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Soziale Arbeit als Lebenskunstprofession Überlegungen zur ethischen Dimension Sozialer Arbeit Frauke Meyer 1. Einleitung Der nachfolgende Beitrag versucht Antworten auf zwei Fragen zu finden, welche auf das Engste mit der Zukunft Sozialer Arbeit 1 als Profession sowie mit der zukünftigen Gestaltung des Sozialen und des Selbst- und Weltverhältnisses des Menschen verknüpft sind. Es sind (1) die ethische Frage nach der besten, sowohl unserer Lebenswirklichkeit als auch unseren Werten angemessenen Haltung gegenüber uns selbst, den Mitmenschen und der Erde, als einem uns gegebenen Wohnort; sowie (2) die Frage nach den Aufgaben, Herausforderungen und dem (Mit-) Gestaltungspotential der Sozialen Arbeit im Kontext dieses ethischen Entwurfes. Die Bemerkung, daß wir in einer Zeit beständiger Veränderung und damit eines rasanten Wandels unserer (Lebens-)Welt leben ist beinahe zu einer abgedroschenen Phrase geworden und man mag hoffen, nicht erneut davon zu lesen; man weiß es doch! Trotzdem möchte ich mich hier noch einmal dieser nicht zu leugnenden Tatsache widmen, um die korrelierende Verantwortung deutlich herauszuarbeiten. In den 80er Jahren formulierte Ulrich Beck ein neues, aufsehenerregendes Gesellschaftsbild, die Risikogesellschaft, welche uns aufmerksam werden ließ auf Werteverlust, Sinnkrisen, Pluralität der Lebensentwürfe, Individualisierung und Standardisierung der Biographien mit allen implizierten - positiven und negativen - Konsequenzen. Bis zum heutigen Tag beschäftigt die Diagnose Becks von den zunehmenden Risiken im Leben des Einzelnen und dem Zerfall sozialer Auffangnetze die Öffentlichkeit und eine ethische Bewältigung dieser gesellschaftlichen Struktur scheint noch nicht abgeschlossen zu sein. Und doch muß man derzeit fast sagen, es gibt dringlichere gesellschaftliche Veränderungen zu diskutieren. Die neuen Informationstechniken und die Fortschritte in Biomedizin und Gentechnik erfordern von uns eine Reflexion grundlegendster Säulen unseres Zusammenlebens, nämlich des Humanismus mit seinem zugrundeliegenden Menschenbild, denn die wachsenden Möglichkeiten, welche der Mensch sich auf diesen Gebieten erarbeitete, stellen ihn und das Soziale in Frage, indem sie andere Konstellationen zwischen Natur und Kultur, zwischen Mensch und Maschine machbar werden lassen, als man bisher zu denken wagte. Die In-Frage-Stellung muß dabei keine Absage an „Urgesteine“, wie den Humanismus, die Idee der Freiheit oder die Menschenwürde sein, im Gegenteil sie könnten hieran wachsen. Dafür aber ist es notwendig, die alten Werte mit den neuen Möglichkeiten zu vergleichen und sie gemeinsam zu diskutieren. Soziale Arbeit muß an diesem 1 Der Begriff „Soziale Arbeit“ subsumiert im Folgenden die Bezeichnungen „Sozialarbeit“ und „Sozialpädagogik“. Eine inhaltliche Unterscheidung der beiden Richtungen nehme ich nicht vor, da ich eine solche mindestens in der Praxis für nicht durchhaltbar und auch nicht sinnvoll erachte. 1

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Page 1: Soziale Arbeit als LebenskustprofessionSoziale Arbeit als Lebenskunstprofession Überlegungen zur ethischen Dimension Sozialer Arbeit Frauke Meyer 1. Einleitung Der nachfolgende Beitrag

Soziale Arbeit als Lebenskunstprofession Überlegungen zur ethischen Dimension Sozialer Arbeit

Frauke Meyer

1. Einleitung

Der nachfolgende Beitrag versucht Antworten auf zwei Fragen zu finden, welche auf das Engste mit

der Zukunft Sozialer Arbeit1 als Profession sowie mit der zukünftigen Gestaltung des Sozialen und des

Selbst- und Weltverhältnisses des Menschen verknüpft sind. Es sind (1) die ethische Frage nach der

besten, sowohl unserer Lebenswirklichkeit als auch unseren Werten angemessenen Haltung gegenüber

uns selbst, den Mitmenschen und der Erde, als einem uns gegebenen Wohnort; sowie (2) die Frage

nach den Aufgaben, Herausforderungen und dem (Mit-) Gestaltungspotential der Sozialen Arbeit im

Kontext dieses ethischen Entwurfes.

Die Bemerkung, daß wir in einer Zeit beständiger Veränderung und damit eines rasanten Wandels

unserer (Lebens-)Welt leben ist beinahe zu einer abgedroschenen Phrase geworden und man mag

hoffen, nicht erneut davon zu lesen; man weiß es doch! Trotzdem möchte ich mich hier noch einmal

dieser nicht zu leugnenden Tatsache widmen, um die korrelierende Verantwortung deutlich

herauszuarbeiten.

In den 80er Jahren formulierte Ulrich Beck ein neues, aufsehenerregendes Gesellschaftsbild, die

Risikogesellschaft, welche uns aufmerksam werden ließ auf Werteverlust, Sinnkrisen, Pluralität der

Lebensentwürfe, Individualisierung und Standardisierung der Biographien mit allen implizierten -

positiven und negativen - Konsequenzen. Bis zum heutigen Tag beschäftigt die Diagnose Becks von

den zunehmenden Risiken im Leben des Einzelnen und dem Zerfall sozialer Auffangnetze die

Öffentlichkeit und eine ethische Bewältigung dieser gesellschaftlichen Struktur scheint noch nicht

abgeschlossen zu sein. Und doch muß man derzeit fast sagen, es gibt dringlichere gesellschaftliche

Veränderungen zu diskutieren. Die neuen Informationstechniken und die Fortschritte in Biomedizin

und Gentechnik erfordern von uns eine Reflexion grundlegendster Säulen unseres Zusammenlebens,

nämlich des Humanismus mit seinem zugrundeliegenden Menschenbild, denn die wachsenden

Möglichkeiten, welche der Mensch sich auf diesen Gebieten erarbeitete, stellen ihn und das Soziale in

Frage, indem sie andere Konstellationen zwischen Natur und Kultur, zwischen Mensch und Maschine

machbar werden lassen, als man bisher zu denken wagte. Die In-Frage-Stellung muß dabei keine

Absage an „Urgesteine“, wie den Humanismus, die Idee der Freiheit oder die Menschenwürde sein, im

Gegenteil sie könnten hieran wachsen. Dafür aber ist es notwendig, die alten Werte mit den neuen

Möglichkeiten zu vergleichen und sie gemeinsam zu diskutieren. Soziale Arbeit muß an diesem

1Der Begriff „Soziale Arbeit“ subsumiert im Folgenden die Bezeichnungen „Sozialarbeit“ und „Sozialpädagogik“. Eine inhaltliche Unterscheidung der beiden Richtungen nehme ich nicht vor, da ich eine solche mindestens in der Praxis für nicht durchhaltbar und auch nicht sinnvoll erachte.

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Prozeß besonders interessiert sein, ist sie doch die Profession, deren Feld die sozialen Beziehungen

und das Zusammenleben der Menschen in allen Aspekten ist. Soziale Arbeit ist nicht nur - als

gesellschaftliche Institution - in ihrer Akzeptanz und in ihren Handlungsmöglichkeiten von

Grundsatzentscheidungen dieser Art abhängig, sondern darüber hinaus aktiv mit der Ausgestaltung,

Pflege und Wiederherstellung sozialer Beziehungen beschäftigt. Sie hat sich folglich die Frage zu

stellen, welche Zielvorstellung sie bei dieser Aufgabe künftig leiten wird. Wie sehen zukunftsfähige

soziale Beziehungen aus, welche Kompetenzen benötig der/ die Einzelne und welche Bedingungen

müssen durch gesellschaftliche Institutionen geschützt werden?

Die zweite Frage, die diesen Beitrag initiierte, betrifft die Profession Sozialer Arbeit in ihrer Struktur

und ihrer Problematik als einer vermeintlichen Institution für die Rand- und Elendszonen die immer

wieder als das soziale Gewissen der ansonsten kapitalistisch-ökonomisch orientierten Öffentlichkeit

dienen soll. Es ist kritisch zu fragen, ob in der Sozialen Arbeit nicht bis heute versäumt wurde, nach

Verabschiedung der karitativen Intension der Anfangszeit, hinsichtlich der handlungsleitenden

Zielvorstellungen deutlich Stellung zu beziehen und sich damit die Möglichkeit zu schaffen als eine

eigenständige Profession mit Engagement und eigenen Ideen sowie einem klaren gesellschaftlichen

Auftrag aufzutreten. Hinderlich für ein derartiges Auftreten war und ist der Profession dabei sicherlich

ihre Zersplitterung in verschiedenste Arbeitsbereiche, die sich teils in Zielgruppen, Zielvorstellungen

sowie Anforderungen an die Professionellen, aber auch hinsichtlich gesellschaftlicher Anerkennung

und Unterstützung stark unterscheiden. Als notwendig wurde deshalb bereits vor einigen Jahren eine

identitätsstiftende Berufsethik erachtet, die wie eine Klammer die pluralen Felder des Berufs

zusammenfassen und auf eine gemeinsame Grundlage stellen sollte. Eine Berufsethik ist jedoch nicht

zu denken ohne eine umfassende Theorie Sozialer Arbeit. Erst auf dem Boden eines von allen

geteilten Verständnisses Sozialer Arbeit lassen sich einzelne Probleme und Wertkonflikte

berufsethisch sinnvoll diskutieren2. Der folgende Beitrag soll dieser, für die Zukunft Sozialer Arbeit so

notwendigen Theoriediskussion neue Anregungen und Ideen liefern. Es soll dabei die ebenso schlichte

wie komplizierte Frage im Mittelpunkt stehen: „Worum geht es eigentlich immer in der Sozialen

Arbeit ?“.

Die Menschen, davon kann bei aller Vorsicht gegenüber generalisierten Aussagen ausgegangen

werden, möchten ihr eigenes Leben in aller Regel als ein gutes und glückliches erfahren und begreifen

können. So konstatierte bereits Aristoteles, es käme für jeden darauf an, sein Leben so zu führen und

zu wählen, daß am Ende die eudaimonia, welche in der Regel mit „Glückseligkeit“ oder allgemeiner

dem „Gedeihen“ übersetzt wird, steht. Die Glückseligkeit ist für ihn dabei Zweck an sich und der

2vgl. Schneider, Johann (1999): Gut und Böse - Falsch und Richtig, Frankfurt a.M., S. 164. Schneider definiert hier als eines der Probleme der von den Berufsverbänden aufgestellten Ethikkodes, daß ohne einen umfassenden theoretischen Kontext „die Einzelgebote und -verbote merkwürdig blaß und abstrakt, d.h. aber auch wirkungslos, bleiben müssen.“ (164).

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Endpunkt aller Erklärungsketten. Geteilt wird diese Auffassung von Epikur welcher in seinem

„Lehrbrief an Menoikeus“ davon spricht, es gelte „unseren vollen Eifer dem zuzuwenden, was uns zur

Glückseligkeit verhilft; denn haben wir sie, so haben wir alles, fehlt sie uns aber, so setzen wir alles

daran, sie uns zu eigen zu machen“3. Selbst Immanuel Kant stimmt zu, daß das Verlangen der

Menschen glücklich zu sein, als ein wesentlicher Grund für sein Handeln und Begehren ernst

genommen werden müsse und Robert Spaemann beschreibt das Gelingen des Lebens, dies ist seine

Übersetzung der eudaimonia, als ein nicht ausgedachtes, sondern immer schon vorgefundenes Ziel des

menschlichen Existierens, für dessen Ablehnung es kein Motiv geben kann4.

Berücksichtigt und respektiert man diese Sehnsucht jedes Menschen nach einem guten, gelingenden

und glücklichen Leben läßt sich zu Recht fragen, ob sich Soziale Arbeit überhaupt denken ließe, ohne

eine Vorstellung von und eine Orientierung an einem guten Leben5. Läßt sich nicht konsequenterweise

die These aufstellen, jeder Einsatz Sozialer Arbeit diene dem Zweck, einzelne oder Gruppen (wieder)

auf den Weg zu einem Leben zu bringen, welches sie bejahen und welches sie als zufriedenstellend

und glücklich empfinden können? Die Form und Möglichkeiten dieses Weges aber sind das ureigenste

Thema der Lebenskunst von der Antike bis zur Postmoderne. Ist also Soziale Arbeit

Lebenskunstarbeit? Könnte eine Theorie des guten Lebens und damit verbunden der Kunst gut zu

leben als existentieller Fähigkeit der Kern der Profession sein, auf welchen alle ihre theoretischen und

praktischen Elemente letztlich hinweisen? Doch ist es überhaupt möglich sich über eine konkrete

Theorie des guten Lebens im Kontext sozialpädagogischer/ sozialarbeiterischer Theorie und Praxis zu

verständigen? Ist es nicht anmaßend und paternalistisch Verbindliches über Glück und ein Gelingen

des Lebens festhalten zu wollen? Kann und darf sich Soziale Arbeit auf ein Fundament stützen,

welches sich aus den privatesten und fragilsten Bereiche des individuellen Lebens zusammensetzt?

Um diese Fragen zu beantworten ist es notwendig, etwas tiefer in die Debatte um die Idee des guten

Lebens einzusteigen, in deren semantischem Raum sich auch Fragen nach Glück, Sinn, Erfüllung,

Gedeihen, Zufriedenheit, Moral, Sittlichkeit, Tugend und anderem auftun.

2. Schöner Leben im 21. Jahrhundert

Ein Blick auf die verbreiteten Alltagsvorstellungen in den hochindustrialisierten, postmodernen6

Kulturen von dem, was ein gutes Leben ausmacht, zeigt, daß diese sich ausdrücklich nicht eignen, um

auf ihnen eine Soziale Arbeit zu begründen. Zu sehr ist das Streben nach Glück und Zufriedenheit hier

dominiert von egozentrischen „Privatethiken“ nach welchen Glück im Übertrumpfen oder - auf Kosten

von Mitmenschen und Umwelt - im eigenen Erleben gesucht, beziehungsweise durch Lebensprojekte

gleich einem Manöver geplant wird und dies insbesondere durch Aufstieg in der Besitz-,

3zit. nach Wieland, W. (Hrsg.) (1978): Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung - Antike, Stuttgart, S. 319 4vgl. Spaemann, Robert (1989): Glück und Wohlwollen, Stuttgart, S. 21 5Diese Frage wurde von Albert Mühlum (1998) in seinem Text Das Ethos der Sozialen Arbeit in der Berufsordnung, in der Ausbildung und im Diskurs der Profession aufgeworfen. Der Text ist zu finden unter: http://www.fh-fulda.de/dgs/mit16.htm 6Der Begriff „Postmodern“ soll hier nicht auf einen Epochenwandel hinweisen, sondern ist als ein Strukturbegriff im Sinne Lyotards zu verstehen, welcher eine radikale Pluralität der Gesellschaft kennzeichnet.

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Einkommens- und Prestigehierachie. Diese Bestrebungen gehen einher mit dem, was Norbert Bolz das

„Glückszwangangebot eines Feel-Good-State“7 nennt, eine gesellschaftlich verordnete Glückspflicht,

die auf dem Glauben an vermeintlich vielfältige Zugängen zu Glück für jeden begründet ist und

Unglück als persönliches Versagen interpretiert wissen will. Aus diesen Konstellationen erwachsen

nicht selten individuelle Ängste und Überforderungen, welche die Sehnsucht nach einem guten Leben

zu einem Alptraum aus Konkurrenzdruck, Zeitknappheit und wahnhaftem Streben werden lassen.

Wahres Glücksempfinden, welches das dauerhafte Gefühl des Gelingens des Lebens und das

verweilende Staunen angesichts der Erfahrung zufälligen und augenblicklichen Glücks impliziert,

wird verdrängt und ersetzt durch ein „abruptes Geschehen ohne Hinführung und Erinnerung, in dem

ein Stück Himmel oder Ewigkeit mit den Händen auf die Erde zu reißen ist.8“

Die Situation mutet bedenklich an, wenn man sich klar macht, daß die menschliche Sehnsucht nach

einem guten und glücklichen Leben wesentliche Orientierung für sein Denken und Handeln ist und

auch sein soll, gerade in einer durch postmoderne und individualisierte Strukturen oftmals

orientierungslosen Gesellschaft. Es scheint also nicht nur im Kontext einer neuen Theorie Sozialer

Arbeit sondern auch im Interesse jedes Einzelnen angezeigt, sich einmal der Suche nach einer

konkreten und vertretbaren Theorie des guten Lebens zu widmen. Nun wird dies in aller Regel

vermieden, da das Glück und seine Verwandten seit längerem ausdrückliche Privatsache sind. Im

Angesicht der Herausforderungen unserer Zeit scheint es mir jedoch nicht angebracht, die Frage „Wie

sollen wir leben? / Was ist gutes Leben?“ im kollektiven und öffentlichen Diskurs deshalb gänzlich

unthematisiert zu lassen. So ist auch Jürgen Habermas der Auffassung, daß „die eugenische

Herausforderung [...] uns heute die ethische Grundfrage, wer wir sind und sein möchten, auf einer

anderen Ebene, sozusagen in anthropologischer Allgemeinheit auf[drängt]9“ und nicht mehr auf die

Lebensführung einzelner beschränkt bleiben kann. In diesem Zusammenhang erscheint die Frage nach

der Beschaffenheit guten und glücklichen Lebens als ein wesentliches gesellschaftliches Interesse mit

dem Ziel auf dieser Grundlage eine Ethik zu entwerfen, die die freiheitliche und friedliche Basis der

Gesellschaft schützt und stärkt sowie angesichts der beständigen Veränderungen und

Verunsicherungen das Streben nach gutem Leben als Navigationsinstrument positiv einzusetzen

vermag.

3. Lebenskunst als gesellschaftlicher Auftrag

Aufgrund der Komplexität unserer Welt ist es mit moralischem Sollen längst nicht mehr getan. Wie

Rafael Capurro fordert, muß dem „Prinzip des Lebenssollens [...] [das] des Lebenskönnens und des

Lebenswollens beigesellt werden10“. Dabei meint das Prinzip des Lebenskönnens die Aneignung von

Kompetenzen und Fähigkeiten für eine verantwortliche Lebensführung, welche um die Notwendigkeit

7Bolz, Norbert (1997): Die Sinngesellschaft, Düsseldorf, S.13 8Mührel, Eric (2000): Sinnhilfe in einer gespensterhaften Welt, in: Zeitschrift Erwachsenenbildung, Bd. 3/ 2000 9Habermas, Jürgen, zit. nach Assheuer/ Jessen (2002): Auf schiefer Ebene, in: Die Zeit Nr.5 vom 24.01.2002, S. 34 10Capurro, Rafael (1995): Leben im Informationszeitalter, Berlin, S.36

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von Reflexion und Begründung eigener Handlungen weiß. Eine solche Lebensführung des Einzelnen

ist nicht nur in Zeiten der Globalisierung - mit allen ihren, auch negativen, Konsequenzen - und des

neuen (religiösen) Fundamentalismus für die Arbeit an einer friedlichen Weltgesellschaft notwendig,

sondern wie Peter Zima und Jürgen Wertheimer in ihrem Buch Strategien der Verdummung darstellen,

bereits für den Fortbestand der Demokratien und eine Verteidigung der Kultur gegen

Verdummungsstrategien mittels derer ein manipulierbarer und marktgerechter Konsument geschaffen

werden soll11.

Der Begriff des Lebenswollens zielt im Kontext einer neuen Ethik auf die These, daß Menschen die ihr

eigenes Leben bejahen und als glücklich empfinden, in sehr viel größerem Ausmaß bereit und fähig

sind an der Gestaltung der Welt positiv teilzunehmen und ihre eigenen Handlungen zu verantworten,

als Menschen die sich vom Schicksal benachteiligt fühlen. Es ist evident, daß eine andauernde

Erfahrung von Unglück und Machtlosigkeit bezüglich des eigenen Lebensweges, Haß und Neid

gegenüber den Menschen forciert, denen vermeintlich ein glücklicheres Leben vergönnt ist, und daß

hiermit die Bereitschaft sinkt, aufmerksam für die Interessen und Belange des Anderen zu bleiben12.

Den Zusammenhang zwischen persönlichem Glück bzw. Wohlbefinden und prosozialem Verhalten13

haben u.a. Peter Schwenkmezger und Andrea Abele in dem Buch Wohlbefinden empirisch untersucht.

Dabei wurde deutlich in welcher Weise glücklich zu sein positive Auswirkungen auf das Denken und

Handeln der betreffenden Person hat. Glück und Wohlbefinden korrelieren danach u.a. mit

Soziabilität, emotionaler Stabilität und Selbstbewußtsein, mit größerem Engagement in sozialen

Aktivitäten, mit Hilfs- und Kooperationsbereitschaft und mit positiveren Einstellungen und Urteilen

(gegen)über Mitmenschen und der Welt14.

Leben zu wollen äußert sich in einer Sorge und einem Bemühen um sich selbst und das Leben. In

seinem Text Technologien des Selbst erinnert Michel Foucault an verschiedene Formen und Methoden

der Selbstgestaltung und Selbstsorge in der Antike und dem Mittelalter und weist dabei mehrfach auf

die direkte Verbindung von Selbstsorge und politischem Handeln im antiken Griechenland hin. So

wird z.B. in Platons Verteidigung des Sokrates deutlich, daß ein Bemühen um sich selbst, ein

11vgl. Wertheimer, J./ Zima, P. (Hrsg.) (2001): Strategien der Verdummung,, München, insb. S. 58 ff 12Eine solche Entwicklung hat z.B. Eckhart Schiffer in seinem Buch Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde im Blick, wenn er Möglichkeiten zur Entwicklung von Eigensinn, Phantasie und poietischer Aufsässigkeit, verstanden als das schöpferische Gestalten des eigenen Lebens und der Umwelt im Kontrast zu fremdbestimmten Zwecken, als Voraussetzungen dafür beschreibt, sich gegenüber sich selbst und Anderen verantwortlich zu verhalten. Wo diese Möglichkeiten nicht bestehen, so Schiffer, entstehen Öde und Langeweile, die nicht nur Vorstadien süchtigen Verhaltens darstellen, sondern auch blind machen, für die Anliegen des Anderen. Vgl. Schiffer, E. (1999): Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde, Weinheim 13Als prosoziales Verhalten kann hier verstanden werden. „Handlungsweisen, die in erster Linie motivational am Wohl einer/s einzelnen Anderen, einer Gruppe und/ oder der Umwelt orientiert sind und diesem/ dieser dienen. Dabei nehmen Handelnde zumindest zum Teil eigene Anstrengungen zu Gunsten der Adressaten in Kauf.“ (Buchkremer et al, 2001, 28). Zum Begriff und zur Geschichte prosozialen Verhaltens vergleiche den ersten Teil der Buchreihe „Versuchung zum Guten“ von Buchkremer et al (2001), Aachen. Die Autoren gehen hier den Fragen nach, ob Menschen wissen, was gutes Handeln ist und wie sie dieses Wissen im Laufe der Geschichte in Staatsanschauungen, Staatstheorien und Gesellschaftslehren umzusetzen versuchten. 14vgl. Abele, A.: Auswirkungen von Wohlbefinden (S. 297-325); und Schwenkmezger, P.: Persönlichkeit und Wohlbefinden (S. 119-137), beide in: Abele/ Becker (Hrsg.) (1994): Wohlbefinden, Weinheim

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Bemühen um die Stadt und die Polis mit sich bringt bzw. impliziert15. Die Auffassung ein Gelingen

des eigenen Lebens erhöhe die Möglichkeiten einer Sorge um die Gemeinschaft, läßt sich auch bei

dem Identitätsforscher Heiner Keupp finden. Dieser hält eine gelingende Identität für „eine balancierte

Variante des gut geführten, des erfüllten Lebens16“ und konstatiert, sie umfasse Kompetenzen wie

technologische und ökologische Kompetenz, Gerechtigkeitskompetenz, historische Kompetenz und

zivilgesellschaftliche Kompetenz. Zusammengenommen ermöglichen diese dem Einzelnen - verkürzt

formuliert - technische, ökologische und gesellschaftliche Prozesse kritisch zu betrachten,

Ungerechtigkeiten festzustellen, durch Erinnerung an Alternativen Phantasien der Besserung zu

entwerfen und sich souverän zu engagieren.

Die Argumentation legt, wie ich meine, nahe, dem Lebenswollen des Einzelnen, folglich seinem

Glück und gelingenden Leben, als einem auch gesellschaftlichen Interesse größere Aufmerksamkeit zu

schenken. So verweisen nicht nur die Pflichten gegenüber den Mitmenschen und der Erde, nicht nur

die Notwendigkeit von Fähigkeiten zum Leben, sondern auch die Bejahung der Sehnsucht nach Glück

auf eine Theorie des guten Leben als Zentrum einer möglichen Ethik des 21. Jahrhunderts.

4. Eine Theorie des guten Lebens

Was jedoch ist ein gutes Leben? Ist es möglich hier ein allgemeingültiges und konkretes Verständnis

zu formulieren, welches die Rolle als Navigationsinstrument durch alle Entscheidungen und Konflikte

des Lebens übernehmen kann, gleichzeitig aber der Verschiedenheit der Menschen und der Freiheit

ihrer Selbst- und Lebensgestaltung gerecht wird?

Der Suche nach einer Antwort auf diese Fragen widmet sich Martin Seel in seinem Buch Versuch über

die Form des Glücks17. Er entwickelt hier eine formale Glückstheorie, welche nicht festzulegen

versucht, wonach Menschen in ihrem Leben (inhaltlich) zu streben haben, damit es als gelungen

bezeichnet werden kann, sondern welche vielmehr eine Haltung des Menschen zu sich und der Welt

vorschlägt, die einem guten Leben förderlich ist, weil sich durch sie eine aussichtsreiche

Lebenswirklichkeit erschließen und Glück erfahren läßt.

Als personale Lebewesen mit Zeit- und Selbstbewußtsein können Menschen zu ihrem Wünschen und

Wollen Distanz nehmen und es reflektieren. Diese Stellungnahme und dieser Bezug zu den eigenen

Wünschen macht zum einen die Glücksfähigkeit der Menschen aus und erlaubt zum anderen die

Ableitung eines wesentlichen Aspekts des guten Lebens: Wenn Menschen zu ihren Wünschen und

ihrem Leben wertend Stellung nehmen können, dann ist offensichtlich, daß sich zumindest einige der

wesentlichsten Wünsche erfüllen müssen, damit das Leben als gut bewertet werden kann. Zu diesem

Zweck ist es sinnvoll, die eigenen, selbstbestimmt - im Gegensatz zu vorgegebenen Zielen - und auf

Basis der Vernunft gewählten Wünsche in Lebenskonzeptionen und -plänen zu ordnen und sie auf

15vgl. Foucault, Michel: Technologien des Selbst, in: Ders. et al (1993): Technologien des Selbst, Frankfurt a.M., S. 29 16Keupp, Heiner (1999): Identitätskonstruktionen, Reinbeck, S. 275 17Seel, Martin (1999): Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt a.M.

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diesen Wegen aktiv anzustreben. Als ein gutes Leben erscheint dann eines, in dem das Subjekt des

Lebens immer wieder auf gutem Weg ist, seine Lebenspläne sukzessiv zu erfüllen und in dem es so

das übergreifende Glück des Gelingens des Lebens erfährt.

Die aktive und selbstbestimmte Verfolgung von Lebenszielen ist ein wesentlicher Aspekt eines guten

Lebens, der jedoch für sich genommen, die Bandbreite eines glücklichen Lebens verfehlt. Denn neben

dem übergreifenden Glück eines im Ganzen gelingenden Lebens existiert eine zweite Form des

Glücks, welche durch rationale Lebenskonzeptionen weder angestrebt, noch initiiert werden kann. Es

ist das zufällige Glück erfüllter Augenblicke, welche Martin Seel Augenblicke erfüllter Freiheit nennt,

da sie das „zukunftsorientierte Wünschen auf eine unvorhersehbare Weise übersteig[en] 18“ und damit

die eigene Freiheit zur Wahl und Veränderung betonen. Ein gutes Leben ist folglich ebenso eines,

welches abseits jedes Strebens in vielen Momenten erfüllter Gegenwart steht und für die hierin zu

machende Erfahrung offen bleibt.

Eine Form der Lebensführung, die beiden Begriffen des Guten gerecht wird und somit ein in ganzer

Breite gutes Leben kennzeichnet, ist ein Leben, welches im Modus freier und weltoffener

Selbstbestimmung geführt wird. Die Betonung der Selbstbestimmung als freie weist dabei auf einen

bestimmten Gebrauch der Selbstbestimmung hin, nämlich die Beachtung der Prämisse, bei allen

Wahlen und Entscheidungen auch den zukünftigen Spielraum einer Selbstbestimmung zu wahren.

Dadurch wird es möglich, eigene Lebenspläne selbstbestimmt zu entwerfen und zu verfolgen, sich von

diesen aber nicht fesseln zu lassen, sondern für Zufälle und erfüllte Augenblicke offen zu bleiben, da

erster Zweck jeder Handlung und Entscheidung nicht das Streben nach Zielen, sondern die

Selbstbestimmung selbst bleibt, welche eine Abweichung von den gefassten Plänen erlaubt.

Das Paradigma der freien, weltoffenen Selbstbestimmung als Zentrum einer Ethik des guten Lebens ist

keine neue Version des Individualismus oder eine Legitimation von Lebenswettkämpfen nach dem

Motto „Jeder ist sich selbst der Nächste“. Im Gegenteil, von egozentrischen Versuchen ein gutes

Leben zu kreieren läßt sich die hier vorgestellte Theorie klar abgrenzen, sobald der Begriff der

weltoffenen Selbstbestimmung näher definiert wird. Gelingende Selbstbestimmung ist das

Selbstverhältnis eines ´gut Lebenden´ und als solches gekoppelt an ein Weltverhältnis, die

„Weltoffenheit“. Unter dem Begriff Selbstbestimmung ist zunächst die Fähigkeit zu verstehen,

pragmatisch zu überlegen und auf Grundlage dieser Überlegungen zwischen Handlungs- und

Lebensalternativen zu entscheiden, sie gegebenenfalls zu modifizieren, zu bewerten und auf sie zu

reagieren. Damit ist bereits deutlich, daß Selbstbestimmung nur auf dem Horizont einer mit Anderen

geteilten Welt möglich ist: Die gemeinsame Kultur der Individuen stellt die Perspektiven und

Alternativen bereit, die von einer selbstbestimmten Lebenspraxis aufgenommen und in ihr fortgeführt

werden können. Selbstbestimmung ist folglich als Antwortfähigkeit auf die Lebenswelt des

Individuums zu verstehen und erst in Konfrontation mit einer intersubjektiven Welt kommt ihr die

Bedeutung zu, ein Zeichen von Kompetenz zu sein, nämlich eigene Antworten geben zu können. Hier

18Seel, Martin (1999): a.a.O., S. 177

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wird deutlich, warum Selbstbestimmung nur dann gut gelingen kann, wenn sich das Subjekt des

Lebens gegenüber der Welt offen verhält: Die Erschließung aussichtsreicher Lebensmöglichkeiten,

verstanden als Spielraum, in dem das eigene Leben als Antwort auf die Gegebenheiten des Lebens

geführt werden kann, gelingt umso besser, je größer die Offenheit gegenüber den Möglichkeiten, die

die Welt bietet, ist. Damit ist nicht nur gemeint, neuen Möglichkeiten gegenüber unvoreingenommen

zu sein, sondern auch, sie entdecken und erschließen zu können sowie sie zu nutzen wissen.

Es ist offensichtlich, daß eine so verstandene Selbstbestimmung und Welterschließung nur gelingen

kann, wenn eine Wirklichkeit oder Lebenswelt für das Individuum vorhanden ist, die erstens antwortet

- d.h. Möglichkeiten vorhält und auf das Individuum reagiert - und zweitens dem Individuum in

diesem Antworten die Handlungsspielräume beläßt, die es für ein selbstbestimmtes Leben benötigt.

Daraus folgt, daß ein gutes Leben nicht nur individueller Kompetenzen und Anstrengungen bedarf,

sondern auch und gerade einer gesellschaftlichen Gewährleistung von Lebensmöglichkeiten, die

Selbstbestimmung, sowie die Erfüllung wesentlicher Wünsche und die Erfahrung erfüllter

Augenblicke fördern oder wenigstens zulassen. Als ein minimaler Konsens von solchen

Voraussetzungen des guten Lebens kann und muß aus diesem Grund verbindlich formuliert werden:

„Glück ist nur dort möglich, wo Menschen einigermaßen unbedroht und unbeengt, ohne (zuviel)

physischen Schmerz und ohne psychische Qual leben können.“19 Dies erfordert vor allem anderen

relative Sicherheit und relative Freiheit, worunter eine Situation zu verstehen ist, in der der Einzelne

nicht in beständiger Angst um sein Leben, seine Integrität und einfache soziale Zuwendung lebt und in

der er wenigstens so frei ist, daß er sein Wohlergehen in einen Bezug zu seinem Tun und Unterlassen

setzen kann, d.h. die Freiheit zu eigenen Entscheidungen besitzt.

Die hier vorgestellte Idee eines guten Lebens als einem „das sich - auch durch krisenhafte Zustände

hindurch - in der Verfassung eines selbstbestimmten Lebens hält oder immer wieder zur Form eines

solchen Lebens findet20“ wird nicht nur dem humanistischen Menschenbild21 gerecht, indem die

konkrete Ausgestaltung des Lebens und dessen, was glücklich macht in der Verantwortung und

Entscheidung des Einzelnen belassen wird, sondern auch der Wirklichkeit einer immer

widersprüchlichen und facettenreichen menschlichen Existenz, aus der sich Leid und Konflikte nicht

ausschließen lassen. Gerade in einer Zeit der „Glückspflicht“, eines oftmals unhinterfragten Planungs-

und Machbarkeitswahns und der Vision einer gentechnisch optimierten, schönen neuen Welt mit von

(aller) Krankheit und Tod befreiten Menschen, ist es notwendig im Kontext einer Theorie des guten

19Seel, Martin ( 1999 ): Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt a.M., S. 87 20Seel, Martin (1999): a.a.O., S. 179 21Die humanistische Idee vom Menschen betont seine Freiheit als einem unbestimmten Wesen mit offenen Möglichkeiten, dessen Aufgabe eine Selbstschöpfung in Freiheit ist. Denn nach dieser autonomen Bestimmung kommt es im Gegensatz zu theologischen oder naturgemäßen Bestimmungen die das Wesen des Menschen als vorgegeben betrachten, darauf an ,was der einzelne Mensch auf Basis seiner Selbstbestimmung und -verantwortung aus sich macht. Erst ein solches Menschenbild ermöglicht von Lebenskunst und gutem Leben im hier vorgeschlagenen Sinne als ein mögliches Verhalten und eine mögliche

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Lebens zu bedenken, daß ein sogenanntes perfektes Leben ohne Krisen nicht nur eine Schimäre,

sondern auch eine „Metamorphose des Todes“22 ist.

5. Der Begriff der Lebenskunst

Die Vorstellung eines guten, als einem weltoffen und selbstbestimmt geführten Lebens, läßt sich in

idealer Weise mit dem Begriff der Lebenskunst ergänzen, wie ihn Michel Foucault mit der

Formulierung der Ästhetik der Existenz, sowie Wilhelm Schmid mit deren Weiterführung und

Verfeinerung geprägt haben. Die wechselseitige Ergänzung dieser Ideen eröffnet dabei die Chance,

einer mögliche Ethik des guten Lebens näher zu kommen, die sowohl die Sehnsucht des Einzelnen

nach Glück und Wunscherfüllung, als auch die Notwendigkeit von sozial und politisch kompetenten

und verantwortungsbewußten Bürgern ernst nimmt und beantwortet.

Unter Lebenskunst kann die Aneignung des eigenen Lebens durch ein Individuum mittels der

Selbstsorge und mit dem Ziel der Selbstmächtigkeit verstanden werden. Was heißt dies differenziert?

Für Wilhelm Schmid ist Lebenskunst das, was nach dem Scheitern der großen gesellschaftlichen

Utopien zur Beglückung des Menschen übrig geblieben ist. Das Projekt der Lebenskunst ist die

Rückbesinnung des Individuums auf sich selbst und auf seine Möglichkeiten der Aneignung und

Gestaltung des eigenen Lebens - dabei aber kein erstarkter Individualismus. Lebenskunst ist aus

diesem Grund zunächst die Anstrengung das eigene Leben bewußt und reflektiert zu führen, durch

eine unabschließbare Arbeit an der Gestaltung des Selbst und des Lebens, als einer uns nicht

vorgegebenen, sondern aufgegebenen Existenz.

Häufig ist Lebenskunst dem Verdacht ausgesetzt, zu einer ästhetischen Verklärung des Lebens

beizutragen und/ oder als „Luxusinstitution“ Menschen, denen es bereits gut geht, ein ästhetisch

verfeinertes, „schönes Leben“ zu ermöglichen. Daneben scheint Lebenskunst im alltäglichen

Sprachgebrauch besonders exotischen Lebensstilen vorbehalten zu sein, die man bewundert oder

belächelt, aber nicht selbst anstrebt. Beide Assoziationen sind falsch und haben doch einen wahren

Kern: Lebenskunst heißt tatsächlich sich ein schönes Leben zu machen, aber nicht durch ästhetische

Verklärung oder materiellen Überfluß, sondern im Sinne dieser Arbeit am Selbst, am eigenen Leben

und dem Leben mit anderen mit dem Ziel ein für alle bejahenswertes Leben zu schaffen. Lebenskunst

ist in seiner vollen Ausprägung dabei etwas, das wir in aller Regel als Mangel wahrnehmen, was uns

fehlt, nicht zuletzt aufgrund struktureller Hindernisse. Insofern ist ein(e) echte(r) LebenskünstlerIn

tatsächlich ein(e) ExotIn.

Die Arbeit an sich selbst und seinem Leben, die die Lebenskunst auszeichnet, wird initiiert und

geleitet durch die Selbstsorge (epimelesthai sautou). Diese ist nach Michel Foucault eine Selbstkultur

die sich in praktischem Handeln und nicht nur in einem Habitus verwirklicht. Sie ist kein Ausdruck für

Haltung des Mesnchen sprechen zu könne. Vgl. zum humanistischen Menschenbild z.B. die Abhandlung des Renaissance- Philosophen Pico della Mirandola Über die Würde des Menschen (1997, Stuttgart, Reclam). 22Assheuer, Thomas ( 2002 ): Den Tod besiegt, das Leben vergessen, in: Die Zeit Nr. 14 vom 27.03.2002, S. 42

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Selbstverliebtheit oder Egozentrik, sondern eine Formel für all die Praktiken, Techniken,

Wissensbestände und Aufmerksamkeiten, mit denen das Selbst sich konstituiert und gestaltet23. Die

Sorge zeichnet darüber hinaus aus, daß sie nicht am Individuum und dessen Bemühen um sich

verhaftet bleibt, sondern ein vorausschauendes und kluges Denken und Handeln in allen Kontexten

bedeutet. Damit überschreitet sie die momentane Existenz und das einzelne Subjekt hin zu einer Arbeit

an der ganzen Kultur und der Zukunft.

Die Selbstsorge umfasst immer auch die Sorge um den Anderen. Sorge tragen für den Anderen heißt,

aufmerksam auf ihn zu sein und die Arbeit der Sorge mit ihm gemeinsam zu betreiben, ihn bei seiner

Selbstgestaltung zu unterstützen und daran teilzuhaben; schließlich beinhaltet eine Sorge die den

Anderen miteinschließt auch, dessen Hilfe wahrzunehmen und anzunehmen und sich selbst umsorgen

zu lassen. So wie eine Selbstsorge ohne die Sorge um den Anderen nicht denkbar ist, so kann letztere

auch nicht auf die Bemühungen des Einzelnen um sich selbst verzichten. Denn die Unterstützung von

und Aufmerksamkeit für Andere setzt eine Stärke und Selbstmächtigkeit des betreffenden Subjekts

voraus, die ihm erlaubt sich selbst zur Sorge zu verpflichten und die Verantwortung zu tragen.

Selbstsorge dient folglich auch dazu, dem Anderen ein guter Gastgeber zu sein und für seine Anliegen

wach zu bleiben24.

Nach Michel Foucault steht die Selbstsorge im Zentrum einer neuen, verantwortungsvollen Ethik des

Individuums, welche überholte Sollensethiken ablöst und auf das Fehlen einer übergreifenden Moral

antwortet. Diese Ethik beruht auf dem Anliegen, das eigene Leben nicht einem anonymen Sollen zu

überlassen, sondern sich gemäß der eigenen Wahl Form zu geben, sich selbst führen zu lernen und das

aufklärerische Postulat des Selberdenkens zu verwirklichen. Das Kernstück einer Ethik der

Lebenskunst ist die Selbstmächtigkeit des Individuums, als die Fähigkeit verstanden, die eigene

Existenz auf dem Horizont der, das Selbst durchziehenen, Strukturen zu verstehen, sowie diese

Strukturen und die Verstrickungen mit ihnen aufklären zu können. Sie dient der Entdeckung von

Ansatzpunkten für eigene Entscheidungen und Gestaltungsmöglichkeiten und schließlich der

Erlangung einer autonomen hermeneutischen Macht, die erlaubt das Leben auch anders zu deuten, als

es von heteronomen Mächten vorgegeben wird. Selbstmächtigkeit ermöglicht dem Subjekt des Lebens

eine zum Grad seiner Aufgeklärtheit relative Autonomie. Für Michel Foucault sind die Techniken der

Selbstgestaltung des Individuums mit dem Ziel der Erlangung von Selbstmächtigkeit eine „dringende,

politisch unerläßliche Aufgabe25“. Die modernen Massengesellschaften enthalten vielfältige,

übermächtige Techniken und Institutionen zur Beherrschung der Menschen, die Foucault in ihrer

Gesamtheit als Biomacht bezeichnet. Es sind solche Mächte, deren Ziel es ist, das Leben zu

normieren, zu disziplinieren, zu reglementieren und zu ihrem Objekt zu machen. Gegen diese

23vgl. Foucault, Michel (1993): Technologien des Selbst, Frankfurt a.M., S. 34 u. 37 und Schmid, Wilhelm (2000): Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst, Frankfurt a.M., S. 245ff 24vgl. Mührel, Eric (2000): Sinnhilfe in einer gespensterhaften Welt, in: Zeitschrift Erwachsenenbildung, Bd. 3/ 2000 25Schmid, Wilhelm (2000): a.a.O., S. 257

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Techniken der Biomacht gibt es keine andere Möglichkeit des Widerstands, als der Bezug auf sich

selbst und die engagierte Aneignung des eigenen Lebens, um für sich selbst sprechen zu können.

6. Lebenskunst und Profession

Die Förderung und der Schutz der Sorge als Methode der Aneignung des eigenen Lebens im Modus

der weltoffenen Selbstbestimmung erscheint mir, als eine Aufgabe zu der man sich berufen fühlt.

Berufen, oder angerufen durch die Sehnsucht des einzelnen Anderen nach einem guten Leben,

angerufen durch die Bedürfnisse einer Weltgesellschaft und berufen durch die Vision einer neuen

Ethik des Lebenswollens und Lebenskönnens.

Nach meiner Auffassung macht dieses Moment der Berufung den Begriff einer Profession, als

Zusammenschluß von Menschen mit demselben Beruf und als Institutionalisierung deren Handelns,

aus. Mit dieser Definition des Professionsbegriffs möchte ich mich aus der ebenso komplizierten, wie

undurchsichtigen Diskussion um die Begriffe „Profession“ und „Disziplin“ auf der

wissenschaftstheoretischen und berufssoziologischen Ebene heraushalten. Unabhängig davon, ob eine

Profession einem genuinen Aufgabenbereich zugehören muß, der von keiner anderen

gesellschaftlichen Institution bewältigt werden kann, unabhängig davon ob Profession „ein Beruf

besonderer Dignität26“ ist oder einfach das Ergebnis funktionaler Ausdifferenzierung, unabhängig

davon ob und in welchem Ausmaß eine Profession eigenes Handlungswissen, Forschung und Theorie

besitzen muß, möchte ich Soziale Arbeit hier als Profession verstehen, weil sie die Antwort auf den

Anruf Einzelner oder Gruppen ist27.

Professionelle soziale ArbeiterInnen sind tätig für die Rechte der Anderen und verwirklichen in ihrem

Handeln die Prinzipien der Achtung der Würde des Anderen und seines Menschseins. Nach dem

Deutschen Berufsverband für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Heilpädagogik e.V. (DBSH) ist

Soziale Arbeit mit dieser Ausrichtung „die Institution der beruflich geleisteten Solidarität mit

Menschen, insbesondere mit Menschen in sozialen Notlagen.28“ Oben wurde im Rahmen des

Lebenskunstbegriffs der Begriff der Sorge für den Anderen thematisiert. Wenn Berufung und

Solidarität wie die Arbeit für das Recht des Anderen Soziale Arbeit ausmachen, was läge dann näher

als die Sorge um den Anderen im Rahmen einer über den/ die soziale(n) ArbeiterIn hinausgehende

Selbstsorge, als das berufliche Prinzip schlechthin zu begreifen? Die Sorge für den Anderen kann, auf

Basis wohl verstandener Aufmerksamkeit für Nöte und Unterstützungsbedarf, den Charakter einer

beruflichen Befähigungshilfe zu einem selbstbestimmten Leben annehmen. Berufliche Beziehungen in

der Sozialen Arbeit könnten verstanden werden als Bewußtwerdungsprozesse der Möglichkeiten der

26Mühlum, Albert (ohne Jahreszahl): Vorüberlegungen für eine Positionsbestimmung der DGS, http://www.fh-fulda.de/dgs/ sozarbwi.htm, S.5 27vgl. Haupert, Bernhard ( 2000 ): Wider die neoliberale Invasion der Sozialen Arbeit, in: Neue Praxis, 6/ 2000, S. 562, 566 und Hundeck, Markus ( 2001 ): Durchbrochene Kontingenz und verdankte Existenz als Perspektiven Sozialer Arbeit, http://www.sozialarbeitswissenschaften.de, S. 16ff 28DBSH ( ohne Jahreszahl ): Berufsethische Prinzipien des DBSH, Essen, S. 12

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eigenen offenen Existenz, bei denen die professionell Tätigen ihre eigene Offenheit und ihre eigene

Sorge den AdressatInnen leihen, um diese zur Selbstsorge, zur übergreifenden Gestaltungsarbeit und

wiederum zur Sorge um Andere zu befähigen29.

Soziale Arbeit als Arbeit der Sorge würde reflektierte Arbeit an sich selbst, Befähigungshilfe für den

hilfesuchenden Anderen und kritisch-hermeneutische, sowie verändernde Arbeit an der Kultur und der

Gesellschaft umfassen. Dies wäre nach meiner Auffassung sowohl eine echte Herausforderung als

auch eine echte Chance für eine Profession, die sich notorisch in Identitäts- und Rechtfertigungskrisen

befindet. Ist es also möglich und richtig Soziale Arbeit als Lebenskunstprofession zu bezeichnen?

7. Soziale Arbeit und das gute Leben

Im Beruf der Sozialen Arbeit tätig zu sein bedeutet „ressourcenerschließende, erziehende, beratende,

bildende, partizipations-fördernde, sozial vernetzende, ermächtigende, alltagsbegleitende, pflegende,

betreuende, verwaltende, organisierende und auswertende30“ Arbeit im Schnittfeld der drei - den Beruf

charakterisierenden - Felder Bildung und Sozialisation, Soziale Probleme sowie Menschen- und

Soziale Rechte zu leisten. Soziale Arbeit wird herausgefordert bzw. notwendig durch soziale Probleme

für welche sie Strategien der Prävention, der Bewältigung und der Lösung entwickelt sowie anwendet.

Dabei greift sie in Sozialisationsprozesse der Menschen ein, indem sie Lern- und Bildungsprozesse

fördert und/ oder selbst initiiert. Ihre Konzepte und Methoden basieren auf sozialen Rechten und

Menschenrechten, deren Umsetzung und Einforderung ebenfalls zu ihren Aufgaben gehören.

An dieser Standortbestimmung Sozialer Arbeit werde ich mich im Folgenden orientieren, da sie eine

sehr allgemeine und - wie ich meine - konsensfähige Grundlage bietet, auf der die These einer

Sozialen Arbeit als Lebenskunstprofession erörtert und begründet werden kann. Dafür werde ich zu

zeigen versuchen, daß sich in allen drei, der oben genannten, charakteristischen Felder Sozialer Arbeit

eine grundsätzliche Orientierung an dem Begriff des guten Lebens als möglich und als günstig erweist,

bzw. bereits ein Einfluß des Lebenskunstbegriffs besteht.

7.1. Soziale Probleme

Soziale Arbeit ist eine gesellschaftliche Institution deren gesellschaftlicher Auftrag in der

Wahrnehmung, Veröffentlichung und Lösung sozialer Probleme besteht. Solche Probleme entstehen

dann, wenn sich eine (wachsende) Zahl von Menschen in einer gemeinsamen, problematischen Lage

befinden, die daraufhin von Betroffenen, Politikern, Wissenschaftlern oder anderen als

gesellschaftliches Problem definiert und als veränderungsbedürftig erkannt wird. Als klassische

soziale Probleme gelten z.B. Armut, Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung oder sogenanntes „abweichendes

Verhalten“.

29vgl. Capurro, Rafael ( 2001 ): Face-to-Face oder Interface?, http://www.capurro.de/face.htm, S.3 30von Heiner u.a. zit. nach Bundesanstalt für Arbeit (1997): Blätter zur Berufskunde - Diplom-Sozialarbeiter/ Diplom-Sozialpädagoge ( FH ), Bielefeld, S.5

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Aufgrund der Strukturen postmoderner Gesellschaften, dies heißt insbesondere aufgrund der

Komplexitätssteigerung in der Lebenswelt der Menschen bei gleichzeitigem Verlust von

Orientierungshilfen, erscheint jedoch zunehmend bereits die Lebensführung und Alltagsbewältigung

an sich als soziales Problem. Einer zunehmenden Zahl Menschen scheinen die Kompetenzen und/ oder

Handlungsmöglichkeiten für eine sie zufriedenstellende Lebensgestaltung, d.h. für ein gelingendes

Leben im weitesten Sinn zu fehlen. Diese Situation der Unzufriedenheit und Hilflosigkeit forciert

weitere soziale Probleme - wie aggressives oder autoaggressives Verhalten, psychische Erkrankungen,

Kriminalität und ähnliches - die auch als Versuche der Kompensation oder problematische Formen des

Strebens nach einem eigenen Leben verstanden werden können.

Wie oben bereits beschrieben ist Soziale Arbeit gefordert, auf soziale Probleme mit der Entwicklung

und Anwendung von Präventions-, Bewältigungs- und Lösungsstrategien zu reagieren. Aus diesem

Grund entwickelte Hans Thiersch das Konzept der lebenswelt- und alltagsorientierten Sozialarbeit, die

als Antwort auf das Problem „Lebensführung“ einen gelingenderen Alltag ermöglichen sollte31.

Ähnlich wie Hans Thiersch fordert Rita Sahle „Lebensführung“ als das gesellschaftliche

Handlungsproblem zu begreifen, welches den Einsatz von professioneller Hilfe notwendig macht, die

über Forschung und theoriegestütztes Handlungswissen bezüglich der Möglichkeiten eines

erfolgreichen Lebens verfügt. Dabei verweist sie auch auf den, von mir bereits aufgegriffenen Aspekt

des gesellschaftlichen Interesses an einem gelingenden Leben des Einzelnen: „Während das

gescheiterte Leben lange als individuelle, als private Angelegenheit behandelt wurde, mag mit der

Steigerung der gesellschaftlich induzierten Anforderungen die Frage der Bewältigung zu einer

öffentlichen, einer sozialen Angelegenheit werden. In dem Maße, in dem sich ein Bewußtsein für die

gesellschaftliche Sprengkraft dieses Problems herausbildet, kann sich Soziale Arbeit als

professioneller Agent [...] für dessen Lösung/ Bearbeitung weiterentwickeln.“32 Um diese

Weiterentwicklung geht es mir hier. Dabei schlage ich vor, daß sie in der Entwicklung von Konzepten

der Hilfe und Unterstützung bezüglich des sozialen Problems „Lebensführung“ bestehen könnte, die

sich an der Theorie des guten Lebens ausrichten und dessen Förderung zum Ziel haben33.

Was bedeutet dies konkret für eine Sozialarbeit als Lebenskunstprofession?

31Zur Einführung vgl. Engelke, Ernst (1998): Theorien der Sozialen Arbeit,Freiburg i.B., S. 325-338 32Sahle, Rita ( ohne Jahreszahl ): Überlegungen zur Gegenstandsbestimmung Sozialer Arbeit, http://www.fh-fulda.de/dgs/ sozarbwi.htm 33Mit dem Aspekt der Lebensführung/ Lebensbewältigung und den Aufgaben Sozialer Arbeit in diesem Kontext beschäftigt sich auch die März/ April Ausgabe der Zeitschrift Blätter der Wohlfahrtspflege (2002, herausgegben vom Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg). Dies spiegelt eine aktuelle Rückbesinnung auf die alltäglichen Belange der Klienten als Ansatzpunkt und Herausforderung für Soziale Arbeit. Rita Sahle stellt in diesem Heft ihren oben bereits erwähnten Ansatz vor, bei welchem das aus der Soziologie stammende Konzept der alltäglichen Lebensführung „als Matrix für die Organisation des Bezugswissens zu einem transdisziplinären Beschreibungs- und Erklärungsmodell“ (a.a.O., S.49) für die Sozialen Arbeit vorgeschlagen wird. Da in diesem Ansatz eine gelungene Lebensführung als eine sichtbar gelungene Konstruktion eines Systems „Alltag“ verstanden wird aus dem die Tragweite von Emotionen/ Stimmungen (Zufriedenheit, Glück ect.) und subjektiven Sinndeutungen ausgeklammert bleibt, unterscheidet er sich jedoch stark von dem hier vorgeschlagenen Konzept einer Sozialen Arbeit als Lebenskunstprofession als Antwort auf das soziale Problem „Lebensführung“.

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Auf der Ebene der präventiven Begegnung des grundlegenden, sozialen Problems „Lebensführung“

ist eine Soziale Arbeit der Lebenskunst gefordert, durch Begleitung und Hilfe bei der

Lebensgestaltung und der Entwicklung von Lebensentwürfen prophylaktisch tätig zu werden und

durch die Förderung eines weltoffen selbstbestimmten Lebens, von Selbstmächtigkeit und Selbstsorge,

ein grundsätzliches Mißlingen des Lebens im Voraus zu verhindern. Dies schließt die Vermittlung von

Orientierungsvorschlägen und -hilfen die auf dem entwickelten Begriff des guten Lebens beruhen, die

Bereitstellung eines pädagogischen Schonraums in dem Lebensentwürfe in „Situationen des

existentiellen Probehandelns34“ getestet werden können, sowie die direkte Vermittlung von Wissen

und Kompetenzen bezüglich des guten Lebens mit ein. Grundsätzlich sorgt sich eine präventive

Soziale Arbeit, die sich als Lebenskunstprofession versteht, um den Schutz und die Wahrnehmung der

Möglichkeiten guten Lebens seitens aller Menschen. Insofern ist sie ein Angebot für jeden und nicht

auf die Arbeit mit Menschen in Rand- und Elendszonen beschränkt.

Konzepte der Bewältigung des sozialen Problems der Lebensführung sind in den Fällen notwendig,

in denen der Lebensentwurf von Einzelnen oder von Gruppen bereits gescheitert ist oder zu scheitern

droht und die Ressourcen der betreffenden Personen für eine selbständige Bewältigung der Situation

nicht mehr ausreichen. Die Ziele einer Sozialen Arbeit als Lebenskunstprofession müssen auf der

Ebene der Problembewältigung deshalb in der Widerherstellung der Handlungsmöglichkeiten des

Einzelnen, sowie seiner Fähigkeit den eigenen Lebensweg zu kontrollieren liegen. Hierzu kann eine

nachholende Bildung oder Resozialisation, die Befähigung zum Umgang mit Brüchen und

Widersprüchen im eigenen Leben oder die Befähigung zur Lösung und Emanzipation aus unnötigen

Abhängigkeiten dienen. Michael Winkler nennt diese Vorgänge, ´die Sicherung von Subjektivität´ und

bezeichnet sie in seiner Theorie Sozialer Arbeit als die genuine Aufgabe der Profession. Dabei ist er

der Meinung, daß Soziale Arbeit aufgrund der derzeitigen, gesellschaftlichen Strukturen die einzige

Institution ist, die „Subjektivität in allen Dimensionen noch verbürgen kann und verbürgen muß [...]

[indem sie einen Ort der] Selbstbewältigung der modernen Gesellschaften und ihrer

Folgeerscheinungen35“ vorhält. Nach meiner Auffassung kann gerade eine Soziale Arbeit die sich der

Förderung von Lebenskunst - im Sinne von Selbstmächtigkeit und einer Selbstsorge die über das

Individuum hinausgeht - widmet, diesen so notwendigen Ort der Bewältigung moderner

Gesellschaftsstrukturen, sowie der Rückbesinnung auf das Individuum, erfolgsversprechend

ausgestalten und anbieten.

Zur Bewältigung des sozialen Problems „Lebensführung“ sind alle Interventionen Sozialer Arbeit als

Lebenskunstprofession auf die schrittweise Befähigung zu einer weltoffen selbstbestimmten

Lebensführung, d.h. auf die Entwicklung eigener Lebenspläne in gelingender Antwortfähigkeit,

auszurichten. Als leitende Methode läßt sich von einer Klugheitserziehung sprechen, wie Wilhelm

Schmid sie in seinem Buch Philosophie der Lebenskunst vorstellt: Danach geht Klugheitserziehung

34Krawitz, Rudi ( 1996 ): Pädagogik statt Therapie, Bad Heilbrunn, S. 214 35Winkler, Michael: Modernisierungsrisiken, in: Rauschenbacher/ Gängler (Hrsg) (1992): Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft, Neuwied, S. 72

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von den Fähigkeiten und Ressourcen des Einzelnen aus um in angemessenen Schritten diesen

persönlichen Handlungshorizont im Hinblick auf das Ziel kluger und umsichtiger Lebensführung zu

erweitern36. Damit ist ein weiterer, wichtiger Aspekt einer Sozialarbeit als Lebenskunstprofession

angesprochen, nämlich die grundsätzliche Orientierung an den Fähigkeiten und den gelungenen

Lebenssituationen des einzelnen Menschen, im Gegensatz zu einer Fokussierung seiner Defizite.

Zur umfassenden Lösung sozialer Probleme muß Soziale Arbeit sich auf ihre

gesellschaftsverändernde und politische Kraft besinnen, ein Vorgang der in der Praxis nach meiner

Auffassung zusehends vernachlässigt wird. Dabei ist die Veränderung sozialer Verhältnisse und des

sozialen Verhaltens Einzelner im Hinblick auf die „Zielvorstellung einer auf Freiheit, Gleichheit,

sozialer Gerechtigkeit, Solidarität und dem Abbau von überflüssiger Herrschaft begründeten

Gesellschaft37“ im Kontext sozialer Probleme ebenso ein gesellschaftlicher Auftrag wie die

Bewältigung des Problems auf individueller Ebene. Die Scheu sich zu einer solchen Vision einer

„besseren“ Gesellschaft zu bekennen und aktiv dafür einzutreten mag in der, von Silvia Staub-

Bernasconi festgestellten, falschen Bescheidenheit sozialer ArbeiterInnen begründet sein, die den

Vorwurf von Allmachtsphantasien und diffuser Allzuständigkeit fürchten und sich - anstelle der

Formulierung eigener Ziele - Themen und Konzepte von außen vorgeben lassen38. Unkonstruktiv ist

diese Haltung in jedem Fall. Zum einen bleibt Soziale Arbeit auf diese Weise eine Institution, die

„Trümmer wegräumt“ und politische, wie gesellschaftliche und ökonomische Fehlentwicklungen und

Fehlentscheidungen kaschiert. Zum anderen läßt sich das Ziel, Menschen ein gelingendes und gutes

Leben zu ermöglichen nur dann erreichen, wenn Soziale Arbeit auch bereit ist mit dem Wissen um

förderliche Umstände sowie Hindernisse eines guten Lebens, provokant und politisch engagiert

aufzutreten, um die notwendigen strukturellen Bedingungen zu fordern bzw. zu schützen. Soziale

Arbeit als die „Vertretung der Lebensrechte aller, vor allem der Zu-Kurz-Gekommenen, Hilflosen,

Unterprivilegierten und Schwachen [...] [muß auch] Stachel im Fleisch bestehender

Machtverhältnisse39“ sein. Eine Soziale Arbeit als Lebenskunstprofession ist sich dieser

Herausforderung bewußt und engagiert sich auf Basis eines Selbstverständnisses - die

Lebenskunstarbeit - welches ihr hilft selbstbewußt aufzutreten und in Öffentlichkeit und Politik für

sich die Position zu erkämpfen, die sie zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben benötigt.

7.2. Bildung und Sozialisation

Der Mensch kommt unfertig auf die Welt. Dies erfordert und ermöglicht gleichzeitig die Erziehung

des jungen Menschen im Hinblick auf seine kompetente Beteiligung an allen Dimensionen des Lebens

sowie dem Aufbau eines gelungenen, verantwortlichen, eigenen Lebensstils.

36vgl. Schmid, Wilhelm (1998): Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt a.M., S.312 ff 37Bundesanstalt für Arbeit (1997): a.a.O., S. 9; vgl. auch IFSW (ohne Jahreszahl): Soziale Ausgrenzung und Soziale Arbeit in Europa, Copenhagen, S. 10 38vgl. Staub-Bernasconi, Silvia: Das fachliche Selbstverständnis Sozialer Arbeit, in: Wendt, Wolf (Hrsg.) (1995): Soziale Arbeit im Wandel ihres Selbstverständnisses, Freiburg i.B., S.63 ff 39Thiersch, Hans, zit. nach Engelke, Ernst (1998): Theorien der Sozialen Arbeit, Freiburg i.B., S. 334

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Dieser Erziehungsauftrag ist zu Anteilen in der Sozialen Arbeit institutionalisiert. Sie steuert und

gestaltet die Bildungs- und Sozialisationsprozesse des Menschen mit, indem sie eine pädagogische

Praxis - in Anlehnung an Rudi Krawitz soll hierunter das gesamte Spektrum von Erziehung, Bildung,

Sozialisation und Unterricht verstanden werden40 - vorhält, die Hilfe beim verantwortlichen

Erwachsenwerden leistet. Der Gegenstand der Pädagogik ist jedoch gerade in der Sozialen Arbeit, dies

sei hier ausdrücklich angemerkt, nicht auf die Begleitung Heranwachsender beschränkt, sondern

umfaßt auch die Arbeit mit Erwachsenen in nachholenden Lernprozessen, Prozessen des Umlernens

oder der Unterstützung bei Formen von Selbstbildung.

Eine Sozialarbeit als Lebenskunstprofession muß (und darf), aus mindestens drei Gründen, in allen

Dimensionen ihres Handelns und in allen Arbeitsfeldern ein besonderes Augenmerk auf die Bildung

des Menschen legen:

Zum Einen kommt sie hierdurch der wesentlichsten Aufgabe unserer Zeit nach, die in der Erziehung

gebildeter Menschen besteht, die sich in der Gesellschaft behaupten und kritisch-konstruktiv für

bessere Verhältnisse engagieren können. Wenn hierzu, wie Rudi Krawitz sagt, „eine pädagogische

Praxis notwendig [ist], in der den Heranwachsenden geholfen wird, individuell verlorengegangene

Orientierung zurückzugewinnen, neue hoffnungsvolle Utopien zu entwickeln, die weitere Verknappung

der „Ressource Sinn“ ( Habermas ) durch aktive philosophische Reflexion aufzuhalten und neue

ökologische und humane Lebensformen zu entwickeln, zu erproben und zu praktizieren41“, dann wird

deutlich, daß Soziale Arbeit mit der Orientierung der Lebenskunstförderung, sofern es ihr gelingt,

Leistungsaspekte aus Lernprozessen herauszuhalten, in besonderer Weise für die Umsetzung dieses

Bildungsziels prädestiniert ist.

Eine Soziale Arbeit als Lebenskunstprofession muß an einer „Erziehung zum Guten42“ und zur

Mündigkeit festhalten. Ihre Bildungsprozesse dienen deshalb explizit der Befähigung zur Selbstsorge

und damit auch zur Sorge um Andere, sowie der Unterstützung bei der Erlangung und Gestaltung von

Selbstmächtigkeit und Freiheit. In diesem Sinne ist eine Soziale Arbeit als Lebenskunstprofession eine

emanzipatorische Sozialarbeit - als gesellschaftskritischer Gegenentwurf zu einer Erziehung zur

Anpassung sowie Erziehungstechnologien die vorgegebenen Zwecken folgen - mit dem Ziel der

Unterstützung der Subjektwerdung des Menschen, d.h. einer selbstbestimmten und selbstbewußten

Lebensführung, der Immunisierung gegen Manipulation und Verführung sowie der Emanzipation aus

(unnützen) Abhängigkeiten43. Mit diesem Ansatz einer eigenständigen, pädagogischen Intension

emanzipiert sich Soziale Arbeit aus dem Image einer „Reparaturinstanz“ und verweigert sich

Aufträgen der reinen Kontrolle oder Disziplinierung.

40vgl. Krawitz, Rudi (1996): Pädagogik statt Therapie, Bad Heilbrunn, S. 229 41Krawitz, Rudi (1996): a.a.O., S. 220 42Liebau, Eckhart ( 1999 ): Erfahrung und Verantwortung, Weinheim, S. 151 43Für eine so verstandene, emanzipatorische Soziale Arbeit lassen sich wertvolle Konkretisierungen und Ansätze aus dem Konzept Subjektorientierter Jugendarbeit von Albert Scherr ableiten: Scherr, Albert (1997): Subjektorientierte Jugendarbeit, Weinheim

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Es versteht sich von selbst, daß das Ziel der Autonomie und Mündigkeit des Menschen in der

pädagogischen Beziehung selbst zum Ausdruck kommen muß. So ist ein dialogisches Verhältnis

zwischen den professionellen sozialen ArbeiterInnen und den AdressatInnen der Unterstützung die

grundsätzliche Basis einer Sozialen Arbeit als Lebenskunstprofession. Dies bedeutet, daß die

AdressatInnen an der Ausgestaltung der Lernprozesse immer teilhaben, daß Ziele und

Handlungsschritte im Dialog ausgehandelt werden und daß sie in argumentativen

Auseinandersetzungen „ihre eigene Grundhaltung im Wider-Spruch des Dialogs und im Wider-Stand

der Person und ihrer Haltungen sukzessiv aufbauen44“ bzw. verändern können.

Der zweite Grund für die besondere Fokussierung des Bildungsaspekts in einer Sozialen Arbeit als

Lebenskunstprofession besteht darin, daß Bildung als die Fähigkeit verstanden, sich in der Lebenswelt

verläßlich orientieren und aussichtsreiche Lebensmöglichkeiten erschließen zu können, eine

Grundvoraussetzung von Glücksfähigkeit und gutem Leben ist. Einer Sozialen Arbeit als

Lebenskunstprofession kommt folglich die Aufgabe zu, Menschen in Bezug auf Lebenwissen45 zu

bilden. Lebenwissen ist ein Wissen vom Leben, d.h. von seinen Strukturen und Dimensionen und ein

Wissen für das Leben, d.h. ein Wissen von den grundsätzlichen Möglichkeiten ein Leben gut zu

führen. Es ist dabei ein Konglomerat aus vorgefundenem, wissenschaftlichem Wissen, welches in den

eigenen Lebensentwurf einverleibt wurde und Erfahrungswissen, d.h. solchem welches durch eigene

Erfahrung sowie deren Reflexion gewonnen wurde. Eine Soziale Arbeit die ihre Aufgabe in der

Vermittlung von Lebenwissen sieht, muß folglich zum einen so weit es möglich und angemessen ist,

wissenschaftliches Wissen ausbreiten und anbieten und das „wählerische, rezeptive Heranziehen,

Aneignen und Einverleiben von verfügbarem Wissen46“ für die Bildung subjektiven Lebenwissens

unterstützen. Zum anderen muß sie pädagogische Ort so gestalten, daß die Erwerbung und Reflexion

von Erfahrung möglich ist. Deshalb sind erzieherische Maßnahmen die in pädagogischer

Künstlichkeit, gleichsam in einem Labor stattfinden, wenig geeignet um Lebenwissen weiterzugeben.

Vielmehr ist eine pädagogische Praxis gefordert, die sich um die aktive Teilhabe und Teilnahme ihrer

AdressatInnen am konkreten Leben bemüht und die auf diese Weise sozusagen „vor Ort“ den

Entfremdungstendenzen und dem Verlust unmittelbarer Erfahrungen in modernen Gesellschaften

entgegenwirkt.

Die dritte und - zumindestens in meinen Ausführungen - letzte Begründung einer pädagogischen

Praxis in einer Sozialen Arbeit als Lebenskunstprofession, läßt sich schnell formulieren. Dies darf

jedoch nicht über ihre große Bedeutung hinwegtäuschen. Nach Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung

der Menschenrechte hat jeder Mensch das Recht auf Bildung. Die Ausbildung soll dabei „die volle

Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und

Grundfreiheiten zum Ziele haben. [...]“ (Art. 26, Abs. 2). Soziale Arbeit ist den Menschenrechten

44Krawitz, Rudi ( 1996 ): a.a.O, S. 217 45Der Begriff des „Lebenwissens“ sowie die folgenden Ausführungen beruhen auf der Arbeit Wilhelm Schmids (1998) in seinem Buch Philosophie der Lebenskunst, S. 297 - 310 46Schmid, Wilhelm ( 1998 ): Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt a.M., S.300

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verpflichtet und achtet auf deren Umsetzung und Anwendung im Einzelfall (siehe auch unten). Eines

ihrer grundsätzlichen Prinzipien muß folglich die konkrete Verwirklichung des Rechts auf Bildung,

welches Lernprozesse, das Sammeln von Erfahrungen, persönliche Entfaltung und Erziehung zur

Mündigkeit umfaßt, sein. Es ist hierbei darauf hinzuweisen, daß, da dieses Recht auf Bildung für jeden

Menschen gilt, Soziale Arbeit auch und gerade dann gefordert ist, Bildung im Sinne von

Lebenskunstförderung umzusetzen, wenn ihre Adressaten „schwierig“ sind.

7.3. Menschenrechte und Soziale Rechte

Menschenrechte sind solche Rechte, die als dem menschlichen Wesen unveräußerlich erachtet werden

und welche Raum für seine volle, persönliche Entfaltung gewährleisten. Zu diesem Zweck schützen

und gewährleisten sie die Grundrechte der Menschen an persönlicher Freiheit, politischer Teilhabe,

sowie an sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Teilhabe.

Da Soziale Arbeit eine Profession ist, die alltäglich mit der mangelhaften Befriedigung grundlegender,

menschlicher Bedürfnisse konfrontiert ist und welche die daraus resultierende Not ermessen kann,

wurde die Durchsetzung der Menschenrechte und damit die Bekämpfung dieser Mangelsituationen ein

wesentliches Prinzip des beruflichen Handelns. Die „unmißverständliche und rückhaltlose47“

Förderung der Menschenrechte, welche die International Federation of Social Workers (IFSW) und

die International Association of Schools of Social Work (IASSW) von allen, in der Sozialen Arbeit

Tätigen fordern, dient der Vermeidung und Bekämpfung sozialer Ausgrenzung, unter welcher nach

der IFSW der Ausschluß von Menschen an der Mitbestimmung und an der Teilhabe am

wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Leben zu verstehen ist.

Die soziale Ausgrenzung von Menschen durch die Verweigerung von Bedürfnisbefriedigung und/

oder Teilhabemöglichkeiten impliziert eine vollständige Vorenthaltung der Möglichkeiten guten

Lebens für die betroffenen Menschen. Das Engagement gegen Ausgrenzung und für die breite

Gültigkeit und Anwendung von Menschenrechten ist folglich ganz basale Arbeit an den Grundlagen

von Lebenskunst und Glück. Weiter oben wurde ein Minimalkonsens über äußere Bedingungen des

Glücks, welcher in relativer Freiheit und relativer Sicherheit besteht, formuliert. Dieser muß in den

einzelnen Gesellschaften unter Berücksichtigung ihrer historischen und kulturellen Situation

konkretisiert werden. Die Menschenrechte können als der Versuch interpretiert werden, diese

Konkretisierungsarbeit auf einer globalen Ebene für eine Weltbürgerschaft vorzunehmen. Gerade eine

Soziale Arbeit als Lebenskunstprofession muß sich aus diesem Grund mittels ihrer Kenntnisse und

Fähigkeiten, der Weiterentwicklung, der Einforderung und dem Schutz dieser Rechte widmen und

verpflichten.

8. Die Kunst Sozialer Arbeit

47zit. nach Schneider, Johann (1999): Gut und Böse - Falsch und Richtig, Frankfurt a.M:, S. 167

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Eine Soziale Arbeit der Lebenskunst, wie ich sie hier entworfen habe, ist in vieler Hinsicht selbst eine

Kunst. Ebenso wie das gute Leben verstehen sich die Fertigkeiten der Profession nicht von selbst.

Professionelles sozialarbeiterisches/ sozialpädagogisches Handeln ist ein Können welches entsteht,

wenn die Berufung erkannt, die Verantwortung angenommen und alle Bemühungen auf die

(kunstvolle) Erweiterung und Vertiefung der eigenen Fähigkeiten gelenkt werden. Aus diesem Grund

braucht es eine fundierte Ausbildung, die ihren Fokus - neben der Vermittlung instrumenteller,

reflexiver und sozialer Kompetenz für das sozialpädagogische/ sozialarbeiterische Handeln48 - auf die

Persönlichkeitsentwicklung bzw. -bildung der angehenden SozialarbeiterInnen legen muß. Das

Studium muß auch Arbeit am eigenen Selbst und am eigenen Leben sein können, denn die konkrete

Lebenshilfe, die eine Soziale Arbeit als Lebenskunstprofession auszeichnet, wird durch ein positives

Vorbild, durch dialogischen Austausch über Erfahrungen und/ oder durch persönliches Beraten

vermittelt, bei dem die professionell Tätigen als emphatische Menschen und nicht nur als

Funktionsträger erscheinen. Um dies in guter Qualität leisten zu können, wird eine starke

Persönlichkeit benötigt, die der Selbstsorge fähig ist.

Auch viele Haltungen, die eine Sozialarbeit als Lebenskunstprofession einnimmt und viele Praktiken

die sie pflegt, fallen selbst unter Lebenskunst und das Konzept eines guten Lebens. Soziale Arbeit

sollte eine Ethik des guten Lebens nicht nur vermitteln sondern ihr selbst folgen, indem sie sich um

Weltoffenheit und Selbstbestimmung ihrer Profession bemüht, ihre Horizonte durch Erfahrungswissen

und Klugheit erweitert, sowie gesellschaftliche Strukturen kritisch-hermeneutisch durchleuchtet, um

selbstmächtig zu bleiben. Nicht zuletzt sollte sie Erfolge und Glücksmomente bewußt wahrnehmen

und zulassen, um das Vertrauen in die eigenen Werte und Fertigkeiten zu bestärken, wo es angebracht

ist.

Wenn ich hier abstrakt von Sozialer Arbeit spreche, so denke ich v.a. an die theoretische und

wissenschaftliche Ausgestaltung der Profession, an die Theorie Sozialer Arbeit, die diese Aspekte

berücksichtigen muß. Auf der praktischen Eben ist selbstverständlich immer ein Mensch betroffen,

welcher diesen Anforderungen gerecht werden muß. Was bedeutet dies? SozialarbeiterInnen und

SozialpädagogInnen müssen nicht nur theoretisch „LebenskunstexpertInnen“ sein, sondern sie sind

gefordert persönlich und für ihr eigenes Leben die Kunst des guten Lebens zu beherrschen. Eine

vorgeschobene intellektuelle „Weisheit“ reicht hier nicht aus um zu vermitteln, was ihnen wichtig sein

muß: „Arbeit an den Grundlagen für ein bejahenswertes Leben weit über das Selbst hinaus49“.

Dies, so ist mir bewußt, ist eine hohe, aber auch eine unumgängliche Anforderung. Denn an der

Person der sozialen ArbeiterInnen entscheidet sich, ob das Modell des guten Lebens glaubwürdig ist,

ob Andere (die AdressatInnen ihrer Arbeit) es annehmen, modifizieren und weitertragen wollen, ob es

attraktiv erscheint. Die Art und Weise des Handelns der sozialen ArbeiterInnen entscheidet auch

darüber, ob die AddressatInnen ihrer Arbeit überhaupt eine Chance besitzen im Kontext der

48vgl. Geißler/ Hege (1999): Konzepte sozialpädagogischen Handelns, Weinheim, Kapitel 10 49Schmid, Wilhelm ( 1998 ): Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt a.M., S. 246

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Intervention ein gutes Leben zu erstreben und zu erlernen: Nur wenn die professionell Tätigen selbst

urteils-, konflikt- und konsensfähig sind, wenn sie über Verantwortungsbewußtsein und

Selbstbestimmung verfügen, können sie in ihren Handlungen einen Spielraum schaffen, welcher den

AdressatInnen eine Chance auf den Erwerb von Mündigkeit und auf produktive Entwicklung

einräumt.

Soziale Arbeit als Lebenskunstprofession zu verstehen ist ein Ansatz für eine Theorie Sozialer Arbeit.

Da aber das gute Leben - welches nie abschließend erreicht werden kann, sondern ein andauernder

Prozeß bleibt - ihr Kern wäre, bliebe sie immer offen und um endgültige Antworten verlegen; mit

Vorsatz. Ein solches Verständnis Sozialer Arbeit ist undogmatisch und bewahrt langfristig den Raum

für Reflexion, für Selbstkritik, für Dialog und für Diskurs. Und nur mit diesen handlungsleitenden

Prinzipien wird Soziale Arbeit an sich, ganz besonders aber eine Soziale Arbeit die als ihre Aufgabe

die Förderung von Lebenskunst versteht, in Zukunft zwischen Anthropotechniken, Weltmarkt und

technisch-rationalen Selbstverhältnissen ihren Platz behaupten können und eine Chance haben. Mit ihr

die Vision einer humaneren, sozial gerechteren, aber glücklicherweise noch geheimnisvollen und

überraschenden Welt, in der es sich leben läßt.

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