IST und SOLL, zwischen Selbstbild der Organisation und voll­zogener organisationaler Wirklichkeit wird hier kommunikativ überbrückt, iudem ein Rahmen generiert wird, der die beteiligten psychischen Systeme dazu hringt, das offensichtlich Wahrnehmbare nicht auch zugleich kommunikativ zur Geltung zu bringen. In dieser Weise ,nicht-zu-sehen' will gelernt seiu. Entsprechend ist es daon auch die Aufgabe der erfahrenen Chef- oder Oberärzte, diese Sinnarrange­ments zu entfalten und kommunikativ zu stabilisieren, damit die weniger erfah­renen Ärzte weiterhin mitspielen23 und sich das Scheitern der Krankenbehand­lung nicht zu einem Scheitern der Organisation Krankeuhaus entfalten kann."

An dieser Stelle ist zu betonen, dass nicht nur die Ärzte einer onkologischen Abteilung regelmäßig damit konfrontiert werden, dass ihre Versuche, eine Hei­lung herbeizuf"ühren, nicht zum Erfolg führen. Das oftrnalige Scheitern der Be­handlungsversuche stellt gewissermaßen eiu Spezifikum jeglicher medizinischer Arbeit dar und verlangt deshalb auch in anderen medizinischen Organisationen nach einer iunersystemischen Verarbeitung, welche die Diskrepanzen zugleich aufgreift, wie anschließend wieder kommunikativ abblendet. Die Organisation bearbeitet hier also kommunikativ die Tatsache, dass ihre Mitglieder als psychi­sche Systeme das Scheitern der Zweckbestimmung des Krankenhauses beobach­ten und entsprechende Reparaturarbeiten herausfordern, welche die Diskrepan­zen kompensieren.

Schauen wir zur Verdeutlichung diesbezüglicher Dynamiken auf das Bei­spiel einer Abteilungsbesprechung, die in einer psychosomatischen Abteilung protokolliert wurde:

22 Glaser und Strauss (1974). 23 Der Patient selbst kommt mit seinen Lebcns- und TodesWÜDschen - Vorstellungen, wie ent­

sprechend seiner Bedürfnisse die Sache zu laufen habe - in dieser und anderen beobachteten ,Verhandlungen' in den Abteilungsbesprechungen in der Regel nicht vor. Verhandelt werden bestenfalls abstrakte Patientenstereotype. Der ,wirkliche' Patient - wer immer das auch sei­bleibt draußen vor, braucht kommunikativ nicht eigens adressiert zu werden, gehört - system­theoretisch gesprochen - nur zur Umwelt der ihn behandelnden medizinischen Organisation.

24 Komplizierter werden diese Prozesse heutzutage mit Blick auf die geforderte Einbettung wirtschaftlicher Semantiken, die mit den medizinischen als inkommensurabel erscheinen (vgl. Vogt! 2011).

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Auf einer Teambesprechung der psychosomatischen Station wird der Fall von Frau Thomas, einer Patientin mit autoaggressivem Verhalten, vorgestellt. Nach fast vier Wochen Klinikaufenthalt sollte die Frau eigentlich in den nächsten Tagen ent­lassen werden. Wenige Tage vor dem geplanten Termin wird die Patientin jedoch rückfällig und ritzt sich abends mit einem Messer in den Arm. Üblicherweise wer­den mit den Patienten Vereinbarungen getroffen, dass Selbstverletzungen während der Behandlungszeit zu unterlassen sind. Falls es dann trotzdem geschehe, sei dies als Vertragsbruch zu werten und der jeweilige Patient wäre sofort zu entlassen. In diesem Fall hatte der diensthabende Arzt jedoch der Patientin, nachdem er sie nach dem Vorfall aufgesucht hatte, zunächst versprochen, dass dieses Vergehen noch nicht zu einer Entlassung führen würde, zumal es sich ja auch nur um eine kleine Verletzung handele. Der Oberarzt enährt von dem Vorfall auf der Früh­besprechung und entscheidet, die Patientin sofort zu entlassen. Während der am gleichen Tag stattfindenden Teambesprechung wird der Fall nochmals diskutiert. Der Oberarzt bleibt bei seiner Entscheidung, gesteht aber ein, dass hier auch ein Fehler seitens des Behandlungsteams gemacht worden sei, denn man habe nicht von vornherein klargestellt, dass das ,Schneiden' auf jeden Fall zur Entlassung führe. Dennoch habe es keinen Sinn, jetzt die Patientin weiter zu behandeln, denn ihr Verhalten habe ja auch einen Mitteilungscharakter an das Team. Man würde der Patientin gar nichts Gutes tun, falls man SchuIdge!lihle bekomme und ihren Wünschen Folge leisten würde. Die Konsequenz auf ihr Verhalten müsse nun fol­gen. Unter Umständen wäre es auch sinnvoll, die Patientin in die Psychiatrie zu verlegen. Vorausschauende Therapeuten hätten diesbezüglich schon mal mit den entsprechenden Stationen telefoniert. Nach einer kurzen Gesprächspause fragt eine Einzeltherapeutin nach, was aus Frau Dülling geworden sei. Der Fall dieser Patientin ist allen Beteiligten auf grund eines dramatischen Selbstmordversuchs auf der Station noch tief ins Gedächtnis eingeprägt. Der Oberarzt bemerkt, dass es kein Zufall sei, dass nun der Name dieser Patientin falle, denn auch bei dieser würde sich eine sehr aggressive Gegenübertragung zeigen. Ein Einzeltherapeut bemerkt daraufhin, dass solche Patienten sowieso keine Zukunftsperspektiven hätten. Er habe sich mittlerweile !Ur solche Fälle eine gewisse Gelassenheit an­gewöhnt, auch wenn das jetzt zynisch klingen würde. Ein anderer Arzt ergänzt, dass da wirklich wenig möglich sei. Daraufhin bemerkt eine andere Einzelthera­peutin, dass der behandelnde Therapeut von Frau Thomas doch den Eindruck ge­habt habe, dass in diesem Fall eine positive Entwicklung möglich sei. Hieraufhin fragt der Stationsarzt, ob denn bei dieser Patientin eine weitergehende Perspek­tive überhaupt intendiert gewesen sei. Wie ein Arbeiter, der am Fließband stehen würde und auch nur noch im Zeithoriznnt der Gegenwart leben würde, wäre bei

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Frau Thomas wohl auch keine Fortentwicklung mehr zu erwarten. Der Oberarzt beschließt die Diskussion mit einem Statement, indem er erklärt, dass Patienten sich manchmal in Situationen heilen würden, die man gar nicht mitbekommen würde. Dies geschehe manchmal erst Jahre später. Zwar würde der behandelnde Therapeut den Erfolg nicht als seine Leistung verbuchen können, aber dennoch habe er zunehmend die Hoffnung, dass bei den Patienten, die hier auf der Stati­on gewesen seien, sich irgendwann der Erfolg zeigen würde.2S

In der hier dokumentierten Gesprächssequenz erscheinen unterschiedliche Rahmungen, um die Not des offensichtlichen Scheiterns in eine Tugend zu ver­wandeln: (I) Der Oberarzt bietet zunächst eine therapeutische Rahmung des Ge­schehens an. Das Symptom der Patientin wird hier nicht als Rückfall gedeutet, sondern als Beziehungsphänomen innerhalb der therapeutischen Arbeit gewer­tet - nämlich als Zeichen für den nahenden Abschied. Unter diesem Blickwin­kel erscheint der Rausschmiss aus dem Krankenhaus gar als Therapie, denn man zeigt der Patientin nun, dass dies nicht die richtige Form der Beziehungsgestal­tung sei. Das Gesetz ,nicht umzufallen' schiebt sich hier als Orientierungsrah­men einer therapeutischen Ideologie vor den konkreten Fall, in dessen Behand­lungsrealität paradoxerweise der therapeutische ,Beziehungs' -Vertrag seitens der Therapeuten weder explizit (,das von vornherein Klarstellen') noch konsequent (,das war unser Fehler') gegenüber der Patientin vertreten wurde. Ob die Patien­tin das therapeutische Spiel, was von ihr verlangt wird, wirklich verstanden hat und ob die intendierte ,Therapie' in der Praxis wirklich stattgefunden hat, wird hier weder thematisiert noch verhandelt. Die Intervention des Oberarztes, die Pa­tientin ,pädagogisch-bestrafend' zu entlassen, erfiillt hier seinen Zweck schon in sich selbst. Unabhängig davon, ob die Sache ,real' Erfolg hat, macht es innerhalb der Behandlungsideologie Sinn, so und nicht anders zu handeln. Selbst-immuni­sierend erscheint hier die Not als Tugend. Die Entlassung erscheint nicht mehr als Behandlungsabbruch, sondern als Therapie. Die Evidenz dieser Handlung liegt in sich selbst und braucht nicht einmal mehr im konkreten Kontakt mit der Pati­entin evaluiert werden. (2) In der Diskussion der Stationsärzte und Therapeuten entfaltet sich ein zweiter Orientierungsrahmen, um das Scheitern der Behand­lung im Hinblick auf den Erhalt der eigenen therapeutischen Identität zu reinteg­rieren. Indem der Patientin die Möglichkeit der Fortentwicklungper se abgespro­chen wird, ist das Behandlungsteam von einer diesbezüglichen Verantwortung freigestellt. Ähnlich wie die immer wiederkehrenden Alkoholiker auf den inter-

25 Sieh. ausführlich mit Beobachtungsprotokollen Vogd (2004, S. 26lff.).

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nistischen Ststionen,26 behandelt man diese Patienten zwar entsprechend den auf der Station üblichen Rationalen. Eine weitergehende Auseinandersetzung über das, was ,wirklich' helfen könnte, braucht jedoch nicht mehr geführt zu werden. Das Grunddilemma der therapeutischen Behandlung beschädigter Autonomie, nämlich einerseits davon ausgehen zu müssen, dass der Patient nicht mehr Kapi­tän seiner selbst ist, sondern von der Krankheit gestenert wird, andererseits aber eine gewisse Restautonomie des Patienten benötigt wird (bzw. gestärkt werden muss), damit Therapie überhaupt stattfinden kann, lässt sich durch dieses Argu­ment geschickt zu Lasten des Patienten und zu Gunsten der behandelnden Orga­nisation wenden. Dies geschieht, indem ,nicht wollen' und ,nicht können' mit­einander verschmolzen werden. (3) Der Oberarzt schließlich entfaltet mit dem Hinweis auf den längerfristigen Zeithorizont, in dem die Behandlung einzubet­ten sei, einen dritten Orientierungsrahroen. Das Sinndefizit der aktuellen thera­peutischen Praxis bekommt in der Fiktion einer gelungen Zukunft neuen Sinn. In Opposition zur zynischen Variante, dem Wesen der Patientin das Scheitern zu­zurechnen, formuliert er hier eine Vision, die in ihrer unbegründeten wie auch suggestiven Form (,ich habe zunehmend die Hoffnung') mittels seines Amtscha­rismas zur Geltung gebracht werden kann. Der Oberarzt reformuliert hier gleich­sam den "Bewährungsmythos" (Oevermann 1995) der psychosomatischen Ab­teilung: Psychotherapie ist per se hilfreich. Die ideelle Identität der kollektiven Praxis - das Selbst der Abteilung - ist nun wiederhergestellt. Dies geschieht hier in der paradoxen Form eines Heilsversprechens, das im Angesicht einer unbe­kannten Zukunft und dem offensichtlichen Gefühl der Sinnlosigkeit des aktuel­len Handelns erneuert wird.

Team- und Abteilungsbesprechungen dienen immer auch der Reformulie­rung und Restabilisierung der jeweiligen Organisationsidentität." Dies geschieht,

26 Wie beobachtet, werden dekompensierte Alkoholiker auf der internistischen Station zwar ent­sprechend der ärztlichen Kunst wieder hochgepäppelt. Wenn man dann aber die Stationsärzte fragt, warum man denn jetzt nicht den Sozialdienst einschalte oder versuche, einen Entzug anzuleiern, dann hört man in der Regel Begründungen wie: ,Das hat bei dem. keinen Sinn' oder ,die Initiative muss jetzt von dem Patienten selbst kommen'. Unabhängig davon, dass solche Einschätzungen im Sinne des immanenten Sinngehaltes klinisch plausibel sein können, lässt sich hier ein Orienticrungsrahmen feststellen, der die stationsüblichen Modi der Behandlung trotz offensichtlicher Grenzen legitimiert.

27 In diesem. Sinne scheint es hilfreich, auch das Geschehen innerhalb von Supervisionsgruppen gegen den Strich zu lesen. Während das selbst erklärte Ziel dieser Veranstaltungen in der Spiegelung und damit Verbesserung der therapeutischen Arbeit liegt, kann ein äußerer Beob­achter feststellen, dass auch hier oftmals nicht die Behandlung des Patienten im Vordergrund steht, sondern die Behandlung des Behandlungssystems, dessen professionelle Ideologie und Identität im Angesicht der eigenen Grenzen und Möglichkeiten wiederhergestellt werden muss. Zur Verdeutlichung eine kurze Sequenz aus einer Supervisionssitzung:

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indem Zweifel integriert werden und Problemen Faktoren zugerechnet werden, die außerhalb der eigenen Handlungsmöglichkeiten liegen. Funktionell erschei­nen diese Besprechungen weniger als Entscheidungsgremium - wenngleich sie diese Funktion auch manchmal erfiillen - denn als Raum, in dem die Leitunter­scheidungen der jeweiligen Organisation, ihre Programme - wenn man so will: ihre Fortschritts- und Bewährungsmythen - aktualisiert werden.

Solche Muster der Neurahmung der Erfahrung des Scheiterns - die aktuell erlebte Sinnlosigkeit des Handeins erscheint als potentieller Nutzen in der Zu­kunft - findet sich in Variationen in allen medizinischen Abteilungen und Diszi­plinen. Beispielsweise unterliegt Universitätsmedizin per se einem starken Zu­kunftsmythos, denn aktuelles Scheitern kann mit dem Verweis auf die Forschung und den zu erwartenden medizinischen Fortschritt legitimiert werden, an dem man ja schließlich mitarbeite. In ähnlichem Sinne zeigt auch Wet!reck auf, dass Obduktionen bei verstorbenen Patienten auch als ein Ritual verstanden werden können, den individuellen Tod - vielleicht sogar durch einen Kunstfehler herbei­gerührt - in ein überindividuelles Lernen zu verwandeln, das zukünftigen Hei­lungen dient. 28 Diesbezügliche und funktionell äqnivalente Rahmungen zu ins­tallieren und aufrechtzuerhalten, scheint angesichts der Konfrontation mit den hohen Misserfolgen in medizinischen Organisationen nicht nur fiir die Akteu­re wichtig, sondern wird zur unumgänglichen programmatischen Voraussetzung medizinischer Institutionen. Die tragende professionelle Ideologie stellt sowohl fiir die Psyche der beteiligten Organisationsmitglieder als auch fiir das organi­sationale Selbst eine unhintergehbare Semantik dar. Diese immerfort zu stabili­sieren wird angesichts der Vielzahl unvermeidlicher Krisen zur unverzichtbaren Voraussetzung, um den reibungslosen Ablauf der Organisation Krankenhaus ge­währleisten zu können und um dafiir zu sorgen, dass die beteiligten Psychen dabei

Der Fall einer 49-jährigcn jugoslawischcn Paticntin wurde vorgestellt. Die Frau wurde vor kurzem aufgrund eines Trägerwechsels ihres Arbeitgebers arbeitslos und scheint zudem noch regelmäßig von ihrem Freund misshandelt zu werden: Einzeltherapeutin: Sie ist eigentlich sehr bedürftig [ ... ] ist dann auch keine Lösung, wenn sie sich von ihrem Freund trennt. Dann hat sie niemanden mehr. Der besucht sie mindestens [ ... ]

Supervisorin: Das mit den Schwierigkeiten ... dass sie keine Chance mit der Arbeit hat [ ... ] das muss doch erst mal verdaut werden [ .. ] das kann man dann auch nicht hier in 4 bis 6 Wochen klären [ ... ] und dann ist noch die Frage, was macht man mit der Therapieerfahrung [ ... ] Beziehungen klären, das ist ja die einzige Aufgabe, die Psychotherapie leisten kann [ ... ] sonst wäre es Sozialarbeit.

Therapeutin: [ ... ] und dann ins Frauenhaus? [ ... ] mit der Sozialarbeiterin reden?

Supervisorin: [ ... ] Psychotherapie kann nur die Voraussetzungen klären, sich zu entschließen, dort hingehen zu können [ ... ]jetzt ist die Zeit aber zu Ende [ ... ] bis zum nächsten Mal.

28 Wettreck (1999, S. 96f.).

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mitspielen. Die hierdurch geleisteten Reparaturleistungen reagieren sowohl auf Probleme des psychischen Selbst (wie hält man die Diskrepanzen aus) als auch des organisationalen Selbst (indem dafür gesorgt wird, dass der Zweckauftrag vor Dekonstruktion durch zu viel Zweifel geschützt wird).

5. Transfer: Organisationales Selbst als institutionalisiertes Scheitern

Die vorliegende Studie beruht auf der Idee, sowohl für die Psyche wie auch !Iir die Organisation zwischen System und Selbstsystem zu unterscheiden. Auf die­se Weise rückt die Aufmerksamkeit sowohl auf die Verschränkungen zwischen diesen Ebenen als auch auf die Spannungslagen, die sich aus den unterschiedli­chen EigenIogiken der jeweiligen Prozesse ergeben. In Hinblick auf die struk­turelle Dynamik von Scheitern und Scheiternsbearbeitung wird dabei von einer wirklichen Homologie zwischen Organisation und Individuum ausgegangen, nur dass sich dann die jeweiligen System-Umweltverhältnisse für beide gleichsam umgekehrt darstellen. Das jeweils Fremde muss in Hinblick auf die eigene Iden­tität mitreflektiert werden - auch wenn es prinzipiell nicht zugänglich ist. In die­sem Sinne ist dann auch klar, dass für eine solche Verschränkung sozialer und psychischer Identitäten nur Systeme in Frage kommen, die personalisierbar sind, also eine kommunikative Adresse darstellen, und dies sind eben aus systemtheo­retischer Perspektive nur Organisationen und Personen.

Wir haben nun sowohl auf psychischer wie auch organisationaler Ebene mit Identitäten zu rechnen, die nicht mit sich selbst im Einklang sind und die sich ge­genseitig in Hinblick auf die hiermit aufscheinenden Diskrepanzen beobachten können. Das Offenbarwerden der Diskrepanzen treibt wiederum die jeweiligen Systeme dazu an, ihre beschädigten sozialen Identitäten zu reparieren. Was ge­schieht, wenn reparieren nicht möglich ist bzw. erscheint?

Modeme Individuen und modeme Organisationen verzahnen sich hiermit in einer Weise, welche für beide sowohl das Scheitern der Identität als auch die hieran anschließende Reparatur des Images zu Regel werden lassen. Die kreuz­weise verschränkte Beziehung zwischen Selbst und Selbstsystem generiert jene normative Status, an denen der Prozess immerfort scheitern muss, um dieses Scheitern anschließend wieder kompensieren zu müssen, indem die jeweiligen sozialen Identitäten durch kommunikative Arbeit wieder hergestellt werden. Die Ansprüche des jeweiligen Selbstsysterns aufzugeben, gelingt dabei in der Regel urnso weniger, je größer die Diskrepanz ist, welche zu reparieren sind. In Hin­blick auf die strukturelle Homologie zwischen psychischen und sozialen Syste-

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men sind damit also nicht nur das Ego, sondern auch das organisationale Selbst unentrinnbar in ihren selbstgenerierten Fiktionen gefangen.

Die vorangehenden Beispiele aus dem Krankenhaus lassen dentlich werden, dass der hier vorgestellte analytische Rahmen eine Erklärungskraft entfaltet, um besser verstehen zu können, welche Mechaniamen Organisationen hervorbrin­gen, um ihr Scheitern bewältigen zu können. Die grundlegenden Muster der hier herausgearbeiteten Dynamiken sind daher durchaus auf andere Typen der Orga­nisation übertragbar, denn auch hier stellt sich das Problem, wie das Scheitern in Hinblick auf die normative Diskrepanz zwischen Organisation und Selbstsystem wieder repariert werden kann.

Die verallgemeinerte Selbstbeschreibung einer Organisation besteht dar­in, dass sie eine zweckrationale Hierarchie ist, die dem Zweck dient, zu dem die Organisation gegründet wurde. Die Realität von Organisationen spottet dieser Selbstschreibung vielfach. Unterschiedliche Systemrationalitäten karikieren den vermeintlichen Auftrag von Einrichtungen oftmals ins Unkenntliche. Mitglie­dern von Organisationen fällt es in der Regel leicht, sobald gefragt, in Form von Erzählungen eine Vielzahl diesbezüglicher Leidensgeschichten zu formulieren, die sie im Kontext ihrer Arbeit erlebt und leiblich gerUhIt haben." All die hier aufscheinenden Diskrepanzen suspendieren jedoch üblicherweise weder die Be­dentung von Organisationen, noch stellen sie die Selbstbeschreibungen von Or­ganisationen in Frage. Dass dies der Fall ist, erscheint bei näherer soziologischer Betrachtung keineswegs selbstverständlich, sondern beruht darauf, dass gerade auch auf Ebene der Organisation ständig Reparaturarbeit geleistet wird, um die beschädigte Identität von Organisationen zu kompensieren.

Brunnsons "Mechaniams of Hupe" (2006), welche allesamt darauf ausge­richtet sind die Illusion der rationalen Organisation wiederherzustellen, wären dann gerade deshalb so schwer zu überwinden, weil sie das Selbst der Organi­sation berühren.

Auch unsere modemen Organisationen haben sich längst schon darauf ein­gestellt, permanent an den Ansprüchen zu scheitern, die sie selbst verkörpern. Zugleich gilt aber auch für sie, dass sie nicht darin zu Ruhe kommen können, ihr Scheitern einfach zu akzeptieren. Auch sie köonen aufIdentitätsarbeit nicht ver­zichten. Denn was wäre das rlir eine Organisation, die durch ihr Management nicht die Fiktion aufrechterhalten kann, dass sie ihren Zweck erfüllt? Was wäre das für ein Management, welches nicht die Illusion aufrechterhalten kann, durch

29 Aus phänomenologischer Perspektive sind Selbstprobleme immer auch leiblich gefühlte Dis­krepanzen (vgl. Zahavi 2008).

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Führung die Diskrepanz zwischen organisationaler Realität und organisationa­lem Selbstsystem verbessern zu können?

All dies muss heutzutage jedoch unter den Bedingungen einer polykontex­tualen Gesellschaft bedacht werden, in der das Selbst - sei es personal oder or­ganisatorisch gedacht - seinerseits nochmals in unterschiedliche Werthorizon­te zergliedert ist. Anders als in Ortmanns Konzeption des ,Driftens' kommt hier der Beobachter mit ins Spiel (siehe den Beitrag in diesem Band). Das modeme Selbst muss jetzt auch noch damit zurechtkommen, dass es nicht einmal mit sich selbst identisch sein kann - gleichzeitig jedoch nicht die an es gestellten Kohä­renzansprüche und damit auch die Problematik des Scheiterns aufgehoben sind.

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