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Ausgabe August 3/2012 Das Magazin von THEMA Arbeitsrechte in China AFRIKA Stimme der Sprachlosen

Solidarität 3/12

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Magazine of Solidar Suisse

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Ausgabe August 3/2012

Das Magazin von

themaArbeitsrechtein ChinaafrikaStimmeder Sprachlosen

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Medienschau

19.4.2012so kickt die Fifa in Brasilien(…) Nie floss mehr Geld als bei den Vor-bereitungen zur Fussballweltmeister-schaft im Juni 2014 in Brasilien. Kein Wunder, wird der Weltfussballverband Fifa immer dreister mit seinen Forderun-gen gegenüber den Gastländern. Wie dreist, zeigen Zahlen und Fakten, die So-lidar Suisse im Zuge der neuen Kampag-ne «Pfeifen Sie Sepp Blatter Ihre Mei-nung» auf seiner Website veröffentlichte. Im Dossier «(K)Ein Fest für alle» wird (…) aufgeführt, welche Bedingungen etwa bezüglich gesetzlicher Anpassungen die Fifa an Brasilien stellt – und wie bereits zwei Jahre vor Anpfiff deutlich ist, wie weite Teile der brasilianischen Bevölke-rung unter der WM leiden werden. (…)

10.4.2012 sepp Blatter lässt hüften schwingenEin merkwürdiges Video von Fifa-Präsi-dent Sepp Blatter sorgt momentan im In-ternet für Furore. Darin lässt der 76-jäh-rige Walliser zu brasilianischen Rhythmen die Hüften schwingen. (…) Beim hem-mungslos tanzenden Fifa-Präsident han-delt es sich allerdings nicht um das Origi-nal, sondern um ein Double. (…) Mit seiner Kampagne will Solidar Suisse Missstände rund um die Fussball-WM 2014 in Brasilien aufzeigen. «Es ist un-fassbar, dass die Fifa an der WM erneut Milliarden verdienen wird und gleichzeitig Hunderttausende Leute ihre Existenz verlieren», sagt Mediensprecher Christi-an Engeli. (…)

Liebe Leserin, lieber Leser, Diese Nummer der Solidarität hat China zum Schwerpunkt. Ein facettenreiches Land mit einem enormen kulturellen Reichtum, das sich in einem gewaltigen Entwicklungsprozess befindet. Ein Land, das aus einer für uns fremden Mischung aus Einparteien-system und Kapitalismus besteht. Ein Land, in dem eine Fülle von Produkten, die wir für unser modernes Leben brau-chen, billig hergestellt wird – oft unter schlechten Arbeitsbedingungen.

Solidar engagiert sich seit zwei Jahren für diejenigen Menschen, die in China für die Einhaltung der Arbeitsrechte kämp-fen. Dabei hat sich einmal mehr die Uni-versalität der Forderung nach würdigen Arbeitsbedingungen gezeigt: Wenn Ar-beiterInnen an die Grenzen des Ertrag-baren kommen, wehren sie sich. Wenn Menschen von Arbeitgebenden und Be-hörden nicht ernst genommen werden, beginnen sie sich zu or-ganisieren, um sich Respekt zu verschaffen. Dabei geht es ih-nen zunächst nicht um grosse politische Ziele. Sie wollen eine menschenwürdige Arbeit, und sie wollen, dass das Gesetz für

sie gilt. Unsere Partnerorganisation LAC unterstützt die Arbei-terInnen dabei, ihre Rechte einzufordern. Doch wir können auch hier unseren Beitrag gegen Ausbeutung leisten. Vor vier Jahren hat Solidar Schweizer Gemeinden auf-

gefordert, nur noch fair produzierte Wa-ren zu beschaffen – zum Beispiel wenn sie den Dorfplatz neu pflästern. Die be-nötigten Steine werden häufig aus China importiert. Damals war es schwierig, die-se fair zu beschaffen. Was die gestiege-ne Nachfrage nach fair produzierten Na-tursteinen bewirkt hat, zeigt ein Interview mit Karoline Herrmann von WiN=WiN, die das Fair-Stone-Label betreibt.

Fairer Handel ist eine Voraussetzung für würdige Arbeitsbedingungen. Deshalb fordert Solidar die Schweizer Regierung auf, im zurzeit verhandelten Freihandels-

abkommen mit China die Menschen- und Arbeitsrechte zu ver-ankern. Wir wollen keinen freien Handel. Wir wollen einen fairen Handel, der allen zugutekommt. Zoltan dòka

Zoltan Dòka Leiter Ostzusammenarbeit

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24.6.2012schulmahlzeiten in Burkina FasoDas Glückskette-Partnerhilfswerk Solidar Suisse leistet Hilfe, um die Nahrungsmit-telknappheit in der Sahelzone zu lindern. Täglich werden in Burkina Faso mehr als drei Millionen Menschen nicht satt. (…) Im Innern des Landes erhalten zurzeit über 2000 Kinder täglich eine ausgewogene Mahlzeit. Das Essen wird während der Schulzeit an die Schulkantinen geliefert, in den Ferien erhalten die Familien der Kinder zweimal pro Monat Lebensmittel. Eine Entschärfung der Lebensmittelkrise sei nur möglich, wenn es einige Wochen intensiv regnen würde und so die nächste Ernte gesichert werden könnte, erklärt Rolf Stocker von Solidar Suisse.www.drs.ch/gluecksketteaktuell

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herausgeber: Solidar Suisse, Quellenstrasse 31, Postfach 2228, 8031 Zürich, Tel. 044 444 19 19, E-Mail: [email protected], www.solidar.ch, Postkonto 80-188-1 Mitglied des europäischen Netzwerks SolidarRedaktion: Katja Schurter (verantwortliche Redaktorin), Rosanna Clarelli, Christian Engeli, Alexandre Mariéthoz, Cyrill Rogger

Layout: Binkert Partner, www.binkertpartner.ch / Spinas Civil VoicesÜbersetzungen: Irene Bisang, Daniel Süri, Milena Hrdina, Walter Roselli, Jean-François ZurbriggenKorrektorat: Jeannine Horni, Carol Le Courtoisdruck und Versand: Unionsdruckerei/subito AG, Platz 8, 8201 SchaffhausenErscheint vierteljährlich, Auflage: 37 000

Der Abonnementspreis ist im Mitgliederbeitrag inbegriffen (Einzelmitglieder mindestens Fr. 50.–,Organisationen mindestens Fr. 250.– pro Jahr).Gedruckt auf umweltfreundlichem Recycling-Papier.

Titelbild: Ein an Staublunge erkrankter chinesischer Steinschleifer zeigt das Röntgenbild seiner Lunge. Foto: Ming Pao. Rückseite: Der neue Post-It-Clip von Solidar jetzt online: www.solidar.ch

aKTueLL Das Africa Labour Radio Project nutzt das populäre Medium Radio, um die ArbeiterInnen über ihre Rechte zu informieren und ihnen eine Plattform zu bieten. 14

KuLTuReLL Made in Yugoslavia: Melina Kamerics Geburtsland existiert nur noch auf dem Boden der Töpfe, in denen sie Ajvar kocht.13

einBLicK Misshandelte Frauen schrecken nicht mehr vor Anzeigen zurück und Jugendliche übernehmen Verantwortung: Maribel Abregos Engagement in El Salvador zeigt Wirkung.

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TheMaKampf für Arbeitsrechte, Fairtrade, Verankerung der Menschenrechte im Freihandels-abkommen: Wie sich Solidar für faire Arbeitsbedingungen in China engagiert. 4

iMPRessuM

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TheMa Engagement für Arbeitsrechte in China 4 Die Solidar-Partnerorganisation LAC unterstützt die ArbeiterInnen im Kampf um ihre Rechte 6 Die Schweiz muss die Einhaltung der Menschenrechte zur Voraussetzung für das Freihandelsabkommen mit China machen 8 Die Nachfrage nach fairen Produkten bestimmt das Angebot: Faire Steine aus China sind nun in der Schweiz erhältlich 10 KuLTuReLL Melina Kameric: Made in Yugoslavia 13 aKTueLL Das Africa Labour Radio Project gibt ArbeiterInnen in zehn afrika nischen Ländern eine Stimme 14 KOLuMne 15 PinGPOnG 16 neTZWeRK News aus den SAH-Vereinen 17 einBLicK Maribel Abrego setzt sich im salva dorianischen Cabañas für die Partizipation von Frauen und Jugendlichen ein 18

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5Wegen mangelndem Schutz gegen die Staubentwicklung erkranken viele ArbeiterInnen in der Stein­industrie an Staublunge.

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China China ist der drittwichtigste Handelspartner der Schweiz. Doch trotz gewisser Verbesserungen in den letzten Jahren hat das Land in Bezug auf Arbeits- und Menschenrechte noch im-mer einen schlechten Ruf. Bei vielen chinesischen Produkten, die wir hier kaufen, stellt sich deshalb die Frage, ob diese unter aus beuterischen Bedingungen hergestellt wurden. Aktuell steht die Schweiz mit China in Verhandlungen um ein Freihandelsabkommen, um den Handel weiter auszubauen. Wel-che Rolle wird den Menschenrechten in diesem Abkommen zu-gestanden? Ist fairer Handel mit China möglich? Wie setzt sich Solidar in der Schweiz und in China für faire Arbeitsbe-dingungen ein? Lesen Sie dazu den Themenschwerpunkt auf den folgenden Seiten. Foto: Ming Pao

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Zweiklassen-Mindestlohnstandard in Pan-yu, einer Region der Provinz Guangzhou im Südosten Chinas. In Panyu betrug der Mindestlohn nur 1100 Yuan, in anderen Regionen der Provinz jedoch 1300 Yuan. Die Solidar-Partnerorganisation Labour Action China (LAC) unterstützte seit Mit-te 2011 die ArbeiterInnen im Kampf um Transparenz in der Berechnung des Min-destlohns und um dessen Vereinheitli-chung. Im Februar 2012 reagierte die Regierung mit einer offiziellen Erklärung: Sie werde den Mindestlohn in Panyu auf die Höhe von Guanzhou Stadt heben. Ein seltener Sieg, der umso wichtiger ist, als es auch um die grundsätzliche Frage der Beteiligung der ArbeiterInnen an der Ausgestaltung der Spielregeln geht. In ganz China wurde in den Medien darüber berichtet.

Mit dem rapiden Wirtschaftswachstum in China wachsen auch die sozialen Span-nungen und die Unzufriedenheit der ArbeiterInnen. Dies zeigt sich in einer wachsenden Zahl wilder Streiks und De-monstrationen, die den chinesischen Staat zwingt, Gesetze zum Schutz von Arbeitsrechten und soziale Sicherungs-systeme zu schaffen. Doch trotz gelegent-licher Zugeständnisse an die ArbeiterIn-nen sind Politik und Gesetzgebung wei - terhin im Grunde kapitalfreundlich und undemokratisch. ArbeiterInnen dürfen sich nicht frei organisieren, da nach wie vor einzig die staatliche Gewerkschaft ACFTU offiziell zugelassen ist.

erfolgreicher Kampf um höhere Mindestlöhne Beispiel einer erfolgreichen Aktion von ArbeiterInnen ist der Kampf gegen einen

Gesundheitsgefährdende arbeitsbedingungenLAC setzt sich seit 2004 für die Rechte der WanderarbeiterInnen ein, und hat er-reicht, dass die Firma Lucky Gems in den Jahren 2010 und 2011 von der Uhren- und Schmuckmesse Basel World ausge-schlossen wurde (siehe Solidarität 2/2011: www.solidar.ch/solidaritaet).Seit her hat LAC weitere ArbeiterInnen im Kampf gegen gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen in der Schmuck-steinindustrie unterstützt. Im Februar die-ses Jahres übte LAC an der Hongkong International Jewelry Show, die sich die zweitgrösste Schmuckmesse der Welt nennt, Druck auf zwei weitere Firmen aus: Good Luck Jewelry und Worldwide Gems and Jewelry. An Silikose (Staub-lunge) erkrankte ehemalige ArbeiterIn-nen hatten die Firmen verklagt und vor

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kampf für arbeitsreChte In China kämpfen immer mehr ArbeiterInnen mit wilden Streiks und der Unterstützung von NGOs für menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Unabhängi-ge Gewerkschaften sind weiterhin verboten.Text: Suki Chung, LAC, Fotos: Ming Pao (l. u. r.) und LAC (Mitte)

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über einem Jahr Recht bekommen. Doch Worldwide Gems bezahlte den Klagen-den nur vereinzelt Entschädigungen aus, während sich Good Luck weigerte zu be-zahlen und Berufung einlegte. Aufgrund

der Beschwerden von LAC schloss die Hongkonger Schmuckmesse dieses Jahr beide Firmen aus.

erste anerkennung für Wander arbeiterinnenAn einer Protestversammlung mit 300 TeilnehmerInnen vor dem Hongkonger Hauptsitz von Worldwide Gems forderten zwei kranke ArbeiterInnen ihre überfälli-

ge Kompensation ein. Der Geschäftslei-ter verweigerte ihnen das Gespräch «aus Angst vor den Protestierenden». World-wide reagierte jedoch mit einem Angebot auf die Proteste: Den Betroffenen sollen

monatlich 3000 Yuan (450 Franken) Entschädigung be-zahlt werden. Angesichts des Gerichtsurteils, das allen Kla-genden insgesamt je über 300 000 Yuan zusprach, ist

dies jedoch völlig ungenügend. Zumal Luo Youzhong, einer der Kläger, im letz-ten Stadium der Silikose nur noch mit Sauerstoffzufuhr leben konnte – die 3000 Yuan hätten kaum seinen Lebens-unterhalt gedeckt, geschweige denn die Kosten für die medizinische Versorgung. Aufgrund des grossen Aufsehens, den ein Bericht im Guangdong Satelliten-TV erregte, rief die Regierung im Mai einen

Preis für ArbeitsmigrantInnen ins Leben – und hat somit zum ersten Mal deren Leistung offiziell anerkannt. Auch Luo Youzhong war unter den 13 Ausgezeich-neten. Am 2. Juni erlag er jedoch seiner Krankheit.www.solidar.ch/china

Dank Ihrer Spende von 100 Franken kann LAC einer Arbeiterin oder einem Arbeiter, deren Gesundheit durch schädliche Arbeitsbedingungen zer-stört wurde, juristischen Beistand bie-ten, um eine Entschädigung zu er-kämpfen. Je mehr Klagen, desto grös- ser der Druck auf die Unternehmen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern.

ihre spende wirkt

«es geht um die Beteiligung der arbeiterinnen an der aus-gestaltung der spielregeln.»

In einer Protestaktion an der Hongkonger Schmuckmesse fordern ArbeiterInnen eine Entschädigung für Silikose­Opfer.

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September weiterdiskutieren. Inzwischen ist bekannt geworden, dass – wenn überhaupt – Menschen- und Arbeits-rechte sowie Umweltstandards lediglich in der Präambel erwähnt werden sollen. Befürchtungen sind deshalb berechtigt, dass das Abkommen lediglich unverbind-liche Absichtserklärungen enthalten und damit zur Untergrabung von menschen- und arbeitsrechtlichen Mindeststandards in China beitragen wird.

Transparenz und arbeitsrechtliche MindeststandardsUm dies zu verhindern, engagiert sich Solidar Suisse in der China-Plattform. Zusammen mit der Alliance Sud, der Er-klärung von Bern, der Gesellschaft für bedrohte Völker und der Gesellschaft Schweiz-Tibet fordert Solidar mehr Transparenz bei den Verhandlungen und die Festlegung von arbeits- und men-schenrechtlichen Mindest-standards. Eine Studie des Schweizerischen Kompetenz-zentrums für Menschenrech-te von 2011 stützt diese For-derung.In seinem Positionspapier «Bilaterales Freihandelsab-kommen zwischen der Schweiz und Chi-na: Kein Freihandel ohne arbeitsrechtli-che Mindeststandards» drückt Solidar die Sorge über die fehlende Unabhängigkeit

der Gewerkschaften in China aus, die zu-nehmend zu sozialen Unruhen und spon-tanen Streiks der ArbeiterInnen führt. Das Arbeitsrecht ist im vergangenen Jahrzehnt zwar verbessert worden, doch Behördenwillkür bei Arbeitsinspektionen und Einflussnahmen auf die Arbeitsge-richte erschweren die Durchsetzung der Arbeitsrechte.

Zwangsarbeitslager in chinaDen wohl schlimmsten Verstoss gegen die Menschen- und Arbeitsrechte bilden die Zwangsarbeitslager: Die chinesische Regierung betreibt auch heute noch sol-che Lager, in denen geschätzte drei bis fünf Millionen Gefangene als billige Ar-beitskräfte ausgebeutet werden. Die Ge-fangenen können bis zu drei Jahre ein-gesperrt werden, ohne jemals formell verurteilt worden zu sein. Sie arbeiten meist von früh morgens bis spät abends

ohne Lohn und unter unmenschlichen und gefährlichen Bedingungen. Den zum Tode verurteilten und hingerichteten Ge-fangenen werden zum Teil die Organe

fairhandel statt freihandel mit ChinaMit dem geplanten Freihandelsabkommen mit China droht die Schweiz den Import von Produkten aus chinesischen Zwangsarbeitslagern zu fördern.Text: Christoph Baumann, Solidar Suisse

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Bald sollen die Verhandlungen über ein bilaterales Freihandelsabkommen zwi-schen der Schweiz und China abge-schlossen sein: Bundesrat Johann Schneider-Ammann möchte es bis Ende 2012 unter Dach und Fach bringen. Kein leichtes Unterfangen, denn bis heute ist noch kein Freihandelsabkommen zwi-schen China und einem europäischen Land abgeschlossen worden. Ausser-dem hat die Schweizer Verhandlungs-delegation von der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates die Aufla-ge erhalten, ein Nachhaltigkeitskapitel zu integrieren, das die Einhaltung der Kern-arbeitsnormen der Internationalen Ar-beitsorganisation (IAO) durch beide Vertragsstaaten sicherstellt. Das bedeu-tet: China muss die schlimmsten Formen der Kinderarbeit abschaffen, sämtliche Formen von Zwangsarbeit beseitigen und die Gewerkschaftsfreiheit garantie-ren.

Keine informationen über die VerhandlungenDie Bundesverwaltung hüllt sich über die Fortschritte der Verhandlungen in Schweigen. Nach jeder Verhandlungs-runde – so auch nach der fünften im Mai dieses Jahres – wurde bekannt ge-geben, es sei über «nachhaltige Entwick-lung» diskutiert worden. Nun sollen Ex-pertInnen bis zur nächsten Runde Anfang

«es fehlen Gesetze, die den import von Produkten aus Zwangsarbeitslagern verbieten.»

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entnommen und im In- oder Ausland ver-kauft. So testet der Schweizer Pharma-konzern Roche in China ein Medikament, das die Abstossung von transplantierten Organen verhindern soll. Die meisten ge-spendeten Organe stammen von Gefan-genen und Roche kann nicht ausschlies-sen, dass in den Testreihen Organe von Hingerichteten verwendet werden.

Mangelndes importverbotIn der Schweiz und anderswo in Europa fehlen Handelsgesetze, die den Import von Produkten aus Zwangsarbeitslagern verbieten. Dabei nimmt die Zahl solcher Produkte im Westen zu und fördert so das Elend in China. Die bereits jetzt man-gelhafte Regulierung des Handels hat potenziell Auswirkungen auf unseren Ar-beitsmarkt: Die Arbeitsleistung der drei bis fünf Millionen unbezahlten Gefange-nen in China entspricht in etwa der ge-samten Arbeitsleistung der Schweiz (mit 4,4 Millionen Erwerbstätigen). Theore-tisch – wenn auch nicht realistisch – könnte also das Zwangsarbeitssystem in China all jene Arbeitsplätze in der Schweiz vernichten, die nicht zwingend ortsgebunden sind. So könnte der Abbau von Handelsschranken durch ein Frei-

handelsabkommen den chinesischen Staat dazu verleiten, die Zwangsarbeits-lager auszubauen, um auf Kosten der Menschenrechte in China und der Er-werbstätigen in der Schweiz zusätzliche Einnahmen zu generieren.

Kein Freihandel ohne MenschenrechteEin Freihandelsabkommen mit China muss auch der Entwicklung und der Re-spektierung der Menschenrechte dienen. Deshalb hat Solidar sieben Mindestan-forderungen an das Freihandelsabkom-men aufgestellt (siehe Kasten). Die Ge-neralversammlung von Solidar Suisse hat diese Resolution am 24. Mai 2012 verabschiedet. Falls der Bundesrat nicht für die Verankerung der Menschen- und Arbeitsrechte sorgt, fordert Solidar Suis-se das Parlament auf, das Freihandels-abkommen abzulehnen. Die SP hat an ihrer Delegiertenversammlung vom 23. Juni 2012 eine Resolution mit ähnlichen Forderungen verabschiedet. Falls das Abkommen keine genügenden Nachhal-tigkeitsbestimmungen enthält, wird sie prüfen, ob sie das Referendum ergreifen wird. www.sp-ps.ch/positionen

cartoon von Corinne Bromundt

1. Das Freihandelsabkommen (FHA) zwischen der Schweiz und China bein-haltet ein Nachhaltigkeitskapitel mit sozialen und ökologischen Bestim-mungen.2. Das Nachhaltigkeitskapitel stellt die Einhaltung der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation IAO (Gewerkschaftsfreiheit; Verbot von Kinderarbeit, Zwangsarbeit und Diskriminierung) als arbeitsrechtliche Mindeststandards sicher. Darüber hin-aus legt es weitere Standards auf Ba-sis des Uno-Pakts 1 (Sozialrechte) verpflichtend fest.3. Das FHA garantiert die Freiheit und Unabhängigkeit der Gewerkschaften und sichert ihnen explizit das Recht zu, sich in internationalen Gewerkschafts-verbänden einbringen zu dürfen. 4. Das FHA stellt sicher, dass kein Freihandel erfolgt, solange nicht sämt-liche Zwangsarbeitslager geschlossen sind.5. Eine tripartite Kommission über-wacht die ausreichende Integration der arbeitsrechtlichen Belange sowie die Umsetzung des FHA und leitet als Schweizer Kontaktstelle für Beschwer-den bei Regelverletzungen Schritte ein, wie z. B. Sanktionen.6. Werden die menschen- und arbeits-rechtlichen Standards des Nachhaltig-keitskapitels verletzt, ist ein bilaterales Schiedsgerichtverfahren vorgesehen.7. Das FHA regelt verbindlich die Zu-sammenarbeit im Bereich Arbeit, ins-besondere in Bezug auf das Arbeits-recht und seine rechtliche Durch- setzung. www.solidar.ch/freihandelsab-kommen

Mindestanforderungen

an das Freihandels-

abkommen mit china

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duziert wurden. In der Schweiz sind hier die Städte Zürich und Bern Vorreiterin-nen. Private KäuferInnen, die nach fair produzierten Steinen fragen, gibt es ganz selten, obwohl ein Angebot existiert.

Viele hier verbaute Natursteine stammen aus China. Welches sind dort die grössten Probleme? Das Bewusstsein der ArbeiterInnen für die Gefährlichkeit ihres Jobs ist oft nicht vorhanden. Viele tragen keine Schutzausrüstung. Dabei las-sen sich arbeitsbedingte Krankheiten wie Silikose (Staublunge) und Gehörver-lust oder Unfälle durch einfa-che, aber effektive Massnah-men (Ohrstöpsel, Mundschutz, Sicher- heitsbrillen) verhindern. Leider gibt es oft auch keine Verträge oder Sozialversiche-rungen. Die Annahme, dass Kinderarbeit

in China verbreitet ist, können wir nicht bestätigen. Das Problem sind vielmehr die schlechten Arbeitsbedingungen.

Kann ich sicher sein, dass Natursteine mit einem Fair­Stone­Zertifikat wirklich fair produziert sind? Können Sie das vor Ort überprüfen? Die europäischen ImporteurInnen melden uns, aus welchen Fabriken sie die Steine beziehen. Wir besuchen die Fabriken und

begutachten die aktuelle Arbeitssituation. Unsere PartnerInnen, die ImporteurInnen, setzen sich dann gemeinsam mit den Fa-brikmanagerInnen für die Verbesserung

Solidar Suisse hat vor vier Jahren erstmals Schweizer Gemeinden aufgefordert, nur noch fair produzierte Natursteine zu verwenden. Damals war das gar nicht so einfach, denn es gab kaum zertifizierte Steine auf dem Markt. Hat sich dies verändert?In der Schweiz haben wir mittlerweile neun PartnerInnen, die Fair-Stone-zertifi-zierte Steine anbieten. Das heisst: Ja, es ist heute möglich, faire Steine zu kaufen. Es reicht aber noch nicht. Je grösser die Nachfrage nach sozialverträglich produ-zierten Steinen, desto mehr ImporteurIn-nen werden diese Forderung in ihren Lieferketten umsetzen.

Verlangen die KundInnen heute faire Steine?Immer mehr Gemeinden fordern mittler-weile Natursteine, die unter sozial- und umweltverträglichen Bedingungen pro-

«Überzeugungsarbeit ist ein wichtiger Bestandteilunserer arbeit.»

«Wir Werden niCht immer freundliCh empfangen»

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Fair produzierte Steine aus China? Ja, das gibt es. Solidar Suisse sprach mit Karoline Herrmann, die bei WiN=WiN das Label «Fair Stone» betreut. Interview: Christian Engeli, Fotos: WiN=WiN GmbH

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der Arbeitsbedingungen ein. Sie müssen uns regelmässig über die umgesetzten Massnahmen Bericht erstatten. Wir ha-ben lokale RepräsentantInnen, die die Angaben überprüfen. Wichtig ist zudem: Jede Lieferung wird gekennzeichnet und in unserer Tracing-Software (www.tracingfairstone.com) er-fasst. So kann stets nachvollzogen wer-den, woher die Ware stammt.

Gibt es eine Prüfung von unabhängiger Seite?Nach spätestens drei Jahren muss sich jeder Fair-Stone-Partner extern prüfen lassen. In China werden diese Audits zum Beispiel von einer Arbeitsrechtsex-pertin und dem TÜV Rheinland durchge-führt, der vor Ort ein Büro unterhält. Wir haben darauf keinen Einfluss. Dieses Jahr werden die ersten Fabriken unab-hängig auditiert.

Gibt es keine Widerstände von den Fabrik­ und SteinbruchbesitzerInnen vor Ort? Die Reaktionen sind gemischt. Natürlich geht es vielen zunächst nur darum, ihre Steine an ein europäisches Unterneh-men zu verkaufen. Wenn dieses verlangt, dass die Steine unter Fair-Stone-Bedin-gungen produziert werden, muss es sich beteiligen. Deswegen sind für unsere Ar-beit langfristige Lieferbeziehungen sehr wichtig. Für einzelne Bestellungen funk-tioniert das System nicht, und das Enga-gement bricht wieder weg. Überzeu-gungsarbeit ist ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit.

Und Sie können auch in einem Land wie China unangemeldete Kontrollen durchführen?Ja. Manchmal werden unsere Repräsen-tantInnen zwar nicht gerade freundlich empfangen, aber die Kontrollen müssen sein. Wenn ein Betrieb dies nicht zulässt, darf er das Label nicht mehr tragen.

Was geschieht, wenn Sie Verstösse gegen Ihre Kriterien feststellen? Wir geben jedem Betrieb eine maximale Umsetzungszeit von drei Jahren, in de-nen es messbare Verbesserungen geben muss. Werden die Fristen nicht eingehal-ten, mahnen wir sie an. Gemeinsam mit dem Partner versuchen wir dann heraus-zufinden, woran es bei der Umsetzung hapert. Grundsätzlich versuchen wir im-mer, Unterstützungsarbeit zu leisten.Momentan haben wir einen Fall, bei dem ein Betrieb bei der Berichterstattung ge-schummelt hat. Er hat nun eine letzte Frist bekommen. Sind unsere Bedingun-gen bis dann nicht erfüllt, wird er ausge-schlossen. Dies ist besonders schade, da wir davon ausgehen müssen, dass sich die Situation für die ArbeiterInnen dann

wieder verschlechtert. Aber «Fair Stone» funktioniert nur, wenn alle Beteiligten der Lieferkette an einem Strang ziehen.

Und die Natursteinbranche in Europa? Setzt sich hier die Idee der fairen Steine langsam durch?Im Vergleich zur großen Anzahl von Na-tursteinimporteurInnen arbeiten nur we-nige mit uns zusammen. Doch ihre Zahl steigt langsam aber stetig. Es gibt einige ImporteurInnen, die ein Ei-genlabel kreiert haben. Hier müssen die KundInnen besonders vorsichtig sein. Ei-genlabel klingen schön, sie sind aber oft nur heisse Luft. Teilweise sind noch nicht einmal die – angeblich eingehaltenen – Kriterien definiert. Niemand überprüft die Behauptungen.Je transparenter, desto glaubwürdiger ist ein Zertifikat. Daher bemühen wir uns sehr um Transparenz. Die Nachverfol-gung der Bestellungen ist nur ein Bei-spiel. Auch die Fortschrittsberichte, der Standard, das Auditmanual und viele an-dere Dokumente sind auf unserer Home-page frei verfügbar.

Die WiN=WiN GmbH, Agentur für glo-bale Verantwortung, ist spezialisiert auf Corporate-Social-Responsibility-Pro-jekte in Entwicklungs- und Schwellen-ländern und baut seit 2008 das Label «Fair Stone» auf. Die Koordinatorin Ka-roline Herrmann ist für die Kommuni-kation mit PartnerInnen, die Unterstüt-zung der Standardumsetzung in den steinverarbeitenden Betrieben, die Öf-fentlichkeitsarbeit und die Kommuni-kation mit den Kommunen zuständig.www.win--win.de

Win=Win

Die ArbeiterInnen einer Steinfabrik in Xiamen, die das «Fair Stone»­Label trägt, benutzen Schutzausrüstungen.

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135 285 fordern klare Regeln für schweizer KonzerneAm 13. Juni wurde die Petition «Recht ohne Grenzen» mit 135 285 Unter-schriften dem Parlament übergeben. Sie fordert Bundesrat und Parlament auf, dafür zu sorgen, dass Firmen mit Sitz in der Schweiz die Menschenrechte und die Umwelt weltweit respektieren. Gleichzeitig reichten Mitglieder ver-schiedener Parteien Vorstösse zum Thema ein. «Recht ohne Grenzen», eine Koalition von 50 Organisationen, der

Pfeifkonzert für die Fifa in BogotaAm 21. Mai 2012 verabschiedete StreetNet International, die Allianz der StrassenhändlerInnen, in Bogota einen Brief an die Fifa mit der Forderung, an der WM in Brasilien die Rechte der StrassenhändlerInnen zu respektieren. Das heisst konkret:•DieFifasolldielokalenBehördenauf-

fordern, an den Austragungsorten den Dialog mit den Organisationen der in-formellen ArbeiterInnen zu suchen.

•InnerhalbderFanmeilen rundumdieStadien sollen 50 Prozent der Stände für lokale HändlerInnen reserviert sein, die typisches Handwerk, Essen und Trinken aus der Region anbieten.

•InallenStädtensollenForenfürinfor-mellen Handel etabliert werden.

Die 17 Organisationen aus 13 Ländern in Lateinamerika, Europa, Afrika und Asien schickten den Brief auch an ihre nationalen Fussballverbände und luden sie zu einem Treffen ein, um ihre Anlie-gen zu diskutieren. Als Zeichen der Un-terstützung der Solidar-Petition an Sepp Blatter veranstalteten die Anwe-senden ein Pfeif konzert. www.solidar.ch/news

auch Solidar Suisse angehört, arbeitet nach der Übergabe weiter an der Um-setzung der Forderungen der Petition. www.solidar.ch/rog

hungerkatastrophe in Burkina Faso verhindern Die Ernteausfälle wegen der anhalten-den Dürre im letzten Jahr führen in Bur-kina Faso – wie in anderen Ländern des Sahel – zu einer zunehmenden Nah-rungsmittelkrise. Die Regierungen der

betroffenen Länder und die internatio-nale Gemeinschaft haben nun Mass-nahmen ergriffen, um einer Hungerka-tastrophe wie letztes Jahr in Ostafrika zuvorzukommen. Solidar Suisse hat mit Unterstützung der Glückskette Ende Juni begonnen, an die SchülerInnen der zweisprachigen Vor- und Primarschulen in Burkina Faso Essen zu verteilen. So wird der Schulbe-such der Kinder gefördert und die Fami-lien werden dabei unterstützt, die Zeit bis zur nächsten Ernte zu überstehen.www.solidar.ch/news

nOTiZen

101. iaO-Konferenz An der diesjährigen Konferenz der Inter-nationalen Arbeitsorganisation IAO wur-de mit Guy Rider erstmals ein Gewerk-schaftsvertreter als Direktor gewählt. Zentral war die Verabschiedung der IAO-Empfehlung «Sozialer Basisschutz für eine soziale Gerechtigkeit und faire Glo-balisierung», die die Wichtigkeit eines minimalen Sozialversicherungssystems (Krankheit, Erwerbslosigkeit, Rente) für die Armutsbekämpfung in den Entwick-lungsländern betont. Denn über 70 Pro-zent der Weltbevölkerung leben ohne jegliche soziale Absicherung.Auch die Jugendarbeitslosigkeit war ein wichtiges Thema. Bis anhin als Phäno-men des Südens betrachtet, hat sie heu-te auch in den Industrienationen ein be-

ängstigendes Ausmass angenommen. So sind in Spanien 50 Prozent der er-werbsfähigen Jugendlichen arbeitslos. Global ist die Zahl der arbeitslosen Ju-gendlichen seit der Krise 2008 um vier auf 75 Millionen gestiegen. Zu einem Eklat kam es in der Normen-kommission, die Klagen wegen Verstös-sen gegen die IAO-Konventionen ahndet. Die Arbeitgeberdelegation verweigerte der Kommission die Entgegennahme der Klagen, weil die IAO sich nicht zum Streikrecht äussere und ihre ExpertInnen parteiisch seien. Dieses Jahr wird es des-halb zum ersten Mal keine Untersuchung der eingereichten Klagen geben. Es ist zu hoffen, dass die Arbeitgebenden nächs-tes Jahr die Relevanz der IAO auch als Klageinstanz vollumfänglich anerkennen.

eine WM für alleDer Start der Solidar-Kampagne gegen Ausbeutung an der WM 2014 in Brasili-en war ein grosser Erfolg. Über 25 000 Menschen haben Fifa-Boss Sepp Blat-ter aufgefordert, sich gegen die Vertrei-bung von 150 000 Menschen aus ihren Quartieren und gegen die schlechten Arbeitsbedingungen auf den Stadion-baustellen einzusetzen sowie auf exklu-sive Verkaufsrechte für Fifa-SponsorIn-nen rund um die Stadien zu verzichten. www.solidar.ch/fairewm

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melina kameriCmade in Yugoslavia

Das Land, in dem ich geboren bin, exis-tiert nur noch auf dem Boden der Töpfe, in denen ich Ajvar koche. Wenn der Ajvar fertig ist, spüle ich die Töpfe. Und wenn ich die gespülten Töpfe zum Abtropfen umdrehe, blitzt von deren Boden die Auf-schrift «Made in Yugoslavia» auf.

Ich bin mit Cockta und Jupi1, Stella Eis und Rum ploice2 gross geworden. In ei-nem Land, in dem auf allem «Made in Yu-goslavia» stand.

Ich habe ein echtes Problem. Auf dem Antrag für das amerikanische Visum steht: Staatsangehörigkeit bei Geburt?Ich wage nicht zu fragen, was die eintra-gen sollen, die in einem Land geboren sind, das es nicht mehr gibt. Ich lasse das Feld leer. Und überspringe auch die Fra-ge: Waren Sie jemals Mitglied der Kom-munistischen Partei? Ich schäme mich total, denn irgendwie habe ich das Ge-fühl, als würde ich meinen Pioniereid ver-raten, und Tito, und alle Partisanen. Aber ich hab Angst, dass die Amerikaner mir kein Visum geben, wenn ich zugebe, dass ich in der Sozialistischen Föderati-ven Republik Jugoslawien geboren bin. Und dass theoretisch auch Pioniere Kommunisten sind.

Immer, wenn ich nervös bin, juckt meine Narbe am Knie. Während ich hysterisch daran kratze, erinnere ich mich an mein Fahrrad. Das Pony-Fahrrad, mit dem ich

gestürzt bin, und wie ich mir die Knie auf-geschürft habe, bis zu den Knochen.

Dieses Fahrrad hat Papas Traupate mir gekauft. Es war mein zehnter Geburts-tag, und Onkel Pero schenkte mir ein Pony-Fahrrad. Er war in meinen Augen furchtbar wichtig, denn alle sagten, er sei eine Waise aus dem Kozara-Gebirge3. Seine Frau Mira gab mir im Pionierzent-rum Boško Buha Englischstunden. Sie war von der Insel Lošinj, und im Sommer besuchten wir ihre Oma und sahen uns die Delfine an.

Die Traupaten sind jetzt in Amerika. Und ich fahre hin und weiss, dass ich sie nicht treffen werde. Amerika ist groß, und sie sind auch nicht mehr unsere Traupaten.

Sie gingen kurz vor Ende des Krieges. Ich wollte immer begreifen, was für einen zusätzlichen Druck sie spürten, außer den Granaten und dem Hunger. Sie gin-gen, ohne sich richtig zu verabschieden. Sie murmelten etwas wie, sie wollten raus aus der Scheiße und ein neues Le-ben beginnen.

Später dann nur eine Nachricht. Sie war an Mama adressiert und lautete: «Wir ha-ben uns eingerichtet. Pero arbeitet. Ich sitze zu Hause. Es ist schwer. Wir finden keine Freunde. Die Serben meiden uns, weil ich Kroatin bin. Und die Kroaten, weil Pero Serbe ist. Und eure Bosniaken, die

wollen erst recht nichts von uns wissen. Wir versuchen, irgendwie klarzukommen. Gruss.»

Mama sagte nur: Schert euch zum Teufel mit euren Serben, Kroaten und Bosniaken! Dann wandte sie sich zu mir und sagte: Bitte, merk dir nur eins: Jeder trägt seine Scheisse in seinem Kopf mit sich herum!

Von da an waren sie nicht mehr unsere Traupaten.

Ich fahre nach Amerika. Um Freunde zu besuchen. Dave ist Diplomat. Und Demo-krat. Er und sein Partner Steve, ein eiser-ner Republikaner, haben zwei adoptierte Kinder. Moni aus Russland und Naser aus Malaysia. Und ein dickes, analphabe-tisches Kindermädchen aus Guatemala. Sie heisst Maria und kocht den besten Curry der Welt. Die Katze ist von mir. Sie heisst Mrkva.

Ich freue mich, sie bald zu sehen. Das heisst, wenn ich das Visum bekomme. Ich weiss immer noch nicht, was ich sagen soll, wenn sie mich fragen: Staatsange-hörigkeit bei Geburt?

Ich fürchte, meine Antwort wäre: Ajvar.

1 Anm. d. Ü.: Limonaden der Firma Droga Kolinska.2 Anm. d. Ü.: Schokoriegel der Firma Kandit.3 Anm. d. Ü.: Im Kozare-Gebirge wurden 1942 fast 4000 PartisanInnen getötet.

Aus dem Bosnischen von Margit Jugo. Zuerst erschienen in: Wespennest Nr. 159 (November 2010), www.wespennest.at

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Radio ist in Afrika das zentrale Medium, um die Menschen zu erreichen. Ein Radio haben alle, und es ist populär. Deshalb unterstützt Solidar Suisse das afrikani-sche ArbeiterInnen-Radioprojekt (Africa Labour Radio Project), das die arme Be-völkerung über ihre Rechte informiert. Die ghanaische Radiomacherin Susan Sekyere ist stolz auf die Erfolge in ihrem Land: «Jeden Montag wird unser Radio-programm gesendet und spricht Themen an, die ghanaische ArbeiterInnen be-schäftigen, wie zum Beispiel Arbeitslo-sigkeit, Armut oder Sicherheit am Ar-

beitsplatz. Viele rufen in unsere Live- Sendung an, um Fragen zu stellen oder ihre Meinung zu äussern», erzählt sie be-geistert. «Und kürzlich hat uns eine Ra-diostation aus Accra angefragt, ob sie unsere Programme übernehmen darf.» Auch in Uganda ist das Radio eine Er-folgsgeschichte: Davon zeugt neben vie-len Anrufen von HörerInnen auch die Tat-sache, dass ArbeiterInnen zunehmend Arbeitsrechtsverletzungen bei den Be-hörden melden. Offensichtlich wissen sie nun, wohin sie sich wenden müssen, um sich zu wehren.

eine Plattform für die afrikanischen arbeiterinnenDas 2008 initiierte Radioprojekt klärt die ArbeiterInnen über ihre Rechte auf und versucht, sie zu organisieren. Gewerk-schaftsvertreterInnen – zur Hälfte Frau-en – erhalten Medientrainings. Es wer-den Sendungen in Englisch und lokalen Sprachen für Lokalradios produziert und ausgestrahlt. Zum Beispiel in Ghana, Le-sotho, Malawi, Uganda oder Zambia. Ausserdem produziert die Solidar-Part-nerorganisation Workers World Media Productions wöchentliche Radiopro-

den spraChlosen eine stimme geben

Das Africa Labour Radio Project gibt den ArbeiterInnen eine Stimme und stärkt ihren Einfluss, um würdige Arbeits-bedingungen und soziale Gleichheit zu erreichen. Text und Foto: Martin Jansen, Workers’ World Media Productions

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gramme, die in verschiedenen Ländern ausgestrahlt werden. In den Radiosendungen wird eine breite Palette gesellschaftlicher Themen ange-sprochen. Zum Beispiel prekäre Arbeit, soziale Ungleichheit, HIV/Aids oder Dis-kriminierung – sei es aufgrund von Ge-schlecht, Herkunft oder sexueller Orien-tierung. Doch das Projekt muss Widerstände überwinden, um die ArbeiterInnen zu er-reichen. Auch das Gewerkschaftskader muss erst von der Wichtigkeit der Medi-enpräsenz für die Verbesserung der Situ-ation der ArbeiterInnen überzeugt wer-den.

Recht auf RedefreiheitEin anderes Problem sind die mangeln-den Möglichkeiten, in öffentlichen und kommerziellen Medien die Sichtweise

der Gewerkschaften und die Stimmen der ArbeiterInnen einzubringen. Dies liegt auch an der Schwäche der Gewerk-schaften, die in vielen afrikanischen Län-dern von der Regierung gering geschätzt werden. VertreterInnen des Radiopro-jekts waren mit unüberwindbaren Hin-dernissen konfrontiert, als sie Sende-zeiten bei den öffentlichen und kom- merziellen Radiostationen in ihrem Land erwirken wollten. So gelang dies Onyik Bosco in Uganda lediglich in einem Lo-kalradio, bei den anderen Sendern blitzte er ab: «Viele Radiostationen wollten eine Menge Geld dafür, was wir uns nicht leis-ten können.» Onyik Bosco findet, dass die beteiligten Gewerkschaften sich mehr für Sendezeiten im öffentlichen Ra-dio einsetzen sollten: «Eine Plattform für die ArbeiterInnen im öffentlichen Radio ist eine Form der Redefreiheit, auf die wir ein Recht haben», ist er überzeugt. «Da-für müssen wir kämpfen.» Das Projekt wird in nächster Zukunft den Schwer-punkt auf die Medienfreiheit legen, um zu erreichen, dass diese nicht nur im Ge-setz steht, sondern auch praktisch umge-setzt wird – zum Beispiel durch die Un-terstützung von Medienplattformen. Denn laut Bericht von Freedom House zur Pressefreiheit 2012 sind in Sub-Sa-hara-Afrika nur zehn Prozent der Medien vollständig, 46 Prozent teilweise und 44 Prozent gar nicht frei.

arabischer FrühlingAnfang 2011 wurden als Reaktion auf den arabischen Frühling Gewerkschaf-ten aus Tunesien und Ägypten eingela-den, am Projekt teilzunehmen. Um für die Berücksichtigung der Bedürfnisse der ArbeiterInnen beim angestrebten Über-gang zur Demokratie zu kämpfen, wird nun mit dem Gewerkschaftsbund des Mittleren Ostens und anderen Partneror-ganisationen ein arabisches Labour Ra-dio Project angestrebt.

Das Africa Labour Radio Project nutzt das Radio für Information, Bildung und Empowerment und stärkt die Stimme der Gewerkschaften in der öf-fentlichen Diskussion um Armuts-bekämpfung und menschenwürdige Arbeit. In zehn anglophonen afrikani-schen Ländern sollen wöchentliche Sendungen ausgestrahlt werden mit dem Ziel, Themen aus einer Arbeite-rInnenperspektive zu beleuchten, die Medienkompetenz bei den beteiligten Gewerkschaften aufzubauen und ihre Organisationskraft zu stärken. Ausschnitte aus einer Sendung finden Sie hier: www.soundcloud.com/vela-pi/promowww.solidar.ch/alrp

africa Labour

Radio Project

Bosco Onyik (links) und weitere VertreterInnen des Africa Labour Radio Project aus Zimbabwe, Tansania und Malawi auf Sendung.

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Kade Ninaj (rechts) konnte dank Beratung und Desinfektionsmitteln die Milchqualität steigern.

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Hans-Jürg FehrPräsident Solidar Suisse und SP-Nationalrat

Das Verhalten von Schweizer Firmen im Ausland prägt das Image unseres Landes. Diese Lektion erteilten uns in den letzten Jahren vor allem Banken, die im grossen Stil reichen Auslände-rInnen Beihilfe zur Steuerflucht leiste-ten und damit den guten Ruf der Schweiz spürbar schädigten. Neben den Banken sind es in der Schweiz domizilierte Rohstoffkonzerne wie Glencore und Xstrata, die mit Menschenrechtsverletzungen und aus-beuterischen Methoden gegenüber Arbeitskräften und Natur negativ auf-fallen. Oft tun sie das in Komplizen-schaft mit der herrschenden Elite eines Landes, die sich hochkorrupt masslos bereichert und den unterschlagenen Reichtum ausser Landes bringt – zum Beispiel auf eine Schweizer Bank, selbstverständlich unversteuert. Der Bundesrat sieht bisher keinen Anlass, den Schweizer Multis im Ausland auf die Finger zu schauen. Er sieht lieber weg und wundert sich dann, dass ihm in immer grösseren Teilen der Welt kal-ter Wind ins Gesicht bläst. Diese Passi-vität ist schädlich und nicht länger ak-zeptabel. Es braucht in der Schweiz ein Observatorium, das die Multis be-obachtet und bei Fehlverhalten Alarm schlägt. Zusätzlich braucht es ein Ver-fahren, mit dem fehlbare Multis zur Verantwortung gezogen und bestraft werden können, wie es die Kampagne «Recht ohne Grenzen» fordert. Wir dür-fen als Nation nicht länger den Kopf hinhalten für Betriebe, die im Ausland gegen unsere Verfassung verstossen.

KOLUMNE

Multis ins Visier

nehmen

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Lösungswort

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Schicken Sie das Lösungswort an Solidar Suisse – mit dem beiliegen-den vorfrankierten Antwort-Talon, einer Postkarte oder per E-Mail an: [email protected], Betreff «Rätsel». Jede richtige Lösung nimmt an der Verlosung teil.

Preise Drei handgewobene Tücher aus Burkina Faso.

Die Preise wurden von unserer burkinischen Partnerorganisation Association pour le Développement du Département d’Ipelcé hergestellt.

einsendeschluss ist der 23. september 2012. Die Namen der GewinnerInnen werden in der Solidarität 4/2012 veröffentlicht. Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Von der Teilnahme ausgeschlossen sind Mitarbeitende von Solidar.

Das Lösungswort des Rätsels in Solidarität 2/2012 lautete «Grüne und menschenwürdige Jobs schaffen». Die GewinnerInnen sind ausgelost: Regina Sinz-Krauss aus Bern hat ein Kubb-Spiel, Anne-Marie Ramel aus La Tour-de-Peilz ein Magnetset und Martin Krieg aus Maisprach einen Stifthalter gewonnen. Wir danken den Mitspielenden für ihre Teilnahme und der Werkstatt Carrom des SAH Basel für die gestifteten Preise.

solidar suisse ist in verschiedenen Ländern tätig, in denen die politische situation schwierig ist und keine Meinungsäusserungsfreiheit herrscht. Wenn wir uns in der schweiz politisch dazu äussern, riskieren wir unter umständen, unsere Partnerinnen vor Ort zu ge-fährden.

solidar soll …

… sich in solchen Ländern vor Ort mit Projekten engagieren und auf politische Äusserungen verzichten.

… sich aus solchen Ländern zurückziehen.

… frei kommunizieren. Wer die Situation verändern will, muss Risiken eingehen.

Beantworten Sie den Solidaritäts-Barometer auf dem beiliegenden Antwort-Talon.

sOLidaRiTäTs-BaROMeTeR

ausWeRTunG BaROMeTeR

Sollte sich die Fifa aktiv gegen Ausbeutung und für die Einhal-tung der Menschenrechte bei der Fussball-WM einsetzen?

Die zweite Frage wurde kontrovers beantwortet. Auffällig ist jedoch, dass Ja- wie Nein-Stimmen auf ähnlichen Über-legungen basierten. Die meisten stimmen unter dem Vorbehalt zu, dass sich die Fifa für die Einhaltung der Menschen- und Arbeitsrechte engagiert und dass die lokale Bevölkerung von der WM profitiert. Doch wurde positiv vermerkt, dass mit der Austragung der WM auf Missstände aufmerksam gemacht werden könne und das Selbstver-trauen dieser Länder gestärkt werde. Ablehnende befürch-ten, dass die Profite nur der Fifa zugute kommen und die WM nicht zu einer nachhaltigen Entwicklung beiträgt, sondern es den Armen nachher noch schlechter geht. Der Aufwand sei zu gross, so dass das Geld für Wichtigeres fehle und das Land mit Bauruinen, einer zerstörten Natur und Verlusten zurückbleibe.

25 Ja50 Nein7 Jein10 Keine Antwort

Ist es sinnvoll, dass sportliche Grossanlässe wie die Fussball-WM in Entwicklungs- und Schwellenländern durchgeführt werden?

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spielregelnFüllen Sie die leeren Felder mit Zahlen von 1 bis 9. Dabei darf jede Zahl in jeder Zeile, jeder Spalte und in jedem der neun 3x3-Blöcke nur einmal vorkommen. Das Lösungswort ergibt sich aus den grauen Feldern waagrecht fortlaufend, nach folgendem Schlüssel:1=O, 2=A, 3=I, 4=B, 5=D, 6=R, 7=N, 8=U, 9=L

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Jean christophe schwaab wird Präsident des sah-netzwerks Der Waadtländer Nationalrat Jean Christoph Schwaab wurde an der Dele-giertenversammlung vom 5. Juni 2012 einstimmig zum neuen Präsidenten des SAH-Netzwerks gewählt. Der 33-Jähri-ge ist Doktor der Rechtswissenschaf-ten und Präsident des Schweizerischen Bankpersonalverbands Region West-schweiz. Seine Tätigkeit als Gewerk-schafter, seine Mitgliedschaft im Vor-stand des SAH Waadt und seine Zweisprachigkeit haben ihn für dieses Amt prädestiniert. Darüber hinaus ist sein Alter ein grosses Plus, setzen sich die regionalen SAH-Vereine doch mit zahlreichen Programmen gegen die Ju-gendarbeitslosigkeit ein.In enger Zusammenarbeit mit dem nati-onalen Sekretär wird Schwaab die Ent-wicklung von Integrations- und Bil-dungsmassnahmen auf nationaler Ebene weiterverfolgen. Er stellt das zentrale Bindeglied zum Parlament dar, das er von der Notwendigkeit einer In-tegration und Chancengleichheit unab-hängig von Herkunft oder Bildungs-stand überzeugen soll. www.sah-schweiz.ch

erfolgreiches coaching für BerufseinsteigerinnenDer Einstieg ins Arbeitsleben fällt vielen jungen Erwachsenen schwer, unabhän-gig davon, welche Ausbildung sie absol-viert haben. Seit Sommer 2010 erhalten sie von «CT2 – Coaching TransFair 2» Unterstützung in diesem Prozess. Mit Erfolg: Inzwischen hat das schweizweite Programm gegen tausend Teilnehmen-de gecoacht, 82 Prozent haben eine nachhaltige Anschlusslösung gefunden. Das unentgeltliche Angebot wird von den zehn regionalen SAH-Vereinen durchgeführt und bis im Sommer 2013 von der Credit Suisse finanziert. Nun sucht CT2 neue öffentliche oder private PartnerInnen, um das Projekt weiterzu-führen.Arbeitslosigkeit, Orientierungsprobleme, prekäre Aushilfsjobs: Die Schwierigkei-ten des Übergangs von der Aus bildung zum Beruf zeigt auch die Arbeits- losenstatistik auf, die für junge Erwach- sene deutlich erhöhte Werte ausweist. Für den Berufseinstieg brauchen sie re-alistische Ziele, exzellente Bewerbungs-unterlagen und Durchhaltevermögen.

In der Schweiz fehlt es an einem flä-chendeckenden Angebot an Informati-on, Begleitung und Training für Berufs-einsteigerInnen. CT2 füllt diese Lücke: Es bietet jungen Erwachsenen nieder-schwellige und fachkundige Angebote zu ihrer individuellen Unterstützung.CT2 arbeitet in zwölf Schweizer Kanto-nen in allen drei Sprachregionen (Ba-sel-Stadt, Basel-Land, Bern, Fribourg, Genf, Schaffhausen, Tessin, Waadt, Wallis, Luzern, Zug und Zürich). Das Programm steht allen offen, die eine Ausbildung absolviert haben, von der Attestlehre bis zum Master – unabhän-gig davon, ob sie sich in der Abschluss-phase ihrer Ausbildung befinden, auf Stellensuche oder bereits als arbeitslos gemeldet sind.Neben der hohen Vermittlungsquote zeigt auch der Evaluationsbericht der Fachhochschule Nordwestschweiz, dass CT2 erfolgreich arbeitet: Das An-gebot sei «sehr gut aufgestellt», «straff und effizient geführt» und der methodi-sche Ansatz «bewährt sich insgesamt sehr gut». www.sah-schweiz.ch

in dieser Rubrik bieten wir Organisationen aus unseren netzwerken eine Plattform. in dieser nummer sind es neuigkeiten aus den sah-Regionalvereinen, die in der schweiz Programme für erwerbslose und Migrantinnen durchführen. Mit ihnen verbinden uns eine gemeinsame Geschichte und Trägerschaft.

Gartenarbeit zur Kultur- und integrationsförderung Rosmarin und Rucola statt Gras und Gestrüpp: Im Innenhof der Kunsthoch-schule Luzern entsteht derzeit ein Gar-ten, dessen Ernte frisch in der eigenen Mensaküche verwertet werden soll. Su-

zan Curtis, Dozentin für Produktdesign und Illustration, verlegte den Unterricht für ihre 28 Bachelor-Studierenden an die frische Luft. Einerseits, um die Grünfläche nutzbringend zu gestalten. Andererseits, um einen Ort der Begeg-nung zu schaffen und das soziale Miteinander zu fördern. Das SAH Zent-ralschweiz, das selbst Gartenprojekte zur Integrationsförderung durchführt, vermittelt für das Hochschul-Projekt Flüchtlinge und vorläufig aufgenomme-ne Personen, die gemeinsam mit den Studierenden den Garten anlegen. Vom schmackhaften Ergebnis können sich die MensagästInnen per sofort über-zeugen. www.sah-zs.ch

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«iCh finde es toll, Wenn frauen ihre reChte ein-fordern»Maribel Abrego weiss aus eigener Erfahrung, wie wich-tig es ist, dass Frauen ihre Anliegen einbringen können. Dafür engagiert sie sich im salvadorianischen Cabañas. Text: Katja Schurter, Foto: Solidar

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«Die Leute sind extrem arm, haben wenig Bildung, wohnen in unwürdigen Unter-künften, und die Landwirtschaft rentiert nicht», benennt Maria Maribel Abrego Mercado die Probleme in Cabañas, einer der ärmsten Regionen El Salvadors. «Dazu kommen Gewalt gegen Frauen und Jugendkriminalität.» Auch die Ge-sundheitsversorgung ist mangelhaft. Seit Antritt der linken Regierung im Jahr 2009 ist sie zwar kostenlos, aber Medi-kamente sind rar.

Frauen besonders benachteiligtUm diese Situation zu verändern, hat die 35-Jährige 2002 die Frauenorganisation AMUC mitbegründet. «Frauen haben we-niger Zugang zu Bildung und zu bezahl-ter Arbeit. Sie sind häufig ökonomisch von ihren Männern abhängig, was die Trennung von einem gewalttätigen Ehe-mann erschwert. Andererseits gibt es

viele alleinerziehende Mütter, die vom Kindsvater keine Unterstützung erhal-ten.» Um Arbeitsmöglichkeiten für Frau-en zu schaffen, unterstützt AMUC sie mit Krediten und hat eine Kooperative ge-gründet, die Dachziegel für den Bau von Häusern sowie Lebensmittel produziert.

Partizipation stärkt durch setzungsvermögenIn der Region sind 600 Frauen in 30 AMUC-Komitees organisiert, zusätzlich gibt es vier Komitees für Jugendliche. In diesen Gruppen werden Themen wie Gewalt, Gender, Selbstwert und Men-schenrechte angesprochen, denn: «Die Frauen müssen ihre Rechte kennen, um sich Hilfe holen zu können.» Ausserdem setzen sich die Komitees dafür ein, dass die Behörden die Bedürfnisse der Be-wohnerInnen der Dörfer berücksichtigen. «Wir fordern die Verfolgung von Gewalt gegen Frauen und faire Prozesse. Häufig erhalten die Täter einen Anwalt, die Op-fer jedoch nicht», ärgert sich Maribel Ab-rego. Die Motivation für ihr Engagement gründet einerseits in den Erfahrungen in ihrer Herkunftsfamilie und andererseits in ihrer Begeisterung, Frauen an der Ba-sis zu stärken: «Ich bin seit 17 Jahren in Organisationen aktiv und finde es toll, wenn Frauen ihre Rechte einfordern.»

Zahlreiche erfolge Ihre Arbeit ist erfolgreich: «Die Frauen haben heute weniger Angst, eine Anzei-ge wegen Gewalt zu machen. Als wir die Organisa tion gegründet hatten, haben viele Frauen fast geweint, wenn sie in ei-ner Versammlung nur schon ihren Na-men sagen sollten», beschreibt Maribel Abrego die Veränderungen. «Kürzlich konnten wir mit einer Anzeige verhin-dern, dass ein Mann seine Frau auf die Strasse stellt. Und es gibt weniger Ge-walt als in Gegenden ohne Jugendarbeit.»

Jugend arbeit gegen GewaltDas zunehmende Problem der Jugend-gewalt hängt mit mangelnden Perspekti-ven zusammen. Zwar schliessen mehr Schüler und auch Schülerinnen mit der

Matur ab als früher, studieren ist jedoch nur in der Stadt möglich, wofür meist das Geld fehlt. Maribel kennt dies aus eige-ner Erfahrung: Wegen des langen Reise-wegs und Stundenplänen, die sich nicht an arbeitenden Studierenden orientieren, hat die alleinerziehende Mutter ihr Jus-studium abgebrochen. Doch auch wer ein Studium abschliesst, hat wenig Aus-sicht auf Arbeit. So migrieren viele Ju-gendliche in die USA – wie ihre Eltern, die sie bei den Grosseltern zurückgelas-sen hatten. «Die Zusammensetzung un-serer Jugendgruppen ändert sich dau-ernd, weil die Jugendlichen bereits mit 15 Jahren das Land verlassen», erzählt Maribel Abrego.Gewalt, Kriminalität, Drogen und Gender sind Themen, die in den Jugendkomitees angegangen werden. Neben Theater- und Tanzkursen gibt es zwei Frauen- und vier Männer-Fussballteams. «Natürlich nehmen viele, die Probleme haben, nicht an unseren Angeboten teil», räumt Mari-bel ein. «Aber es gibt auch Jugendliche, die ihre Jugendbande verlassen haben und nun zu uns kommen. Wir beziehen sie ein und lassen sie Verantwortung übernehmen.» Auch für die Prävention von Gewalt gegen Frauen ist die Ju-gendarbeit wichtig: «Du musst bei den Jugendlichen ansetzen. Die Meinung von Erwachsenen zu ändern, ist schwieriger», ist Maribel Abrego überzeugt.

Maribel Abrego inmitten des Frauenfussballteams,

das zum Selbst­bewusstsein der jungen

Frauen beiträgt.

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Die Frauenorganisation AMUC ist eine von vier Organisationen, mit de-nen Solidar Suisse in den letzten Jah-ren in der Region Cabañas ein regio-nales Netzwerk aufgebaut hat, um die Partizipation und Lebensbedingungen der 15 000 BewohnerInnen zu ver-bessern. Die AMUC unterstützt die Beteiligung und die ökonomische Un-abhängigkeit von Frauen. www.solidar.ch/elsalvador

Partizipation

in cabañas

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