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SELBSTHILFE Verband Angehöriger und Freunde psychisch Kranker Poste Italiane Spa - Spedizione in abbo- namento postale - D.L. 353/2003 (Conv: in L. 27/02/2004, n. 46) art. 1, comma 2, DCB Bolzano Reg. 3.7.1995, n. 17/95, Nr. 3/2012 STIGMA zulassen - akzeptieren - verändern PSYCHISCHES KRANKEN als Familienschicksal

Selbsthilfe 3/2012

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Zeitung des Verbandes Angehöriger und Freunde psychisch Kranker, Bozen, Italien

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Page 1: Selbsthilfe 3/2012

SELBSTHILFE

Verband Angehöriger und Freunde psychisch Kranker

Poste Italiane Spa - Spedizione in abbo-namento postale - D.L. 353/2003 (Conv: in L. 27/02/2004, n. 46) art. 1, comma 2, DCB Bolzano Reg. 3.7.1995, n. 17/95, Nr. 3/2012

STIGMA zulassen-akzeptieren-verändern

PSychIScheSkrAnken alsFamilienschicksal

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SELBSTHILFE

IMPRESSUM

Dritteljährliche Informationsschrift des Verbandes Angehöriger und Freunde psychisch Kranker

Eintragung beim Tribunal Bozen: Nr. 17/95 R. St. vom 3.7.1995

Herausgeber:Verband Angehöriger und Freunde psychisch KrankerG.-Galilei-Str. 4/a39100 BozenTel. 0471 260 303 Fax 0471 408 [email protected]

Verantwortlich für den Inhalt:Prof. Carla Leverato

Redaktion:Martin Achmüller, Margot Gojer, Lorena Gavillucci, Laura Kob, Car-la Leverato, Carmen Premstaller

Übersetzung:Martin Achmüller, Franco Ducati, Margot Gojer, Klaudia Klammer, Carla Leverato, Carmen Premstaller

Bilder:Archiv, Martin Achmüller, Margot Gojer, Carmen Premstaller

Layout:Carmen Premstaller

Druck:Karo Druck, Frangart

Die Redaktion dankt allen, die durch verschiedene Beiträge zur Veröffentlichung dieser Ausgabe beigetragen haben. Sie behält sich das Recht vor, Kürzungen an den Texten vorzunehmen.

Editorial

DertiefeSinndesGefühls„sichschämen“

Wasistschon„normal“?

Schämstdudich? WassagendieBetroffenen?

Selbststigmatisierungüberwinden unddieeigeneErkrankungannehmen

PsychischesKrankenalsFamilienschicksal

ErfahrungsberichteinerTeilnehmerin

2020:WelcheGesundheitwollenwir? 1. Landesgesundheitskonferenz

Adoleszentenpsychiatrie imklinischenundethischenSpannungsfeld 2. Deutsch-Italienische Psychiatrietage

Seite3

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gefördert von der Stadtgemeinde Bozen

gefördert von der

Inhaltsverzeichnis

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EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser!Carla Leverato, ehrenamtliche Mitarbeiterin

kAnndIeWIrTSchAFTSkrISezueInerreSSourceWerden?

W enn wir bedenken, dass Krise immer eine Wahl, eine Verän-

derung bedeutet, könnten wir auch denken, dass es möglich ist, Armut in Reichtum zu verwandeln, vor al-lem wenn wir unsere Haltung än-dern und indem wir die derzeitigen wirtschaftlichen und sozialpolitischen Schwierigkeiten aus einem anderen Blickwinkel betrachten, mit Positivität und Optimismus.

So könnten wir auch Chancen zur Er-neuerung und zur Wiederentdeckung von anderen Ressourcen erhalten, die nicht mit Kaufen und Bezahlen zu-sammenhängen. Denn mittlerweile

ist klar, dass auch die finanziellen Res-sourcen zur Neige gehen.

Was uns allerdings in diesem Zusam-menhang besonders interessiert, ist die Situation von psychisch erkrank-ten Menschen. Sind wir sicher, dass wenn mehr Geld zur Verfügung ste-hen würde, sich automatisch auch die Behandlung und Lebensqualität für den Patienten bessert?

Bei einigem Überlegen können wir feststellen, dass uns die Krise aber auch viele neue Möglichkeiten bie-tet. Wir als Verband können verstärkt mit anderen Verbänden, die ähnliche Ziele verfolgen, zusammenarbeiten. Wir können zum Beispiel gemeinsam nachdenken, Ideen entwickeln, nach Lösungen suchen und so vorhandene Mittel und personelle Ressourcen tei-len und einen gemeinsamen Nutzen daraus ziehen. Aber auch in der Psychiatrie werden neue Wege gefunden werden müs-sen: die Einrichtungen bestehen, aber manchmal fehlt das Wesentliche. Es geht nun darum, die Qualität, die An-gebote zu hinterfragen und die beste-henden Ressourcen auch besser und zielführender zu nutzen, denn das ist immer möglich.

Eine Sache, die sicherlich jeder von uns tun kann ist, sich nicht selber aus-zugrenzen. Dann bietet sich die Mög-lichkeit, auf andere mit denselben

Problemen zu treffen und man kann sich gegenseitig helfen.

Auch das will gelernt sein: Solidarität ist - so steht es im Wörterbuch – die Anteilnahme an dem Unglück eines anderen, eine Verbindung, die meh-rere Menschen vereint und die eine Übereinstimmung von Ideen und Ambitionen ausdrückt und die Bereit-schaft diese gemeinsam zu vertreten; ein Gefühl der gegenseitigen Unter-stützung, das unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft besteht.

Und wichtig: reden, reden, reden… um das eigene Leid zu klagen, aber auch um über persönliche Erfolge zu berichten, um auf Dinge hinzuweisen, die nicht laufen wie sie laufen sollten, aber auch über jene, die gut funktio-nieren, um sich mitzuteilen und nicht mehr alleine zu sein.

Und wir sollten nicht vergessen, dass viele Initiativen des Verbandes er-weitert werden und man viel mehr auf die Füße stellen könnte, wenn mehr Ressourcen vorhanden wären: nicht nur die ökonomischen, aber die menschlichen und persönlichen, jene der Mitglieder.

Wird uns das gelingen? Wir kön-nen versuchen den ersten Schritt zu machen, jeder mit seinen eigenen Stärken, Fähigkeiten und Beweg-gründen.

Frohe Weihnachten und ein Gutes Neues Jahr!

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Scham ist ein komplexes Gefühl, das in uns allen vorhanden ist. Leider wird es in unserer Kultur meistens ignoriert. Be-sonders von jenen, die mit psychischem Leiden zu tun haben, wird es vernach-lässigt, abgelehnt oder unterdrückt, ohne sein Auftauchen im Gewirr der menschlichen Beziehungen, im Un-verständis, in den Missverständnissen und Verurteilungen, im Mangel an Em-pathie, in der Einsamkeit und Enttäu-schung zu erkennen.

d er Ursprung des Begriffes „schä-men“ ist nicht bekannt; für viele

Sprachforscher besteht eine Verbin-dung zum Wort „bedecken“ - sich be-decken ist eine natürliche Verhaltens-weise beim Schämen, nämlich dann, wenn wir besonders verletzlich sind.

Nach dem englischen Psychoanaly-tiker Phil Mullon ist die Möglichkeit, sich zu schämen, bei jeder Form von „Nähe“ gegeben und zeigt auf, wel-che Bedeutung wir der anderen Per-son beimessen.

Nicht immer ist es leicht, „Schämen“ von „Schuldgefühlen“ zu unterschei-den. „Schuld“ wird meistens als Folge von verbotenen oder schädlichen Taten empfunden, die tatsächlich oder nur in der Vorstellung erfolgt sind. Oft steckt et-was Aggressivität dahin-ter. Sich schämen bein-haltet, nicht das „zu tun“, was man von uns erwar-tete, und ist mit Gefüh-len der Schwäche, der Hilflosigkeit, des Nicht-Entsprechens gepaart.

Der Psychoanalytiker Victor Seidler meint, dass Situationen des Schämens immer „offensichtlich“ sind (im Sinn: für andere sichtbar). Unser Selbstge-fühl bildet sich in der Beziehung zum anderen, im Bild, das der andere von uns hat.

Doch der Blick des anderen (vor allem der Mutter) wird nicht immer vol-ler Liebe und Zustimmung, sondern kann auch feindlich und ablehnend sein und so zum Gefühl führen, „böse“ zu sein. Wie vorhin angedeutet, kann das Schämen dazu führen, sich zu verstecken – als Reaktion darauf, ent-deckt worden zu sein.

Ein Kind nimmt schon mit etwa acht Monaten bewusst die Anwesenheit anderer Menschen wahr; es kann sich zurückziehen, den Blick abwenden (wie ein schüchterner Erwachsener). Ein Kind möchte die guten Erleb-nisse mit der Mutter behalten und die schlechten nach außen schicken. Ein fremder Mensch stellt unter diesem Aspekt eine Bedrohung der Einheit mit der Mutter dar. Zugleich macht der Wunsch nach Trennung und Ei-

genständigkeit das Kind neugierig auf das Fremde.

Trotzdem ist Schämen vielleicht sinn-voller für ein soziales System als für den Einzelnen, da es eine Anpassung an Normen und Regeln bewirkt.

Da „Schämen“ ein Bewusstsein von Normen und Werten voraussetzt, ent-steht es später als die so genannten primären Emotionen (wie Glück, Wut, Angst, Trauer), für deren Entwicklung es kein Selbstbewusstsein braucht. Es wird auch als „Gefühl des Selbst-bewusstseins“ bezeichnet – und dies beginnt nicht vor dem Alter von 18 Monaten.

„Schämen“ macht den Menschen sensibel für die Meinungen und Ge-fühle der anderen und stellt so eine Kraft des sozialen Zusammenhaltens dar. Es stellt für die Gruppe und die Gesellschaft sicher, dass der einzel-ne sich selbst gegenüber kritikfähig ist. Um sich nicht der Untauglichkeit schämen zu müssen, findet und ent-wickelt man seine Kraft. Anerken-nung fördert die Beziehung zum

Der tiefe sinn Des Gefühls „sich schämen“Giuseppe De Felice, Psychologe und Psychotherapeut in Bozen

LebenDas Irre-Sein steht auf der entgegengesetzten Seite der Realität,

ist Zuflucht, wenn die Realität nicht mehr auszuhalten ist und ihren Sinn verliertwenn sie dich dem Raum, der Zeit, der Wärme, der Kälte entfremdet

trotz aller Dramatik deine Größe gelten lässt und dir den Schlaf raubtum mit dem Irre-Sein zu verhandeln, braucht es den eigenen Willen und die anderen

sensibel, authentisch, transparentden Rest schafft das Umfeld

Clara

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anderen. Das Gespür für eigenes oder fremdes „Schämen“ führt zu Aufmerksamkeit und Wohlwollen im sozialen Kontext und vermindert so das Risiko, dass der andere sich ohnmächtig, ausgegrenzt, abgewie-sen oder unwohl fühlt.

Zum Abschluss dieses Artikels lade ich Sie ein, über einen Satz des deut-schen Dichters Christian Friedrich Hebbel nachzudenken:

„SchAMbezeIchneTIMMenSchendIeInnereGrenzederSünde.WoererröTeT,beGInnTebenSeInedlereSSelbST.“

Ich denke, dass „Schämen“ im Ge-gensatz zu ähnlichen Gefühlen wie Schuld Voraussetzung dafür ist, sich selbst besser kennen zu lernen. Die Tatsache, dass man sich schämt, ist Zeichen eines Bewusstseins, das aus dem wahren Ich entsteht.

Schämen hängt nicht von unserer Begrenzung des „Sündigen-Könnens“ ab, wie man meinen möchte, son-dern von unserem Sein, von der Un- möglichkeit, mit uns selber zu bre-chen. Schämen beruht auf der Mit- beteiligung unseres Seins, das uns dazu verpflichtet, unsere Verant-wortung für uns selber geltend zu machen.

Die Dramatik dieses Gefühls besteht im bedingungslosen Auftrag des Menschen, auf sich gestellt und er selbst zu sein. Damit wird beinahe jede Handlung unmöglich: wir sind in uns selbst gefangen, versperren jeden Fluchtweg, weil wir nicht vor anderen fliehen wollen, sondern vor uns selbst.

Schämen stellt den Menschen seinem Sein gegenüber, und zugleich wird der Mensch Zeuge seines Seins. Aufgabe des Schämens ist es, die „In-tegrität“ des ICH zu beschützen und dabei die Unsicherheit zu berücksich-tigen, die die eigene „Identität“ aus-macht.

Was ist schon „normal“?Lorena Gavillucci, ehrenamtliche Mitarbeiterin

d as Wort „Stigma” bedeutet im Griechischen und auch im allgemeinen Sprachgebrauch „Zeichen” oder auch „Stempel” - etwas, das die Skla-

ven wie gleichermaßen die Tiere „gekennzeichnet” hat. Auch heute noch werden Menschen oder Völker abgestempelt, die man als minderwertig betrachtet, als verfemt, ausgegrenzt oder als nicht lebenswürdig.

Einen positiven Aspekt kann der Begriff „anprangern” haben: wenn ein Ver-halten oder eine Erklärung angeprangert wird, verstehen wir sofort, dass etwas nicht in Ordnung ist, als solches erkannt wurde und vom Großteil der Gesellschaft abgelehnt wird. Leider wird „Stigma” besonders bei allem, was mit psychen Erkrankungen zu tun hat „umgesetzt” (nicht nur „verwendet”). Das führt zu einem Teufelskreis von Ausgrenzung und Diskriminierung, die den Erkrankten und seine Familie fast gewaltsam ins Abseits stellt. Der Erkrankte und seine Angehörigen wissen, dass man an zwei Fronten „kämpfen” muss – gegen die Krankheit und gegen die Ausgrenzung.

Die Weltgesundheitsorganisation hat dieser Gefahr einen Namen gegeben, genauer gesagt, fünf Bezeichnungen: die Vorurteile, psychisch Erkrankte seien gefährlich, unheilbar, unzurechnungsfähig, wertlos und verantwor-tungslos, sind allgemein verbreitet. Dies führt in allen Ländern dazu, dass der „optimale Zugang zu Genesungsprozessen und zur Wiedereingliede-rung solcher Menschen” verhindert wird. Die Regierungen wären aufgefor-dert, hier konkret und möglichst schnell alles zu unternehmen, was abhel-fen kann.

Vergesst nicht jene, die vergesslich sind! Musik und Solidarität Alzheimer

Stefano Mascheroni, ein Bozner Musiker, hat eine neue CD aufgenommen und damit eine weitere Sensibilisierungs- und Informations-kampagne für von Alzheimer betroffene

Familien gestartet. Ihn haben dabei einige bekannte Leute der Musik- und Theaterszene, wie Manfred Schweigkofler, Goran Kurminac und Franco Fasano, Patrizia Milani und Ottavia Piccolo unterstützt und an der Kampagne mitgearbeitet. Auf der CD gibt es auch einen Spot über Al-zheimer des Oscar-prämierten Regisseurs Giuseppe Tornatore.

Der Tonträger ist kostenlos und kann bei Stefano Mascheroni bestellt werden: www.stefanomascheroni.it.

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Die Aussage von Prof. Maurizio Fer-rara, Psychiater und Dozent an der Universität Florenz, bleibt aktuell und interessant, auch wenn sie schon drei Jahre zurückliegt. Er hat eine Studie des „Indigo Network Research“ über Stigma und Schizophrenie analysiert, die in der anerkannten, wissenschaft-lichen Zeitschrift „Lancet” veröffent-licht wurde. Darin wurden 732 Per-sonen aus 27 Nationen einbezogen.

Es gibt auch eine „Eigendiskriminie-rung” oder „Vorabdiskriminierung”, die zu einer Selbstentwertung führt. Kein Wunder, dass das Selbstwertge-fühl dieser Menschen schwer darun-ter leidet! Die Abwertung geschieht sehr stark in der Arbeit (30%), aber noch mehr in Familie und Freundes-kreis, bei Nachbarn und persönlichen Beziehungen (zwischen 43 und 27%); so sagen etwa 43%, “in der Familie an-ders behandelt zu werden”.

Professor Ferrara vergleicht die Daten mit anderen Menschen, die in Italien “bevorzugt” diskriminiert werden – Frauen und Migranten – und schließt hoffnungsvoll mit dem Satz: „Der Ver-gleich zeigt uns, dass die Schließung der Irrenhäuser, die Entwicklung der Dienste für psychische Gesundheit – die den Patienten in der Gemein-schaft behandelt – dem Stigma des psychisch Erkrankten viel Kraft ge-nommen hat.“ Seiner Erfahrung nach haben auch reelle Ereignisse, die von den Medien oft pauschal kolportiert werden, den Grundgedanken und den Verlauf der Basa-glia-Reform nicht zerstört.

Nach den Aussagen des Dozenten hat ein viel versprechender Prozess der „Wiedergewinnung einer ökono-mischen Gesellschaft” begonnen (mit Rehabilitation, Arbeitseingliederung, Ausbildung und Tutorentätigkeit); es fehlt aber noch die „Gesellschaft der (guten) Beziehung”, die Integration des Menschen, die den Einzelnen mit einbezieht. Die Vorurteile und ihre Auswirkungen bestehen nach wie vor als „unüberlegte Barrieren für einen wechselseitigen Beziehungsaufbau” und ein „ungleiches Machtverhältnis in den persönlichen Beziehungen und im sozialen Umfeld, das Menschen mit psychischen Störungen erleben”.

Hier greift der Begriff „Recovery” (Genesungsweg), für den auch un-ser Verband sich einsetzt: das eige-

ne Bewusstsein, auf dem Weg der Besserung zu sein, „ein Alltagsleben und Zukunftsaussichten zu haben”, wo Menschen „mit der persönlichen Erfahrung einer psychischen Erkran-kung die Sichtweise der Behandlung und Forschung in der Psychiatrie er-weitert haben.”

Ein Betroffener hat dies so ausge-drückt: „Die Fachleute der Gesund-heit spüren als solche, dass sie wissen müssten. Doch es ist zu bewundern, wenn sie bereit sind, dir zu sagen, dass sie nicht alles wissen, keine Ant-wort geben können, dass sie es mit dem Patienten erkennen und lernen und verstehen möchten. Doch das ist nicht immer der Fall.”

Wie denken unsere Leser darüber?

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schämst Du Dich ?Luce, Angehörige

e hrlich gesagt nein”, habe ich ei-ner Freundin geantwortet, als sie

mich fragte, ob ich mich schämen würde, weil jemand in meiner Familie psychisch erkrankt ist. „Und wie hast du das Schamgefühl überwunden?“, hat sie mich weiter gefragt. „Gar nicht. Es gab nichts zu überwinden! Ich hab mich einfach nicht geschämt.“, war meine Antwort darauf.Ich hätte sie gerne gefragt, ob sie sich je dafür geschämt hat, dass ein Verwandter an Krebs, an einer Grippe erkrankt war oder einfach einen ge-brochenen Arm hatte.

Dennoch kann man nicht davon abse-hen, dass die psychische Erkrankung fast immer zu einem sozial sozusagen wenig anständigen Benehmen führt. Es kommt mitunter vor, dass psy-chisch erkrankte Menschen, gerade um ihr Unwohlsein, ihr Unbehagen auszudrücken, auffallend negative Verhaltensweisen annehmen: Auf-dringlichkeit, Unordentlichkeit, Ver-nachlässigung der eigenen Person sowie der eigenen Sachen bis hin zur Verwahrlosung, unverschämtes Benehmen, in Wort und Tat gewalt-sames Auftreten.

Wie reagiere ich auf eine Person, die solche Verhaltensweisen an den Tag legt, nicht nur im Umgang mit ande-ren Menschen sondern auch mit sich selbst?

Ich schicke voraus, dass ich mich mei-ner Ansicht nach, wenn überhaupt, nur dafür zu schämen habe, was ich selbst tue und wofür ich selbst verant-wortlich bin. Von anderen begangene Handlungen und Verhaltensweisen entziehen sich meiner Verantwortung und verursachen in mir kein Scham-gefühl.

Was ich dabei manchmal empfinde, ist Wut.

Ich bin der Meinung, dass die Würde des Menschen in jeder Situation zu wahren sei und gerade deshalb är-gere ich mich, wenn der Betroffene selbst diese Würde missachtet und nicht verteidigt.

Es ist richtig, sich für die Beseitigung und für die Überwindung des Stig-mas mit aller Kraft einzusetzen. Ich frage mich, ob paradoxerweise dieses Stigma in manchen Fällen nicht als Schutzschild verwendet wird, hin-ter dem sich der psychisch Erkrankte verschanzt: ich bin so - unzuverlässig, verletzbar, sogar hässlich, schmudde-lig und bösartig. Ich mach dich gleich darauf aufmerksam, so dass du von mir gar nichts erwartest und mich nicht in Verlegenheit bringst.

Das Stigma kann der Pathologie zweckdienlich sein.

Wenn es leichtsinnig ist, zu denken, dass man mit einem gebro-

chenen Bein laufen kann, ist es ebenso leichtsinnig,

zu erwarten, dass sich ein psychisch Erkrankter kohärent und vernünftig verhält (verhalten wir „Gesunde“ uns immer kohärent und vernünftig?).

Eine nicht körperliche Erkrankung ist sehr schwer zu erklären. Wenn dir nicht der Bauch oder etwas anderes weh tut, ist es für viele nicht zu verste-hen, dass es dir schlecht geht und es nicht nur Einbildung ist.

Ist aber der Kranke imstande, den ei-genen Gesundheitszustand zu erken-nen, darüber zu sprechen, zu sagen: „Mir geht’s schlecht.“, „Ich schaffe es nicht.“, „Du verlangst zuviel von mir.“, ist dies meiner Meinung nach sowohl für ihn selbst als auch für sein soziales Umfeld kein Grund, sich zu schämen oder ihm seine Würde oder seine Zu-verlässigkeit abzuerkennen, ganz im Gegenteil.

Wird aber dies durch Benehmens- und Verhaltensweisen zum Ausdruck ge-bracht, welche den grundsätzlichen Regeln des bürgerlichen Zusam-menlebens widersprechen, erscheint es mir notwendig, das Wissen über psychische Erkrankungen weit mög-lichst zu verbreiten, denn das Stigma entsteht aus der Unkenntnis. Ich bin jedoch auch der Meinung, es sei in solchen Fällen angemessen, darauf zu achten, die Stigmatisierung oder die Neigung dazu nicht unbedacht zu kritisieren, sonst führt dies zu Zurück-weisung und Schuldgefühlen beim Betroffenen, der in der Tat nur Opfer dieser Situation ist.

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ham Es ist eine Tatsache, dass Menschen, die an Depressionen leiden, stigmatisiert werden.

Manche Menschen halten uns aufgrund unserer Erkrankung für “eigenartig“. Auch weil wir eine Selbsthilfegruppe besuchen finden uns viele seltsam und fühlen sich verlegen, weil wir diese ohne Schamgefühl besuchen können.

Früher hatte ich selbst Angst vor psychisch erkrankten Menschen und ich habe mich geschämt, depressiv zu sein.

“Normale” Menschen fürchten sich vor psychisch erkrankten Personen aus Unwissenheit.

Ich fühlte mich unwohl, aber nicht deshalb, weil ich krank bin, sondern vielmehr weil man es mich spüren lies.

Nicht immer schäme ich mich. Es gibt auch Leute, die mich verstehen. Am Arbeitsplatz belastet es mich am stärksten wegen der Krankheit als unfähig abgestempelt zu werden.

Ich schäme mich! Ich schäme mich sehr. Hätte ich damals am Arbeitsplatz nicht gesagt, dass es mir schlecht geht und hätte ich durchgehalten, hätten sie nichts von meiner Krankheit gemerkt und sie hätten mich nicht auf der Psychiatrie besucht. Alle wissen jetzt, dass ich krank bin und ich schäme mich dafür. Es kommt mir so vor, als liefe ich mit einem Stempel herum. Nein, noch schlimmer, als wäre ich ein “sandwichman” mit einem Plakat auf der Brust und einem auf dem Rücken. Auf der einen Seite steht „psychisch Kranke“ auf der anderen „Schande“!Alle waren freundlich zu mir und haben sich bemüht, mir zu helfen. Die Chefin hat den Krankenwagen gerufen und ist so lange bei mir geblieben, bis meine Eltern gekommen sind. Ich aber wollte alleine sein. Niemand sollte merken, was mir fehlte. Ich schäme mich, immerzu.

Ich fühle mich, als wäre ich behindert! Ich bin im öffentlichen Dienst tätig und kann mit den Arbeitsrhythmen nicht mehr mithalten. Weil ich stets hundert Mal über-prüfen muss, was ich gemacht habe, bleibe ich immer über die Arbeitszeit hinaus im Büro. Und trotzdem führe ich nichts zu Ende. Ich habe mich entschlossen, die Zivilinvalidität zu beantragen um die Arbeitszeit verkürzen zu können. Hätte ich das nur nie getan. Der Grund auf der Beantragung lautete „psychische Behinderung“. Und so fühle ich mich jetzt: als Behinderte. Es ist schrecklich! Ich fühle, wie mich alle anstarren. Ich wage es nicht, mir vorzustellen, was die anderen von mir denken. Mir reicht es jedenfalls, was ich selbst von mir halte, auch wenn ich weiß, und es alle bestätigen, dass ich intelligent bin. Wegen dieses Stempels schäme ich mich. Ich fühle mich minderwertig, auch wenn andere, die mich gern haben, mich vom Gegenteil überzeugen möchten. Ich schäme mich vor den anderen, am meisten vor den Arbeitskollegen und vor meinem Chef, der nun weiß, wer ich bin und was ich habe.

Ich weigere mich, mich zu schämen! Wir waren eine glückliche Familie ohne Probleme, oder besser gesagt wir wollten diesen Anschein erwecken. In Wirklichkeit litt meine Schwester aber unter einer schweren psychischen Störung. Wir durften darüber nicht sprechen. Niemand durfte etwas davon erfahren, weil alle sich dafür schämten. Meine Schwester hat sich das Leben genommen.Als ich selbst auch erkrankte, weigerte ich mich, mich wegen meines Leidens zu schämen und fing an, darüber zu reden. Ich reagierte und mir wurde geholfen, vor allem von der Selbst- hilfegruppe.

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selBststiGmatisierunG üBerWinDen und die eigene Erkrankung annehmenAndreas Knuf, Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut

Es ist verdammt schwer, sich mit einer psychischen Erkrankung zu akzeptie-ren. Es wird häufig unterschätzt, wie schwierig es für den betroffenen Men-schen sein kann, sich sein Selbstwert-gefühl zu bewahren oder dieses aufzu-bauen, nachdem er eine psychiatrische Diagnose erhalten hat.

V on Selbststigmatisierung spre-chen wir, wenn ein Mensch

sich aufgrund seiner psychischen Erkrankung selbst negativ bewertet. Weil wir Menschen soziale Wesen sind, übernehmen wir Werte, Über-zeugungen und Einschätzungen von anderen und integrieren sie in unser Selbst. Einschätzungen wie „Nimm dich vor Verrückten in Acht“ oder „Ein-mal krank immer krank“ teilen dem-nach auch viele Menschen, die selbst psychisch erkranken. Wenn dies der Fall ist, richten sich diese Beurteilun-gen – und somit auch deren negative Wirkung – gegen sie selbst. Da diese Bewertungen früh erworben wurden und zumeist dem gesellschaftlichen Konsens entsprechen, sind sie sehr tief verankert. Für

die Betroffenen bedeutet dies oft, dass sie sich dieser Bewertungen ni-cht entledigen können, auch wenn sie selbst andere Erfahrungen machen.

Selbststigmatisierungen sind eines der größten Hindernisse für Empo-werment und Gesundung überhaupt. Wie soll ich meine Krankheit bewälti-gen, wenn ich mich selbst dafür verur-teile? Paradoxerweise können wir nur das ändern, was wir zuvor angenom-men haben. Um besser zu verstehen wie Selbststigmatisierung überwun-den werden kann, müssen wir uns zunächst damit beschäftigen, unter welchen Bedingungen sie überhaupt entsteht und wie sie sich äußert.

WASbeWIrkTSelbSSTIGMATISIerunG?

Wenn sich ein Mensch selbst für seine psychische Erkrankung verurteilt, so hat das zahlreiche negative Folgen für ihn. Bei vielen stellt sich dann eine er-höhte Selbstaufmerksamkeit ein. Sie beobachten sich selbst sehr intensiv

und sind

schnell geneigt, ihr Verhalten als Aus-druck der psychischen Erkrankung zu interpretieren.

Eine besonders häufig vorkommende Folge der eigenen psychischen Er-krankung sind Schamgefühle. Es gibt zahlreiche Gründe für Schamgefühle bei psychisch erkrankten Menschen. Der Betroffenen kann sich dafür schä-men, dass er überhaupt psychisch erkrankt ist. Weiter können Schamge-fühle auftreten aufgrund des Verhal-tens während der akuten Krisenzeit, vor allem bei Erinnerungslücken oder bei aggressivem oder moralisch zwei-felhaftem Verhalten. Große Schamge-fühle verursachen auch die Tatsache, in einer psychiatrischen Klinik gewe-sen zu sein.

Schamgefühle sind völlig normal und treten zumeist erstmals dann auf, wenn jemand aus seiner psycho-tischen Welt wieder auftaucht. Sie zeigen, dass der betroffene Mensch wieder in der Lage ist, sich in ande-re Menschen hineinzuversetzen. In dieser Phase weisen sie darauf hin, dass jemand seine psychotische Krise

überwunden hat. Sie verdienen damit

eine Wahr-n e h m u n g und posi-

tive Wür-d i g u n g . Wenn sie l ä n g e r

a n h a l t e n , haben sie

jedoch zahl-reiche negative Folgen.

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Wem es nicht gelingt, sich mit seiner psychischen Erkrankung anzuneh-men, der gerät häufig in folgende Re-aktionsmuster:

Entweder konfrontiert er sich selber mit der Tatsache, dass er eine psy-chische Erkrankung hat. Dann ist die Gefahr groß, dass er aufgrund der Selbstverurteilung depressiv, an-triebslos oder resignativ wird und sich von der Umgebung zurückzieht.

Die andere Möglichkeit ist, die Tatsa-che der Erkrankung nicht zu akzep-tieren. Dann beginnt er, einen Teil der Realität auszublenden. Möglicher-weise hält er sich für gesund und sei-ne Umgebung für krank. Er ist dann eventuell nicht in der Lage, sich Hilfe zu holen, wird Frühwarnzeichen ver-leugnen und Hilfe nicht annehmen können.

Beide Reaktionen sind für den Betrof-fenen und sein Umfeld schädlich. Eine Erkrankung anzunehmen be-deutet nicht, sich einzureden, dass sie irgendwie gut ist für die betroffene Person. Fast alle betroffenen Men-schen wünschen sich, das sie nicht mehr psychisch krank sind und dieser Wunsch ist wichtig um Veränderungs-prozesse überhaupt zu ermöglichen. Annehmen bedeutet vielmehr, sich nicht dafür zu verurteilen, dass man erkrankt ist. Eine solche Haltung zu gewinnen kann sehr schwer sein.

Zum Annehmen der eigenen Erkran-kung ist oftmals viel Trauerarbeit er-forderlich. Betroffene müssen trauern über reale Verluste (Arbeitsplatzver-lust, eventuell Partnerverlust…) aber auch über nicht gelebte Möglich-keiten. Dieses Trauern ist schmerz-haft, daher versuchen Betroffene

verständlicherweise sich davor zu schützen. Der Preis ist

jedoch oft ein Verlust an Lebendigkeit und ein Ab-schneiden von den eige-

nen Gefühlen.

SelbST-undFreMdSTIGMATISIerunG

Kommt die negative Beur-teilung von außen, sprechen wir von Fremdstigmatisie-rung. Selbststigmatisierung ist die in die eigene Person

genommene Form der Fremd-stigmatisierung, insofern ist

diese immer zuerst da und wird dann sekundär zur

Selbststigmatisie -rung. Daher liegt es nahe zu glauben, man müsse ledig-lich die Fremd-stigmatisierung b e k ä m p f e n , wenn man sich für stigmatisier-te Menschen einsetzen möch-te. Für den ein-zelnen Betrof-fenen verhält es

sich aber genau umgekehrt: Fremd-stigmatisierung wirkt nur, wenn sich der betroffene Mensch selbst auch stigmatisiert, anderenfalls lassen ihn die Zuschreibungen der Umgebung relativ unberührt.

Studien zeigen, dass sich nicht alle betroffenen Menschen selbst stigma-tisieren. Ob sich jemand selbst stig-matisiert, scheint von zwei Faktoren abzuhängen: der Betroffene muss sich mit der stigmatisierten Gruppe identifizieren und er muss die stig-matisierenden Einschätzungen für berechtigt halten.

Selbststigmatisierung kann auch zu einer sich selbst erfüllenden Prophe-zeiung werden. Untersuchungen zei-gen, dass die Angst vor Stigmatisie-rung stärker ist, als die real erlebten Stigmatisierungen (Angermeyer, 2004), d. h. die betroffenen Menschen befürchten Stigmatisierung, ohne die-se bisher erlebt zu haben. Um Stigma-tisierung zu vermeiden ziehen sie sich zurück oder verschweigen ihre Erfah-rungen. Dadurch aber schneiden sie sich selbst von sozialen Kontakten ab oder verhindern einen möglicherwei-se doch verständnisvollen Umgang der Umgebung. So kann beispielswei-se folgender Teufelskreis entstehen: der Betroffene befürchtet von seinem Umfeld abgelehnt zu werden und zieht sich zurück, um diese befürchte-te Ablehnung zu vermeiden. Das wie-derum wird aber vom Umfeld als „selt-sam“ oder auch als Ablehnung erlebt und führt zu einem distanzierteren Umgang mit dem Betroffenen. Das wiederum kann vom Betroffenen als Ablehnung interpretiert werden und kann den eigenen Rückzug noch-mals fördern. Um diese Teufelskreise zu vermeiden ist es wichtig, sich der befürchteten Fremdstigmatisierung bewusst zu werden und alternative Verhaltensweisen zum Verschweigen und sich Zurückziehen zu erproben.

STIGMATISIerunGüberWInden

Zum Abbau von Fremdstigmati-sierung wurden bereits vor Jahren Antistigmakampagnen initiiert, die

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Dr. Andreas KnufDiplom-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut

Er arbeitete für einen Kriseninterventions- dienst in München, in einer psychia-trischen Tagesklinik im Allgäu und für die Schweizer Stiftung Pro Mente Sana in Zürich bis er 2007 seine eigene Pra-xis für Psychotherapie in Konstanz am Bodensee eröffnete. Neben Beratung, Psychotherapie und Supervision ist er in der Fort- und Weiterbildung tätig. Außer-dem schreibt er Artikel und Bücher. www.andreas-knuf.de

Folgende Bücher sind u. a. von ihm erschie-nen: „Ruhe da oben! Wege zu einem gelas-senen Geist“ oder „Bevor die Stimmen wie-derkommen. Vorsorge und Selbsthilfe bei psychotischen Krisen”

vor allem das Ziel haben, Stigmatisierungsten-denzen in der Bevölkerung abzubau-en. Eine wahre und ernst gemeinte Antistigmakampagne darf sich aber nicht nur mit dem generellen Abbau der Fremdstigmatisierung beschäfti-gen, sondern muss den betroffenen Menschen Hilfen anbieten, um ei-nerseits ihre Selbststigmatisierung zu überwinden und sich andererseits gegenüber Fremdstigmatisierung zu behaupten (Finzen, 2001).

Aufklärungsarbeit in Form der offizi-ellen Antistigmakampagne oder der Antistigmakampagen von unten ist sehr wichtig. Bisher ist nur vollkom-men unklar, wie leicht oder schwer es sein wird, etwas gegen die Stig-matisierungstendenzen in der Bevöl-kerung zu machen. Es gibt Hinweise darauf, dass sich Stigmatisierungsten-denzen gegenwärtig gar nicht redu-zieren, sondern noch verstärken.

Durch professionelle Hilfe kann es Betroffenen erleichtert werden, ihre Selbststigmatisierung samt negativen Folgen zu durchschauen und sich von ihnen zu lösen. Dazu müssen profes-sionell Tätige in der Lage sein, sich in ihre Klienten einzufühlen. Beispiels-weise bedarf es eines Verständnisses dafür, dass diese tieferen inneren Pro-zesse nur schwer zu beeinflussen sind und die Betroffenen oft lebenslang mit ihnen ringen.

Zur Selbststigmatisierung kommt es nur, wenn der Betroffene die gesell-schaftlichen Vorurteile für berechtigt hält und bestimmte gesellschaftliche Normen akzeptiert, beispielswei-se leistungsfähiger sein zu müssen. Daher ist es hilfreich, beim Betrof-fenen eine Reflexion über die ei-gene Einschätzung von psychisch erkrankten Menschen zu fördern. Dies kann unter anderem in Selbst-hilfegruppen, im Rahmen von Psychotherapie oder auch in alltags-begleitenden Gesprächen geschehen. Eine Aufbereitung von Selbststig-matisierungstendenzen sowie Hilfen zur Selbstbehauptung bei Fremd-stigmatisierung können auch in pro-fessionellen Gruppenprogrammen geschehen.

Eine besondere Rolle zum besseren Verständnis möglicher eigener Stig-matisierung kommt der gegensei-tigen Unterstützung von Betroffenen in Selbsthifegruppen, aber auch in strukturierten Programmen („peer to peer“) zu. Sie dienen anderen Be-troffenen als Modell für eine positive Auseinandersetzung mit der Erkran-kung – ein Aspekt, der kaum über-schätzt werden kann. In anderen Ländern wurden bereits Programme entwickelt, wie betroffene Menschen anderen Betroffenen beim Überwin-den von Selbst- und Fremdstigmati-sierungen helfen können (Corrigan/Lundin, 2001).

AuchFAchleuTeMüSSenIhreeIGeneSTIGMAneIGunGüberWInden

Um uns selbst annehmen zu können, ist eine Umgebung hilfreich, die uns annehmen kann wie wir sind. Fach-personen und Angehörige können betroffenen Menschen helfen, ihre eigene Abwertung zu überwinden, wenn sie ein Klima schaffen, in denen die Betroffenen tatsächlich mit ihrer Erkrankung angenommen werden.

Daher ist es wichtig, dass auch Fach-personen und Angehörige ihre ei-genen Abwertungsmechanismen durchschauen und diese überwinden. Nur weil jemand Psychologie oder Medizin studiert hat, hat er längst noch nicht seine Ängste oder Vorur-teile gegenüber psychisch erkrankten Menschen überwunden.

Stigmatisierung zu überwinden geht also alle an: Betroffene, Fachpersonen, Angehörige und die Gesellschaft. Nur gemeinsam können wir eine Gesell-schaft schaffen, in der genau so offen von einer psychischen Erkrankung gesprochen werden kann wie von einem Bandscheibenvorfall!

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P sychisches Kranken trifft einen Menschen im Kern (Körper, Geist,

Psyche) und in der Schale (Familie, Partner, Freunde, Nachbarn) und wirkt sich von dort auch auf die sozialen Lebensräume des Einzelnen aus und in den Kontakt mit den öffentlichen Diensten und privaten Dienstleistern. Die Reaktionen des Umfeldes beein-flussen den Betroffenen.

Wer sich mit psychisch Erkrankten be-schäftigt/sich um psychisch Erkrankte kümmert, findet sich immer wieder vor einer Reihe von Fragen und Pro-blemen, die sich scheinbar nie ändern und immer wiederkehren. Es handelt sich dabei nicht nur um scheinbar spezifische oder unausweichliche

Symptome und Komplikationen der Krankheiten, sondern auch um Le-bensklippen und -anforderungen, die jeden Menschen treffen können.

Die meisten davon werden im Fall psychischer Erkrankungen besonders schwierig und bedrängend, aber zu-weilen wachsen auch die unmittelbar Betroffenen und ihre Angehörigen an diesen Aufgaben, werden besonders mutig, aufrichtig, sensibel und erfin-dungsreich. Zuweilen kann es sogar sein, dass manche sagen können, ihr Leben sei durch die Erkrankung, rei-cher, freier, sogar schöner geworden.

Beinahe immer fällt dann beim näheren Hinsehen auf, dass ein Weg

zu diesen günstigeren Verläufen die Bereitschaft und Fähigkeit betrifft, sich mitzuteilen, den mitmensch-lichen Kontakt nicht aufzugeben sondern zu suchen, Verständnis zu suchen und aufzubringen. Im Kern und entscheidenden Ansatz bedeutet dies: sich im eigenen Recht zu zeigen und auszusprechen einerseits und bereitwillig zuzuhören und aufrichtig zu antworten andererseits.

So banal und selbstverständlich sich dies anhört, so schwierig ist es in Wirklichkeit. Sich mitteilen ist zwar ein angeborenes Lebenseigentum des Menschen, wie essen, trinken, atmen, schlafen, aber ebenso wie diese anderen Grundeigenschaften ist Kommunizieren doch nicht et-was Unverletzliches: Es kann beein- trächtigt, verzerrt, anfällig sein oder versehrt werden, und für das mensch-liche Miteinander eher hinderlich und missverständlich als nützlich und sinnstiftend sein.

Eben dies ist es ja, was die Mit-menschen als „verrückt“ erleben: Der Kommunikationsversuch führt nicht mehr zur Verständigung sondern in die Irre, in Zweifel, auf Abwege, zur Entzweiung.

Andererseits kann der Mensch, wie der Humanwissenschaftler Paul Watz-lawik sagt, nicht nicht kommunizie-ren. Auch ein psychisch Krankender empfängt die Signale der Welt und reagiert auf sie. Er hat also nicht grundsätzlich Unrecht mit dem, was

psYchisches KranKen als familienschicKsalSchwierigkeiten und Lösungsaussichten in typischen AlltagssituationenIngo Stermann, Psychiater und Psychotherapeut, Sanitätsbetrieb Brixen

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er für wahr nimmt und wie er darauf antwortet, aber nicht selten sind die Details, die er registriert, für wichtig hält und beantwortet, weitab von dem, was die Allgemeinheit als nor-mal erlebt.

Wer mit psychisch Erkrankten lebt oder arbeitet, lernt langsam das An-dere erkennen und verstehen, das die Betroffenen wahrnehmen und ausdrücken wollen, und es ist auch möglich, dieses Andere als etwas Wichtiges, als etwas Verstehbares zu erkennen; es kann sogar dazu kom-men, dass die so genannten Norma-len dann die besondere Sensibilität des Kranken für dieses Andere als wertvoll erachten. Aufgrund dieser Anerkennung mag dann auch wie-der ein aufrichtiger Dialog entstehen, eine wechselseitig respektvolle und wertschätzende Begegnung zustande kommen. So können auch familiäre und partnerschaftliche Beziehungen wieder aufleben, erträglicher werden und wieder zu Erlebnissen

und Zielen führen, die beide Seiten mit Befriedigung erfüllen.

So weit kommt aber kaum ein Be-troffener, kaum eine Familie, kaum ein Arzt-Patient-Duo allein. Hier kom-men die Selbsthilfe- und begleiteten Dialoggruppen ins Spiel, denn als Familienwesen bringen die Menschen auch heute noch, in einem Zeitalter des geradezu heiliggesprochenen Individualismus, aus ihrer frühen Kindheit und Jugend ein erlerntes und tief eingeprägtes Erfahrungs-, Verhaltens- und Kommunikationsge-päck mit, das vor allem durch zwei Merkmale geprägt ist:

Der Mensch ist von Natur aus ein Gruppenwesen. Seine Lernbereit-schaft ist enorm hoch und beson-ders in den ersten zwei Lebensjahren so intensiv wie zu keiner späteren Lebenszeit: Alles was an zwischen-menschlichen Äußerungen und Re-aktionen mit ihnen und um sie herum

geschieht, nehmen sie auf und eignen es sich an. Weil in dieser Zeit

aber noch kein sprachliches und erst recht kein im erwachsenen Sinn vernünftiges Denken, Verstehen und Lernen geschieht, sind diese Lern- inhalte vorsprachlicher Art, haben viel mit ursprünglichem Körpererleben zu tun und sind im späteren Leben kaum erinnerbar und bewusst nutzbar, auch wenn sie uns weit mehr steuern, als wir glauben und uns vorstellen können.

Für die meisten Menschen vollzieht sich die Kindheit in Familien und wird von deren Traditionen, Vorer-fahrungen, Traumata und Ängsten geprägt. Nicht selten wird dabei ein Selbst- und Weltverständnis vermit-telt, das strikt zweigeteilt ist: „Nur auf die Familie kannst du dich ver-lassen.“ Wer so erzogen wird, tut sich als erwachsener Mensch nicht eben leicht damit, zu Menschen außerhalb des Familienverbandes Vertrauen zu fassen und über sich selbst oder gar über Familienangelegenheiten zu sprechen. Und auch die Partnersuche erfolgt dann meist entlang der Schie-ne der unbewussten familieneigenen Ängste und Erwartungen, so dass sich mit geradezu instinktivem Gespür im-mer wieder Partner finden, die aus Familien mit ähnlichen Schicksalen stammen; so wiederholen sich von Generation zu Generation auch die-selben Dramen.

Erst wo etliche Menschen aus ver-schiedensten familiären Hintergrün-den zusammenkommen und für di-ese Gruppen eine fachliche Leitung und Begleitung erfolgt, die sich mit solchen Dynamiken auskennt, Ängste sich mitzuteilen mildert, den Mut zu eigenen Gefühlsäußerungen weckt und ein allseits respektvolles Begeg-nungs- und Gesprächsklima fördert, da kommt es mit der Zeit zu einem Aufweichen der alten Hemmungen und Verbote und zu einer langsam wachsenden Dialogkultur im eigenen Recht: Paradoxerweise verhilft die Gruppenerfahrung zu einer Selbster-fahrung und zu einem Individuations-prozess.

Was mit diesen letzten Abschnitten

Schwierigkeiten und Lösungsaussichten in typischen Alltagssituationen von Angehörigen psychisch Erkrankter:

Zusammenleben im Alltag, also zwischen Partnern und zwischen den Generationen, wenn eine Seite psychiatrisch krankt.

„Verwahrlosung“: Wenn ein Mensch sich selbst entgleitet (Körperhygie- ne, Kleidung, Wohnen, Selbstschutz in medialen Kontakten und Fragen der finanziellen und materiellen Autonomie) und der Angehörige auf diese Weise auch zum Betroffenen wird.

Gegenwartsbewältigung und Zukunftsplanung: Wie tun, wenn (gemein- same) Lebensziele in scheinbar unerreichbare Ferne rücken? Wie lernt man verzichten? Wann und wie muss man sich hartnäckig behaupten? Was kann (zurück-)erobert werden? Gibt es auch Neues zu gewinnen und verteidigen?

„Ewige“ Fragen und wunde Stellen: Schuld, Scham, Grenzen und Freiräu- me der Eigenverantwortung, Recht auf Beistand und Hilfen.

„Auf hoher See“ oder „Darf ich meinen Gefühlen trauen?“: Aggressionen, Freude, Leid, Neid und Eifersucht bei diagnostizierten Kranken und diagnosefreien Gesunden, bei Betroffenen und Angehörigen. Was ist normal? ...und bei wem?

Die Veranstaltungen können nach Bedarf wiederholt und variiert werden. Wenn Sie sich von den Inhalten angesprochen fühlen, melden Sie sich bitte bei uns unter Tel. 0471 260 303. Bei einer Anzahl von mindestens 8 Teilneh-mern kann ein Seminar organisiert werden.

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theoretisch gerafft vorgestellt wird, ist die Erfahrung des Angehörigen-verbandes und der Selbsthilfebe-wegung, die sich aus Jahrzehnten des Arbeitens mit Angehörigen und Betroffenen angesammelt hat. Denn tatsächlich sind besonders psychisch Krankende und deren Familien von der Schwierigkeit, über sich und die eigenen Probleme zu sprechen ge-prägt, und auch die Umwelt reagiert auf psychisch auffällige Mitmenschen am ehesten mit Rückzug, Schwei-gen, Vermeiden der Begegnung und Ablehnung, so dass eigentlich um die Betroffenen herum ein dop-pelter Ring des Schweigens und der Kommunikationsabwehr entsteht.

Um an diesem Ring zu arbeiten, ihn durchlässiger zu machen und vor allem die Angehörigen zum Sprechen zu ermutigen, veranstaltete der Ver-band Angehöriger und Freunde psy-chisch Kranker Seminarabende. Um ausführlich auf die Teilnehmer einge-hen zu können, wurden diese jeweils nach der Art der Beziehung oder Ver-wandtschaft angesprochen (Partner, Eltern und erwachsene Kinder von Betroffenen).

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Erfahrungsbericht einer TeilnehmerinAnna Mair, Angehörige

A ls ich vom Verband die Einladung zur Seminarreihe „Psychisches

Kranken als Familienschicksal“ mit Dr. Ingo Stermann gelesen hatte, fühl-te ich mich sofort als Angehörige ei-ner an einer schizophrenen Psychose leidenden Schwester angesprochen und erfreut über solch ein wertvolles Verbandsangebot. Insbesondere die Aufteilung der Vortragsreihe je nach Angehörigenzielgruppe gefiel mir sehr gut.

Als Schwester reihte ich mich in die Gruppe der Partner ein, obwohl mir dies doch etwas zu eng erschien. Aber auch ich hatte durch meine Schwester erlebt wie psychisches Kranken einen Menschen im Kern und in der Schale trifft. Von dort ausgehend wirkte die Krankheit auch weiter fort in den so-zialen Lebensraum hinein, in ihre Be-rufswelt und in den Kontakt mit den zuständigen öffentlichen Diensten und privaten Dienstleistern. Meine Schwester, ihr Lebenspartner, meine Eltern und ich standen plötzlich vor einer Reihe von Fragen, Problemen und Aufgaben, die sich als schwie-rig, bedrängend und so nie dagewe-sen herausstellten. Jeder ging mit der neuen Situation unterschiedlich um. Ich spürte aber auch wie ich als Angehörige einer psychisch erkrank-ten Schwester an den Aufgaben zu wachsen begann und sich ein mir so nie dagewesener Horizont öffnete. Meinem eigenen Partner wurde ich dabei glaube ich fast manchmal zu of-fen, aber er war mir mit den eigenen Freunden eine große Stütze. Meine Kinder freuten sich über die kinder-gerechte Einführung in das Thema vor Familientreffen z. B. mit dem Buch von Erdmute v. Mosch „Mamas Mon-ster – Was ist nur mit Mama los?”

Es kam mir so vor, dass ich meiner Schwester dankbar sein müsste für die neue Erfahrung mit ihr und der psy-chischen Krankheit. Ich fühlte mich

durch die Notwendigkeit, irgendwie damit umgehen und dem Appell mei-ner Schwester, ihr als Einzige helfen zu müssen, reicher, weiter, freier, er-füllter. Meine Offenheit, Mitteilungs-bedürfnis, Aufrichtigkeit erschrak mich manchmal regelrecht. Ich hörte meiner Schwester immer und immer wieder bereitwillig zu und antwor-tete aufrichtig. Aber ich musste auch meine Grenzen stecken, damit ich ne-ben meinem eigenen Familien- und Berufsalltag nicht total ausbrannte. Erstaunlicherweise war meine Schwe-ster mir sogar für diese Setzung der Grenzen dankbar. Ich schien ganz al-leine in meiner Aktivität Mauern ein-rennen zu müssen, hinter denen mich immer wieder neue Wege empfingen, die aber wiederum beim Begehen so hilfreich und erleichternd erschienen.

Dr. Ingo Stermann bezeichnete in sei-ner Seminarreihe Kommunikation als ein Grundbedürfnis des Lebens. Dies war mir vorher nie so bewusst – auch nicht in der eigenen Partnerschaft. Das sehr einfühlsame Abholen der Be-troffenen durch einen Fachmann der Psychatrie, wie es Dr. Ingo Stermann ist, tat sehr gut, man fühlte sich nicht alleine mit seinen Ängsten und Pro-blemen. Man spürte, dass es doch Hil-fe gibt, sei es rechtliche, medizinische oder andere. Es konnten einige Ange-hörige zum Sprechen ermutigt wer-den. Es machte sich in der Gesprächs-runde ein Wohlbehagen breit. Es gab wieder Hoffnung. Es durfte auch ge-lacht werden. Man spürte aber auch, dass jeder sich selber ist und alleine die notwendigen Schritte in seiner Lebenssituation angehen und seinen eigenen Weg gehen muss, wo auch immer der hinführen wird.

Es war ein gelungener Abend. Man darf auf weitere Gesprächsrunden dieser Art gespannt sein. Vielleicht ist in Zukunft mit mehr Teilnehmern, auch männlichen, zu rechnen.

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SELBSTHILFE

1. Landesgesundheitskonferenz

2020: Welche GesunD- heit Wollen Wir?Martin Achmüller, Vizepräsident des Verbandes

u nter diesem wohl klingen-

den Namen fand Ende September eine Veranstaltung im Bozner Pasto-ralzentrum statt. Hauptreferentin war Frau Dr. Zsuzsanna Jakab, eine gebürtige Ungarin, die jetzt als regionale Direktorin der WHO-Europa in Kopenhagen arbeitet.

Der Landesrat Dr. Richard Theiner zeigte einleitend auf, wie gut es der Gesundheitsstatistik im Lande Süd-tirol geht: die durchschnittliche Le-benserwartung für Männer 80 Jahre, für Frauen 85 Jahre, eine Neugebo-renensterblichkeit von 3,7‰, weiters trotz allgemeiner Kostensteigerung eine leichte Reduzierung der Pro-Kopf-Spesen auf knapp über 2.000 Euro pro Jahr. Chronisch Kranke wurden nur am Rande angedeutet, von psychisch Erkrankten wurde überhaupt nicht

geredet. Dafür wurden die Abteilung für Komple-mentärmedizin und die Stiftung Vital lobend erwähnt.

Frau Dr. Jakab führte als Hauptziele der WHO an, die Gesundheit für alle zu verbessern, die Ungleichheiten im Gesundheitswesen zu reduzieren und ein durchführbares, bevölkerungs-zentriertes Gesundheitssystem zu garantieren. Sie zeigte auf, dass die Lebenserwartung in den 53 in Europa erfassten Staaten deutlich zunimmt, aber leider auch die Unterschiede

in der gesundheitlichen Betreuung stark ansteigen. Gesundheit und Wohlbefinden sollten als Gradmesser für die Entwicklung gelten, und dazu sollten Politiker motiviert werden. Ge-sellschaft und Regierungen seien da-für verantwortlich, und das Bewusst-sein und die Interessensvertretung müssten neu geformt werden.

Leider sprach auch die WHO-Direk-torin nur allgemein über chronische Erkrankungen; auf Anfrage kam die pauschale Antwort, dass chronische Krankheiten und speziell psychische Erkrankungen zu den Prioritäten der WHO für das nächste Jahr ge-hören. Auch zu den Fragen über die Initiativen, Gesundheitsschädigun-gen durch Umwelteinflüsse zu redu-zieren, oder über die Möglichkeiten, alle gesundheitsfördernden Pläne wirklich in den einzelnen Ländern umzusetzen, musste die Referentin zugeben, dass es von der Bereitschaft der Einzelnen abhängt, was man ver-wirklicht.

So wurde in dieser „Gesundheits-konferenz“ zwar ein gutes Rahmen-konzept für Europa vorgelegt, aber eine konkrete Hilfe für das Wohlbefin-den der Bevölkerung stellte sie nicht dar.

Das neue paneuropäische Rahmenkonzept für Ge-sundheitspolitik „Health 2020“ wurde am 12.09.2012 bei der Tagung des WHO-Regionalkomitees in Malta

verabschiedet. Sein ambitioniertes Ziel ist, Gesundheit und Wohl-befinden für rund 900 Millionen Bürger in der gesamten Europäischen-WHO-Region zu steigern. Zwei Jahre lang arbeiteten die Vertreter der 53 Mitglie-dsstaaten unter der Führung der Regionaldirektorin, Dr. Zsuzsanna Jakab, intensiv zusammen, um die gesundheitspolitischen Herausforderungen, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte über Europa zusammengebraut haben, in Angriff zu nehmen. Der rasche Wandel des gesamten Wirtschaft-, Gesell-schafts- und Krankheitspanoramas, der sich in diesem Zeitraum vollzogen hat, verlangte nach einem radikalen Trendwechsel in der Gesundheitspoli-tik. Das in Malta verabschiedete Konzept „Health 2020“ wurde im September von Dr. Jakab in Bozen vorgestellt.

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SELBSTHILFE

aDoleszenten- psYchiatrie im klinischen und ethischen SpannungsfeldSiglinde Jaitner, Präsidentin des Verbandes

d ie Jugendzeit ist ein Zeitraum physiologischer Entwicklungs-

krisen, in dem psychische Störungen häufig beginnen. Eine frühe Diagnose und dementsprechend eine früh ein-gesetzte Therapie sind zweifelsohne das beste Mittel, um langen Leiden gezielt vorzubeugen. Dazu ist eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen Institutionen not-wendig.

In diesem Sinn trafen sich Vertreter der Erwachsenen- und Kinderpsychia-trie, der psychologischen und sozial-pädagogischen Dienste und Einrich-tungen, der Schulen, der Dienste

für Abhängigkeitserkrankungen und aus dem Präventionsbereich. Exper-ten boten ein breit gefächertes Bild aus psychologischer, sozialer und me-dikamentöser Sicht.

In unserem durch und durch öko-nomisierten System und unter dem Diktat „Zeit ist Geld“ haben Gefühle kaum noch Platz. Beziehung kostet Zeit, bringt aber sicher Erfolge, auch wenn sie sich kaum messen lassen.

Ist Helfen eine Dienstleistung? Gute Begleiter sind weit mehr als nur Leistungserbringer; sie sehen den Patienten aufmerksam, möglichst ohne Hast und Eile, dafür mit Wohl-wollen, im besten Fall mit Empathie. Jugendlichen über die Dienstleistung hinaus Zeit zu schenken ist wichtig und effektiv – sonst bleibt man ihnen etwas schuldig. Leider wird auch im Sozialen „ökonomisiert“ - die Kultur des Sorgens ist für unsere Jugend-lichen ziemlich verloren gegangen. Sie erleben einen stärkeren Lei-stungsdruck, eine globalen Be-schleunigung, ein Zerfließen der Grenzen zwischen „privat“ und „öffentlich“, eine Häufung von Kontakten ohne ein Gegenüber (Internet). Das zentrale Thema in der Jugendzeit ist die Su-che nach Authentizität und nach Zukunftsperspektiven. Die Kinder von heute sind Seismographen der Gesell-schaft.

Erwachsenenpsychiater und Adoleszentenpsychia-ter können voneinander profitieren; psychische

Störungen im Jugendalter brauchen aber in jedem Fall eigene Lösungs-ansätze. Jugendliche sind auf einer Erwachsenenabteilung fehl am Platz; nur unter Berücksichtigung be-stimmter Aspekte kann es als Notlö-sung angesehen werden.

Die psychiatrische Versorgung der Ju-gendlichen fußt auf mehreren Säulen und bezieht auch die Eltern mit ein. Die Versorgung in den Fachambu-lanzen umfasst mehrere Berufsbilder, wobei die Zusammenarbeit der Dien-ste geregelt sein muss. Weiters soll für akute kritische Situationen im Jahr 2013 die stationäre Versorgung in einer eigenen Abteilung in Meran möglich sein – wie von vielen, auch von unserem Verband, seit Jahren ge-fordert.

Auf akute Krisenzeiten folgt oft ein Aufenthalt in sozialpädagogischen und –therapeutischen Einrichtungen (Kinderdorf, Liebeswerk, Villa Winter, Nikolausstiftung, La Strada…). Bei Störungen des Sozialverhaltens wer-den solche sozialpädagogische Ge-meinschaften zum Ersatz für die Fa-milien, zu einem Ort, wo Beziehungen gepflegt werden und der Jugendliche Hilfestellung bekommt, wieder Fuß zu fassen und zu sich selbst zu finden. Die Rolle der Eltern wurde bei der Tagung kaum erwähnt, obwohl der Leidensweg des Jugendlichen in den meisten Fällen auch ein Leidensweg der Eltern ist. Deshalb sollten sie sich in jedem Fall Gehör verschaffen, ihre Anliegen einbringen können und Hilfestellung für sich selbst mit einfordern.

2. Deutsch-Italienische Psychiatrietage

Programm

2. Deutsch-Italienische Psychiatrietage

03. und 04. Oktober 2012

in der

Cusanus-Akademie,

Seminarplatz 2

I-39042 Brixen, Südtirol

CusanusC u s a n u s A k a d e m i e

Adoleszentenpsychiatrie

im klinischen und ethischen

Spannungsfeld