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© 2018, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107996 – ISBN E-Book: 9783847007999 Sebastian Schirrmeister Von anderen Orten. Rückkehr, Besuch und Heimsuchung bei Amos Oz Erzähltexte der modernen hebräischen Literatur in Israel, die sich mit jüdischem Leben in Deutschland nach 1945 befassen und die Möglichkeit einer Rückkehr dorthin in Betracht ziehen, stehen zwangsläufig in einem problematischen Verhältnis zur übergeordneten zionistischen Erzählung von der endgültigen Rückkehr des Volkes Israel ins Gelobte Land. Ausgehend von Gershon Shakeds These, angesichts der Shoah gäbe es kein[en] andere[n] Ort als hier, untersucht der Beitrag Amos Oz Roman Ein anderer Ort von 1966. Mit einem Fokus auf Figurationen von Rückkehr, Besuchund Heimsuchungwird anhand der komplexen Figurenkonstellationen und intertextuellen Verweisstrukturen ge- zeigt, inwiefern der Text nicht nur das zionistische Master-Narrativ fragwürdig erscheinen lässt, sondern auch die zugrundeliegenden Dichotomien von hier und dort, wir und sie, Gut und Böse unwiderruflich destabilisiert. 1. Kein anderer Ort Möchte man die gesamte Geschichte der modernen hebräischen Literatur seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner brin- gen, so braucht es dafür nicht viele Worte. Das jedenfalls ist die Quintessenz von Gershon Shakeds im Verlauf von mehr als zwanzig Jahren entstandenem, fünf- bändigem Monumentalwerk zur Geschichte der modernen hebräischen Prosa zwischen 1880 und 1980. 1 Auf vielfältige, formal sehr unterschiedliche Weise hätten Generationen von Schriftstellern mal affirmativ, mal kritisch, mal desillusioniert, mal restaurativ stets die Auseinandersetzung mit einer großen Erzählung gesucht, die Shaked als alilat ha-al ha-tsiyonit bezeichnet das zio- 1 Shaked: Ha-Siporet Ha-Ivrit [18801980], 19771998. Von Shakeds umfangreicher Studie existieren zudem eine englische und eine deutsche Kurzfassung. Siehe Gershon Shaked: Modern Hebrew Fiction. Bloomington 2000 und Gershon Shaked: Geschichte der modernen hebräischen Literatur. Prosa von 1880 bis 1980. Frankfurt a.M. 1996.

Sebastian Schirrmeister - dokserv.gwiss.uni-hamburg.de · Sebastian Schirrmeister Vonanderen Orten. Rückkehr,Besuchund Heimsuchung bei Amos Oz ErzähltextedermodernenhebräischenLiteraturinIsrael,diesichmitjüdischem

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© 2018, V&R unipress GmbH, GöttingenISBN Print: 9783847107996 – ISBN E-Book: 9783847007999

Sebastian Schirrmeister

Von anderen Orten. Rückkehr, Besuch und Heimsuchungbei Amos Oz

Erzähltexte der modernen hebräischen Literatur in Israel, die sich mit jüdischemLeben in Deutschland nach 1945 befassen und die Möglichkeit einer Rückkehrdorthin in Betracht ziehen, stehen zwangsläufig in einem problematischenVerhältnis zur übergeordneten zionistischen Erzählung von der endgültigenRückkehr des Volkes Israel ins Gelobte Land. Ausgehend von Gershon ShakedsThese, angesichts der Shoah gäbe es „kein[en] andere[n] Ort als hier“, untersuchtder Beitrag Amos Oz Roman Ein anderer Ort von 1966. Mit einem Fokus aufFigurationen von ‚Rückkehr‘, ‚Besuch‘ und ‚Heimsuchung‘ wird anhand derkomplexen Figurenkonstellationen und intertextuellen Verweisstrukturen ge-zeigt, inwiefern der Text nicht nur das zionistische Master-Narrativ fragwürdigerscheinen lässt, sondern auch die zugrundeliegendenDichotomien von hier unddort, wir und sie, Gut und Böse unwiderruflich destabilisiert.

1. Kein anderer Ort

Möchte man die gesamte Geschichte der modernen hebräischen Literatur seitdem Ende des 19. Jahrhunderts auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner brin-gen, so braucht es dafür nicht viele Worte. Das jedenfalls ist die Quintessenz vonGershon Shakeds im Verlauf von mehr als zwanzig Jahren entstandenem, fünf-bändigem Monumentalwerk zur Geschichte der modernen hebräischen Prosazwischen 1880 und 1980.1 Auf vielfältige, formal sehr unterschiedliche Weisehätten Generationen von Schriftstellern – mal affirmativ, mal kritisch, maldesillusioniert, mal restaurativ – stets die Auseinandersetzung mit einer großenErzählung gesucht, die Shaked als alilat ha-al ha-tsiyonit bezeichnet – das zio-

1 Shaked: Ha-Siporet Ha-Ivrit [1880–1980], 1977–1998. Von Shakeds umfangreicher Studieexistieren zudem eine englische und eine deutsche Kurzfassung. Siehe Gershon Shaked:Modern Hebrew Fiction. Bloomington 2000 und Gershon Shaked: Geschichte der modernenhebräischen Literatur. Prosa von 1880 bis 1980. Frankfurt a.M. 1996.

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nistische Master-Narrativ. Bei diesem Narrativ handelt es sich zugleich um einegroßangelegte Rückkehrerzählung und um eine Heilsgeschichte. „The basicZionist myth about the return to Eretz Israel as a redeeming process, bringingmental, social, and national salvation to the Jews.“2 – so fasst es Avner Holtzmanzusammen, der Shakeds Literaturgeschichte selbst als großangelegtes zionisti-sches Projekt versteht. Eine derart verabsolutierende Aussage führt zwangsläufigdazu, dass bestimmte Texte, die zwar der Sprache nach der hebräischen Literatur,von ihrer thematisch-motivischen Ausrichtung her jedoch nicht dem besagtenNarrativ angehören, als randständig bzw. als Ausnahmefälle erscheinen. Dazugehören etwa die in den letzten Jahren wieder intensiv diskutierte Prosa vonDavid Fogl, die sich in keiner Weise um die Frage der Rückkehr nach Eretz Israelbekümmert, oder auch die Prosatexte Lea Goldbergs, die sichtlich in die euro-päische und russische Literatur eingebunden sind.3 Shaked hat zugestanden, dassweitere Narrative existieren, sieht jene aber vordergründig durch ihr Verhältniszum übergeordneten Mythos bestimmt.

I accept the supposition, that although different narratives exist synchronically side byside, there is a dominant narrative that has its own pattern, and the other narratives referto it, try to cope with it or to undermine it. Very frequently the subversive narratives […]could not be understood without taking into account their competitive relations withthe narrative that occupies the top of the hierarchy.4

Für diese große Erzählung von der Rückkehr und der Erlösung des jüdischenVolkes, die in der Hierarchie ganz oben steht und den jüngsten Abschnitt einerlangen Tradition jüdischen Schreibens bildet,5 sind zwei räumliche Aspektestrukturell konstitutiv. Erstens basiert die Erzählung auf der binären Oppositionzwischen dem Land Israel und dem Rest der Welt (der Diaspora) und zweitenskennt sie nur die Bewegung in eine Richtung: aus der Zerstreuung in der Weltzurück in das Land.

Seit den Anfängen der modernen hebräischen Literatur Ende des 19. Jahr-hunderts hat sich die Art und Weise, wie das Verhältnis dieser beiden Polebewertet und literarisch verarbeitet wurde, immer wieder gewandelt. Eine ent-scheidende Zäsur im 20. Jahrhundert bilden dabei ohne Zweifel die Shoah unddie kurz darauf erfolgte Gründung des Staates Israel. Der historisch einmaligeVersuch der vollständigen Vernichtung der europäischen Juden erforderte eineradikale Neubewertung der Möglichkeiten und Denkbarkeiten jüdischen Lebensaußerhalb des nunmehr eigenen, souveränen Territoriums. Mit Blick auf die

2 Holtzman 2008, S. 283.3 Vgl. den Abschnitt: Am Rande der hebräischen Prosa in Shaked 1996, S. 194–201.4 So Shaked in seinem Aufsatz Ist Literaturgeschichte möglich? [2001], S. 8–10, zitiert beiHoltzman 2008, S. 286.

5 Vgl. DeKoven Ezrahi 2000.

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Literatur hat Sidra DeKoven Ezrahi in diesem Zusammenhang darauf hinge-wiesen, dass die Staatsgründung 1948 – sofern sie als ‚Ankunft‘ und Erfüllung derJahrtausende währenden jüdischen Sehnsucht nach Rückkehr ins Gelobte Landverstanden wird – zugleich das Ende des Erzählens und der von dieser Sehnsuchtgespeisten literarischen Produktivität bedeute. Die Heimat im Text werde ersetztdurch den „territorialen Imperativ“ des jüdischen Staates.6

Shaked, der selbst 1939 als Kind aus Österreich nach Palästina geflohen war,brachte diesen Imperativ Mitte der 1980er Jahre auf die Formel eyn makom ah

˙er,

„es gibt keinen anderen Ort“. In einem Essay mit diesem Titel, das auf die israel-kritische Autobiografie des aus Frankreich stammenden Historikers Saul Fried-länder reagierte, erteilte Shaked jeglichem Gedanken an eine (geistige) Rückkehrnach Europa oder an einen doppelten geografischen Bezug eine klare Absage.

Friedländer deutet an, daß es möglich sein könnte, zum Grund der Vergangenheitzurückzukehren, an die Wurzeln zu gelangen, auch wenn diese zerstört worden sind,daß es möglich sein könnte, wie eine Amphibie eine duale Existenz zu führen. Ich haltedagegen, daß es keine Rückkehr zu den einmal zerstörten Grundlagen gibt. […] Na-türlich ist eine zweideutige Unentschlossenheit interessanter und komplexer als En-gagement […]. Aber in dem Maße, wie Identität auch eine bewußte Entscheidung ist[…], in diesem Maße muß ein Mensch sich entscheiden. Und wenn einer aus denRuinen Sodoms entflohen ist, dann ist da kein anderer Ort als hier.7

Das vehemente Verneinen einer möglichen Rückkehr nach Europa und das Be-harren auf der Formulierung „kein anderer Ort“ ist eine geradezu dogmatischeDeutung des zionistischen Narrativs. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass„der Ort“ (ha-makom) eine in der jüdischen Tradition fest verankerte Bezeich-nung des einen Gottes ist, der keine anderen Götter neben sich duldet, ließe sichdiese Haltung gewissermaßen als territorialer Monotheismus bezeichnen.8

Zudem kann die behauptete Setzung, da sei „kein anderer Ort“, das ihr selbstinnewohnende Paradox nicht verbergen. Schließlich bleibt eben jener „andereOrt“, dessen Existenz verdrängt und in Abrede gestellt werden soll, in der For-mulierung sprachlich erhalten und tritt mit jeder Wiederholung phantasmatisch

6 Vgl. DeKoven-Ezrahi 2000, S. 11.7 Shaked: Kein anderer Ort, 1986, S. 190f. Auf Hebräisch erschienen die gesammelten Essaysbereits 1983 unter dem gemeinsamen Titel Eyn Makom Ah

˙er.

8 Seine populärkulturelle Entsprechung findet dieser Standpunkt etwa in der intensiven Re-zeption von EhudManors Lied eyn li erets ah

˙eret, „Ich habe kein anderes Land“, das seit Mitte

der 1980er Jahre über das gesamte politische Spektrum Israels in unterschiedlichen Zusam-menhängen (und auf der Grundlage von teils gegensätzlichen Interpretationen) zitiert undinstrumentalisiert wurde. Ebenso lässt sich die wiederkehrende Aufforderung zur Einwan-derung nach Israel als dem einzigen sicherenOrt, die israelische Regierungsvertreterinnen und-vertreter nach anti-jüdischen oder allgemein bedrohlichen Ereignissen in Europa an diejüdischen Bürger des jeweils betroffenen Landes richten, als tagespolitischer Ausdruck diesesterritorialen Imperativs verstehen.

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zutage. Die Ambivalenz der scheinbar eindeutigenAussagewird umso greifbarer,wennman die Quelle berücksichtigt, aus der Shaked hier schöpft. In Yosef HaymBrenners 1911 erschienenem Roman Von hier und von dort kommt die Haupt-figur mit dem sprechenden Namen David Diasporin, die weder in der Welt nochim Land Israel Glück und Erlösung finden kann, eher resigniert als euphorisch zudem Schluss: „Es ist möglich, gut möglich, dass es unmöglich ist, hier [in Pa-lästina] zu leben, aber manmuss hier bleiben, manmuss hier sterben, schlafen…Es gibt keinen anderen Ort.“9

Auch mehr als hundert Jahre nach Brenner scheint die Frage nach der(Un)Möglichkeit eines „anderen Ortes“ nichts an ihrer Relevanz eingebüßt zuhaben und immer neue literarisch-künstlerische Auseinandersetzungen zuprovozieren. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang etwa auf die sehr expliziteBearbeitung des Themas in Doron Rabinovicis Roman Andernorts (2010) oderim Spielfilm Anderswo (D 2014) der israelischen Regisseurin Ester Amrami.

2. Ein anderer Ort (1966)

Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht der erste Roman von Amos Ozaus dem Jahr 1966, dessen Titel Makom Ah

˙er, also Ein anderer Ort10 bereits

unmissverständlich erkennen lässt, dass hier Gegenposition bezogen wird zu derThese, es gäbe keinen anderen Ort, bzw. dass zumindest die explizite Ausein-andersetzung mit den damit einhergehenden Setzungen gesucht wird. Diesemstreitbaren Gestus entsprechend, dem neben dem Titel auch die umfangreicheund komplexe Handlung des Romans folgt, gilt der Text für Shaked als einherausragendes Beispiel für die sogenannte „Neue Welle“ in der hebräischenLiteratur Mitte der 1960er Jahre. In dieser Welle finde die Krise des zionistischenMaster-Narrativs ihren literarischen Ausdruck und es entstehe ein Raum, umGegenmodelle jenseits der herrschenden Ideologie zu erproben, so Shaked.11 BeiOz kommt die Infragestellung des dominierenden Modells der ‚Erlösung durchRückkehr‘ vor allem in Form von erzählerischen Gegen-Bewegungen zum Tra-gen. Diese sollen hier anhand der drei eng miteinander verbundenen Bewe-

9 Brenner 1911, sechstes Heft, zweiter Teil [Hebr.]. Übersetzung durch den Verfasser.10 Vgl. Oz. 2001. Diese Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle EaO und Seitenzahl direkt im

Text nachgewiesen. Der Roman wurde zuvor bereits unter dem Titel Keiner bleibt allein ineiner ersten deutschen Übersetzung von Nilly Mirsky und Jörg Trobitius veröffentlicht(Düsseldorf 1976). Abgesehen von der durch die Wahl des Titels erfolgten Eliminierung des‚anderen Ortes‘ und der Verlagerung des Schwerpunkts auf das ‚Happy End‘ sowie einerReihe von Fußnoten zur Erläuterung von literarischen Anspielungen und hebräischen Be-griffen in der älteren Fassung wiesen die beiden Übersetzungen bei einem kursorischenVergleich keine grundlegenden Unterschiede auf.

11 Vgl. Shaked: Geschichte der modernen hebräischen Literatur, 1996, S. 349–353.

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gungsfiguren Rückkehr, Besuch und Heimsuchung genauer in den Blick ge-nommen werden.

Oz’ Roman ist – wie nicht wenige seiner späteren Texte auch – ein Kibbuz-Roman. Diesem Genre ist Ein anderer Ortmit seinem Schauplatz so konsequentverhaftet, dass nur ein verschwindend geringer Teil der Handlung überhaupt ananderen Orten spielt. Nahezu kammerspielartig konzentriert sich das Geschehenauf den fiktiven Kibbuz Mezudat Ram (deutsch: Hohe Festung), der von deut-schen und russischen Einwanderern gegründet wurde und im Norden des Lan-des direkt an der Grenze zu Syrien am Fuße der Golanhöhen liegt. Wie imklassischen Drama gelangen Nachrichten und Informationen von außerhalb fastausschließlich über Botenfiguren oder Briefe in den Kibbuz. Es wird im Textrelativ schnell klar, dass es sich bei dem titelgebenden „anderen Ort“ nicht umden Kibbuz selbst handelt, auch wenn das Motto explizit besagt: „Seine Ein-wohner sind nicht von hier“ (EaO 7).12 Im Gegenteil, mit der Formulierung„anderer Ort“ werden ganz verschiedene tatsächliche und imaginäre, konkreteund abstrakte Orte jenseits der Umzäunung der Gemeinschaftssiedlung bzw.jenseits der Grenzen des Landes markiert. Da die Erzählung jedoch nicht andiesen Orten spielt, sind sie lediglich latent präsent, etwa in Erinnerungen undAlpträumen, kurzen Binnenerzählungen, besagten Briefen oder in Gesprächenzwischen den Figuren. Der prominenteste und symbolisch am stärksten aufge-ladene unter diesen „anderen Orten“ ist zugleich mit Blick auf das Thema diesesBandes der relevanteste: Deutschland. Es wird also zu untersuchen sein, aufwelche Weise Deutschland in einem Roman, der vollständig in Israel spielt,dennoch eine zentrale Rolle einnimmt, und wie sich diese zur Behauptung vonder Nicht-Existenz eines ‚anderen Ortes‘ verhält.

Der Romantitel Ein anderer Ort verweist nicht nur auf ideologische Kon-stellationen des 20. Jahrhunderts, sondern greift zugleich auf Motive und As-soziationen aus der jüdischen Schrifttradition zurück. So erhält etwa der bibli-sche Prophet Yeh

˙ezkel (Ezechiel) den Auftrag, seine Sachen zu packen, als wäre

er verbannt worden, und vor den Augen des Volkes Israel „von deinem Ort zueinem anderen Ort in die Verbannung auszuziehen“ (Ez 12,3). Mit dieser sym-bolisch-demonstrativen Handlung kündigt er das babylonische Exil als StrafeGottes für das ungehorsame Volk Israel an. Der dann über das babylonische Exilreflektierende berühmte Psalm 137 lenkt mit seiner verdoppelten Ortsangabe

12 Abgesehen von der Herkunft der Einwohner von einem „anderen Ort“ als dem, an dem derRoman spielt, trägt Mezudat Ram in auffälliger Weise Züge eines Raumes, den Michel Fou-cault als Heterotopie bezeichnet hat. (Vgl. Foucault 1998, S. 34–46). Dazu gehört u. a. dieBühnenhaftigkeit des Raums, die durch zahlreiche Theatermetaphern undDramentechnikenunterstützt wird. Ebenso verfügt das Kibbuz über sein eigenes „System von Öffnungen undSchließungen“ (ebd., S. 44) und man lebt dort sogar „nach einer anderen Schwerkraft“ (EaO26).

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„An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten“ die Aufmerksamkeitdarauf, dass Exil sich eben durch das Dasein an einem anderen Ort bestimmt.13

Im babylonischen Talmud dagegen wird das Konzept vom „anderen Ort“unter anderem mit dem Ausleben nicht unterdrückbarer Triebe in Verbindunggebracht.

Rabbi Ilai sagt: Wenn ein Mann bemerkt, dass er seiner Triebe nicht Herr wird, so geheer an einen Ort, wo man ihn nicht kennt, und er kleide sich schwarz und umwickle sichschwarz und tue, was sein Herz begehrt und er entweihe den Namen des Himmels nichtin der Öffentlichkeit.14

Nicht von ungefähr gehören Verbannung und ununterdrückbare menschlicheTriebe zu den zentralen Handlungselementen in Ein anderer Ort.

Die mit Blick auf die räumliche und moralische Grundkonstellation des Ro-mans aufschlussreichste Vorstellung von einem ‚anderen Ort‘ im jüdischenDenken findet sich in den Schriften der Kabbala. Ausgehend von der ewigenFrage nach der Herkunft des Bösen in der Welt wird im Buch Zohar die Vor-stellung der sitra ah

˙ra, der „anderen Seite“ etabliert. Diese habe sich durch ein

vorübergehendes Ungleichgewicht während des Schöpfungsprozesses gebildetund stehe nun der sitra de-kedusha, der „heiligen Seite“ gegenüber, imitiere diesein ihrer Struktur und bilde „eine Gegenwelt des Satans“.15Die Beschreibung jeneranderen Seite, von der das Böse in der Welt seinen Ausgang nimmt, ist überausdetailliert. „Die ‚Andere Seite‘ stellt sich als eineweit aufgefächerteHierarchie ausStrafengeln, Dämonen und Geistern dar, die ihr Werk in der Welt […] voll-bringen.“16 Menschliche Auseinandersetzungen zwischen Gut und Böse werdenals Projektionen des Kampfes ihrer transzendenten Entsprechungen gedeutet.Obwohl auf den ersten Blick streng dualistisch und durch die Opposition vonLicht und Finsternis gekennzeichnet, bleibt das Konzept der sitra ah

˙ra in den

kabbalistischen Texten doch in ein monotheistisches Gesamtsystem eingebun-den. Gerschom Scholem schreibt hierzu:

Auch im Bösen leuchtet ein Funke des göttlichen Lichtes. Es gibt keine vollständigeTrennung der Bereiche, derart, daß das Böse rein in sich selber verharrt und das Guteihm völlig eindeutig gegenüberstünde; vielmehr sind beide – und dies wird gerade beiden Betrachtungen über das Böse schärfer betont – ineinander verschränkt.17

Inbegriff jener „Welt des Luziferischen“, in der trotz allem „die Sphären von Gutund Böse […] auf unheimliche Weise vermischt erscheinen“, ist klipat ha-noga,

13 Vgl. hierzu DeKoven Ezrahi 2000, S. 9.14 Talmud Bavli, Masekhet Mo’ed Katan 17a. Übersetzung durch den Verfasser. Ich danke

Giddon Ticotsky für den Hinweis auf diese Textstelle.15 Scholem 1977, S. 67.16 Grözinger 2005, S. 577.17 Scholem 1977, S. 70.

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die sogenannte „Schale des Glanzes“ und derjenige Teil des Bösen, der zwarFinsternis ist, sich aber in unmittelbarer Nähe zum Göttlichen befindet unddaher heilige Funken enthält.18 Es mag kein Zufall sein, dass die weiblicheHauptfigur in Ein anderer Ort, einem Roman, der die binäre Sichtweise deszionistischen Master-Narrativs mithilfe der von Shaked kritisierten „zweideuti-gen Unentschlossenheit“ herausfordern will, ausgerechnet den Namen Nogaträgt und so als Symbol der Vermischung zwischen den Sphären bzw. Ortenaufgefasst werden kann.

Wie Dani Shoham in einem kurzen, überblicksartigen Beitrag gezeigt hat, istgerade eine solche nicht enden wollende Dialektik und die Bewahrung von Wi-dersprüchlichkeiten, wie es hier anhand der kabbalistischen Antwort auf denUrsprung des Bösen skizziert wurde, für das gesamte literarische Schreiben vonAmos Oz charakteristisch.19 Von der zeitgenössischen Kritik musste sich Einanderer Ort, in dem Oz diese Schreibweise zum ersten Mal erprobte, u. a. denVorwurf gefallen lassen, im Vergleich zu Oz’ zuvor veröffentlichten Kurzge-schichten sei die Handlung zu kompliziert und konstruiert, während die Figurenkeine Tiefe hätten und sich nicht natürlich entwickeln würden.20DiesemVorwurfkannman einige wiederkehrende poetologische Reflexionen aus dem Text selbstentgegenstellen. Im Kibbuz Mezudat Ram existieren nämlich zwei entgegenge-setzte Auffassungen von Literatur. Der Kibbuzsekretär Herbert Segal, „ist derfesten Überzeugung, daß eine Geschichte, die keine Botschaft enthält, liebernicht so hätte geschrieben werden sollen.“ (EaO 219) Dagegen bevorzugt derörtliche Dichter und Lehrer Ruven Charisch Geschichten, die zu seiner Über-zeugung passen, „daß das Leben vielgestaltig ist und daher einfache Formelnsprengt.“ (EaO 206). Es muss nicht betont werden, dass sich der Roman mit allseinen Möglichkeiten auf die Seite der komplexen Sprengkraft schlägt und dasFormulieren einer ‚Botschaft‘ konsequent vermeidet. Die poetische Umsetzungder Vielgestaltigkeit des Lebens zeigt sich vonAnfang an in der bemerkenswertenErzählerposition, die einer narrativen Auslegung der Wortbedeutung von ‚Kib-buz‘ gleichkommt: Versammlung oder Sammlung. Der Romanwird in der erstenPerson Plural erzählt und die Erzählstimme speist sich aus dem gesammeltenKlatsch der Kibbuz-Bewohner. Wie Gershon Shaked bemerkt hat, entsprichtdiese Technik demChor im antikenDrama, der das Geschehen kommentiert unddeutet21 – wodurch der Eindruck, der Roman basiere auf bestimmten Prinzipiendes Theaters, noch weiter verstärkt wird. Die Polyphonie der in unterschiedli-chem Maße unzuverlässigen Erzählstimmen ermöglicht es zudem, einander

18 Ebd., S. 73. Vgl. außerdem Grözinger 2005, S. 579.19 Vgl. Shoham 1991.20 Vgl. die Rezension von Cohen 25. 11. 1966.21 Vgl. Shaked: Ha-Siporet Ha-Ivrit, 1998, S. 211.

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widersprechende Meinungen gleichberechtigt nebeneinander zu stellen, sodasssich eben keine Botschaft, sondern nur ein vielfältiges Angebot möglicherDeutungen der Ereignisse und handelnden Personen ergibt.

3. Rückkehrvariationen

Zu den zeitgeschichtlichen Hintergründen des Romans gehört der in Israel nachder Staatsgründung de facto überDeutschland verhängte h

˙erem (Bann).Wie Dan

Diner in seiner Untersuchung des deutsch-israelischen Verhältnisses gezeigt hat,lag dem Bann keine bindende rabbinische Entscheidung zugrunde, Verhaltenund Rhetorik der israelischen Politik und Gesellschaft folgten aber dennoch „dereingeübten Liturgie eines zwar allgegenwärtigen, jedoch von niemandem rituellverfügten Banns.“22Diner zufolge entsprach die Haltung gegenüber Deutschlandderjenigen gegenüber den Gebieten Spaniens nach der Vertreibung der JudenEnde des 15. Jahrhunderts. Als terras de idolatria (Länder des Götzendienstes)waren diese nunmehr als Reiseziele für Juden tabu. Ähnlich wie im Fall Spanienswirkte der Bann gegen Deutschland nach 1945 zum einen nach außen in Form„einer durch kollektives Empfinden sanktionierten Distanznahme, […] einer imtäglichen Handeln sich niederschlagenden Übereinkunft, beruhend auf de-monstrativer Abscheu und Verachtung.“23 Zum anderen aber richtete sich derBann auch dezidiert nach innen, gegen diejenigen Juden, die eine Reise oder gardauerhafte Rückkehr nach Deutschland in Erwägung zogen. Im Einklangmit derhier eingangs angeführten Charakterisierung des zionistischen Master-Narrativsbetont Diner die in diesem Zusammenhang deutlich zutage tretende binäreOpposition zwischen „dem Land“ und „außerhalb des Landes“ und verweist aufdie Parallele zur sakralen Konstellation von heilig und profan.24

Auf eben dieser Opposition von „heiliger“ und „anderer Seite“ baut Ein an-derer Ort auf. Die kritische Haltung gegenüber den Juden, die das Land Israelverlassen, um im schlimmsten Fall nach Deutschland zu gehen, wird im Romanexplizit formuliert und eng an den Konsens des zionistischen Geschichtsbildesgeknüpft. Im Verlaufe einer Geschichtsstunde unter freiem Himmel, in derRuven Charisch seiner Klasse die jüdische Geschichte aus zionistischer Sichtdarlegt, von Verfolgung und Pogromen über die Shoah bis zum heldenhaftenAufstand im Warschauer Ghetto und dem Kampf der Pioniere im Land Israel,heißt es auch:

22 Diner 2015, S. 45.23 Ebd.24 Vgl. ebd., S. 60.

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Ruven macht nebenbei eine verächtliche Bemerkung über geldgierige Juden – ein un-würdiges, verlorenes Volk –, die trotz allem jetzt nach Deutschland auswandern, umsich zu bereichern. Einige Kinder folgen seinem Gedankengang und verstehen, woraufdie Bemerkung gemünzt ist. (EaO 91)

Ruvens Bemerkung zielt auf seine eigene Frau Eva, die bereits einige Jahre vordem Beginn der Romanhandlung nach Deutschland zurückgekehrt ist und mitdieser Entscheidung den Kibbuz erschüttert hat. Die Folgen dieser Rückkehrprägen den ersten Teil des Romans und bilden die Hintergrundfolie für die imText verhandelten Verwicklungen und zwischenmenschlichen Konflikte. EvaHamburger, die gegen denWillen ihrer in Deutschland assimilierten Eltern nachPalästina in den Kibbuz gegangen war und dort den einfachen Pionier RuvenCharisch geheiratet hat, war eine beliebte Genossin und treue Ehefrau, „[b]is derTeufel in sie fuhr“ (EaO 18). Ende der 1950er Jahre ist sie plötzlich nachDeutschland zurückgekehrt und hat ihren Mann und ihre beiden Kinder Nogaund Gai zurückgelassen. Auslöser für diese Rückkehr war ein dreiwöchiger Be-such ihres in Deutschland lebenden Cousins Isaak Hamburger im Kibbuz. Sie istalso kausalmit der zweiten oben genanntenBewegungsfigur verbunden. Vor demKrieg war Eva mit Isaak verlobt gewesen und führt nun in der Gegenwart derRomanhandlung mit ihm einen erfolgreichen Nachtclub in München.

Erklärt wird diese von vielen Stimmen als Verrat an der Familie und amKollektiv gewertete Entscheidung zur Rückkehr nach Deutschland einerseits mitEvas nicht zu überwindender Sehnsucht nach dem Ort ihrer Kindheit. Ande-rerseits erweist sich ihre Rückkehr auch als Versuch, das durch Krieg und Shoahverursachte Leid beispielhaft am eigenen Cousin ungeschehen zumachen, indemsie die unterbrochene Beziehung wieder aufnimmt. Ruven Charisch beschreibtdas seiner Tochter Noga mit folgenden Worten:

Nach einemMonat hat sie mir einen langen Brief aus Europa geschrieben, mir ihr Herzausgeschüttet. Ihr Isaak sei einmal ein Engel gewesen. Als Kinder hätten sie vierhändigKlavier gespielt, Gedichte gelesen, geschrieben, gemalt. Aber das Leid habe ihn zer-rüttet, und sie, sie persönlich, sei verantwortlich für ihn und verpflichtet, ihn zu läutern.So haben wir deine Mutter verloren. (EaO 174)

Evas Rückkehr wird als innerjüdisches Bemühen um Wiedergutmachung per-spektiviert, die auf individueller statt auf kollektiver Ebene Erlösung versprichtund so die Abwesenheit der Mutter zwar nicht legitimiert, aber doch erklärt.Diese abwesendeMutter gehört zu den interessantesten Figuren des Romans. Sietritt selbst nie in Erscheinung, kommuniziert aber durch kurze Botschaften, diesie am Rand von Briefen platziert, die ihr Geschäftspartner Sacharja Berger anseinen im Kibbuz lebenden Bruder, den Lastwagenfahrer Esra Berger schickt.Gerade für die Tochter Noga ist die abwesende Mutter die Verkörperung jenesfinsteren „anderenOrtes“, den die im Land geborene Tochter nie gesehen hat. Sie

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ist von „fieberhafter Reiselust“ erfüllt und wünscht sich gelegentlich „zu anderenOrten, weit, weit, weg, zu ihrer Mutter, ins Dunkel, in deine schwarzen Wälder“(EaO 390). Ausgerechnet das Bewusstsein der Ächtung jenes unbekannten Ortesweckt ihre Neugier: „Was ist ein Land vonMördern? Ich würde gernmal ins LandderMörder fahren und nachsehen.“ (EaO 224) Auch ihren Vater Ruven Charisch,der ebenfalls aus Deutschland stammt, fragt sie über den Ort aus. Statt verboteneterra de idolatria gilt ihr Deutschland als terra incognita – und als solche ver-lockend.

Evas Rückkehr nach Deutschland hat aber nicht nur Auswirkungen auf ihreunmittelbare Familie, sondern erweist sich als Riss und Gefährdung der mora-lischen Integrität des Kibbuz in seiner Gesamtheit (und damit zugleich als trei-bende Kraft der Romanhandlung). Knapp ein Jahr nach Evas Verschwinden hatRuven eine Affäre mit Bronka Berger begonnen, der Frau des LastwagenfahrersEsra Berger. Dieser Ehebruch wird von den wachsamen Augen der Kibbuz-Ge-nossen ebenso intensiv beobachtet wie die Annäherung von Ruvens TochterNoga an den betrogenen Esra Berger, die zuletzt in einer Schwangerschaftmündet, mit der sich das Beziehungsgeflecht jenseits gesellschaftlicher Normenendgültig materialisiert. Den Auslöser und die ursprüngliche Schuld für diesemoralischen Verwerfungen sieht die Gemeinschaft einhellig bei Nogas Mutterund ihrer Rückkehr nach Deutschland.

Die zweite wichtige Rückkehrer-Figur ist Sacharja Berger, Isaak HamburgersGeschäftspartner in München und der Bruder des Lastwagenfahrers Esra ausdem Kibbuz. Auch von ihm hat man in Mezudat Ram eine klare Meinung:„Überhaupt, diese jüdischen Typen, die nach dem Krieg nach Deutschland zu-rückgegangen sind, um schmutzige Geschäfte zu machen. Alle möglichen Un-terweltexistenzen.“ (EaO 311) Sacharjas ‚Rückkehr‘ nach Deutschland ist dasEnde einer regelrechten Odyssee und nur einer von drei verschiedenen Wegen,welche die drei Söhne des Kantors Naftali Hirsch Berger aus Kowel (Ukraine) mitden symbolträchtigen Namen Esra, Nechemja und Sacharja25 eingeschlagenhaben. Während Esra zu den Kibbuzgründern gehört, ist Nechemja als Gelehrternach Jerusalem gegangen, um dort seine Studien zum jüdischen Sozialismus zubetreiben. Sacharja dagegen wurde bereits als Jugendlicher von seinem Vaterverstoßen. Er geht zunächst nach Rowno, dann nach Warschau, kommt dort insGhetto, flieht nach Russland, dann nach Schweden, ist bei Kriegsende in Italien,gelangt nach Atlit, wird nach Zypern deportiert, kommt 1948 wieder nach Atlit,geht nach Ramla und nach Jaffa, wo er ein Jahr lang Handel treibt. Ende 1949

25 Bei Esra, Nechemja und Sacharja handelt es sich um Propheten aus der hebräischen Bibel.Den historischen Hintergrund für alle drei Prophetenbücher bildet die Rückkehr aus dembabylonischen Exil und die Neukonstitution des jüdischen Gemeinwesens im Land Israel ab539 v.d.Z.

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verlässt er Israel und bleibt auf dem Weg zu seiner Heimatstadt Kowel inDeutschland hängen. Genau betrachtet handelt es sich also nicht um eineRückkehr im individuell-biografischen Sinne. Dennoch gehört Sacharja zu ebenjenen Juden, „die nach Deutschland auswandern, um sich zu bereichern.“ Erbeantragt Wiedergutmachung und führt mit diesem Geld seitdem in Münchenbesagten Nachtclub mit Isaak Hamburger. In Deutschland nennt er sich Sieg-fried. Aus dem biblischen Propheten wird so ein Held der germanischen My-thologie, ein Drachentöter. Und entsprechend zu diesem selbstgewählten Namenunterscheidet sich die Motivation für seine Rückkehr nach Deutschland deutlichvon Evas Beweggründen. Nicht Sehnsucht und Nostalgie oder der Wunsch nachWiedergutmachung treiben ihn an. Er betrachtet die Rückkehr nachDeutschlandausdrücklich als einen Akt der Rache. Esra erinnert sich an ein Streitgesprächzwischen den Brüdern, in dem Sacharja in drastischen Worten seine Argumentedargelegt hat:

Ich werde dorthin fahren und ein Saujude sein, hat er gesagt. Ein Juuude. Ein dreckigerJidd. So hat er gesprochen. Ich habe ihm gesagt, ja richtig, Menschen sind nicht ausWeihrauch undMyrrhe, aber du bist mein Bruder und nicht dazu geboren, ein Halunkezu werden. Nechemja hatte ein anderes Argument: Bleib in Israel, zeuge viele Kinder,das ist unsere Rache. Sacharja lachte und redete im Singsang, einen alten Spruch ab-wandelnd: Auf drei Dingen steht die Welt: auf Mord, Hurerei und Geld. Das sind dreiBeine. Ein oder zwei davon möchte ich ihnen schnellstens abbrechen, genau wie siemich gebrochen haben. Korrekt? Genau wie unser toter Vater gesagt hat: Hasse dasHerrschen, hasse die Arbeit, hasse deine Hasser – dann wirst du wie gutes Öl auf derKloake schwimmen. Und auch das hat unser Bruder Sacharja an jenem Tag gesagt: Einwahrer Jude, meine Herrschaften, muß die Finsternis durchbrechen und die morschenFesten der Erde vertilgen, wie es bei Bialik steht. Sie werden uns den Kopf zermalmen,und wir werden sie in die Ferse stechen, und ihre Fersen sind Mord, Habgier undUnzucht. Mord ist von der Tora aus verboten, aber selbst der Teufel kann mir nichtverbieten, sie zu prostituieren und ihnen das Geld auszusaugen. (EaO 194f.)

In München beschäftigt Sacharja einen ehemaligen Gestapo-Beamten als Tür-steher in seinem Nachtclub und genießt dessen Unterwürfigkeit. Er reizt dasdeutsche Publikum mit israelischen Künstlern, mit lebenden Juden auf derBühne und erklärt:

Der Sohn eines ermordeten jüdischen Kantors schlägt München, […] du kannst garnicht ermessen, welche metaphysische Gerechtigkeit sich darin verbirgt. […] EinenReiz, der sie bis auf den Grund ihrer Seele aufwühlt, verkaufe ich ihnen. Und sie gebenmir ihr Geld, ja geben mir mehr in die Hand als ihr Geld, mit ihren innersten Emp-findungen sind sie mir ausgeliefert, und das ist meiner Mühe Lohn. (EaO 317f.)

Mit dieser Strategie gelingt es Sacharja auf paradoxe Weise, die von Diner be-schriebene Distanznahme zu Deutschland und den Deutschen nicht nur mit

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einer Rückkehr nach Deutschland zu verbinden, sondern Abscheu und Ver-achtung durch die bewusst gesuchte Nähe performativ umzusetzen.

Die dritte Rückkehr-Erzählung in Ein anderer Ort ist eigentlich keine. Sieverharrt in der Potentialität und steht zudem in direkter Abhängigkeit von derzweiten Bewegungsfigur: dem Besuch von Sacharja/Siegfried Berger in MezudatRam, der den zweiten Teil des Romans dominiert. Er bezeichnet sich selbstwiederholt als „Spion im Auftrag einer feindlichen Macht“ (EaO 302f.), dessenMission darin besteht, die schwangere Noga Charisch zur Reise nach Deutsch-land zu überreden und sie zu ihrer Mutter nach München zu bringen. Zunächstkommt dieses Vorhaben durchaus den Ansichten im Kibbuz entgegen und of-fenbart neben Wiedergutmachung und Rache eine dritte, bislang wenig be-rücksichtigte Deutung der Rückkehr nach Deutschland.

Die Genossen und Genossinnen mögen Noga Charisch nicht. Wir fürchten den wildenGeist, den sie in unser Leben hineingetragen hat. Im Innern wünschen wir, daß sie vonhier wegginge. Daß wir sie nicht mehr sähen. Daß sie für ihren Stolz bestraft würde.Nicht ihre Schwangerschaft empört uns. Ihre Sturheit und Arroganz sind uns fremd.[…] Am liebsten wäre uns, sie verschwindet. (EaO 343)

Eine Zeitlang erscheint Nogas Abwanderung also durchaus als kathartischesVersprechen für den Kibbuz, als ein Weg, durch Absonderung der „bösen“Schlacken den moralischen Verfall aufzuhalten und die Ordnung wiederherzu-stellen. Doch es entspinnt sich ein regelrechter Kampf umdie Seele desMädchenszwischen Sacharja und der Kibbuz-Gemeinschaft.

Natürlich wäre der Weggang eines Mädchens, das im Land geboren wurde,keine „Rückkehr“ im eigentlichen Sinne. Dennoch verwendet Sacharja Argu-mente von übergeordneter Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit, die daskollektive Selbstverständnis in Frage stellen. Er bietet eine alternatives „wir“ anund sagt zu Noga:

Die Hauptsache ist, daß du mit mir fährst, ja, mit dem lieben Onkel Sacharja, zu deinerMutter. Zu deiner Mutter nach Hause. Dort gibt es Wälder und Seen, goldenesHerbstlaub, niedrige dunkle Wolken, verträumte grüne Hügel. Dort lebt der stille Tod,und wir sind in seinem Schoß. Dort wird dein Kind zur Welt kommen. Dort bist du amrichtigen Ort. Du, meine Süße, gehörst nicht hierher. Du wirst mit mir zu deiner Mutterfahren. Du bist nicht von hier. Du bist eine von uns. Eine der unseren bist du. (EaO 316)

Diese Argumentation weitet den von Oz bereits im Motto des Romans darge-legten Befund, die Einwohner von Mezudat Ram seien „nicht von hier“, auch aufdie bereits im Land geborene Generation aus und eröffnet so die Perspektiveeiner Art „transgenerationellen Rückkehr“ auch für Noga. Inspiriert durch eineorthografische Spitzfindigkeit in der hebräischen Schreibweise von ‚Wiege‘ fragtsie sich, obman zweiWiegen, zwei Herkunftsorte – und damit letztlich auch zweiOrte für eine Rückkehr – haben kann (vgl. EaO 70). Diese Idee einer doppelten

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Herkunft weitet sich später zu einer regelrechten Doppelgängerfantasie: „Einseltsamer, wilder Gedanke: Wenn ich nur zwei sein, mich verdoppeln könnte.Eine führe und eine bliebe. Dort und hier sein.“ (EaO 356)26

Nogas ‚Rückkehr‘ nach Deutschland findet am Ende nicht statt. Der verbit-terte undmit allen Regeln der Manipulation und List geführte Kampf um sie undum das uneheliche Kind kann zuletzt nur entschieden werden kann, indemSacharja von der Gemeinschaft aus dem Kibbuz verbannt und die hoch-schwangere Noga mit ihrem Jugendfreund Rami verheiratet wird. Zudem habenRuven und Bronka ihre Affäre beendet und letztere ist noch vor Ruvens Tod zuEsra zurückgekehrt, sodass die soziale und moralische Ordnung im letzten Ka-pitel des Romans wiederhergestellt und in einem Maße gefestigt erscheint, dasssie zu einem „letzten Bild“ gerinnt. Bevor jedoch dieses letzte, von jeder Bewe-gung befreite Bild mit dem Titel „Liebe“ genauer betrachtet und auf seine Wi-dersprüchlichkeit hin untersucht wird, soll der Blick noch einmal auf den BesuchSacharjas im Kibbuz gerichtet werden, also auf die temporäre Rückkehr desRückkehrers, die den zweiten Teil des Romans bestimmt.

4. Der Besucher als Heimsuchung

Die vorübergehende Anwesenheit des Verwandten, der die von Noga erträumteDoppelexistenz in seinen zwei Namen bereits verwirklicht hat, bringt die seit EvasWeggang fragil gewordene Ordnung des Kibbuz endgültig in Gefahr. Mit ihmdringt die Möglichkeit des „anderen Ortes“ offen in das Kibbuzleben ein unddroht, eine erneute Abwanderung auszulösen – ganz ähnlich wie sechs Jahrezuvor der Besuch von Isaak Hamburger die Rückkehr von Eva zur Folge hatte.Das wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis ein solcher Besucher vom „an-deren Ort“ zur Gemeinschaft vor Ort steht und weshalb er – anders als dieTouristengruppen, die zu Beginn des Romans durch den Kibbuz geführt wer-den – eine derartige Bedrohung darstellt. Das erzählende Kollektiv bezeichnetSacharja abwechselnd als Besucher, Fremden, Tourist und Gast. Es ist diesesunbestimmte Außerhalb seiner Position gegenüber der Gemeinschaft, von demdie Gefährdung der inneren Ordnung ausgeht. Im Gegensatz zu den Ange-kommenen, den Ansässigen von Mezudat Ram ist er der „potenziell Wandern-

26 In seinemAufsatz über das Unheimliche bestimmt Sigmund Freud den Doppelgänger geradedadurch, dass ihm „alle unterbliebene Möglichkeiten der Geschicksgestaltung, an denen diePhantasie noch festhalten will, […] sowie all die unterdrückten Willensentscheidungen, diedie Illusion des freien Willens ergeben haben“ einverleibt werden. Freud [1919], 1970, S. 259.Genau diese Idee des Doppelgängers, der gleichzeitig bleibt und geht, hat Yehuda Amichaizum Strukturprinzip seines Romans Nicht von jetzt, nicht von hier (1963) gemacht, derebenfalls die Frage einer besuchsweisen Rückkehr nach Deutschland behandelt.

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de“, jener prototypische Fremde, von dem Georg Simmel sagt, er zeichne sichdadurch aus, dass er Qualitäten in ein Umfeld hineinträgt, die nicht aus diesemUmfeld stammen.27 Anders jedoch als Simmels Fremder ist Sacharja als Brudereines der Gründer des Kibbuz zumindest in verwandtschaftlicher Hinsicht „or-ganisch verbunden“ und kann somit nicht die von Simmel angeführte „Objek-tivität des Fremden“ für sich in Anspruch nehmen.28 Sacharja ist der Vertraute,der als Fremder zurückkehrt, und mithin eine Verkörperung dessen, was Freudals das Wesen des Unheimlichen bestimmt hat. Sein Besuch lässt sich alsHeimsuchung des Kollektivs durch die eigenen, verdrängten Erinnerungen lesen.Er repräsentiert den Verlust der Genossin Eva Hamburger und ist Beweis für dieExistenz jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945, also an einem „anderenOrt“. Sein Besuch schiebt sich als Keil zwischen die Kibbuz-Bewohner und dasLand, auf bzw. in dem sie leben. Für diese Heimsuchung hat Oz ein eindrück-liches sprachliches Bild gefunden. Zu den großzügigen Geschenken, die Sacharjaim Widerspruch zu den Kibbuz-Prinzipien und zum allgemeinen Boykottdeutscher Produkte aus Deutschland mitgebracht hat, gehört eine Modellei-senbahn. Diese funktioniert „nach dem Prinzip des geschlossenen Stromkreises,genau wie das vielgerühmte europäische Eisenbahnnetz.“ (EaO 289) Gemeinsammit seinem Neffen Oren erobert er

den verborgenen Raum zwischen den Stützpfeilern des Hauses auf dem modrigenGrund unter der Bergerschen Wohnung und Veranda. Siegfried verlegte dort einkompliziertes Schienennetz, dessen Stränge sich über Berge und Täler, durch Tunnelsund über Brücken wanden. Dazu gab es Kreuzungen und Bahnhöfe, kühne Steilhängeund irre Verzweigungen, dem Geist stürmischer Phantasie entwachsen. (EaO 395f.)

Unvermittelt materialisiert sich so im ‚Verborgenen‘, im Unbewussten untereinem Haus im Kibbuz ein Abbild des kollektiven Traumas von der Deportationund Vernichtung der europäischen Juden und ein im Land Israel geborenerJunge provoziert Zugunglücke und berauscht sich an der „Lust völliger Herr-schaft […], wenn die Finger flink über die Kontrolltafel gleiten und mit feder-leichtem Druck viele Schicksale entscheiden.“ (EaO 398)

Die Heimsuchung als Wiederkehr eines verdrängten Anderen durchzieht denRoman auch in Form intertextueller Verweise. Unter einer Textoberfläche, dievon Bibelversen und Passagen aus der jüdischen Schrifttradition durchsetzt undmit Gedichtzeilen von kanonischen Vertretern der modernen hebräischen Lite-ratur wie Chaim Nahman Bialik, Shaul Tschernichowski und Nathan Altermangeschmückt ist, drängt das kulturelles Erbe des gebannten anderen Ortes an dieOberfläche: Der doppelgesichtige Sacharja/Siegfried lässt hinter dem biblischen

27 Vgl. Simmel 1992, S. 764f.28 Vgl. ebd., S. 766.

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Propheten den Drachentöter der germanischen Mythologie aufscheinen. DieKinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm mit ihren dunklen Wäldernund grausamen Geschichten werden als Repräsentanten des „anderen Ortes“benannt und sogar zur Erklärung der Herkunft des Bösen herangezogen: „WerGrimms Märchen aufmerksam lese, werde begreifen, wieso dort ein Volk vonMördern undWerwölfen herangewachsen sei“ (EaO 42), erklärt Ruven Charisch.Noga verwendet bekannte narrative Muster von Prinz und Prinzessin, um dieBeziehung zwischen ihrer Mutter, Isaak und ihrem Vater zu begreifen, und suchtdann „eine Lücke im Märchen, um reinzuschlüpfen“ (EaO 225). Auch Sacharjasieht in den alten deutschen Märchen den Ausdruck einer typisch deutschenPhilosophie, die den Tod in denMittelpunkt desmenschlichen Lebens stellt. Under sagt auch: „Das deutsche Genie Goethe deutet im wundersamen zweiten Teildes göttlichen ‚Faust‘ darauf hin.“ (EaO 326) Durch diese Bemerkung öffnet sichein ganz neues Feld intertextueller Bezüge, das eine eigene Untersuchungrechtfertigen würde. In der Tat scheinen beide Teile von Goethes Faust eine ArtBlaupause für den Plot und die Konfliktlinien des Romans zu sein: der Kampfzweier Mächte um eine reine Seele, die Schwangerschaft einer jungen Frau, dieVerlockung, die ganze Welt zu sehen, die Urbarmachung eines Landes – undschließlich im letzten Kapitel ein Augenblick, der verweilt.

In eigentümlicher Engführung von sitra ah˙ra und Goethes Faust steht an der

Spitze der diabolischen ‚anderen Seite‘ nicht der Todesengel Sama’el, sondernSacharja/Siegfried in der Rolle des Mephisto, der mit dem „guten Engel“HerbertSegal „über eine unschuldige Seele streite[t]“ (EaO 393). Inmitten einer Häufungvon Theatermetaphern wird Sacharja von Ruven Charisch kurz vor dessen Todauch direkt als „Papierteufel“, als „Teufel aus Pappmaché“ (EaO 435) beschimpft.Allerdings wird er vom Erzähler zu keinem Zeitpunkt für sein Tun verurteilt.Vielmehr wird ihm Verständnis entgegengebracht. „Sacharja Siegfried könnteeinem auf den ersten Blick tatsächlich wie ein Schuft vorkommen, kennte manseine Vergangenheit, seine Auffassungen und seinen Familiensinn nicht.“ (EaO336) Und an anderer Stelle heißt es „Wir werden keinen Stein auf ihn werfen.“(EaO 364) In der unauflösbaren Durchdringung von Gut und Böse ist auch er inder Lage, Mitleid zu erregen. Gershon Shaked kommt aufgrund dieser ambiva-lenten Haltung und des beständigen Relativierens der Urteile durch den Erzählerzu dem Schluss:

Im Roman Makom Aher zeigt der Verfasser Sympathien für die Abwandernden, die inDeutschland ihre Erlösung suchen […]; dagegen wecken diejenigenwie RuvenCharisch[…], die demLand treu bleiben, keine Zuneigung beimLeser und es scheint, als enthülleder Verfasser die teuflische Seite. Oz zufolge ist die satanische Sprengkraft im zionis-tischen Master-Narrativ selbst verborgen.29

29 Shaked: Ha-Siporet Ha-Ivrit, 1998, S. 93.

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5. Das letzte Bild

Mit Blick auf die hier diskutierten Rückkehr-Erzählungen geht der Roman überdie bloße Infragestellung des zionistischen Master-Narrativs, den Verweis aufGegenmodelle und das Insistieren auf der Existenz eines anderen Ortes weithinaus. Er durchkreuzt die Dichotomie von Einwanderung und Abwanderung,vonAufstieg undAbstieg, von Land Israel undWelt, von Gut und Böse durch einedifferenzierte, vielfältige und in sich durchaus widersprüchliche Erörterung derBeweg-Gründe für diese oder jene Entscheidung. Oz zeigt nicht nur das Teufli-sche im Zionismus, sondern umgekehrt auch das Gute bzw. Göttliche in denRückkehrern, den Repräsentanten des „anderen Ortes“ und überwindet jegli-chen Dualismus letztlich, ebenso wie das kabbalistische Modell, mit dem Ar-gument von einem in der anderen Seite enthaltenen Funken. Die unauflösbareDialektik der Darstellung folgt dabei der bereits eingangs zitierten Auffassungvon Ruven Charisch, „daß das Leben vielgestaltig ist und einfache Formelnsprengt“. Dass aber diese auf mehr als vierhundert Seiten in alle Richtungenentfaltete Komplexität zuletzt recht unvermittelt in einem einzigen, als „LetztesBild“ bezeichneten Figuren-Tableau mündet, bedarf einer Erklärung. GershonShaked meint hierzu:

Ein großer Teil der Auflösung der Handlung, der Lösungen am Ende vonMakom Ah˙er

[…] ist eine Art zionistisches ‚Happy End‘, eine Art Bereitschaft, die eretz-israelischeRealität als etwas anzuerkennen, mit dem man sich zwar auseinandersetzen, aber amEnde arrangieren muss.30

Gerade unter Berücksichtigung der erwähnten Bezüge zu Goethes Faust ist dieserletzte Augenblick, den der Erzähler verweilen lässt, ein überaus zweischneidiges‚Happy End‘. Bei Goethe ist es der letzte Moment vor dem Tod der Hauptfigur,das Ende seines Strebens nach Erkenntnis. Bei Oz beschreibt der scheidendeErzähler einen Freitagabend im Haus der Familie Berger, eine Art harmonischesFamilienportrait und wechselt dannmit direkter Apostrophe an den Leser in denImperativ:

Auf den weggerückten Sessel wird ein Lichtkegel fallen. Kein Mensch sitzt darin. Siehdort keine Männer und Frauen, die an einen anderen Ort gehören. Du mußt den Regenan die Fenster klatschen hören. Mußt nur die anblicken, die hier im warmen Zimmerzusammen sind. Mußt jeden störenden Schleier von den Augen wischen. Mußt klarsein. Laß die einzelnen Stimmen dieser großen Familie in dein Innerstes eindringen. Dumußt dich sammeln. Mußt Kräfte sammeln. Entspannt durchatmen. Vielleicht dieAugen schließen. Dann gib diesem letzten Bild den Namen Liebe. (EaO 444)

30 Ebd., S. 223.

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Nimmt man diese Anweisungen ernst, so sind sie eine Aufforderung, wegzu-schauen, den eigenen Blick zu beschränken. Das letzte Bild von Ein anderer Ortist das Ergebnis einer gewaltsamen Stillstellung, der Beseitigung jeglicher Be-wegung zwischen Orten und der Verbannung des „störenden“ Gastes SacharjaBerger an einen Ort jenseits des Blickfeldes. Wie verschiedentlich bei Untersu-chungen zur Figur des Gastes festgestellt wurde, stellt dessen „räumliche undzeitliche Unfixierbarkeit“ früher oder später eine Bedrohung dar, die den Gastselbst „dem Versuch seiner Tilgung“ aussetzt, entweder durch Assimilation oder– wie in diesem Fall – durch Ausschluss.31 Indem der Blick auf die Anwesendenbeschränkt wird, kann die Voraussetzung der wiederhergestellten Ordnungausgeblendet werden.

Mit seiner Negation jeglicher Bewegung wirft das Ende des Romans aberauch die von DeKoven Ezrahi ins Spiel gebrachte Frage nach dem Moment derAnkunft und dem damit einhergehenden Ende des Erzählens und der Literaturüberhaupt auf. Hier werden nicht nur die Konflikte der Romanhandlung gelöst;Handlung selbst kommt zum Erliegen und geht in den Zustand eines erstarrtenStilllebens über, das nicht mehr erzählt, sondern nur noch beschrieben werdenkann. Mit Lessing könnte man argumentieren, dass sich Oz’ Roman in seinemletzten Kapitel radikal vom „eigentliche[n] Gegenstand der Poesie“ verab-schiedet. An die Stelle von Handlungen treten „Körper mit ihren sichtbarenEigenschaften“ – diese jedoch sind „die eigentlichen Gegenstände der Male-rei.“32 Die Literatur als konsekutive Kunst im Sinne Lessings scheint in diesemletzten ‚Bild‘ an ihr Ende gelangt zu sein. Und so wie der leere Sessel desnunmehr überflüssigen Erzählers trägt auch der Modus der letzten Zeilendieser Verschiebung Rechnung: Der narrative Indikativ wird ersetzt durcheinen Imperativ des Blickes.

Literatur

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31 Fountoulakis/Previsic 2011, S. 12.32 Lessing [1766], 1990, S. 116.

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Fountoulakis Evi u. Brois Previsic: Gesetz, Politik und Erzählung der Gastlichkeit. In: Dies.(Hg.): Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in der Literatur. Bielefeld 2011, S. 7–27.

Freud, Sigmund: Das Unheimliche [1919]. In: Ders.: Studienausgabe Band IV: Psycholo-gische Schriften. Frankfurt a.M. 1970, S. 241–274.

Grözinger, Karl Erich: Jüdisches Denken. Band 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zumHasidismus. Frankfurt a.M. 2005.

Holtzman, Avner: Gershon Shaked’s history of Hebrew narrative fiction. A Zionist en-terprise. In: Hebrew Studies 49 (2008), S. 281–289.

Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie[1766]. In: Ders.: Werke und Briefe. Band 5,2: Werke 1766–1769. Frankfurt a.M. 1990,S. 11–206.

Oz, Amos: Ein anderer Ort. Aus demHebräischen von Ruth Achlama. Frankfurt a.M. 2001.Oz, Amos: Keiner bleibt allein. Aus dem Hebräischen von Nilly Mirsky u. Jörg Trobitius.

Düsseldorf 1976.Scholem, Gershom: Sitra achra; Gut und Böse in der Kabbala. In: Ders.: Von dermystischen

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Shaked, Gershon: Ha’im Historiya Shel Ha-Sifrut Efsharit? [Ist Literaturgeschichte mög-lich?] In: Iggeret 20 (2001), S. 8–10 [Hebr.].

Shaked, Gershon: Modern Hebrew Fiction. Bloomington 2000.Shaked, Gershon: Ha-Siporet Ha-Ivrit 1880–1980, Kerekh He. [Die hebräische Prosa 1880–

1980, Band 5]. Jerusalem 1998 [Hebr.].Shaked, Gershon: Geschichte dermodernen hebräischen Literatur. Prosa von 1880 bis 1980.

Frankfurt a.M. 1996.Shaked, Gershon: Kein anderer Ort. Über Saul Friedländer. In: Die Macht der Identität.

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Simmel, Georg: Exkurs über den Fremden. In: Ders.: Gesamtausgabe Band 11: Soziologie.Frankfurt a.M. 1992, S. 764–771.

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Formen der Erinnerung

Band 66

Herausgegeben von

Jürgen Reulecke und Birgit Neumann

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Bettina Bannasch / Michael Rupp (Hg.)

Rückkehrerzählungen

Über die (Un-)Möglichkeit nach 1945 als Judein Deutschland zu leben

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISSN 2198-6169ISBN 978-3-8470-0799-9

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Franz Rosenzweig Minerva Research Centers(FRMRC), Hebrew University of Jerusalem.

© 2018, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigenschriftlichen Einwilligung des Verlages.Titelbild: © M. Rupp / M. Langer 2017.

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Inhalt

Bettina Bannasch / Michael RuppEinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Jan KühneTheodor Herzls „Heimkehr“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Yonatan Shiloh-DayanOn the Point of Return: Heute und Morgen and the German-speakingLeft-wing Émigrés in Palestine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Michael Langer„Gestern bleibt das wahre Heute!“ – Heimat in der Welt von Gestern undMorgen bei Rudolf Kayser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

Varun F. Ort‚Ulysses-wanderers‘. Hannah Arendts Rückkehr nach Deutschland . . . . 81

Michael Rupp„Leben unter den Deutschen“ – Hans Mayer als Ethnograph derBundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Marguerite Markgraf„Bewältigungsversuche eines Überwältigten“ angesichts einer „Logik derVernichtung“ – Zur existenzphilosophischen Fundierung derUnmöglichkeit von Rückkehr bei Jean Améry . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Gerhild Rochus„Emigration in die Heimat“ – Paradoxale Konstruktionen von Exil undRückkehr in der Essayistik Margarete Susmans . . . . . . . . . . . . . . . 143

© 2018, V&R unipress GmbH, GöttingenISBN Print: 9783847107996 – ISBN E-Book: 9783847007999

Sebastian SchirrmeisterVon anderen Orten. Rückkehr, Besuch und Heimsuchung bei Amos Oz . 161

Ofer WaldmanDeutsche Distanzräume. Christa Wolf, Thomas Brasch und MarcelReich-Ranicki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Katharina BaurRückkehrende Komik oder komische Rückkehr? Positionsbestimmungenin der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur am Beispiel DoronRabinovicis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Anna Zachmann„Ganz Deutschland ist ein Holocaust-Mahnmal“. Remigration in EdgarHilsenraths Berlin… Endstation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Inhalt6