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Über einseitige congenitale Lungenatrophie

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Page 1: Über einseitige congenitale Lungenatrophie

Ober einseitige congenitale Lungenatrophie. Von

Dr. Oskar ~Ieyer, ehemalig. Assistenzarzt a. d. inner. Abt. d. stgdt. Krankenhauses in Stettin~

je tz igem Prosektor am Dr. S~:~CKE.~B~:ltGischen patholog.-anatom. Ins t i tu t in Frankfurt a. M.

Aus der inneren Abteilung des sti~dtischen Krankenhauses in Stettin (Direktor: Prof. Dr. E. ~ T E I S S E R ) .

Mit Tafel IX.

Eingegangen am 30. Januar 1910.

Wenn auch fUr den pathologischen Anatomen und den Kliniker der Befund einer einseitig congenitalen Atrophic der Lunge bei Kindern auf dem Sektionstiseh ein nicht gar zu seltenes Ereignis darstellt, so gehSrt doch die Diagnose einer einseitig congenitalen Lungenatrophie beim Lebenden, insbesondere beim Erwachsenen, we- nigstens heute noch zu den Seltenheiten. Im Kreise der Anatomen und tier dem praktischen klinischen Betrieb ferner stehenden Natur- forseher dUrfte es vielleicht sogar noch wenig bekannt sein, dal3 der- artige Beobachtungen sehon mehrfach vorliegen. Und doeh bieten sis ein geradezu klassisches Beispiel der funktionellen Anpassung. Aus diesem Grunde sei es mir gestattet, einen derartigen Fall, den ich auf der inneren Abteilung des stiidtisehen Krankenhauses in Stettin zu beobachten Gelegenheit hatte, hier mitzuteilen und einige Betrachtungen daran anzuknUpfen. Fiir dis freundliehe Uberlassung des Falles mSehte ich gleich an dieser Stelle meinem verehrten frUheren Chef, Herrn Professor NEISSER, meinen verbindlichsten Dank aussprechen.

Es handelte sich am einen 27 Jahre alten Bahnschaffner, der am 4. Juni 1909 das Krankenhaus aufsuchte, weil er seit etwa 3 Wochen h~iufig morgens an Erbrechen litt. Das Erbrechen schildert er so. dal3 ohne vorausgehende Ubelkeit, etwa eine halbe Stunde nach eingenommenem gewohntem Friihkaffee, plStzlich ein

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kurzes Erbrechen der genossenen Speise erfolgt, worauf wieder vollkommenes Wohlbefinden eintritt. W:s des iibrigen Tages ffihlt er sich vollkommen wolff, kann alle Speisen vertragen und hat nie fiber Schmerzen zu klagen. Er fiihlt sich auch nicht in seiner Arbeitsf:~ihigkeit beeintr~chtigt, mSchte nur von dem l~stigen zeitweiligen morgendlichen Erbrechen befreit werden. Alkohol- abusus wird energisch negiert ; der Mann macht auch einen durchaus glaub- wiirdigen Eindruck und bietet l~einerlei Zeichen eines Potators. An Atemnot will er nie geli t ten haben, ebensowenig an tterzklopfen. Er will stets gesund gewesen sein und hat auch in seiner Kindheit nie an Husten gelitten, stammt yon gesunden Eltern und hat 6 gesunde Geschwister. Soldat ist er nicht gewesen, (4riinde sind ihm nicht bekannt.

War diese Anamnese schon sehr auffallend, so war es der objektive Befund noch mehr.

Zun~chst sei vorausgeschickt, dal~ es sich um einen mittelgro~en, m~13ig kr~iftig gebauten Mann handelte, yon durchaus gesundem Aussehen und gut entwickeltem Thorax, an dem bei :,~ni~erem Aspekt nichts Auff~illiges zu erkennen war.

Die Magenunte rsuchung mit den fiblichen Methoden nach Verabreichung eines Probefrfihstticks und einer Probemahlzeit lieferte einen vollkommen normalen Befund. Nur die Magendurchleuchtung mit Riintgenstrahlen deckte eine etwas auff~llige Ver~nderung der Magenentfaltung bei der Anftillnng mit Wismutbrei auf, die yon Herrn 0berarzt Bas an andrer Stelle n~iher gewiirdigt ist.

Bei der Untersuchnng der Brustorgane war das auff~lligste Symptom zu- n:~chst eine hochgradige Verlagerung des Herzspitzenstoges nach links. Er war am deutlichsten fiihlbar in der m i t t l e r e n A x i l l a r l i n i e . Die Perkussion des Herzens ergab einen Diimpfungsbezirk, der yon der Mammilla nach links bis zur mittleren Axillarlinie reichte und sich nach oben zu bogenf(irmig nach links verschmi~lerte.

Bei der Auskultation waren tiberall vollkommen reine T6ne zu hSren. Der Puls war mittelkr~iftig, volt und regelm~gig, und hatte eine Frequenz von 80 Schliigen in der Minute. Diese Normalfrequenz stellte sich auch bald wieder innerhalb einiger Minuten ein, nachdem man den Patienten 10mal schnell auf einen Stuhl hatte steigeu lassen. Die Perkussion der Brust ergab weiterhin vorn iiberall normalen Lungenschall, mit Ausnahme der linken Supraclavicular- grube, wo leichte Diimpfung war. Die untere rechte Lungengrenze reichte vorn his zum unteren Rande der 7. Rippe und war gut verschieblich. Also auch auf der linken Seite vorn war heller Lungenschall, mit Ansnahme der erw:~ihnten Herzd~impfung und der linken Supraelaviculargrube. Hinten links war komplette D~impfung mit Ausnahme einer 21/2 Finger breiten Zone direkt neben der Wirbel- s~iule yon der 6. Rippe nach abw~rts bis znr 12. Rippe. Die Auskultation ergab fiber der ganzen rechten Seite Vesicul~iratmen, ebenfalls in der Fossa supra- und infraspinata links. Weiter unten war vorn links ebenfalls Vesicul~ir- atmen zu hiireu, nur etwas leiser. Dasselbe fund sich auch links hinten, war nur entsprechend der gediimpften Partie sehr leise. Den Riintgenbefund ver- ansehanlicht am besten die beigegebene Photographie (s. Taft IX).

Die oberfl~ichliche Betrachtung des Brustkorbes ergab, wie schon hervor- gehoben wurde, keinen nennenswerten Unterschied zwischen rechter und linker Seite. Bei genauerer Besichtigung hatte man aber doch den Eindruek, als ob die linke Seite um einen geringen Grad flacher als die rechte war. Das Resultat der cyrtometrischen Messung war fotgendes:

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HShe des Proc. xiphoideus . . . . . H(ihe der Brustwarze . . . . . . . . Unter der Achselh~ihle g e m e s s e n . . .

Yon der Wirbels~,ule bis zur mitt leren

Axillarlinie

rechts links

25.5 cm 23 cm 27' - 25 - 29 27 -

Von derMit te des Brust- beins his zur raittlerea

hxillarlinie

rechts links

18 cm 17 cm 18 - 17 18 17

Es ist also danaeh eine, jedoch nur sehr geringe, von oben nach unten zunehmeude Abflaehung der linken Thoraxseite zu konstatieren, die, wie auch in den NEISSERschen Fiillen, auf die ich noch zu sprechea komme, sieh wiederum beschr~inkt auf die Distanz zwischen mittlerer Axillarlinie und Wirbels~ule.

Aaf Grund dieses Befundes und der Anamnese wurde die Diagnose. auf congenitale Aplasie der l inken Lunge gestellt. Das Fehlen einer nennenswerten Thoraxdifformititt, die Verlagerung des Herzens nach

links und das RSntgenbild lassen diese Diagnose als ziemlich ge- sichert erscheinen. Es entspricht dieser Symptomenkomplex auch vollstandig den in der Literatur e rwahnten Fallen dieser Art. Bevor

ich auf die BegrUndung der Diagnose naher eingehe, ist es zweck- maBig, eine kurze Ubersieht tiber die Literatur zu geben.

Auf eine ausfUhrliche Wiedergabe der einschliigigen Literatur kann ieh verzichten, sie finder sieh bei NEISSER 1) and EDENS2), die al tere bei SCHUCHARDT 3) zusammengestellt .

Zunachst sind die yon GRAWITZ 4) zuerst beschriebenen Fiille yon sogenannter c o n g e n i t a l e r B r o n e h i e k t a s i e zue rwahnen . Diese Falle betreffen Individuen der verschiedensten Lebensalter, yore 5monat l iehen FStus an bis zum 38. Lebensjahr. Von ihnen ist be- sonders ein Fall hervorzuheben, der einen Erwachsenen betraf, dessen

rechte Lunge enorm verkleinert war und aus cystisehen, aus ange- borenen Bronchiektasien hervorgegangenen Hohlri~umen bestand. GRAWITZ konstat ier te eine anormale Lappentei lung der Lunge, ab- soluten Pigmentmangel and mikroskopisch das 'Feh len jedes l~arben- gewebes. Daraus sehlieBt er auf den congenitalen Ursprung. Bei den Ubrigen Fallen war die GrSBe der Lunge sehr verschieden. Auf das

t) E. ~ E I S S E R , Uber einseitige Lungenatrophie und tiber angeborene Bronchi- ektasien. Zeitschr. f. kl. Med. Bd. 42. H. 1 u. 2. 1900.

2) E D E N S , Uber atelektatische Bronchiektasie. Deutsch. Archiv f. kl. Med. Bd. 81. 1904.

3) SCHUCI-IARDT, ttochgradige Atrophie der linken Lunge mit compensa- torischer Hypertrophie der rechten. Vmnuows Arch. Bd. 101. 1885.

4) GRAWITZ, (~ber angeborene Bronehiektasie. Vmcaows Arch. Bd. 82. 1880.

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Verhalten des Thorax legt GRAwrrz in seinen Fallen kein Gewicht, da es ibm hauptsachlich auf die anatomischen Veranderungen der Lungen ankommt und den Nachweis des conge~italen Ursprungs derselben. Erwahnt wird nur des 5fteren eine deutliehe kompensatorische Ver- grSf~erung der gesunden Lunge. FUr einen der GI~AWITZSChen Falle (Fall GOTTWALD) wird yon EDENS die MSgliehkeit der Entstehung dcr cystischen Bildung aus einer fehlerhaften Anlage der Lymphge- false erSrtert. GRAwrrz selbst erwahnt nur, dab er den Pigment- mangel in diesem Falle auf eine perverse Anordnung der Lymph- gefiif~e zurUckfUhrt. DaB diese die Ursache der mit den Bronchien kommunizierenden Cysten sein sollen, wird yon ihm nicht diskutiert; ich halte diese MSglichkeit auch fur sehr unwahrscheinlich. Im Ubrigen finder man in der Literatur nur wenige Angaben tiber die Atiologie derartiger Lungenveranderungen. STORCK1), der einige hierhergehSrige Beobachtungen gemaeht hat, laBt die Cysten zum Tell hervorgehen aus congenitalen Bronchiektasien, die aus entztind- lichen Prozessen mit ,Stenosierung oder VerschluB yon Bronchialasten in fStu~ entstanden und durch Secretretentionen weiterhin eine cystische Erweiterung erfahren haben. In andern Fallen nimmt er an, ,dab die Ursache gelegen ist in einer excessiven Wucherung des Bronchial- baumes mit Beibehaltung des fStalen Charakters.

Bei einer andern Gruppe yon Fallen ist teils ein vollkommenes Fehlen einer Lunge notiert, an deren Stelle in der PleurahShle ent- weder FlUssigkeit oder gallertartige Massen (z. B. in einem yon 1)O.NFICK beschriebenen Falle) sich bcfinden, teils wird erw~hnt, dab sich an Stelle der Lunge ein kleines~ apfelgroBes fleischiges Ge- bilde neben der Wirbelsaule fand. Eine genauere mikroskopisehe Beschreibung fehlt meistens. In einigen Fallen endigte der Bronchus blind, Lungengewebe fehlte ganz, in einem Falle (KLEBS) war eine Kommunikation zwischen Oesophagus und Trachea vor- handen und eine AusstUlpung des Oesophagus endigte in einem hasel- nuBgroBen KSrper, der als rudimentare Lungenanlage angesprochen wurde. Diese Falle werden meist unter dem Titel c o n g e n i t a l e L u n g e n a p l a s i e aufgeftihrt. Von KLEBS 2) ist ein Versueh unter- nommen, eine entwicklungsmechanische Erkliirung fiir die primate Aplasie bzw. Hypoplasie einer Lunge zu geben. Es sei gleich er- wiihnt~ dal] diescr Vcrsuch als gescheitert anzusehen ist, da sich die

l) STORCK, Wiener klinische Wochenschrift. 1897. 2) Zitiert nach EDn~S, da Inir das Original nicht zug~nglich war.

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Voraussetzung, auf welche er basierte, als falsch erwiesen hat. KLEBS nahm niimlich an, dab meistens die rechte Lunge diese Ent- wicklungshemmung aufwiese, und glaubte nun aus der Lage des Fiitus in uter0 und dadurch bedingte erhShte Spannungsverhi~ltnisse der Amnionkapsel auf einer Seite eine Erkli~rung flit das Zurtick- bleiben einer Lunge bei der Entwicklung konstruieren zu kSnnen. Es hat sich jedoch herausgestellt, dab in vielen Fallen auch die linke Lunge die gleiche Anomalie aufwies.

Man findet nun weiter in der Literatur F~ille beschrieben~ in denen Lungenschrumpfung mit Bronehiektasie zurtickgeftihrt wird auf a n g e b o r e n e A t e l e k t a s e bei normal angelegter Lunge. Eine genauere Kenntnis dieser Verh~tltnisse verdanken wit in erster Linie HELLERt). Ich will auf die Einzelheiten des anatomischen Befundes dieser F~tlle nicht n~her eingehen, auch nicht auf die verschiedenen An- sichten, die flit die Entstehung derartiger Bildungen existieren. Eine irgendwie befriedigende Erklarung existiert bisher nicht. Erw~hnt sei, dab hier die Bronchiektasien meist mehr diffus sind und nicht so hochgradig wie in den Gr,.AWITzsehen F~llen, wo gewShnlieh eine ganze Lunge vollkommen cystisch degeneriert ist.

Es erUbrigt noch, auf die Fi~lle einzugehen, wo die Schrump- fung einer Lunge dureh krankhafte Prozesse in den ersten Lebens- jahren entstanden ist. Sie sind natUrlich bei weitem hi~ufiger als die schon erwlihnten. Man findct meist in den Anamnese ange- geben fieberhafte Erkrankungen in den ersten Lebensjahren mit li~nger dauernden Hustenattacken~ chronischer Bronchitis usw. In diesen Fiillen sind anatomisch sp~ter die Residuen der Entztindung in der Lunge oder im Verlauf eines Bronchus fast immer nachzu- weisen, so dab sie sich yon den andern Gruppen abtrennen lassen. Fiille, in denen die Lungenschrumpfung in den ersten Lebensjahren dutch entzUndliche Prozesse zustande gekommen ist~ sind nun ver- schiedentlieh beschrieben, unter andern yon SCHUCHARDT 2) und FRANCKE3). Der FRASCKEsche Fall ist besonders bemerkenswert wegen der eigentUmlichen Thoraxgestaltung, die ausftihrlich im Hin- hlick auf den Zusammenhang yon Lungenatrophie und Retr6cissement thoracique besprochen wird. Es geht aus den FRA~Cr:Eschen Aus- fiihrungen hervor, dab eine weitgehende Kompensation mit Vet-

1) HELLER, Deutsch. Arch. f. kl. Med. Bd. 36. 1885. 2) SCHUCHARDT, L c, 3) W. FRA~TCKE, Deutsch. Arch. s kl. Med. Bd. 52. 1894.

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meidung einer stiirkeren Thoraxdifformitat aueh dann eintreten kann, wenn die Lungenschrumpfung erst wahrend des Lebens, abet noch vor abgeschlossenem KSrperwachstum eintritt.

Am schwierigsten ist klinisch sowohl wie anatomisch die Unter- scheidung zu treffen, ob man es mit angeborenen, auf Entwicklungs- stSrungen beruhenden Bronchiektasien oder Bronchiektasien entstanden aus angeborener Atelektase bei sonst normal gebildeten Lungen zu tun hat. Auch in den yon ~EISSER 1) besehriebenen Fallen muB die Diagnose nach dieser Richtung hin often bleiben. In den beiden NsIssnRschen Fallen, die Vater und Sohn betrafen, bestand yon Jugend an Husten, auch waren mehrfach fieberhafte Bronchial- erkrankungen aus der Kindheit bekannt. Der Umstand, dab die Erkrankung sowohl Vater als Sohn betraf, wird mit Reeht als im hSehsten Grade wahrseheinlich ftir angeborene Lungenanomalie sprechend ausgelegt, wahrend sonst die MSglichkeit, dab das Leiden in den ersten Lebensjahren erst entstanden sei, often gelassen werden mtiBte. Der physikalische Befund und RSntgenbefund entsprach fast vollkommen dem yon mir in meinem Falle erhobenen, so dab ich auf eine Wiedergabe desselben verzichten kann. Ein Unterschied ist nur insofern zu konstatieren, und das ist allerdings yon Wichtigkeit, dab tiber den gedi~mpften Partien in den NEISSERsehen Fallen leises fernes Atmen ~mit einigen klingenden und giemenden Gerliuschen, geh~irt wurde~ w~hrend in meinem Fall das Atemgerausch Uberall rein war. Besonders hervorzuheben ist jedoeh, dab eine Thoraxdifformitat in beiden Fallen vollkommen fehlte und die cyrtometrisehe Messung eine ganz geringfUgige Differenz zwischen beiden Seiten, die ganz auf Rechnung der hinteren linken Cireumferenz des Thorax i~,tllt, fest- stellte. Auf die Ausftihrungen, die NEISSER tiber die Beziehungen des Lungenwachstums zum Thorax und das Ausbleiben der Thorax- difformitat bei in frUher Kindheit erworbener bzw. angeborener ein- seitiger Lungenatrophie macht, komme ich noch zurUck.

~Nach dieser kurzen LiteraturUbersicht~ die nur die wesentlichsten fUr meine Zwecke wichtigen Falle berlieksichtigen konnte, kehre ich zu meinem Fall zurUck. Die Anamnese gewahrt uns hier nicht den geringsten Anhaltspunkt fUr ein Entstehen der Lungenschrumpfung wi~hrend des Lebens. Patient hat niemals an Husten gelitten und weiB nichts yon irgend einer Erkrankung wlihrend seiner Kindheit. Da nicht wohl anzunehmen ist, dab eine so hochgradige Schrumpfung

1) 1. c.

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der Lunge, wie sie nach dem Untersuchungsbefund vorliegen muB, symptomlos verlaufen ware, so mtissen wir die Ursachen schon im fStalen Leben suehen. Wenn wir uns an das halten, was yon der- artigen Lungenerkrankungen bekannt ist, und die einzelnen Arten yon angeborenen Lungenanomalien, wie ich sie oben kurz zusammen- gestellt habe, noch einmal im Hinblick auf meinen Fall an unserm Auge vorUberziehen lassen, so hat die meiste Wahrscheinliehkeit ftir sich wohl die Annahme, dab hier eine einfache Aplasie einer Lunge vorliegt, eine rudimentare Entwieklung ohne Bronehiektasien, oder wenigstens ohne wesentliche bronehiektatische Hiihlenbildungen. Denn solche hatten wohl sicher im Laufe der Zeit zu Beschwerden, Aus'wurf, katarrhalisehen Ercheinungen der Luftwege geftihrt. Wenn dem so ist, so ware der Fall jedenfalls zu den grSBten Seltenheiten zu rechnen. Ohne autoptischen Befund, das muB jedoch zugestanden werden, laBt sigh eine sichere Diagnose nicht stellen. Ich begniige reich deshalb damit, zu konstatieren, dab nach dem ganzen klinischen Verhalten, dem physikalischen und RSntgenbefund, die eben ange- fUhrte Diagnose die grSBte Wahrseheinlichkeit fUr sich hat.

Es spricht daFtir ganz besonders, wie schon mehrfach hervorge- hoben ist, das Verhalten des Thorax. Wir haben gesehen, dab der Thorax auf der kranken Seite nur eine ganz geringFtigige Differenz in Umfang und Gestaltung gegenUber der andern Seite aufweist, die in gar keinem Verhaltnis zu dem Lungenbefund steht. Die klinisehe Erfahrung lehrt uns taglieh, es existieren aueh einige experimentelle Beweise daftir, dab eine erhebliehere Sehrumpfung einer Lunge immer kombiniert ist mit einer starkeren Einziehung und Abflaehung des Thorax auf der betreffenden Seite. Die normale Gestaltung des Thorax ist abhangig yon der GrSBe, Gestalt und Ausdehnungsfahig- keit der Lunge. bIimmt diese ab, wird die Lunge dureh irgend- welehe V~randerungen kleiner, so nberwiegt der auBere Luftdruek und bringt den Thorax zum Einsinken. Einen erheblieheren Anteil an solehen Gestaltsveranderungen haben haufig aueh Verwaehsungen tier Pleura mit dem Thorax, indem dureh narbige Schrumpfung der Lunge auf diese Weise der Thorax direkt mit naeh innen gezogen wird. Inwieweit jedoeh derartige Pleuraverwachsungen fur das Ein- sinken des Thorax im einzelnen verantwortlieh gemaeht werden kSnnen, darUber ist eine volle Klarheit noch nieht gesehaffen. So- viel seheint aus der Literatur hervorzugehen, dab in fast allen Fallen, in denen ausgedehnte Sehrumpfung einer Lunge mit Pleuraver- waehsungen bestand, ohne dab der Thorax eine Gestaltsveranderung

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aufwies, die Ursache der Lungenschrumpfung zuriickzudatieren war auf die frUhcste Kindheit oder das f'6tale Leben. Die Ursache des Ausbleibens der Thoraxdifformit~tt wird in diesen Fallen gesacht in der vicariierenden Hypertrophie der gesunden Lunge, die beim jagend- lichen Organismas in viel h(iherem MaBe mSglich ist als beim ~ilteren, und wobei, das wird yon ~]EISSER besonders hervorgehoben, das KSrperwachstum vielleieht das Ausschlaggebende ist. ~EISSER 1) weist darauf hin, ,dab die noch wachsende Lunge in ganz andrer Weise in einer bestimmten Richtung ihres Wachstams beeinfluBt werden kann, als die Lunge, die ihr Waehstum bereits abgesehlossen hat,. In der Tat sind in der Literatur auch einige F~tlle beschrieben, wo bei naehgewiesener eongenitaler MiBbildung einer Lunge die andre Lunge eine erstaunliche Ver~tnderung ihrer Gestalt aufwies. Die Fiille sind ebenfalls yon ~EISSER zitiert, ieh kann mich deshalb darauf beschri~nken, hier nur kurz darauf binzuweisen, daiS man scheinbare Neubildung and AbschnUrung eines ganzen Lungenlappens dabei beobachtet hat, dab diese Bildungen den Platz der fehlenden andern Lunge fast ganz ausfUllten and damit anzweifelhaft das Ent- stehen der Thoraxdifformitlit verhindert hatten. Bei einer fertigen und ausgewaehsenen Lunge dUrffe ein derartiges Verhalten kaum mSglich sein und ist bisher aueh noch nicht besehrieben worden. Die Umbildung und AnpassungsFahigkeit der Lunge des jugendlichen, wachsenden Individuums in der eben geschilderten Weise ist aber auf alle Fiille ein Faetnm yon der grSBten theoretisehen nnd prak- tischen Bedeutung. :Nehmen wir an, dab die ganze Umgestaltung der gesunden Lunge erst post partam mit dem Einsetzen der Atmung sich allm~thlich a u s b i l d e t - m(iglich ware es ja auch, dab dis funktionierende Lunge schon in utero eine abnorme Entwicklang er- fahren hiitte, doch haben wir dafUr gar keinen Anhaltspunkt - - , so mUssen wir uns vorstellen, dab mit der Ausdehnung des Thorax Teile der gesunden Lunge mechanisch in die andre PleurahShle hintiber- gezerrt werden und sich nun allmi~hlich, dem Zuge und Druek folgend, zu abnormer GrSBe and Gestalt entwickeln. Diese Vorstellang ist jedenfalls naeh dem, was wir auch sonst yon der Anpassungsf~thig- keit der Organe wissen, die plausibelste. Wir haben abet dann in diesen Fallen ein Beispiel funktioneller Anpassung eines hoch diffe- renzierten Organs vor uns, wie es in gleicher Deutlichkeit und Klar- heit vielleicht nur noch in der Anpassungsfi~higkeit der Knoehen-

t) 1. c.

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architektur bei geheilten Knochenbrtiehen (Roux) bisher beim Menschen bekannt ist. NEISSER halt es auBerdem fUr sehr wahrscheinlich, wenn er auch den Nachweis dafiir nicht erbringen kann, dab der wachsende Thorax in seiner Gesamtheit sich den verlinderten :Be- dingungen, die dutch das Fehlen oder die mangelhafte Entwicklung einer Lunge gesehaffen sind, anpaBt, insofern, als >~beide Thorax- h~ilften eine, wenn aueh nicht difforme Veri~nderung erleiden~ und daraus ein Zustand resultiert, als h~ttten beide Thoraxhiilften eine mehr oder weniger median gelegene Lunge. Auf die Unklarheit and Meinungsverschiedenheit, die sich bei Betrachtung der congenitalen Lungenatrophien in bezug auf die Bedeutung der Pleuraverwachsungen, die teils vorhanden waren, teils fehlten, fur die Entstehung dcs Retrdeissement thoracique bzw. dessert Fehlen ergeben hat, will ich hier nicht weiter eingehen. Alle diese Fragen sind schon kurz yon NEISSER bertihrt worden. Es geht aus dem Studium der betreffenden Literatur hervor, dab eine Klarstellung dieser Frage yon der Klinik allein nicht zu erwarten ist. Hier muB das Experiment eingreifen, das aueh zum Naehweis der wahren Hypertrophie der Lunge und ihrer Anpassungsfithigkeit in dem oben angegebenen Sinne, wie schon erwi~hnt, nicht zu entbehren ist. Leider fehlen, soweit mir bekannt ist, derartige Experimente bisher, was sich zum Teil wohl aus den nieht unbetr~tchtlichen technischen Schwierigkeiten, mit denen ihre Ausfiihrung verknUpft ist, erkllirt. Ich bin gegenwiirtig mit der- artigen experimentellen Untersuchungen beschifftigt'und behalte mir vor, auf alle diese Fragen spi~ter ausflihrlicher zurUckzukommen. Hier wollte ich nnr die Aufmerksamkeit auf diese, wie ieh wohl nieht ohne Grand annehme, im Kreise der Anatomen und rein ex- perimentellen Forscher nicht allgemein bekannten klinischen Befunde gelenkt haben.

1N'achtrag be i der K o r r e k t u r .

Wie mir dureh Herrn Professor NmSSER mitgeteilt wird, ist im Stettiner Krankenhaus inzwischen noch ein Fall zur Beobachtung ge- kommen, der in den wesentlichsten Punkten mit dem yon mir be- sehriebenen Fall Ubereinstimmt. Es ist wohl anzunehmen, dab kli- nische Beobachtungen yon congenitaler einseitiger Lungenatrophie, wenn erst einmal die Aufmerksamkeit darauf gelenkt ist, sieh mit der Zeit mehren werden.

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Arch& fiir 1D~twicl;lu~gsmecl~am;k. Bd. X X X . To[. IX.

~Ieyer. Verlag yon Wilhelm Engelmann ill Leipzig.