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DGB 38 Semantik (Seminar) Universität Athen, SoSe 2014 Winfried Lechner Handout #1 SEMANTIK DER PRONOMEN 0.1. BEDEUTUNG Sprachliche Bedeutungen (Denotationen) sind abstrakte Objekte, die entweder im mentalen Lexikon festgelegt werden, oder systematisch aus der Kombination von Wörtern abgeleitet werden können. Die Bedeutung von Vladimir Putin ist z.B. der Referent dieses Eigennamens, in diesem Fall das Individuum, das 2014 als Präsident von Rußland fungiert: (1) ƒVladimir Putin= Das Individuum, das 2014 Präsident von Rußland ist. ÆÉÉÉÉÉÉÉÉÉÈÉÉÉÉÉÉÉÇ ÆÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÈÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÇ Objektsprachlicher Name Metasprachliche Beschreibung des Referenten (2) Notation: (i) ƒα’ bezeichnet die Denotation, also den semantischen Wert, von α. (ii) Objektsprache wird durch Fettschrift gekennzeichnet. Generell gilt, das die Denotation eines Namens oder eines definiten Ausdrucks jenes Individuum ist, auf das der Name referiert (wenn dieser Name einen Referenten hat; siehe unten): (3) a. ƒRom= (der Ort/die Stadt) Rom b. ƒder Präsident der USA= (das Individuum/die Person) Barack Obama (4) Definiter Ausdruck (oder Definite Beschreibung) = Def NP, die mit (i) einem definite Artikel (der/die/das,...) (ii) einer (definiten) Genitiv NP (iii) einem Personalpronomen (mein/dein/sein/ihr...) beginnen. (5) Beispiele für definite Beschreibungen a. der Baum, die Schwestern, die Königin von Spanien, der Papst, ... (durch (4)(i)) b. Marias Buch, des Professors seltsame Vorlieben, Israels Feinde,... (4)(ii) c. seine Tante, unser Auto,... (4)(iii) 0.2. PRONOMEN In diesem Seminar beschäftigen wir uns mit der Semantik von Pronomen. Manche Pronomen verhalten sich wie Namen, sie sind referenziell. Dies zeigt sich z.B. daran, dass die Bedeutung dieser Pronomen (er in (6)b) ohne Hilfe einer anderen NP festgelegt wird: (6) a. Putin wurde krank. b. Er wurde krank. Andere Pronomen benötigen ein linguistisches Antezedens, also eine NP, die dem Pronomen seine Bedeutung verleiht: (7) a. Putin bewundert sich. b. Maria freut sich. c. Die Kinder halfen einander. (8) a. *Sich wurde krank. b. *Freunde von einander bewundern Putin. Auch die Pronomen in (9) besitzen, wie wir sehen werden keine Referenz. Hier fungiert ein

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DGB 38 Semantik (Seminar) Universität Athen, SoSe 2014Winfried Lechner Handout #1

SEMANTIK DER PRONOMEN

0.1. BEDEUTUNGSprachliche Bedeutungen (Denotationen) sind abstrakte Objekte, die entweder im mentalenLexikon festgelegt werden, oder systematisch aus der Kombination von Wörtern abgeleitetwerden können. Die Bedeutung von Vladimir Putin ist z.B. der Referent dieses Eigennamens,in diesem Fall das Individuum, das 2014 als Präsident von Rußland fungiert:

(1) ƒVladimir Putin„ = Das Individuum, das 2014 Präsident von Rußland ist. ÆÉÉÉÉÉÉÉÉÉÈÉÉÉÉÉÉÉÇ ÆÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÈÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÇ

Objektsprachlicher Name Metasprachliche Beschreibung des Referenten

(2) Notation: (i) ‘ƒα„’ bezeichnet die Denotation, also den semantischen Wert, von α.(ii) Objektsprache wird durch Fettschrift gekennzeichnet.

Generell gilt, das die Denotation eines Namens oder eines definiten Ausdrucks jenes Individuumist, auf das der Name referiert (wenn dieser Name einen Referenten hat; siehe unten):

(3) a. ƒRom„ = (der Ort/die Stadt) Rom b. ƒder Präsident der USA„ = (das Individuum/die Person) Barack Obama

(4) Definiter Ausdruck (oder Definite Beschreibung) =Def NP, die mit (i) einem definite Artikel (der/die/das,...)(ii) einer (definiten) Genitiv NP(iii) einem Personalpronomen (mein/dein/sein/ihr...)

beginnen.

(5) Beispiele für definite Beschreibungena. der Baum, die Schwestern, die Königin von Spanien, der Papst, ... (durch (4)(i))b. Marias Buch, des Professors seltsame Vorlieben, Israels Feinde,... (4)(ii)c. seine Tante, unser Auto,... (4)(iii)

0.2. PRONOMENIn diesem Seminar beschäftigen wir uns mit der Semantik von Pronomen. Manche Pronomenverhalten sich wie Namen, sie sind referenziell. Dies zeigt sich z.B. daran, dass die Bedeutungdieser Pronomen (er in (6)b) ohne Hilfe einer anderen NP festgelegt wird:

(6) a. Putin wurde krank.b. Er wurde krank.

Andere Pronomen benötigen ein linguistisches Antezedens, also eine NP, die dem Pronomenseine Bedeutung verleiht:

(7) a. Putin bewundert sich.b. Maria freut sich.c. Die Kinder halfen einander.

(8) a. *Sich wurde krank.b. *Freunde von einander bewundern Putin.

Auch die Pronomen in (9) besitzen, wie wir sehen werden keine Referenz. Hier fungiert ein

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Quantor (keiner, jeder Bauer) als Antezedens:

(9) Nicht-referenzielle Pronomena. Keiner behauptetet, daß er recht habe.b. Jeder Bauer, der einen Esel besitzt, schlägt ihn.

(= Jeder Bauer, der einen Esel besitzt, schlägt den Esel, den er besitzt)

Abschnitt §1 führt zwei Strategien zur Interpretation von Pronomen ein, die diese Unterschiedeerklären (Bindung und Koreferenz). Im Anschluss wenden wir uns der Verteilung vonpronominalen Elementen im Satz zu (Syntaktische Bindungstheorie; §2). Wie (10) zeigt, kannein Reflexivpronomen (sich) auftreten, wo ein Personalpronomen nicht möglich ist, undumgekehrt. Die Bindungstheorie gibt eine Erklärung für diese und ähnliche Beobachtung:

(10) a. Maria kennt sich sehr gut.b. *Maria kennt sie sehr gut. (wenn Maria das Antezedens von sie ist)

Kann nicht bedeuten: “Maria kennt Maria sehr gut”c. *Maria weiß, dass ich sich sehr gut kenne.d. Maria weiß, dass ich sie sehr gut kenne.

Kann bedeuten: “Maria weiss, dass ich Maria sehr gut kenne”

Der dritte und abschließende Teil geht näher auf die Beziehung zwischen Pronomen undQuantoren ((9)) ein.

1. PRONOMEN

1.1. INDEX UND INDEXREGELEin Name referiert immer und überall auf ein einziges Individuum. Dieses muss keinenReferenten besitzen (Batman, Pegasus). Dabei wird die Bedeutung des Namens nicht davonbeeinflusst, wer den Namen verwendet, oder wann und wo dies geschieht. Man sagt, dass dieDenotation von Namen von der Äußerungssituation - der Situation, in welcher der Satz geäußertwird - unabhängig ist. Der Name Maria Callas in (11) denotiert daher in jederÄußerungssituation das selbe Individuum Maria Callas:

(11) Maria Callas liest.

Im Gegensatz zu Namen ist die Bedeutung eines Pronomens variabel und (zumindest in vielenFällen) von der Äußerungssituation abhängig. Die drei Pronomen in (12) referieren in jederÄußerungssituation möglicherweise auf ein anderes Individuum:

(12) a. Sie liest.b. Maria Callas liest es.c. Ich lese. (ich = der Sprecher)

Sie könnte in (12)a z.B. in einer Situation auf Maria referieren, in einer anderen auf Elena undin einer dritten auf Julia. Daraus folgt, dass die Denotation eines Pronomens nicht allein ausdessen Form abgeleitet werden kann. Ein pronominaler Ausdruck wie sie ist also ambig, d.h. erbesitzt mehr als eine Bedeutung. Diese kann man auch anhand des Ambiguitätstests erkennen.

(13) Ambiguitätstest (für Sätze)Ein Satz Φ ist ambig, wenn es eine Situation s gibt, sodaß Φ in s als wahr interpretiert undΦ in s als falsch interpretiert.

Übung: Wenden Sie den Test auf (12)a an.

Index: Um ein Pronomen zu disambiguieren, also um seine Bedeutung eindeutig festzulegen,wird dieses mit einem Index (pl. Indizes) versehen. Ein Index ist eine (natürliche) Zahl, die

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üblicherweise als Subskript an das Pronomen angefügt wird. In (14) bildet der Subskript 3 denIndex von sie, und Subskript 7 jenen von es:

(14) a. Sie3 liest.b. Maria Callas liest es7.

Oben wurde bereits festgestellt, dass die morphologische, hörbare Form des Pronomens keinenBeitrag zu dessen Bedeutung liefert.1 Ein Pronomen setzt sich nun aus zwei Teilen zusammen:einer morphologischen Form und einem Index. Der erste dieser Teile (die Form) ist zudemsemantisch leer. Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass die Interpretation eines Pronomens mitder Bedeutung des Index ident sein muss. Die Denotation eines Pronomens wird also durch denIndex am Pronomen bestimmt.

Natürlich muss jetzt noch festgelegt werden, wie ein Index mit dem Individuum inBeziehung steht, auf das dieser Index referiert. Eine einfache Methode, diese Relation explizitzu machen, besteht darin, eine Regel zu schreiben, die jedem Index ein Individuum zuweist. Einesolche Indexregel2 könnte so wie in (15) aussehen:

(15) Indexregel: 1 ÿ Maria 2 ÿ Hans 3 ÿ Julia... 7 ÿ Ulysses

Da es nun nicht nur eine einzige Möglichkeit gibt, Zahlen mit Individuen zu verbinden, existierenauch viele verschiedene Möglichkeiten, einen Index zu interpretieren, und somit vieleunterschiedliche Indexregeln. Etwas präziser lassen sich also die Verhältnisse durch eine Tabelledarstellen:3

(16) Index Indexregel A Indexregel B Indexregel C

1 Maria Peter Julia

2 Hans Peter Hans

3 Julia Elena die Hauptstadt von Nicaragua

... ... ... ...

7 Ulysses Portnoy’s Complaint Catch 22

Die Tabelle drückt folgendes aus. Wird Indexregel A verwendet, dann bedeutet der Satz Sie3 liestdas selbe wie Julia liest. Nimmt man dagegen Regel B, erhält man Elena liest und mit Regel Cgelangt man schließlich zum pragmatisch unsinnigen Ergebnis Die Hauptstadt von Nicaragualiest. Gleiches gilt für andere Indizes und andere Pronomen.

Doch welche Indexregel ist nun die richtige, die korrekte? Die Antwort lautet: jede einzelne.Sprecher verwenden in einer Äußerungssituation - unbewusst - einfach jene Regel, die ihrenAbsichten entsprechen. Will ein Sprecher z.B. mit sie3 auf Julia verweisen, verwendet er Regel

1Das ist nicht ganz korrekt. Die Form legt Genus und Numerus fest. Ein Femininum wie sie kann z.B.nicht auf ein männliches Individuum (z.B. Peter) verweisen. Genus wird hier ignoriert werden.2Üblicherweise spricht man in der semantischen Literatur von Variablenzuweisungsfunktion anstatt vonIndexregel. Indexregel ist jedoch einfacher und erfüllt für uns den selben Zweck.3Man beachte, dass in Regel B sowohl 1 als auch 2 als Peter interpretiert wird. Das stellt kein Problemdar, da die Indexregel eine Funktion ist. Das einzige was daher nicht erlaubt ist, ist ein und derselbenZahl mehr als einen Wert zuzuweisen.

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A. Will er dagegen auf Elena referieren, so wird Regel B gewählt. Die Auswahl der Indexregelselbst ist sehr komplexen, teils linguistischen teils nicht-linguistischen Bedingungen unterworfen,die hier nicht behandelt werden können. Für unsere Zwecke ist es ausreichend, dass es durch dieIndexregeln möglich wird, Indizes an Pronomen korrekt zu interpretieren.

1.2. TRADITIONELLE KATEGORISIERUNGTraditionell werden Pronomen in drei Gruppen eingeteilt, die wie folgt zueinander in Beziehungstehen. (Diese Taxonomie wird weiter unten revidiert werden; siehe (51).)

(17) Verwendung von Pronomen (klassische, traditionelle Kategorisierung)

Pronomenwo

deiktisch anaphorischwo

referenziell gebunden

Deiktische Pronomen werden durch den Kontext interpretiert, sie verweisen - so wie einezeigende Geste - direkt auf ein Individuum in der Äußerungssituation:

(18) Sie hat die Operation geleitet.

L

Anaphorische Pronomen erlangen ihre Bedeutung dagegen durch ein linguistisches Antezedens.Als Antezedens bezeichnet man jene NP, die einem Pronomen seine Bedeutung verleiht. DasPronomen ist in diesem Fall semantisch vom Antezedens abhängig. Dabei muss zwischenunterschiedlichen Arten der Abhängigkeit unterschieden werden (siehe §1.4 und §1.5).

(19) a. Hans2 glaubt, dass er2 gewinnt. Antezedens: [NP Hans]

b. Maria1 und Hans2 glauben, dass sie1+2 gewinnen. Antezedens: [NP Maria und Hans]

c. Der Fahrer3 glaubt, dass sein3 Team gewinnt.Antezedens: [NP der Fahrer]

(20) a. Jede2 Bewerberin tat ihr2 bestesAntezedens: [NP jede Bewerberin]

b. Keiner1 bekundete sein1 Beileid Antezedens: [NP keiner]

c. Niemand3 arbeitet sein3 Leben langAntezedens: [NP niemand]

(21) Jeder Bauer, der einen Esel hat, schlägt ihnAntezedens: [DP den Esel, den x besitzt]“Für jeden Bauern gilt, dass er den Esel schlägt, den er besitzt”

Betrachten wir das Paar in (22) näher. Die Bedeutung des Pronomen in (22)a ist frei, er kannentweder auf Peter referieren, oder auf irgendeine andere männliche Person. Ähnliches gilt fürdas Pronomen er (22)b, das von keiner abhängig interpretiert werden kann (aber nicht muss):

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(22) a. Peter glaubt, dass er gewinnen wirdb. Keiner glaubt, dass er gewinnen wird

Angenommen er geht in beiden Beispielen (22) eine semantisch Beziehung mit Peterbeziehungsweise keiner ein. Dann kann gezeigt werden, dass sich die beiden Vorkommen voner radikal in ihrer Interpretation voneinander unterscheiden.

Referenzielle Pronomen: Wenn das Pronomen auf ein Individuum referiert, dann spricht man voneinem referenziellen Pronomen. Deiktische Pronomen sind ohne Ausnahme referenziell. Füranaphorische Pronomen gilt dies dagegen nur, wenn ein Name oder eine andere referenzielle NPals Antezedens fungiert. In (19) ist dies z.B. der Fall, für die Beispiele in (20) und (21) trifft diesdagegen nicht. Eine zweite Möglichkeit, die Beziehung zwischen einem Pronomen und seinemAntezedens zu interpretieren (illustriert durch (20)), wird in §1.5 besprochen werden.

1.3. SIND PRONOMEN AMBIG? In einem Satz wie Sie liest ist die Referenz des Pronomens nicht festgelegt, sie kann im Prinzipauf jede weibliche Person referieren. Bedeutet das, dass Pronomen ambig sind? Gibt es für jedePerson ein eigenes Pronomen? Oder existiert nur ein einziges Pronomen, das jedoch auf jedeeinzelne Person zu referieren imstande ist? Es existieren also zwei Möglichkeiten, um dieBeobachtung zu erklären, dass Pronomen keine feste Referenz besitzen. Doch welche Erklärungist korrekt? Die Antwort läßt sich durch Verwendung eines Tests mit sogenannten Ellipsenermitteln. Ellipsen werden kurz in §1.3.1 vorgestellt werden. Worin die zweite, alternativeMöglichkeit besteht, Pronomen zu interpretieren, bildet Thema von Abschnitt 1.3.2. DieEntscheidung zwischen diesen beiden Optionen wird dann in §1.3.3 getroffen werden.

1.3.1. EllipseWie das Paar (23)a/b zeigt, können Teile eines Satzes gelöscht werden, ohne zuUngrammatikalität zu führen. Diese Operation nennt man Ellipse. In (23)b wurde z.B. die VP[VP ging zur Bank] gelöscht. Man sagt auch, die VP wurde elidiert. Da in dieser Konstruktioneine VP elidiert wurde, spricht man weiters von VP-Ellipse. (23)c macht im Detail sichtbar,welche Teile des Satzes von der Ellipsenoperation betroffen sind:

(23) a. Maria ging zur Bank, und Peter [VP ging zur Bank]b. Maria ging zur Bank, und Peter auch c. Maria ging zur Bank, und Peter [VP ging zur Bank], auch

Neben VP-Ellipse existiert eine große Anzahl weiterer, unterschiedlicher Reduktionsoperationen,unter anderem Gapping, Stripping, Sluicing, oder Whiz-deletion. Beispiel (23) dokumentiert dieAuswirkung einer weiteren Operation, der N’-Ellipse, in der nicht eine VP, sondern ein N’-Knoten gelöscht wird:

(24) a. Maria besitzt zweihundert Bücher und Peter besitzt dreihundertb. Maria besitzt zweihundert Bücher und Peter besitzt dreihundert [N’ Bücher]

Nicht alle möglichen Anwendungen von Ellipse führen zu wohlgeformten Resultaten. Soist es z.B. im Deutschen nicht erlaubt, eine NP zu löschen ((25)a), oder VP-Ellipse auf denersten, anstatt auf den zweiten Teilsatz, anzuwenden ((25)b):

(25) a. *Maria ging zu der Bank, und Peter ging auch zu [NP der Bank]b. *Maria [VP ging zur Bank] auch und Peter ging zur Bank

Die Analyse dieser und ähnlicher Eigenschaften bildet die Aufgabe der Theorie der Ellipse. Fürdie vorliegende Diskussion ist eine andere Eigenschaft von Ellipsen von Relevanz.

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Ellipse und Ambiguität: Ellipsen besitzen die interessante Eigenheit, ambige Konstruktionenwieder eindeutig zu machen. Ellipse führt also zur Disambiguierung von ambigen Ausdrücken.

Der Ausdruck Bank ist ambig zwischen der Bedeutung Sitzgelegenheit (Bank1) undGeldinstitut (Bank2). Einem Satz wie (26) können daher im Prinzip vier verschiedeneInterpretationen/Lesarten zugewiesen werden, die in (26)a - (26)d explizit aufgelistet werden:

(26) Maria ging zur Bank, und Peter ging zur Bank (= (23)a; vierfach ambig)

a. Maria ging zur Bank1, und Peter ging zur Bank1 “Maria ging zur Sitzgelegenheit und Peter ging zur Sitzgelegenheit”

b. Maria ging zur Bank1, und Peter ging zur Bank2 “Maria ging zur Sitzgelegenheit und Peter ging zum Geldinstitut”

c. Maria ging zur Bank2, und Peter ging zur Bank1 “Maria ging zum Geldinstitut und Peter ging zur Sitzgelegenheit”

d. Maria ging zur Bank2, und Peter ging zur Bank2 “Maria ging zum Geldinstitut und Peter ging zum Geldinstitut”

Wird eine Kategorie, die den Ausdruck Bank beinhaltet gelöscht, sind jedoch plötzlich nur mehrzwei der vier im Prinzip möglichen Interpretationen verfügbar. Die gemischten Lesarten (27)bund (27)c, in denen Bank1 mit Bank2 kombiniert wird, stellen keine intuitiv möglichenInterpretationen des Satzes (27) dar:

(27) Maria ging zur Bank, und Peter [VP ging zur Bank] auch zweifach ambig

a. Maria ging zur Bank1, und Peter ging zur Bank1 “Maria ging zur Sitzgelegenheit und Peter ging zur Sitzgelegenheit”

b. *Maria ging zur Bank1, und Peter ging zur Bank2 “Maria ging zur Sitzgelegenheit und Peter ging zum Geldinstitut”

c. *Maria ging zur Bank2, und Peter ging zur Bank1 “Maria ging zum Geldinstitut und Peter ging zur Sitzgelegenheit”

d. Maria ging zur Bank2, und Peter ging zur Bank2 “Maria ging zum Geldinstitut und Peter ging zum Geldinstitut”

Gleiches gilt für Fälle, in denen ein ambiger Ausdruck, so wie in (28), durch N’-Ellipse gelöschtwurde (Horn bezeichnet entweder ein Musikinstrument, oder einen Auswuchs am Kopf vonTieren):

(28) a. Maria wollte ein Horn, und Peter wollte auch ein Horn vierfach ambigb. Maria wollte ein Horn, und Peter wollte auch eines [N’ Horn] zweifach ambig

1.3.2. Ein Experiment: Ambiguität vs. Größe des DenotationsbereichsNeben Ambiguität gibt es noch eine Reihe anderer Gründe, warum ein Ausdruck mehr als eineBedeutung besitzen kann. Manche Nominalphrasen wie Tier oder Ding besitzen z.B. einfacheinen sehr großen Denotationsbereich, sie können sich auf viele unterschiedliche Dingebeziehen. Es kann nun gezeigt werden, dass diese Ausdrücke mit großem Denotationsbereich inelliptischen Konstruktionen nicht von Disambiguierung betroffen sind. Ellipse kann somit alsein Test herangezogen werden, um in einem Experiment festzustellen, ob ein Ausdruck ambigist oder nicht. Konkret funktioniert das Experiment folgendermaßen. Man wählt einensprachlichen Ausdruck aus, von dem man wissen will, ob er ambig ist, oder nicht. Dann setztman diesen Ausdruck in einen Satz ein, und zwar an eine Stelle, die durch Ellipse gelöschtwerden kann. Führt Ellipse zum Verschwinden der Mehrdeutigkeit, so kann geschlossen werden,dass der untersuchte Ausdruck ambig ist. Bleiben dagegen trotz Ellipse alle Bedeutungenerhalten, so kann es sich nicht um einen ambigen Ausdruck handeln.

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NPs mit großem Denotationsbereich: Bisher wurde gezeigt, dass ambige Ausdrücke unter Ellipseihre Mehrdeutigkeit verlieren ((27) und (28)). Wir haben aber noch nicht gesehen, wie NPs mitgroßem Denotationsbereich im Detail aussehen, und wie sie sich unter Ellipse verhalten. Diesstellt die nächste Aufgabe dar.

Klassische Repräsentaten für Ausdrücke, die zwar nicht ambig sind, aber dennoch mehr alseine Interpretation zulassen, finden sich in Nomen wir Tier, Mensch oder Ding. Die möglicheBedeutung einer NP wie ein Tier ist sehr groß, sie umfasst so unterschiedliche Organismen wieKatzen, Pferde, Wale, Würmer, Pinguine und Spinnen. Ähnlich kann die NP ein Menschgebraucht werden, um auf Frauen, Männer, Neugeborene, russische Konzeptkünstler, Tischler,koreanische Bierdeckelsammler oder Personen mit nur einer Niere zu referieren. Beispiel (29)abesitzt dementsprechend eine große Anzahl unterschiedlicher Lesungen. Nehmen wir konkretan, dass (29)a Situationen beschreibt, in denen Maria eine Katze und Peter ein Pferd besitzt:

(29) a. Maria besitzt ein Tier, und Peter besitzt ein Tier kann bedeuten: “Maria besitzt eine Katze, und Peter besitzt ein Pferd”

b. Maria besitzt ein Tier, und Peter [VP besitzt ein Tier], auchkann bedeuten: “Maria besitzt eine Katze, und Peter besitzt ein Pferd”

Eine wichtige Beobachtung ist nun, dass Ellipse in (29)b die Anzahl der möglichenInterpretationen der NP ein Tier nicht vermindert. Sowohl mit (29)a als auch mit (29)b lassensich Situationen beschreiben, in denen sich die NP ein Tier einmal auf eine Katze (Maria besitztein Tier) und einmal auf ein Pferd bezieht (Peter besitzt ein Tier). Daraus lässt sich schließen,dass eine NP wie Tier nicht ambig ist, sondern einfach einen großen Denotationsbereich umfasst.(Siehe dazu auch die Diskussion um Beispiel (13) in Handout #2.)

Wir können uns nun der Frage zuwenden, wie sich Pronomen verhalten, denen ja auchunterschiedlichste Referenten zugewiesen werden können. Sind Pronomen ambig, oder besitzensie einfach einen großen Denotationsbereich?

1.3.3. Ambiguität und PronomenMan nehme an, dass das Pronomen seine in (30) entweder auf Karl oder auf Peter referiert. Unterdieser Voraussetzung ist der Satz (30) vierfach ambig:

(30) Karl mag seine Mutter, und Peter mag seine Mutter (vierfach ambig)

a. Karl mag Karls Mutter, und Peter mag Karls Mutterb. Karl mag Karls Mutter, und Peter mag Peters Mutterc. Karl mag Peters Mutter, und Peter mag Karls Mutterd. Karl mag Peters Mutter, und Peter mag Peters Mutter

Wird eine Konstituente, die das Pronomen enthält, gelöscht, kommt es, so wie in den Bank/Horn-Beispielen (27) und (28) zu einer Disambiguierung.

(31) Karl mag seine Mutter, und Peter [VP mag seine Mutter], auch (dreifach ambig)

a. Karl mag Karls Mutter, und Peter mag Karls Mutterb. Karl mag Karls Mutter, und Peter mag Peters Mutterc. *Karl mag Peters Mutter, und Peter mag Karls Mutterd. Karl mag Peters Mutter, und Peter mag Peters Mutter

Die Tatsache, dass Ellipse in (31) die Anzahl der möglichen Interpretationen reduziert, zeigt

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demnach, dass Pronomen tatsächlich ambig sind.4 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dassPronomen sich in elliptischen Kontexten so wie andere ambige Ausdrücke (Horn, Bank, ...)verhalten. Daraus kann geschlossen werden, dass Pronomen ambige Ausdrücke darstellen.

Die nächsten beiden Abschnitte wenden sich der Interpretation von Pronomen zu. Dabeiwird sich erweisen, dass das natürlichsprachliche System zwei unterschiedliche Strategien zurVerfügung stellt, um pronominale Ausdrücke zu interpretieren: Koreferenz und Bindung.

1.4. KOREFERENZWenn ein Pronomen und sein Antezedens beide auf das selbe Individuum referieren, spricht manvon Koreferenz, und man sagt, dass das Pronomen und sein Antezedens koreferieren. DieseBeziehung wird durch Koindizierung, d.h. Verwendung des gleichen Index auf Antezedens undPronomen, so wie in (19)a (unten stehend wiederholt) gekennzeichnet.

(19) a. Hans2 glaubt, dass er2 gewinnt. wird interpretiert als (19)a’

Eine wichtige Frage betrifft die semantischen Interpretation der Koreferenzbeziehung. Wiewerden koreferente Pronomen interpretiert, auf welche Art und Weise wird ihre Referenzfestgelegt? Im Prinzip bieten sich zwei Optionen an:

A. Ersetzung des Pronomens durch das Antezedens oder B. Direkte Interpretation des Pronomens.

Im ersten Fall wird er2 einfach durch den Namen Hans ersetzt, und erhält daher die gleicheBedeutung wie das Antezedens Hans. Wird Option B gewählt, so wird er2 dagegen direkt als einIndividuum in der Welt - in diesem Fall Hans - interpretiert, ohne einen Umweg über dasAntezedens - die NP Hans - zu machen.

Die Antwort auf diese Frage wurde eigentlich bereits in der Diskussion der Indexregel (§1.1)gegeben, ohne dass zu diesem Zeitpunkt jedoch eine Rechtfertigung für diese Wahl angebotenworden wäre. Dort wurde darauf hingewiesen, dass Pronomen ihre Bedeutung durch eine Regelerhalten, die jedem Index ein Individuum zuweist. Um z.B. das Pronomen er2 auf die gewünschteArt zu interpretieren, muss diese Regel den Eintrag [2 ÿ Hans] beinhalten, wobei ‘Hans’ für dasIndividuum Hans stehen würde. Dieser Annahme zufolge ist also die zweite Option, wonach dasPronomen direkt interpretiert wird, korrekt. Die unten stehenden Ausführungen liefern somitnachträglich ein empirisches Argument für die bereits früher getroffene Entscheidung.

Option A: Ersetzung. Das Pronomen wird durch das Antezedens ersetzt. Der Satz wird dann mitden üblichen Methoden interpretiert, die referenziellen Ausdrücke ihre Bedeutung zuweisen.

(19) a. Hans2 glaubt, dass er2 gewinnt. wird interpretiert als (19)a’a’. Hans2 glaubt, dass Hans2 gewinnt.

Zwar liefert die Methode für einfache Beispiele wie (19) die richtigen Ergebnisse. Doch führtErsetzung in Konstruktionen mir kreuzender Koreferenz, den sogenannten Bach-Peters-Sätzen,5

illustriert in (32), zu Problemen. ((32)a von Ede Zimmermann).

(32) a. Der Junge1, der ihn2 verdient hat, bekommt den Preis2, den er1 sich wünscht. b. Der Pilot1, der auf sie2 geschossen hat, traf die MIG2 die ihn1 verfolgt hatte.

(33) zeigt die Details der ersten Schritte der Analyse von (32)b. Im Übergang von (33)a zu (33)b

4Anders als in den anderen ambigen Beispielen (siehe z.B. (27)), erlaubt (31) drei, und nicht nur zwei,von vier möglichen Interpretationen. Der Grund dafür ist für unsere Zwecke nicht relevant.5Sätze dieser Art wurden in den 1970ern von Emmon Bach und Stanley Peters entdeckt. (Bach, Emmon.1970. Problominalization. Linguistic Inquiry 1: 121-122.

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wird sie2 durch das Antezedens die MIG2 die ihn1 verfolgt hatte ersetzt. Doch das Antezedensenthält auch ein Pronomen, das interpretiert werden muss.

(33) a. Der Pilot1, der auf sie2 geschossen hat, traf die MIG2 die ihn1 verfolgt hatte. Ersetze Pronomen durch Antezedens (1. Anwendung)

b. Der Pilot1, der auf geschossen hat, traf die MIG.. die MIG2, die ihn1 verfolgt hatte,

c. Der Pilot1, der auf [die MIG2 die Ersetze Pronomen durch Antezedenz (2)

traf die MIG... den Piloten1, der auf die MIG2, die ihn1 verfolgt hatte, geschossen hat,

d. usw..... Endlose Anzahl von Ersetzungen

Daher wird im nächsten Schritt (33)c der Relativsatz der auf sie2 geschossen hat anstelle desPronomens ihn1 eingesetzt. Nun enthält dieser Satz wieder ein Pronomen, für das ein Antezedensgefunden werden muss, das seinerseits wieder ein Pronomen einbettet, das ein Antezedensbenötige, und so weiter, und so fort. Eine Interpretation der Pronomen nach Option B führt alsozu einer endlosen Folge von Ersetzungen, und sollte keine feste Bedeutung besitzen. Dieswiderspricht den Intuitionen, Bach-Peters-Sätze sind ohne weitere Probleme interpretierbar.Option B: Direkte Interpretation. Der zweiten Option zufolge werden Pronomen direktinterpretiert, Pronomen referieren also, ähnlich wie Namen und definite NPs, direkt aufIndividuen in der Welt. Zu Koreferenz kommt es, wenn ein Pronomen zufälligerweise auf dasgleiche Individuum referiert, wie eine andere NP im linguistischen Kontext:

(34) Name2 /definite NP2 .... Pronomen2 ÆÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÈÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÇ ÆÉÉÉÉÉÈÉÉÉÉÉÇ Koreferenz

Referenz Referenz

Da das Pronomen keinen linguistischen Inhalt erhält, also nicht durch eine Form ersetzt wird, dieein anderes Pronomen enthalten könnte, kann die endlose Prozess in (33) umgangen werden. DieBach-Peters-Sätze in (32) stellen damit nicht länger ein Problem dar.

1.5. BindungKoindizierung kann, neben Koreferenz, auch eine zweite Relation ausdrücken. Diese zweiteRelation ist am einfachsten in Sätzen, in denen ein Quantor (QP) als Antezedens fungiert, zubeobachten. In (35) wird das Pronomen so interpretiert, dass seine Bedeutung von der Bedeutungeines quantifizierten Antezedens abhängig ist.

(35) a. Niemand5 glaubt, dass er5 gewinnen wird.“Es gibt keine Person x, sodaß x glaubt, dass x gewinnen wird”

b. Jeder7 glaubt, dass sein7 Team gewinnen wird.“Für jede Person x gilt, dass x glaubt, dass das Team von x gewinnen wird”

c. Irgendeiner4 glaubt, dass er4 gewinnen wird.“Es gibt eine Person x, sodass x glaubt, dass x gewinnen wird”

d. Die meisten1 glauben, dass der Anführer ihres1 Teams gewinnen wird.“Die Menge der Personen x, sodass x glaubt, dass der Anführer des Teams von x gewinnenwird, ist größer als die Menge der Personen x, sodass x glaubt, dass der Anführer des Teamsvon x nicht gewinnen wird”

e. Zwischen fünf und neun Teilnehmer1 glauben, dass sie1 gewinnen werden.“Die Menge der Personen x, sodass x glaubt, dass x gewinnen wird, hat 5 bis 7 Elemente"

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#1: Bindung & Koreferenz 10

Wie (36) zeigt, kann die korrekte Interpretation offensichtlich nicht dadurch erlangt werden, dassdas Pronomen in (35) durch das Antezedens ersetzt wird (vgl. Diskussion der Bach-Peters-Sätzein (32)). Die Bedeutung von (35)a ist nicht ident mit der Bedeutung von (36)a, und (35)b ist nichtsynonym mit (36)b:

(36) a. Niemand glaubt, dass niemand gewinnen wird.b. Jeder glaubt, dass das Team von jedem gewinnen wird.

Bindung: Da das Antezedens in diesem Fall nicht referiert, d.h. nicht durch einen Namen odereine definite DP gegeben ist, kann das Pronomen natürlich nicht referenziell interpretiert werden.Die Bedeutung wird daher auf etwas kompliziertere Weise vom Antezedens abhängig gemacht,durch die Relation der Bindung:

(37) Quantor2 .... Pronomen2

Bindung

Bedeutung

Pronomen, die durch Bindung interpretiert werden, nennt man auch gebundene Pronomen.

1.5.1. Interpretation von BindungDie Bindungsrelation wird auf vollständig andere Art und Weise interpretiert als Koreferenz.Einem Satz wie (38)a wird in etwa die Bedeutung in (38)b zugewiesen:

(38) a. Niemand5 glaubte, dass er5 gewinnen würde. (= (35)a)

b. Interpretation: “Es gibt keine Person x, sodass x glaubt, dass gewinnen würde.” x

(38)b enthält mehrere Variablen, die durch doppelte Unterstreichung gekennzeichnet sind - einebefindet sich im Restriktor des Quantors, sowie zwei im Skopus. Diese Variablen stellen die

korrekte Bedeutung des Satzes sicher.6 Insbesondere die dritte dieser Variablen - - ist von x

besonderer Wichtigkeit für die Diskussion, da sie den semantischen Wert des gebundenenPronomens wiedergibt. Da das gebundene Pronomen als Variable interpretiert wird, spricht manauch von einer pronominalen Variable oder einer gebundenen Variable. Gebundene Pronomenwie z.B. er in (38)a werden also als pronominale Variablen interpretiert.

Interpretation und Index: Gebundene Variablen besitzen nun eine interessante Eigenschaft, diesie von referenziellen Pronomen unterscheidet: ihre Bedeutung ist von der Wahl des Indexunabhängig. Bei der Interpretation eines referenziellen Pronomens wir dem zweiten Vorkommenvon er1 in (39) macht es natürlich einen Unterschied, welcher Index gewählt wird. Nehmen wiran, Index 1 steht in einer Situation für Peter, und Index 5 für Hans. Dann unterscheiden sich dieBedeutungen der beiden Aussagen (39) so wie in der Paraphrase angegeben:

(39) a. Er1 glaubte, dass er1 gewinnen würde“Peter glaubte, dass Peter gewinnen würde”

b. Er5 glaubte, dass er5 gewinnen würde“Hans glaubte, dass Hans gewinnen würde”

Dies ist bei den pronominalen Variablen anders, wie (40) belegt. Sowohl (40)a Die zwei Sätze(40) bedeuten exakt das selbe, sie sind also synonym, obwohl sie sich in der Wahl des Index

6Wie dies genau geschieht, wird in diesem Kurs nicht näher gezeigt werden. Siehe Handout #2, §3.3 und§3.4 für Diskussion. Einige Hinweise zur Interpretation finden sich im Anhang §1.7.

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unterscheiden.

(40) a. Niemand1 glaubte, dass er1 gewinnen würdeb. Niemand5 glaubte, dass er5 gewinnen würde

“Es gibt keine Person x sodass x glaubt, dass x gewinnen würde.”

Der Grund dafür ist offensichtlich. Bindung ist eine Beziehung zwischen Variablen, und welchenNamen diese Variablen erhalten ist unbedeutend. Was bei einer gebundenen Variable zählt, istnur ihre Beziehung zu anderen Variablen im Satz. Die Bedeutung von Bindung ist demnach vonder Wahl des Index unabhängig ist, die Interpretation von Koreferenz dagegen nicht.

Wie erkennt man Bindung und Koreferenz? Generell gilt, dass immer dann eine Bindungsrelationvorliegt, wenn einer der Umstände in (41) eintritt.

(41) a. das Antezedens wird nicht referenziell interpretiert, sondern ist ein Quantorb. das Pronomen ist ein Reflexivum (sich) oder ein reziprokes Pronomen (einander)c. es liegt eine Konstruktion wie in (20) vor, die Bindung erzwingt (de se Pronomen)

(20) a. Maria2 tat ihr2 bestesa’.*Anna1 tat ihr2 bestes

“*Anna tat Marias bestes”

b. Peter3 bekundete sein3 Beileid b’. *Fritz4 bekundete sein3 Beileid

“*Fritz bekundete Peters Beileid”

c. Niemand3 arbeitet sein3 Leben langc.’*Niemand3 arbeitet sein4 Leben lang

“Niemand arbeitete Peters Leben lang”

Um festzustellen, wie ein Pronomen semantisch interpretiert wird, muss man also nurüberprüfen, ob eine der Bedingungen in (41) zutrifft. In allen anderen Fällen liegt Koreferenz vor.

1.5.2. Anhang. Mehr zur Interpretation von Quantoren und Variablen

Der vorliegende Anhang stellt kurz anhand des Beispiels (42) dar, wie Quantoren und Variablenin einem Satz interpretiert werden.

(42) Jeder Vogel legt Eier

Die hier vorgestellte Theorie behandelt quantifizierte Determinatoren als sogenannteGeneralisierte Quantoren, welche die Bedeutung eines Determinators als eine Relationenzwischen zwei Mengen (oder, äquivalent, Prädikaten) interpretiert. In (42) drückt z.B. jeder eineRelation zwischen zwei Mengen aus, der Menge der Vögel, und der Menge der eierlegendenIndividuen. Diese Mengen entsprechen der Bedeutung der NP Vogel und der VP legt Eier in derLF Repräsentation von (42) (das Verb wurde in die Grundposition zurückbewegt, alsorekonstruiert), die in (43) skizziert wird.

(43) IP q p

DP ƒVP„ = {x|x legt Eier} 1 5

D° ƒNP„ = {x|x ist ein Vogel} Eier legt| 5

Jeder Vogel

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#1: Bindung & Koreferenz 12

Ameisenigel von unten

Schnabeltier

Genauer gesagt verlangt ein Quantor wie jeder, dass die Bedeutung der NP Vogel eine Teilmenge(= Untermenge) der VP-Bedeutung ist. Wie genau der Interpretationsmechanismus funktioniertlässt sich mittels des in (44) dargestellten Szenarios verdeutlichen:

(44) — {x|x legt Eier} (VP-Bedeutung)x8 x9 x1 x2 xx

{x|x ist ein Vogel} ——– (NP-Bedeutung) x17

Man nehme an, dass in (44) x1 einen bestimmten Adler bezeichnet, x2 eine spezifische Amsel,und x3 ein gewisses Huhn, sowie x8 einen Ameisenigel und x9 ein Schnabeltier. x17 sei schließlichein Hund. Ameisenigel und Schnabeltier sind nun keineVögel, sondern Säugetiere, aber dennoch legen beide Eier.Die beiden Tierarten sind daher keine Elemente derMenge, welche die NP-Bedeutung darstellt, aber sie sindin der VP-Bedeutung inkludiert (s. (44)).

Um Satz (42) im oben angegebenen Szenario zuinterpretieren, ist es notwendig zu klären, welcheBedingung (42) genau ausdrückt. Die Paraphrase in (45)gibt eine erste Annäherung:

(45) Jedes Individuum, das ein Vogel ist, ist auch einIndividuum, das Eier legt.

Doch wie überprüft man nun konkret, ob in einem gegebenen Szenario (45) zutrifft, und ob somitder Satz (42) wahr ist oder nicht? Das Verfahren ist denkbar einfach: man betrachtet der Reihenach jedes Individuum im Szenario, und stellt fest, ob es, wenn es ein Vogel ist, auch Eier legt.Der Satz ist genau dann wahr, wenn alle Individuen diese Bedingung erfüllen. Die Ergebnissedieser Strategie können z.B. in einer Liste wie (46) festgehalten werden, wo für jedes Individuumin einer eigenen Zeile verzeichnet, ob es wenn es sich um einen Vogel handelt, es auch Eier legt(1 bezeichnet ‘wahr’ und 0 ‘falsch’):

(46) Vogel? Eierlegend? Gilt ‘Wenn das Individuum ein Vogel ist, dann legt es Eier’?

a. x1 1 1 1b. x2 1 1 1c. x8, Ameisenigel 0 1 1d. x9, Schnabeltier 0 1 1e. x17, Hund 0 0 1

Es ist nun auch ersichtlich, daß die Aussage (42) im Szenario als wahr interpretiert wird: x1 x2,

und x3 sind nämlich Vögel und legen Eier, erfüllen also die Bedingung. Und x8, x9 und x17 sindkeine Vögel, daher appliziert die Bedingung auf diese drei Individuen auch nicht.

Der wichtigste Schritt in der Auffindung der Variablen in der Repräsentation von (42) ist dernächste. Die Listendarstellung ist zwar korrekt, aber recht aufwendig, und zudem nichtpraktikabel, wenn die Szenarien potentiell unendlich viele Individuen enthalten, wie in (47):

(47) Jede natürliche Zahl hat einen Nachfolger

Doch eine Liste wie (46) kann mit einfachen Mitteln in eine kompaktere Version komprimiertwerden. Anstatt alle Individuen aufzulisten, verwendet man Variablen, für die dann jeweils dieunterschiedlichen Individuen (etwa x1, x2, x3, x8, x9 und x17 aus (46)) eingesetzt werden können.Dergestalt erhält man die Formel in (48):

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(48) Für jedes Individuum x, sodaß x ein Vogel ist, gilt, daß x Eier legt ÆÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÈÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÇ ÆÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÈÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÉÇ

Quantor jeder führt Zwei Vorkommen der Variable x im Skopus Variable x ein des Quantors, die vom Quantor jeder gebunden werden

In (48) führt der Quantor jeder eine Variable x ein, die dann zwei weitere Vorkommen dieserVariable bindet. So wie gebundene pronominale Variablen in ihrer Interpretation immer vonihrem Antezedens abhängig sind, werden auch die beiden Variablen x in (50)b in Abhängigkeitvom Quantor jeder interpretiert. Genauer gesagt stellt man durch Verwendung der gleichenVariable x sicher, daß bei der schrittweisen Auswertung der Formel immer ein und das selbeIndividuum betrachtet wird. Für die Liste (46) hat das z.B. die wichtige Konsequenz, daß manbeim Überprüfen der Bedingung ‘Wenn Vogel, dann eierlegend’ nicht zwischen verschiedenenReihen wechseln oder springen kann, so wie in (49) durch die eingerahmten Wertegekennzeichnet.

(49) Vogel? Eierlegend? Gilt ‘Wenn Vogel, dann eierlegend’?

a. x1 1 1 1

b. x17, Hund 0 0 0

In (49) wird die Teilbedingung ‘Vogel’ von x1 erfüllt, dann wechselt man aber -unzulässigerweise - zu x17 (dem Hund), einem Individuum, das keine Eier legt. Könnte man aufdiese Art und Weise verfahren, würde man das falsche Resultat erhalten, nämlich daß der SatzJeder Vogel legt Eier (aufgrund durch der Existenz von Nicht-Vögeln) als falsch interpretiertwerden sollte. Dieses Problem kann in der Darstellung (48), die gebundene Variablen verwendet,nicht auftreten.

Man beachte letztlich, daß (48) eine transparenten, direkten Übergang von der Syntax zurSemantik ermöglicht. Jede Variable ist nämlich Teil einer syntaktischen Phrase: jeder entsprichtD°, die Bedingung ‘Vogel sein’ der NP, und ‘Eier legt’ der VP (s. Baum in (43))

(50) a. Jeder [NP Vogel] [VP Eier legt] ÂÅÅÅÅÅÅÅÄÅÅÅÅÅÅÃ ÂÅÅÅÄÅÅÅÅÃ

b. Für jedes Individuum x, sodaß x ein Vogel ist, gilt, daß x Eier legt

Dies ist erwünscht, da die interpretative Komponente bereits vorhandene syntaktischeInformation benutzen kann, um die korrekten Formeln zu generieren.

1.6. Kategorisierung nach ReinhartVon ihrer Bedeutung werden Pronomen demnach in zwei Gruppen eingeteilt: gebundene undreferenzielle Pronomen. Die referenziellen Pronomen können zudem entweder zufällig mit eineranderen NP im Satz koreferieren, oder deiktisch verwendet werden (Er2 schläft). Semantischgesehen verhalten sich deiktische und koreferenzielle Pronomen jedoch vollkommen gleich.Diese Erkenntnis führt zu der folgenden, neuen Kategorisierung (diese Sichtweise gehtinsbesondere auf Arbeiten von Tanja Reinhart zurück):

(51) Verwendung von Pronomen (revidierte Kategorisierung)

Pronomenwo

gebunden referenziellwo

zufällige koreferenziell deiktisch

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#1: Bindung & Koreferenz 14

Eine wichtiger Teil der Forschung zur Schnittstelle zwischen Form und Bedeutung befasstsich mit der Suche nach den Bedingungen, die festlegen, wo genau im Satz Pronomen, und wopronominale Variablen auftreten können. Warum ist es z.B. in den Beispielen in (52) nichtmöglich, Maria bzw. jede Bewerberin als Antezedens des Pronomens zu interpretieren?

(52) a. *Maria1 kennt sie1 sehr gut (vgl. (10)a)b. *Ein Kollege von jeder Bewerberin2 tat ihr2 bestes (vgl. (20)a)

Diese Bedingungen werden in Abschnitt 2 sowie in Abschnitt 3 vorgestellt werden.

2. DIE BINDUNGSTHEORIE

Die bisherigen Ausführungen zur Bedeutung von Pronomen ergaben, dass die Interpretation einesPronomen durch dessen Index festgelegt wird. Die Verwendung von Indizes ermöglicht esaußerdem, die Beziehung eines Pronomens zu anderen Nominalphrasen im Satz offenzulegen.In (53)a fungiert z.B. die NP Maria als das Antezedens des Pronomens ihren, in (53)b dagegennicht. Dies wird dadurch ausgedrückt, dass Maria nur in (53)a mit ihren koindiziert ist:

(53) a. Maria1 kennt ihren1 Hund sehr gutb. Maria1 kennt ihren4 Hund sehr gut

Es wurde am Ende des letzten Abschnitts auch bereits erwähnt, dass Koindizierung zwischeneinem Pronomen und einer NP nicht immer möglich ist (s. (52)). In (54) findet sich ein weitererHinweis darauf, dass die Verteilung der Indizes nicht frei ist, also dass nicht jede NP jeden Indextragen kann. Während Koreferenz in (54)a erlaubt ist, kann (54)b nicht so verstanden werden,dass sie auf Maria referiert:

(54) a. Maria1 kennt ihren1 Hund sehr gutb. *Sie4 kennt Marias4 Hund gutc. Sie4 kennt ihren4 Hund gut

Wird der Name durch ein Pronomen ersetzt, so wie in (54)c geschehen, wird dagegenKoindizierung und damit eine koreferente Lesung plötzlich wieder möglich.

Die Verteilung der Indizes ist also gewissen Regelmäßigkeiten unterworfen. Da solcheEinschränkungen auf die Wahl des Index nicht nur (52) und (54)b betreffen, sondernsystematisch zu beobachten sind, lässt sich die allgemeine Frage in (55) formulieren:

(55) Unter welchen Bedingungen dürfen zwei NPs im Satz koindiziert werden?

Die Beantwortung von (55) stellt die zentrale Aufgabe der Bindungstheorie dar.7 DieBindungstheorie regelt ganz generell, welche Abhängigkeiten in der Interpretation zwischen zweiNPs in einem Satz erlaubt sind und welche nicht.

2.1. DREI ARTEN VON NPSIn Abschnitt 1 war die Diskussion von Bindung und Koreferenz auf Personalpronomen (sie,ihn,...) und Possessivpronomen (sein, unser, ihren,...) beschränkt. Es existieren jedoch noch zweiweitere Klassen von NPs, deren Verhalten durch die Bindungstheorie erfasst wird. BeideGruppen lassen sich anhand ihrer morphologischen Form definieren.

2.1.1. Anaphern und Pronomen

7Siehe z.B. Chomsky, Noam. 1981. Lectures on Government and Binding. Dordrecht, The Netherlands:Foris Publications. Eine ausgezeichnete, aber fortgeschrittene, Einführung ist: Büring, Daniel. 2005.Binding Theory. Cambridge: Cambridge University Press.

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Form: Erstens gibt es neben Personal- und Possessivpronomen eine weitere Klasse vonPronomen. Diese wird aus Reflexivpronomen (sich) und Reziproken (einander, z.B. in Wirkennen einander) gebildet, die in der Bindungstheorie unter dem Begriff der Anapher (fem., pl.Anaphern) zusammengefasst werden. Personal- und Possessivpronomen werden in derBindungstheorie weiters verkürzt einfach als Pronomen bezeichnet. Dies führt zu derKlassifizierung in (56):

(56) Arten von pronominalen Ausdrücken in der Bindungstheorie

a. Reflexivpronomen: sich ± Anaphernb. Reziprokpronomen: einander Ac. Personal/Possessivpronomen: er, sie, ihn, ..., sein, ihr, unser,... ± Pronomen

Bindungstheoretisches Verhalten: Anaphern und Pronomen unterscheiden sich nun systematischin ihrer Fähigkeit, den gleichen Index wie eine andere NP im Satz anzunehmen. Während eineAnapher in Objektsposition mit dem Subjekt Maria koindiziert werden darf ((57)a), kann dasPronomen sie in (57)b nicht auf die gleiche Person wie Maria verweisen - Maria und sie könnennicht koreferent interpretiert werden. Dies wird durch den Stern * vor dem Beispiel (57)bangezeigt:

(57) a. Maria1 kennt sich1 sehr gut b. *Maria1 kennt sie1 sehr gut

Vorsicht! Der Stern vor (57)b bedeutet nur, dass der Satz in dieser konkreten Interpretationungrammatisch ist. Wird ein anderer Index für das Pronomen gewählt, kann das Resultat - sieheetwa (57)c - wieder vollständig akzeptabel sein.

(58) c. Maria1 kennt sie4 sehr gut

Interessanterweise drehen sich die in (57) herrschenden Verhältnisse genau um, wenn dieAnapher oder das Pronomen in einen tieferen Satz (CP) eingebettet wird. Im Gegensatz zu (57)aist (59)a ungrammatisch. Das Antezedens Maria im Hauptsatz scheint (auf eine noch näher zuspezifizierende Art) von der Anapher ‘zu weit entfernt’ zu sein. (59)b besitzt dagegen nun jenekoreferente Lesung, die dem Beispiel (57)b fehlte:

(59) a. *Maria1 weiß, [CP dass ich sich1 sehr gut kenne] b. Maria1 weiß, [CP dass ich sie1 sehr gut kenne]

(59) zeigt demnach, dass dort wo ein Pronomen vorkommt, keine Anapher auftreten darf.Das Paar in (57) belegt zudem, dass auch der umgekehrte Fall zutrifft. Anaphern und Pronomensind demnach komplementär verteilt. Soll ein spezifischer syntaktischer Kontext mit einerspezifischen Interpretation verknüpft werden, so ist in diesem Kontext entweder eine Anapherzulässig, oder ein Pronomen - aber niemals beide.

Der Kontrast (60) weist schließlich auf einen dritten Unterschied zwischen Anaphern undPronomen hin. Nur Pronomen können in Umgebungen überleben, die so wie die beiden Sätze(60) überhaupt kein Antezedens bereitstellen:8

(60) a. Sie2 schläftb. *Sich schläft

Offensichtlich benötigen Anaphern ein Antezedens, während einem Pronomen auch eineBedeutung zugewiesen werden kann, wenn es keine andere koindizierte NP im Satz gibt.

8α kann also nicht als sein eigenes Antezedens fungieren.

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#1: Bindung & Koreferenz 16

Anaphern sind also nur zulässig, wenn der Satz ein Element mit gleichem Index enthält. Wieder zeigt sich, dass es nicht möglich ist, jede NP mit jeder NP zu koindizieren.

Naturgemäß würde man gerne mehr darüber erfahren, warum dies so ist, also welche Gesetze desSprachsystems für die Kontraste (57) bis (60) verantwortlich sind.

2.1.2. R-AusdrückeIn der Bindungstheorie spielt außerdem noch eine dritte Klasse von Nominalphrasen eineprominente Rolle. Es handelt sich dabei um referenzielle Ausdrücke, kurz R-Ausdrücke genannt.R-Ausdrücke bezeichnen NPs, die in der Lage sind, Individuen in einer Situation eindeutig zuidentifizieren und schließen Namen (Maria, Paris, Ludwig XIV,...) sowie definiteBeschreibungen ein, also NPs, die mit einem definiten Artikel, einem Pronomen oder Nameneingeleitet werden (die Katze, dieser Hund, ihr Hund, Peters Hund, die Bücher, die auf demTisch liegen,..). Bindungstheoretisches Verhalten: Namen verhalten sich weder wir Pronomen noch wieAnaphern. Wird z.B. die Position eines Namens und eines koreferenten Pronomens (siehe (61)a)vertauscht, geht - wie (61)b zeigt - die Möglichkeit, Name und Pronomen zu koindizieren aufeinmal verloren:

(61) a. Maria1 weiß, [CP dass ich sie1 sehr gut kenne] (= (10)d)b. *Sie1 weiß, [CP dass ich Maria1 sehr gut kenne]

Wie das Verhalten von Namen (sowie der anderen beiden NP-Klassen) zu analysieren ist wirdweiter unten noch im Detail besprochen werden.

Resume: Zusammenfassend werden in der Bindungstheorie also insgesamt drei Arten von NPsunterschieden:

(62) NP-Klasse Interpretation Bsp.

a. Anaphern gebunden sich, einander

b. Pronomen gebunden oder referenziell er, sie, ..

c. R-Ausdrücke referenziell die Katze, die Bücher, ....

Die Tabelle in (62) weist auch auf eine weitere, bisher nicht zur Sprache gekommeneEigenschaften der drei NP-Klassen hin: während Anaphern nur eine gebundene Interpretationzulassen (s. (41)b), und R-Ausdrücken immer referenziell interpretiert werden, lassen Pronomenim Prinzip beide Bedeutungen zu. Obwohl diese Beobachtung nicht zufällig ist, wird sie hiernicht weiter verfolgt werden.

Die zentrale Frage der Bindungstheorie (55) bezieht sich demnach auf die drei obendefinierten Klassen von NPs, also Anaphern, Pronomen und R-Ausdrücke, und kann auch sogestellt werden. In welchen Sätzen dürfen welche NPs (Anapher, Pronomen, R-Ausdrücke)welchen Index tragen? Bevor wir uns der Lösung dieses Rätsels zuwenden, ist es jedochnotwendig, den Begriff des K-Kommando einzuführen (oder aus der Einführung in die Syntaxzu wiederholen)

2.2. K-KOMMANDODie grundlegende strukturelle Relation in Bäumen ist die der Dominanz. Ein Knoten dominierteinen anderen Knoten, wenn er höher im Baum zu finden ist, und außerdem beide Knoten durcheine durchgehende Linie - einen Pfad - mit dem höchsten Knoten des Baumes verbunden sind.

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17 DGB38 Semantik, Wise 2010-11

(63) α dominiert β =Def α und β befinden sich auf einem Pfad zum höchsten Knoten desBaumes, und α steht höher im Baum als β.

Auf dieser Relation aufbauend, können die Schwesternrelation sowie K-Kommando (engl. c-command) definiert werden. Intuitiv beschreibt K-Kommando die Beziehung zwischen einemKnoten α und dem Schwesterknoten von α, sowie allen Knoten, die in diesem Schwesterknotenenthalten sind. (64) verdeutlicht dies mittels eines Baumdiagramms, wobei der Pfeil K-Kommando signalisiert. Man nennt die Gesamtheit der Knoten, die α k-kommandiert - also dengrauen Bereich in (64) - auch die K-Kommandodomäne von α. (Die Knoten, die imSchwesterknoten von α enthalten sind werden dabei nicht näher spezifiziert.)

(64) q p α Schwesterknoten von α

! qp! 3 3z---> 2 2 2 2

K-Kommando ... ... ... ... ... ... ... ...

Eine wichtige Eigenschaft von K-Kommando ist, dass die Beziehung von der Reihenfolge völligunabhängig ist. Es ist also gleichgültig ob α links oder rechts von den Knoten steht, die α k-kommandiert.

(65) q p Schwesterknoten von α α

qp !3 3 !

2 2 2 2 <---m ... ... ... ... ... ... ... ... K-Kommando

Eine etwas präzisere und weit verbreitete Definition für K-Kommando wird in (66) gegeben:

(66) α k-kommandiert β =Def (Chomsky 1986a: 8)a. α dominiert β nicht und b. jeder Knoten, der α dominiert, dominiert auch β undc. α … β

Die erste Bedingung (66)a legt fest, dass Dominanz und K-Kommando einander ausschließen.In einem Baum wie (67) k-kommandiert daher der höchste Knoten a keinen anderen Knoten.Bedingung (66)b stellt sicher, dass ein Knoten α nur Knoten innerhalb des Schwesterknotens vonα k-kommandiert. Knoten b k-kommandiert z.B. den Knoten f, da jeder Knoten der b dominiert(dies entspricht Knoten a) auch f dominiert. Umgekehrt k-kommandiert der Knoten f den Knotenb nicht, da nicht jeder Knoten der f dominiert auch b dominiert - konkret wird f auch von cdominiert, c dominiert jedoch b nicht.

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#1: Bindung & Koreferenz 18

(67)

a q p

b ----------l c

3 ? 3 d : e f g

3 ! ! h i z-----=----m

Man beachte weiters, dass aus den beiden Bedingungen (66)a und (66)b alleine folgen würde,dass jeder Knoten sich auch selbst k-kommandiert.9 Knoten d dominiert sich z.B. nicht selbst,und auch Bedingung (66)b ist trivialerweise erfüllt, da jeder Knoten der d dominiert - also b unda - den Knoten d dominiert. K-Kommando wäre, wenn es nur die beiden Bedingungen (66)a und(66)b gäbe, also reflexiv. Da dies in verschiedenen Bereichen zu Schwierigkeiten führt, auf diehier nicht näher eingegangen werden soll, wird diese spezielle Beziehung durch eine weitereBedingung, nämlich jene in (66)c, explizit ausgeschlossen.

Anwendung: Im Baum (68)a herrschen folgende K-Kommandorelationen: (i) Knoten b k-kommandiert die Knoten c, d und e und (ii) die Paare von Knoten b und c sowie d und e k-kommandieren einander. Wenn zwei Knoten einander k-kommandieren spricht man auch vongegenseitigem K-Kommando. Im zweiten Baum (68)b k-kommandiert kein Knoten irgendeinenanderen Knoten - weder k-kommandiert der Knoten a den Knoten b, noch umgekehrt. Dies folgtaus Bedingung (66)a.

(68) a. a b. a c. a 3 ! w!o

b c b b ! d 3 5 ! 3 d e c e f g

Die K-Kommandodomäne eines Knoten α wird, wie schon erwähnt, als jene Menge von Knotendefiniert, die von α k-kommandiert werden. Die K-Kommandodomäne der sieben Knoten desBaumes (68)c sieht daher folgendermaßen aus:

(69) α K-Kommandodomäne von α

b d, e, f, g

d b, c, e

e b, c, d, f, g

f g

g f

Historische Anmerkung: Der Ausdruck c(onstituent)-command wurde erstmals in Reinhart(1976; 1983) gebraucht, wo der Begriff jedoch etwas anders definiert wurde als hier. Reinhartselbst wiederum griff auf die von Klima (1964) eingeführte in construction with-Relation, sowieauf die von Langacker (1966) und Jackendoff (1972) gebrauchte Relation des Kommando zurück.

9Dies folgt, wenn angenommen wird, dass kein Knoten sich selbst dominiert, wenn also Dominanzirreflexiv ist.

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2.3. DEFINITION DER BINDUNGSTHEORIEDie Bindungstheorie regelt, welchen Index eine NP tragen darf, und welche Koindizierungenzwischen NPs erlaubt sind. Sie besteht aus drei Teiltheorien, eine für jede der NP-Klassen, diePrinzip A, B und C genannt werden:

(70) Syntaktische Bindungstheorie (Chomsky 1981)

a. Prinzip A =Def Eine Anapher ist in ihrer Bindungsdomäne gebunden.b. Prinzip B =Def Ein Pronomen ist in seiner Bindungsdomäne frei.c. Prinzip C =Def Ein R-Ausdruck ist frei.

(71) Bindungsdomäne von α =Def die kleinste IP, die α enthält (entspricht dem kleinsten Satz)

(72) α ist gebunden =Def es gibt eine NPa. die mit α koindiziert ist undb. die α k-kommandiert

(73) α ist frei =Def α ist nicht gebunden

2.4. ANWENDUNG DER BINDUNGSTHEORIEIm Folgenden werden die wichtigsten Beobachtungen, die sich mit Hilfe der Bindungstheorieanalysieren lassen, kurz dargestellt. Dabei werden zuerst Anaphern (sich, einander) undPronomen (sie, er, ihn,...) in einfachen Sätzen (κύριες προτάσεις) behandelt werden. ImAnschluss wenden wir uns den Verhältnissen in zusammengesetzten Sätzen (σύνθετεςπροτλάσεις) zu. Das Verhalten von R-Ausdrücken, also von NPs die durch Prinzip C erfasstwerden, bildet den Abschluss dieser Ausführungen.

Anaphern und Pronomen im einfachen Satz: In (74)a ist es möglich, Maria als das Antezedensvon sich zu interpretieren. Man sagt auch: Maria bindet die Anapher. Es gilt in diesem Fall sogareine stärkere Aussage, Maria kann nicht nur, sondern muß die Anapher sich sogar binden:

(74) a. Maria1 kennt sich1 sehr gutb. *Maria1 kennt sie1 sehr gut

Aus (74)b wird weiters ersichtlich, dass Ersetzung der Anapher (sich) durch ein Pronomen (sie)zu Ungrammatikalität führt. Das Pronomen kann in (74)b nicht koreferent mit dem AntezedensMaria interpretiert werden.

Die Grammatikalität von (74)a wird durch Prinzip A erklärt. Nach Prinzip A muss dieAnapher sich in ihrer Bindungsdomäne gebunden sein. Die Anapher ist gebunden, wenn es eineNP gibt, die den gleichen Index trägt und die die Anapher (sich) k-kommandiert. Das SubjektMaria ist so eine NP mit den gewünschten Eigenschaften, wie der Baum in (75) zeigt:10

10Wie üblich wird der Satz in der Verb-Endstellung dargestellt.

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#1: Bindung & Koreferenz 20

(75) IP q p

NP1 I’ ! 3

N°1 VP I° ! 3 Maria1 NP1 V° 5 !

sich1 kennt 9 *sie1 A

Weiters handelt es sich bei (74) um einfache Sätze. Es gibt daher immer nur eine einzigeBindungsdomäne. Die Anapher sich ist daher in ihrer Bindungsdomäne gebunden, und PrinzipA ist erfüllt.

Wird die Anapher durch ein Pronomen ersetzt, wie in (74)b, so kommt Prinzip B zurAnwendung. Prinzip B stellt die Negation (.die negative Version) von Prinzip A dar. LautPrinzip B muss ein Pronomen in der Bindungsdomäne frei sein, es darf also nicht gebunden sein.Anders ausgedrückt müssen Pronomen daher zumindest eine der beiden unten wiederholtenBedingungen (72) verletzen, um frei zu sein:

(72) α ist gebunden =Def es gibt eine NPa. die mit α koindiziert ist undb. die α k- kommandiert

Offensichtlich ist nun das Pronomen sie in (74)b in seiner Bindungsdomäne nicht frei, da Mariamit dem Pronomen sie sowohl koindiziert ist, als auch das Pronomen k-kommandiert. (74)b lässtdaher die angegebene Lesung nicht zu, in der Maria und sie koreferent interpretiert werden.Prinzip B erklärt also die Ungrammatikalität von (74)b.

Es existieren nun zwei Strategien, um Bindung zu verhindern und aus (74)b einewohlgeformte Struktur zu bilden: entweder wird der Index geändert - was zur einer Verletzungvon (72)a führt - oder die K-Kommandobeziehung wird zerstört - was Nicht-Erfüllung von (72)bzur Folge hat. (76) belegt, dass die erste Strategie tatsächlich zum Erfolg führt:

(76) Maria1 kennt sie4 sehr gut (wobei 2 … 1)

Wird der Index am Pronomen (oder am Antezedens) geändert, ist das Pronomen frei, da es nunim Satz keine k-kommandierende NP gibt, die mit dem Pronomen koindiziert wäre. Prinzip Bist also erfüllt. Alternativ kann die K-Kommandobeziehung zwischen Antezedens und Pronomeneliminiert werden, wie im Anschluss näher erörtert werden wird.

K-Kommando: Die beiden Sätze in (77) unterscheiden sich nur in einer Hinsicht vom Paar (74).In (77) wurde das Antezedens Maria in eine weitere Nominalphrase eingebettet:

(77) a. Marias1 Bruder3 kennt sie1 sehr gutb. *Marias1 Bruder3 kennt sich1 sehr gut

Der Strukturbaum in (78) macht diesen Schritt und seine Konsequenzen deutlich:

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(78) IP q p

NP3 I’ 2 3 NP1 NP3 VP I° ! ! 3 N1° N3° NP1 V° ! ! 5 ! Marias1 Bruder *sie1 kennt

9 sich1 A

Im Unterschied zu (74) k-kommandiert Maria die Objektsposition nun nicht mehr. Daher ist dasPronomen (in seiner Bindungsdomäne) frei - zwar gibt es eine NP mit gleichem Index (Maria),aber diese Antezedens k-kommandiert das Pronomen nicht.

Anaphern müssen im Gegensatz zu Pronomen von ihrem Antezedens k-kommandiertwerden. Der Satz (77)b ist daher in der angezeigten Interpretation ungrammatisch, (77)b kannnicht bedeuten, dass Marias Bruder Maria gut kennt. Wiederum ist ein Pronomen dort möglich,wo sich nicht auftreten darf, und umgekehrt. Es scheint also tatsächlich so zu sein, dassPronomen und Anaphern komplementär verteilt sind.

Schließlich wird auch der folgende Kontrast durch Prinzip A und B erklärt:

(79) a. Sie schläftb. *Sich schläft

Pronomen dürfen nach Prinzip B nicht durch ihr Antezedens k-kommandiert werden. Diese istin (79)a der Fall. Anaphern müssen dagegen von einem Antezedens k-kommandiert werden.Diese Bedingung ist in (79)b nicht erfüllt.

Anaphern und Pronomen im zusammengesetzten Satz: Betrachten wir nun etwas komplexereBeispiele, in denen sich das Antezedens im übergeordneten Satz befinden, die Anapher/dasPronomen jedoch in einem eingebetteten Satz. Wie (80) zeigt, sind auch hier Anaphern undPronomen komplementär verteilt. Im Gegensatz zum einfachen Satz (s. (74)a/b) kann nun jedochnur ein Pronomen durch ein Antezedens im höheren Satz gebunden werden.

(80) a. *Maria1 weiß, [CP dass [IP=BD ich sich1 sehr gut kenne]] (= (10)d)b. Maria1 weiß, [CP dass [IP=BD ich sie1 sehr gut kenne]] (= (10)d)

Hier ist die zusätzliche Einschränkung von Prinzip A und B auf die Bindungsdomäne (BD)relevant. Die Anapher in (80)a ist zwar gebunden, aber Bindung findet nicht innerhalb der BD -der unteren IP - statt. Umgekehrt ist (80)b wohlgeformt, da das Pronomen sie1 in der BD frei ist.

ÜBUNG: Zeigen Sie, wie Prinzip C das Verhalten von R-Ausdrücken reguliert.

Prinzip A, B und C: Die folgenden Beispiele illustrieren kurz zusammenfassend die Wirkung vonPrinzip A, B und C. Rechts wird in telegraphischer Form der Grund fürGrammatikalität/Ungrammatikalität notiert.

(81) a. Hans2 mag sich2 UBindung (Prinzip A)b. *Hans1 mag ihn1 YKoreferenz (Prinzip B, Bindungsdomäne)

(82) a. Die Kinder3 mögen einander3 UBindung (Prinzip A)b. *Die Erzählungen Peters2 amüsierten sich2 YBindung (Prinzip A, K-kommando)

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#1: Bindung & Koreferenz 22

(83) a. Maria1 glaubt, dass wir sie1 mögen UKoreferenz (Prinzip B)b. *Maria1 glaubt, dass wir sich1 mögen YBindung (Prinzip A, Bindungsdomäne)

(84) a. Hans2/Der Mann2 glaubt, dass Maria ihn2 mag UKoreferenz (Prinzip B)b. *Er2 glaubt, dass Maria den Mann2/Hans2 mag YKoreferenz (Prinzip C)

(85) a. Die Geschichten ihres5 Vaters amüsierten Maria5 UKoreferenz (Prinzip C)b. Dass sie2 nicht eingeladen war ärgerte Maria2 UKoreferenz (Prinzip C)

Semantische vs. syntaktische Bindung: Vorsicht, nicht alle Bindungsbeziehungen im Sinne derBindungstheorie sind auch Bindungsrelationen in dem in §1 verwendeten, semantischen Sinn!In der syntaktischen Literatur wird etwa angenommen, dass jede DP, die von ihrem Antezedensk-kommandiert wird, gebunden ist (s. (72)a). Nach dieser Definition wäre z.B. das Pronomenihn2 in (84)b von seinem Antezedens Hans gebunden. Semantisch gesehen handelt es sich hierjedoch um Koreferenz, nicht um Bindung. Man muss also den unterschiedlichen Gebrauch derTerminologie beachten, und sich bewusst sein, dass der Begriff Bindung ambig ist.

2.5. BINDUNGSDOMÄNEEs gibt Hinweise darauf, dass die Definition der Bindungsdomäne von α in (71) - untenwiederholt - noch nicht ganz korrekt sein kann.

(71) Bindungsdomäne von α =Def die kleinste IP, welche α enthält

Konkret sind Modifikation in drei Bereichen notwendig, wie der Vergleich zwischen (71) undder neuen Definition von Bindungsdomäne in (86) zeigt:

(86) Bindungsdomäne von α =Def die kleinste Phrase, welche die folgenden Elemente enthälta. α b. ein Subjektc. einen Kasuszuweiser von α

Erstens wurde in (86) der spezielle Verweis auf IP durch den allgemeineren Begriff Phraseersetzt. Dies führt zu einer allgemeineren - und daher besseren - Definition. Die IP stellt nunjenen Knoten dar, der Subjekte einführt. Da in (86) nicht mehr auf IP referiert wird, muss hiereine zweite Veränderung vorgenommen werden. Dies geschieht durch Bedingung (86)b, diesicherstellt, dass die BD ein Subjekt enthält. Drittens muss in der BD von α auch ein Elemententhalten sein, dass an α den Kasus (πτώση) zuweist. Diese Umformulierung ist, wie sich zeigenwird, unter anderem notwendig, um das Verhalten von Anaphern in sogenannten AcI-Konstruktionen zu erklären. Auf die Analyse dieser Strukturen wird im Anschluss an einigekurzen Bemerkungen zur syntaktischen Position von Subjekten näher eingegangen werden.11

VP-interne Subjekte: In Einführungen zur Syntax wird das Subjekt üblicherweise in SpecIP (oderSpecTP, je nach Modell) generiert. Diese Annahme ist nur teilweise korrekt. Schon seit längeremist nämlich bekannt, dass Subjekte in einer tieferen Position, (ungefähr) in SpecVP, das Licht derWelt erblicken, und erst im Laufe der syntaktischen Derivation an SpecIP angehoben werden.Ein gutes Argument für diese VP-interne Subjektshypothese genannte Annahme kann aus derVerteilung von gewissen Quantoren wie alle und beide gewonnen werden. Wie (87) belegt,können diese Ausdrücke, die das Subjekt modifizieren, nicht nur nahe am Subjekt auftauchen((87)a/c), sondern auch weiter rechts im Satz zurückgelassen werden ((87)b/d):

11Die neue Definition ist auch besser geeignet, um Bindung innerhalb von NPs zu erfassen: (i) Peters1 Bericht über sich1

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(87) a. weil wir alle den Peter sahen b. weil wir den Peter gestern alle sahen

c. weil wir beide den Peter sahen d. weil wir den Peter gestern beide sahen

Dies deutet darauf hin, dass das Subjekte zusammen mit dem Quantor innerhalb der VP generiertwerden, und sich dann, unter Zurücklassen des Quantors nach SpecIP bewegen. In SpecVP bleibteine Spur (in diesem Fall t1) zuück:

(88) Strukturbaum für (87)b/d

CP 3

weil IP qp

NP1 I’ 4 3 wir1 VP I°

: wo ! NP V’

! 2 6Subjektsspur L z t1 alle/beide den Peter sahen

Die eigentliche Subjektsposition ist also SpecVP. Auch für die Definition der Bindungsdomänewird diese Erkenntnis wichtig werden.Kasuszuweiser: Motivation für die Inklusion von Kasuszuweiser in der Definition vonBindungsdomäne kann aus der Analyse von AcI-Konstruktionen (Accusativum cum Infinitivo;auch ECM-Konstruktionen - für ‘Exceptional Case Marking’ - genannt) gewonnen werden. (89)zeigt, daß das AcI-Komplement für Anaphernbindung durchlässig ist, eine Anapher in derSubjektsposition des AcI-Komplements kann von einem externen Antezedens gebunden werden:

(89) a. weil Peter1 sich1 ungern schnarchen hörteb. weil die Senatoren2 einander2 nicht ungestört über den Vorschlag abstimmen ließen c. daß sie2 sich2 im Traum die Türe öffnen, und aus dem Fenster schweben sah

Das AcI-Komplement enthält ein Subjekt (den unterstrichenen Akkusativ), bildet jedoch keineBindungsdomäne. Vielmehr ist die Bindungsdomäne von NPs im AcI-Komplement der ganzeSatz. Diese Beobachtung wird durch die Inklusion von Kasuszuweiser in die Definition vonBindungsdomäne erklärt. In Verbindung mit der Annahme, daß Subjekte innerhalb der VPgeneriert werden (s. (87)), und dort auch für die Bindungstheorie sichtbar sind, ergibt sich, daßdas Matrixsubjekt als Binder für das AcI-Subjekt dienen kann. (90) fasst die Ergebnisse in einemStrukturbaum zusammen:

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#1: Bindung & Koreferenz 24

(90) IP2 q p

DP1 I’ 6 qp Peter1 VP 7 Bindungs- I°

ei domäne von sich

Subjektsspur L t1 V’wo

IP2 V° ei !

DP I’ hörte 7 Kasuszuweiser von sich (Akkusativ) 5 6 sich2 ungern schnarchen

2.5. WEITERE ANWENDUNG: GRIECHISCHDie folgenden Sätze belegen, daß die Bindungsprinzien die Verteilung von Pronomen undAnaphern auch im Griechischen selegieren:

(91) a. *Ο Γιάννης3 τον3 είδεb. Ο Γιάννης2 είδε τον εαυτό του2

(92) a. Σκέφτηκε ο Γιάννης1 οτι τον1 είδες b. *Σκέφτηκε ο Γιάννης2 οτι είδες τον εαυτό του2

(93) a. Ο Γιάννης7 θεωρούσε τον εαυτό7 του έξυπνοb. *Ο Γιάννης5 θεωρούσε οτι ο εαυτός του5 είναι έξυπνος

(94) a. Η µητέρα του Γιάννη2 τον2 είδεb. *Η µητέρα του Γιάννη5 είδε τον εαυτό του5

Griechisch vs. Deutsch: Im Griechischen, jedoch nicht im Deutschen, finden sich auch Reflexiva(Anaphern), die Nominativkasus tragen:

(95) a. Τον Γιάννη1 τον στενοχωρεί/ανησυχεί/προβληµατίζει ο εαυτός του1, NOM b. *Sich bekümmerte/sorgte/verwunderte den Peter

ÜBUNGEN

A. Was ist die k-Kommandodomäne von Knoten Ø in den untenstehenden Bäumen?

(96) a. a 2 Ø c

3 d e 2 f g

b. a 3 b c 3 g e Ø f 2 g h

c. a eu b c

2 2 e f g 2 |

Ø i m | k

B. Welche Knoten k-kommandiert jener Knoten, der Ø direkt dominiert (z.B. d in (97)a)?

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(97) a. b. a eu b c

2 2 d e f g | 2 | |

Ø h i Û Ü | |

Ù Ú

a 3 b c

3 | d e Û 2 | f g Ú | | Ù Ø

c. d. a 3

b c 9 | d e f Û | | | Ù Ø Ú

a 2 b c

| 3 Ø e 2 f g

| | Ú Û

REFERENZIEC. Warum sind die folgenden Sätze ungrammatisch?

(98) a. *Maria1 glaubt, daß sich1 den Hans magb. *Wir lasen Peters3 Bericht über ihn3 c. *Peters2 Filme machten sich2 reich

D. Werden die folgenden Beispiele von ‘langer Bindung’ in das AcI-Komplement, die für vieleSprecher des Deutschen möglich ist, vom hier vorgestellten System erfaßt? Wenn nicht, warum?

(99) a. Der König2 ließ [IP die Bauern für sich2 arbeiten]b. *Maria2 ließ [IP uns sich2 helfen]

3. PRONOMINALE VARIABLEN

Pronominale Variablen wurden als Pronomen definiert, die von einem Quantor (oder einemanderen Operator) semantisch gebunden werden. Das Pronomen ihn in (100)a stellt so einepronomiale Variable dar:

(100) a. Niemand3 glaubte, daß Maria ihn3 einladen würde.b. Interpretation: “Es gibt keine Person x, sodaß x glaubt, daß Maria x einladen würde.”

Bindung vs. Koreferenz: In der klassischen Bindungstheorie (z.B. Chomsky 1981) fallen sowohlBindung als auch Korefenz in den Bereich der Bindungstheorie. Das bedeutet, Prinzip B regeltsowohl das Vorkommen von gebundenen Variablen, als auch das Verhalten von koreferentenPronomen, wie (101) zeigt:

(101) a. *Keine Kandidatin2 kennt sie2 sehr gutb. *Maria2 kennt sie2 sehr gut

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#1: Bindung & Koreferenz 26

Wie bereits erwähnt führt dieser doppelte Gebrauch des Ausdruck ‘Bindung’ führt leicht zuVerwirrung! Der Grund für diese Ambiguität liegt darin, dass die Unterscheidung zwischenBindung und Korefenz semantischer Natur ist, die Bindungstheorie jedoch eine rein syntaktischeTheorie dartsellt.

K-Kommando und pronominale Variablen: Es kann beobachtet werden, daß pronominaleVariablen nicht in allen Kontexten vorkommen können. Konkret muß die Beziehung zwischendem gebundenen Pronomen und dem Quantor eine bereits bekannte syntaktische Bedingungerfüllen: K-Kommando. Dies läßt sich an den untenstehenden Beipielpaaren zeigen.

" Ein Quantor, der in einen Relativsatz eingebettet ist, kann keine pronominale Variable imMatrixsatz binden:

(102) a. Keiner2 wollte das Buch, das uns gefallen hatte, seiner2 Schwester schenkenb. *Wir wollten das Buch, das keinem2 gefallen hatte seiner2 Schwester schenken

(Ungrammatisch in der angegebenen Koindizierung)

(103) a. Die Ärzte versprachen jedem3, ihn3 zu untersuchen b. *Der Ärzte versprachen der Frau, die jeder3 kannte, ihn3 zu untersuchen

" Ein Quantor, der in einen Subjektsatz eingebettet ist, kann keine pronominale Variable imMatrixsatz binden:

(104) a. Jeder zweite Angeklagte1 langweilte uns mit seinen1 Unschuldsbeteuerungenb. *Jeden zweiten Angeklagten2 vor Gericht vertreten zu müssen würde ihm2 Hoffnung

geben.

(105) a. Kein Haus2 gefiel seinem2 Besitzerb. *Daß wir für kein Haus2 einen Käufer gefunden hatten, gefiel seinem2 Besitzer nicht

" Ein in eine DP eingebetteter Quantor kann keine gebundene Variable im Matrixsatz binden:

(106) a. Kein Produkt2 überzeugte uns so sehr, daß wir es2 auch tatsächlich kaufen würdenb. *Der auf keinem Produkt7 fehlende Warnhinweis überzeugte uns, es7 zu kaufen/führte

zu Verlusten für seinen7 Hersteller.

(107) a. In diesem Jahr konnte jede Zeitung3 ihre3 Auflage verdoppelnb. *Der in jeder Zeitung3 veröffentlichte Bericht ließ ihre3 Auflage enorm ansteigen

Zusätzlich zu den Prinzipien der Bindungstheorie müssen pronominale Variablen also dieBedingung in (108) erfüllen:

(108) K-Kommandobeschränkung auf gebundene VariablenPronomen die als gebundene Variablen interpretiert werden müssen von ihremAntezedens k-kommandiert werden.

Die Grammatik enthält also zwei Gruppen von Bedingungen für die Verteilung von Indizes: dieBindungstheorie sowie das Prinzip (108) für Variablen.

ÜBUNG: Zeichnen Sie die Bäume für zwei Beispielpaare.

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LITERATURHINWEISEDie Bindungstheorie wird meines Erachtens am Klarsten in der englischsprachigen Literaturerklärt. Einige sehr gute Einführungen in die Bindungstheorie sind:

Büring, Daniel. 2005. Binding Theory. Cambridge: Cambridge University Press.Lasnik, Howard, and Uriagereka, Juan. 1988. A Course in GB Syntax: Lectures on Binding and Empty

Categories. Cambridge, MA: MIT Press.

Riemsdijk, Henk van, and Williams, Edwin. 1986. Introduction to the Theory of Grammar. Cambridge,MA: MIT Press.

Als einfacher Text ist auch Haegeman (1991) zu empfehlen.

Haegeman, Liliane. 1991. Introduction to Government & Binding Theory. Oxford: Blackwell.

Es gibt auch eine Reihe von deutschen Einführungen, die sich mit Bindung beschäftigen. Zuempfehlen sind insbesondere:

Sternefeld, Wolfgang. 2006. Syntax. Eine morphologisch motivierte generative Beschreibung desDeutschen. Tübingen: Stauffenberg Verlag. S .259ff

von Stechow, Arnim, und Sternefeld, Wolfgang. 1988. Bausteine syntaktischen Wissens. Opladen:Westdeutscher Verlag.

Grewendorf, Günther, Hamm, Fritz, und Sternefeld, Wolfgang. 1987. Sprachliches Wissen. Frankfurt:Suhrkamp. S. 228-235

ANHANG: WARUM BEDEUTUNG NICHT AUF REFERENZ BASIERT

Mit Referenz bezeichnet man die Beziehung zwischen sprachlichen Ausdrücken und Objektenin der Welt. Im einfachsten Fall erfaßt Referenz die Relation zwischen einem einzelnen Wort undder Person oder dem Ding, welche oder welches dieses Wort beschreibt. Oft wird behauptet, dassdie Bedeutung eines Ausdrucks aus seiner Referenz abgeleitet werden kann. Dieser Anhang fasstkurz zusammen, warum dies nicht korrekt sein kann.

Problem I: Namen ohne ReferentenEs gibt Namen, denen wir als Sprecher zwar eine klare Bedeutung zuweisen könne, die aber mitkeinem tatsächlich in der Welt existierenden Individuum in Beziehung stehen. Die NamenPegasus, Zeus, der Osterhase und Batman, sowie die fiktiven Ort Xanadu, Vulkan und Tlönfallen in diese Gruppe von Namen. Aus der Beobachtung, daß diese Namen keinen Referentenbesitzen, und der Hypothese ?, die besagt, daß die Denotation eines Ausdrucks mit der Referenzdes Ausdrucks gleichgesetzt wird, folgt nun, daß diese Namen eigentlich keine Denotation, alsokeine Bedeutung, haben dürften. Diese Vorhersagen der Referenztheorie ist offensichtlich falsch,da kompetente Sprecher all den obenstehenden Ausdrücken eine Bedeutung zuweisen können.

Weiters ergibt sich aus der Referenztheorie, daß Sätze wie jene (109), die derartigeAusdrücke beinhalten, ebenso keine Bedeutung haben sollten.

(109) a. Sie erzählte eine Geschichte über Pegasus.b. Zeus liebte Hera.c. Spiderman kann besser klettern als Batman.d. Maria glaubt an den Osterhasen.

Auch dies entspricht nicht den Tatsachen, da Sprecher wissen, was die Aussagen in (109)bedeuten. Ähnliches gilt für Sätze, die andere Arten von nicht referierenden NPs enthalten, sowie in (110):

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#1: Bindung & Koreferenz 28

(110) a. Viele Mathematiker suchen nach der größten Primzahl.b. Für diesen Zaubertrank braucht man ein Einhorn.c. Sie glaubte, dasss sie ein rundes Viereck gesehen hätte.d. Er wollte ein Holzhaus aus Stahl bauen (natürlich gelang ihm das nicht)

Es gibt nun weder eine (bekannte) größte Primzahl, noch Einhörner, noch runde Vierecke nochHolzhäuser aus Stahl. Aus diesem Grund referieren die NPs, welche aus diesen Ausdrückengebildet werden, nicht. In der Folge bleibt es unklar, wie diesen Sätzen eine Bedeutungzugeschrieben werden kann, wo sie doch Teile enthalten, die - zumindest laut Hypothese ? nichtsbedeuten.

Problem II: Negative Existenzaussagen Die Probleme, die sich für die Referenztheorie stellen, werden noch deutlicher, wenn man eineweitere Konsequenz näher betrachtet, die sich für die Analyse von einer spezifischen Gruppe vonKontexten ergibt, in denen referenzlose Namen vorkommen. Konkret stellt sich die Frage, wienegative Existenzaussagen wie in (111) zu interpretieren sind.

(111) a. Pegasus gibt es eigentlich nicht.b. Batman starb.

Der Satz (111)a ist wahr, da es sich bei Pegasus um ein Wesen der antiken Mythen handelt, undkein real existierendes Individuum. Ähnliches gilt für (111)b, zumindest in der Fortsetzung derBatman-Comics durch Frank Miller. Auch ist es offensichtlich, daß der Satz (111)a etwas überPegasus aussagt, also Pegasus eine Eigenschaft zuweist. Aber da man argumentieren kann, daßnur Objekten, die existieren, auch Eigenschaften besitzen, sollte daraus folgen, daß Pegasus auchexistiert. Dies widerspricht natürlich der ursprünglichen Einsicht, daß (111)a wahr ist, und esdemnach keinen Pegasus gibt. Die Referenztheorie kann daher nicht korrekt sein.

Um diesen Mangel zu beheben schlägt Meinong (1904) vor, daß unser Universum nicht nurvon real existierenden Individuen bevölkert wird, sondern auch abstrakte und nicht-existierendeObjekte einschließt. Ein Name wie Pegasus würde demnach tatsächlich auf ein Objekt mitdiesem Namen referieren, aber dieses Objekt hätte einfach alle Eigenschaften, die üblicherweisemit Nicht-Existenz assoziiert werden: man sieht, riecht und schmeckt es nicht, es hat keineMasse, keine Ausdehnung, besteht aus keinem Element, usw.... Auf diese Art und Weise, soargumentierte Meinong, kann (111)a als wahre Aussage interpretiert werden, in der einfach vomIndividuum Pegasus behauptet wird, daß es nicht existiert.

Diese Version der Referenztheorie wird heute als nicht haltbar angesehen. Eines derProbleme stellt die höchst unplausible Konsequenz der Theorie dar, daß - wenn Meinong rechthat - unser Universum von einer unendlichen Anzahl an nicht-existierenden Objekten bevölkertsein müßte. W.V.O. Quine nannte dies in den 1960ern das Problem des ‘aufgeblasenesUniversum’. Russell (1905) zeigte weiters, daß Meinongs Theorie zu einer Anzahl voninkorrekten Vorhersagen und sogar zu Widersprüchen führt. Nach Meinong müßte Pegasus z.B.zwei widersprüchliche Eigenschaften besitzen: er müßte im ‘aufgeblasenen Universum’ auf dereinen Seite existieren, aber gleichzeitig auch nicht existieren, da ja (111)a wahr ist. Dies führtzu einem logischen Widerspruch, und keine Theorie sollte einen solchen enthalten (sonst sollteein Satz wie Maria ist schwanger und Maria ist nicht schwanger wahr sein können).

Problem III: IdentitätsaussagenEin weitere fatales Argument, welches der deutsche Mathematiker und Philosoph Gottlob Frege(1892; “Über Sinn und Bedeutung”) gegen die Referenztheorie von Eigennamen vorbrachte,basiert auf Identitätsaussagen.

(112)a stellt eine informative Aussage dar, die etwa dazu gebraucht werden kann, umjemanden davon informiert, daß Lev Davidovich Bronstein das Pseudonym Leon Trotzky

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benutzte. Die Aussage ist informativ, da sie potentiell neue Information beinhaltet. Nicht jederweiß, daß der bolschewikische Anführer sich eines Pseudonyms bediente. Im Gegensatz dazuhandelt es sich bei (112)b um eine triviale Aussage. Jeder Sprecher des Deutschen weiß, daß(112)b wahr sein muß, auch wenn der Sprecher vollkommen ignorant der russischen Geschichtegegenüber ist. Sätze wie (112)a werden auch als synthetische Aussagen bezeichnet, wohingegenman im Fall von (112)b von analytischen Aussagen sprich. (Die gleiche Beobachtung gilt fürdas Paar in (113), wobei hier eine fiktive Gestalt involviert ist, d.h. das Argument nur gegenMeinong gerichtet werden kann.)

(112) a. Leon Trotzky war Lev Davidovich Bronstein. synthetischb. Leon Trotzky war Leon Trotzky. analytisch

(113) a. Batman ist Bruce Wayne. synthetischb. Batman ist Batman. analytisch

Die beiden Namen Leon Trotzky und Lev Davidovich Bronstein referieren also auf ein unddas selbe Individuum. Man sagt auch, daß die beiden NPs Ausdrücke mit identer Referenz oderreferenzidente Ausdrücke sind. Die Referenztheorie macht nun eine weitere Vorhersage, die nichtden beobachtbaren Fakten entspricht. Da sie die Bedeutung eines nominalen Ausdrucks einfachmit dessen Referenz gleichgesetzt wird (siehe Hypothese ?), sollten referenzidente Ausdrückeauch synonym (= bedeutungsgleich) sein. In (112)b sollten daher die beiden NPs Leon Trotzkyund Lev Davidovich Bronstein exakt die gleiche Bedeutung tragen, so wie dies in der Gleichung(114) ausgedrückt wird:

(114) ƒLeon Trotzky„ = ƒLev Davidovich Bronstein„

Daraus folgt aber nun auch, daß laut Referenztheorie die synthetische, informative Aussage(112)a den gleichen Status haben sollte wie der analytische Satz (112)b. Konkret sollte (112)aalso ebenso trivial oder uninformativ sein wie (112)b. Dies ist aber, wie oben ausgeführt wurde,eben nicht der Fall. Da sich die beiden Sätze weiters nur minimal in der Form der NP, die derfiniten Kopula war folgt, unterscheiden, kann geschlossen werden, daß die beiden NPs in (112)bnicht synonym sind. Diese Beobachtung widerspricht wiederum der Referenztheorie, für dieSynonymie von Ausdrücken mit identer Referenz eine essentielle Eigenschaft darstellt. DasIdentitätsargument von Russell zeigt also, daß die Referenztheorie unrichtige Vorhersagen trifft,und somit nicht korrekt sein kann.

Problem IV: Denotation von nicht-nominalen Ausdrücken. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Beobachtung daß Prädikate nicht referenziellinterpretiert werden. Aber was denotieren dann Prädikate? Laut Referenztheorie sollten Prädikate(zumindest auf den ersten Blick) keine Bedeutung besitzen, also nichts bedeuten. Dies istnatürlich nicht der Fall, jeder Sprecher des Deutschen kennt z.B. den semantischen Beitrag derbeiden unterstrichen, verbalen Prädikate in (115):

(115) Hans läßt Peter den Wagen waschen

Weiters ist unklar, was semantisch komplexe (und syntaktisch primitive) Ausdrücke wieDeterminatoren, Adverbien, Präpositionen, oder Partikel bedeuten sollten. Auch diese referierensicherlich nicht, und trotzdem kann ihnen eine stabile Bedeutung zugewiesen werden:

(116) a. D°: jeder/e/s, kein/e, manche/r/s, .......b. Adverb: manchmal, ungern, hoffentlich, überall,...c. P° : über, zwischen, vor, ...d. Partikel: nein, wohl, schon, (sehr), ....

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Problem V: Nicht referierende NominalphrasenSchließlich gibt noch eine Schwierigkeit, die eine Referenztheorie zu überwinden hat. Was istdenn die Denotation von Ausdrücken, die nicht auf ein konkretes Individuum oder eine Klassevon Individuen referieren? (117) illustriert dies mit den beiden quantifizierten NP kein Tisch undweniger als die Hälfte der männlichen Studenten:

(117) a. Kein Tisch war aus Plastik.b. Weniger als die Hälfte der männlichen Studenten haben die Prüfung bestanden.

Für diese Ausdrücke wäre es unsinnig anzunehmen, daß sie auf Individuen referieren. Erstensist es unklar, was für ein Individuum oder welche Gruppe von Individuen das sein sollte. Etwadie leere Menge ({})? Dann müsste man erklären, was die Denotation des Subjekts von (117)bsein sollte. Zweitens kann kein Tisch gar nicht auf die leere Menge referieren. Wenn dem sowäre, dann sollte nämlich (117)a genau das gleiche bedeuten wir Satz (118), da in beidenAussagen das Subjekt (per Annahme) die leere Menge denotiert. Das ist offensichtlich nicht derFall.

(118) Kein Sessel war aus Plastik.

Auch für sogenannte generische Sätze wie (119) stellt sich die Frage, was denn genau dieDenotation des Subjekts sein sollte. Es kann nicht der Fall sein, daß Bulgaren auf alle Bulgarenreferiert, da der Satz ja auch wahr ist, wenn nur ein kleiner Teil der Bulgaren gute Gewichthebersind, solange es mehr gute bulgarische Gewichtheber, als gute Gewichtheber aus anderenNationen gibt.

(119) Bulgaren sind gute Gewichtheber.

Hausübung: Wie werden die beiden Vorkommen der NP niemand im folgenden Beispiel jeweilsinterpretiert? Was ist sonderbar an (120).

(120) “Ich sehe niemanden auf der Straße” sagte Alice. “Ach, ich wünschte ich könnte so gutsehen!” erwiderte der König. “Niemanden sehen zu können, und das auf so großeDistanz!” (aus Lewis Caroll, Throught the Looking-Glass)

Zusammenfassung: Die Referenztheorie, der zufolge Ausdrücke Individuen denotieren, erfaßtnur einen sehr eingeschränkten Bereich von Ausdrücken - referenzielle DPs. Sie ist daher nichtgenerell genug, um als allgemeine Theorie der Bedeutung herangezogen zu werden.