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Schwache Ronja - StaRkeR BiRg? Die genderrelevanz der Macht in jugendfreundschaften: Ronja Räubertochter von astrid Lindgren im Lichte der theorie judith Butlers dorothée Brandt 7 Brandt Genderrelevanz der Macht Michel, Pippi, Lotta und Ronja – für unzählige Kinder, Jugendliche und inzwischen auch Erwachsene sind diese Vornamen ganz eindeutig mit Astrid Lindgren verbunden. Bereits vor zwanzig Jahren krönte Die Zeit die schwedische Autorin zur „erfolg- reichsten Kinderbuchautorin der Welt“; seither ist niemand in Sicht, der ihr diesen Titel streitig machen könnte. Der 1907 geborenen Schriftstellerin diente ihre unbeschwerte Kindheit auf einem Bauernhof 1 im südschwedi- schen Vimmerby als Inspiration für viele ihrer zu Beginn des 20. Jahrhun- derts angesiedelten Romanfiguren. Charaktere ihres späteren Schaffens, wie des in den 1970er Jahren veröf- fentlichten Werks Die Brüder Löwen- herz oder ihres letzten Romans Ronja Räubertochter hingegen sind allein Lindgrens ungewöhnlich starker Phantasie und der nordischen Mytho- logie entlehnt. 2 Das Mädchen Ronja lebt mit ihren Eltern Lovis und Mattis sowie den zwölf Räubern der väterlichen Bande als einziges Kind unter Erwachsenen auf einer Burg. In ihrem Roman paro- diert Lindgren den klassischen Räu- berroman und karikiert die Figuren, die an Trolle im Wald erinnern (vgl. Pohlmann 209). Die wichtigsten Handlungsmotive sind die Liebesge- schichte der heranwachsenden Ronja zu Birg, dem Sohn der verfeindeten Borkasippe und die abrupte Loslö- sung des Mädchens vom geliebten Vater. Außergewöhnlich sind die von Lindgren erdachten Figuren insofern, als diese in überhistorisch-phantasti- scher Kulisse mit den Konflikten und Unsicherheiten moderner Menschen ringen. Auf den folgenden Seiten soll der Frage nachgegangen werden, ob die in erfrischendem Gegensatz zur „rein ro- safarbenen“ Mädchenliteratur ste- hende, physisch und charakterlich starke und unangepasste Räubertoch- ter in Verbindung zur zeitgenössi- schen Gender-Theorie zu bringen ist –

Schwache Ronja - StaRkeR BiRg? Ideologie/03... · 2012. 9. 27. · Schwache Ronja - StaRkeR BiRg? Die genderrelevanz der Macht in jugendfreundschaften: Ronja Räubertochter von astrid

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  • Schwache Ronja - StaRkeR BiRg?

    Die genderrelevanz der Macht in jugendfreundschaften:

    Ronja Räubertochter von astrid Lindgren

    im Lichte der theorie judith Butlers

    dorothée Brandt

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    Brandt Genderrelevanz der Macht

    Michel, Pippi, Lotta und Ronja –für unzählige Kinder, Jugendliche undinzwischen auch Erwachsene sinddiese Vornamen ganz eindeutig mitAstrid Lindgren verbunden. Bereitsvor zwanzig Jahren krönte Die Zeit dieschwedische Autorin zur „erfolg-reichsten Kinderbuchautorin derWelt“; seither ist niemand in Sicht, derihr diesen Titel streitig machen könnte.

    Der 1907 geborenen Schriftstellerindiente ihre unbeschwerte Kindheit aufeinem Bauernhof1 im südschwedi-schen Vimmerby als Inspiration fürviele ihrer zu Beginn des 20. Jahrhun-derts angesiedelten Romanfiguren.Charaktere ihres späteren Schaffens,wie des in den 1970er Jahren veröf-fentlichten Werks Die Brüder Löwen-herz oder ihres letzten Romans RonjaRäubertochter hingegen sind alleinLindgrens ungewöhnlich starkerPhantasie und der nordischen Mytho-logie entlehnt.2

    Das Mädchen Ronja lebt mit ihrenEltern Lovis und Mattis sowie den

    zwölf Räubern der väterlichen Bandeals einziges Kind unter Erwachsenenauf einer Burg. In ihrem Roman paro-diert Lindgren den klassischen Räu-berroman und karikiert die Figuren,die an Trolle im Wald erinnern (vgl.Pohlmann 209). Die wichtigstenHandlungsmotive sind die Liebesge-schichte der heranwachsenden Ronjazu Birg, dem Sohn der verfeindetenBorkasippe und die abrupte Loslö-sung des Mädchens vom geliebtenVater. Außergewöhnlich sind die vonLindgren erdachten Figuren insofern,als diese in überhistorisch-phantasti-scher Kulisse mit den Konflikten undUnsicherheiten moderner Menschenringen.

    Auf den folgenden Seiten soll derFrage nachgegangen werden, ob die inerfrischendem Gegensatz zur „rein ro-safarbenen“ Mädchenliteratur ste-hende, physisch und charakterlichstarke und unangepasste Räubertoch-ter in Verbindung zur zeitgenössi-schen Gender-Theorie zu bringen ist –

  • oder gar eine literarische Umsetzungdavon sein könnte.

    Postmoderne geschlech-terverhältnisse in derRäuberburg

    Ronjas Räuberleben beginnt miteinem endzeitlichen Gewitter. Wäh-renddessen schlägt ein Blitz in dieBurg ein und sie ist fortan zweigeteilt(vgl. Lindgren 11). Diese Expositionverdeutlicht zum einen die Allmachtder Natur, der die unzivilisierten Räu-ber ausgeliefert sind, zum anderenwird die geteilte Burg Hauptschau-platz der Handlung3, da in die andereHälfte die feindliche Bande der Borka-räuber einzieht.4

    Die ersten Seiten des Romans ver-gegenwärtigen eine sehr ursprüngli-che, zugleich überzeitlich-humaneSzenerie: Eine Mutter liegt fernab derZivilisation in den Wehen, ein aufge-regter Vater weiss ihr und sich selbstnicht recht zu helfen. Die traditionelleRollenverteilung wird jedoch gleichnach der Entbindung relativiert, jaumgekehrt: Der große, bärtige Räu-berhauptmann, ein Sinnbild des Ar-chaisch-männlichen, präsentiert mitinfantiler Freude und naiver Zärtlich-keit „sein“ Kind. Mattis´ überborden-der Stolz wird durch die Tatsache,dass das Neugeborene kein Räuber-stammhalter, sondern ein Mädchen

    ist, erstaunlicherweise keineswegs ge-schmälert (vgl. Lindgren 6). Ganz imGegenteil: Die vitale Mutter Lovisstellt bei ihrem Erscheinen im Kreiseder Räuber klar, dass sie vor langementschieden habe, ein Mädchen zu be-kommen, und so wäre es nun gesche-hen (vgl. Lindgren 7).

    An dieser Textstelle wird erstmalsersichtlich, was dem sensibilisiertenLeser bis zur letzten Seite des Romansnicht verborgen bleiben kann: In derphantastischen, mittelalterlich anmu-tenden Sphäre der Räuberburgkommt dem Geschlecht eine andereBedeutung zu als generell in der lite-rarischen Fiktion oder der realenWirklichkeit.

    Oberflächlich betrachtet erfüllenhier Männer und Frauen die vorgege-benen Rollen, bzw. gehen ihrem Tage-werk nach: Die Männer, in diesem Falleine Bande ungewaschener, derberRäuber, sind für das materielle Aus-kommen zuständig.5 Die Frauen gebä-ren und kümmern sich um die häusli-chen Pflichten. Bei näherer Betrach-tung fällt jedoch auf, dass diese Kon-stellation nicht mehr darstellt, alseinen im historischen Kontext der Ge-schichte unverzichtbaren Rahmen, indessen Innenraum diese Geschlechter-verhältnisse konterkariert werden. InZahlen sind die Frauenfiguren inRonja Räubertochter unterlegen: Die

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  • beiden Hauptmannsgattinnen, Lovisund Undis, Borkas Frau und BirgsMutter, sind die einzigen erwachsenenFrauen.6

    Ihnen stehen rund zwei Dutzendungepflegter Räuber gegenüber. Unddennoch gelingt es Lindgren, anhanddieser beiden charakterlich sehr unter-schiedlichen Frauen ein im bestenSinne postmodernes Frauenbild zumanifestieren. So wird Lovis fortwäh-rend als sehr forsch und bestimmend,in Bezug auf ihr Kind jedoch als zärt-lich und nachsichtig beschrieben, wo-hingegen Undis, die über Jahre untereinfachsten Bedingungen in einerHöhle lebte, als zänkisch und kalt ge-genüber ihrem einzigen Sohn charak-terisiert wird (vgl. Lindgren 155, 226).In zahlreichen Publikationen zu Lind-grens Lebenswerk7 wurde bereits da-rauf hingewiesen, dass die Dichterinihre Frauengestalten fast ausschließ-lich als starke und selbstreflektiertePersönlichkeiten anlegt und versucht,sich von traditionellen Rollenerwar-tungen zu lösen (vgl. Cromme 281).

    Mehr noch: In ihrem durch dieWildnis zwangsläufig auf das häusli-che Umfeld beschränkten Kosmossind sie die wahren Anführer der Räu-berbanden. So wird Mattis, das „grau-sam und skrupellos auf eine primitiveund geradezu bestialische Art“(Ed-ström 294) raubende Oberhaupt der

    Sippe wiederholt und ohne Wider-worte vor versammelter Mannschaftvon seiner Frau gemaßregelt.

    In ausnahmslos allen schwierigenSituationen, die nicht alleine durchMuskelkraft zu lösen sind, ist es Lovis,die die Führung übernimmt.Von deraufreibenden Geburt der Tochter, überdie schwere Erkrankung Ronjas, dieMattis in höchste Angst versetzt (vgl.Lindgren 83), bis zur Schlüsselszenedes Romans8, in der Lovis die Rolledes durch Sentimentalitäten hand-lungsunfähigen Ehemannes über-nimmt, ist sie stets die souveräne, be-herrscht und kühl Agierende. Auchder Sprache bedient sich Lovis mit Ge-schick. So ist der Umgangston immännlich geprägten Mikrokosmos dermodrigen und düsteren Burg derbe.Die drei Frauenfiguren haben sowohldas von Schimpfwörtern gespickte Vo-kabular, als auch die Lautstärke, einbeständiges Brüllen, von den Män-nern übernommen.9 Mattis, der alsausgesprochen hitzköpfig gezeichnetwird, ist zwar der Kopf der Räubercli-que10, emotional und intellektuell je-doch völlig von seiner Frau abhängigund auf ihr Geschick angewiesen.

    Die Vater-Tochter-Beziehung zwi-schen Ronja und ihrem Vater ist nebstdem Haupterzählstrang, dem Erwach-senwerden der beiden Protagonisten,ein wichtiger Handlungsfaden des Ro-

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    mans. Die innige Verbundenheit Mat-tis´ zu seinem einzigen Kind wird vonBeginn an thematisiert. Mattis ist keineinfacher Charakter: seine überschäu-mende Zuneigung kann er schlechtverbalisieren und wirkt deshalb inmehreren Situationen kindlich-unbe-holfen (vgl. Lindgren 18). Dem Erkun-dungsdrang seiner Tochter steht erweitaus skeptischer gegenüber alsseine Frau11 - er möchte sein Kind vorden im Wald hausenden mytholo-gisch-urzeitlich anmutenden Wilddru-den, Graugnomen und vor dem dieMattisburg spaltenden Höllenschlundbewahren – er würde Ronja am liebs-ten in der elterlichen Burg einschlie-ßen. Auffällig ist, dass Emotionalitätbei Mattis fast ausschließlich in ag-gressiver, negativer Ausformung auf-tritt: Wut, dass die Wilddruden seinein den Wehen liegende Frau belagern(vgl. Lindgren 5), Zorn, als die Borka-räuber die andere Burgseite beziehen,ungebremster Hass, als seine Tochtervon den Graugnomen bedroht wird.Auf pueril-kraftstrotzende Weise ver-sucht er beständig, Frau und Tochter,sein höchstes Gut, gegen die unter-schiedlichen Gefahren der Wildnis zubeschützen und ist somit der Prototypdes potenten Familienvaters. Dochgegen den in seinem subjektiven Emp-finden gefährlichsten Feind kann ermit Muskelkraft und schrecklichem

    Gebrüll nichts ausrichten. Birg, derhalbwüchsige Sohn seines Intimfein-des Borka, ist ein Konkurrent um dieLiebe seiner Tochter und auch Lovisstellt sich gegen ihren Mann, als er denJungen geknebelt und verletzt in dieBurg bringt. Die emotionale Unreifedes Vaters wird sehr deutlich, als erBorkas Sohn einer im Kampf erbeute-ten Trophäe gleich präsentiert. Zweckder Geiselnahme ist es, mit diesem le-benden Faustpfand die verfeindetenRäuber zum Auszug zu nötigen.Ronja, die von Mattis vergötterteTochter, stellt sich in der dramatischenSchlüsselszene des Romans zum ers-ten Mal gegen den von ihr verehrtenVater. Sie weist ihn vor aller Augenund Ohren zurecht. Zu unterstreichenist hier, dass Ronjas Appell nicht nurvon der persönlichen Liebe zu demGefesselten, sondern generell von hu-manitärem Rechtsempfinden moti-viert scheint.12 Die halbwüchsigeTochter geht soweit, den Vater zwei-mal in einem spontanen Wutanfall zuverfluchen: „Pfui über dich!“, schleu-dert sie ihm entgegen und offenbartsomit ein hitziges Gemüt, ein Wesens-zug, der in diesem Fall sowohl vomVater als auch von der Mutter stam-men könnte. Ronjas Verhalten verstößtin hohem Maße gegen den tradiertenKodex des dem elterlichen Willen ge-horchenden Kindes.

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    Auch Lovis missfällt Mattis´ Han-deln, doch sie stellt sich nicht bewusstgegen ihn, sondern versucht – wie Ge-nerationen von Frauen vor und nachihr – die gegensätzlichen Positionenzu verbinden, zu beschwichtigen undim Stillen den blutenden Jungen zuversorgen. So entlädt sich die aufge-staute Wut des Vaters über die Reak-tion seiner Familie allein gegen seineFrau; er fühlt sich von seinen beidenLiebsten hintergangen und schleudertLovis vom Jähzorn gepackt durch denSaal. Diese Szene diskreditiert offenplatte männliche Attituden und stärktdas Bild der beiden Frauen, die zwarkörperlich unterlegen, menschlich je-doch weit reifer sind als der Vater unddamit im Endeffekt den Ausgang desKonflikts entscheiden.13

    Im Verlauf des Romans durchlebtRonja eine offenkundige Wandlung:Aus dem kleinen, unmündigen undbehüteten Mädchen, das den Vater instiller Bewunderung liebt und zurMutter ein eher pragmatisches Ver-hältnis hat, wird eine junge Frau, diesich nach der katastrophalen Enttäu-schung über das Verhalten des Vatersvon diesem abwendet. Ronja entwi-ckelt ein eigenes Rechtsempfindenund orientiert sich mehr und mehr ander durch herbe Herzlichkeit und einunumstößliches Urvertrauen beste-chenden Mutter.

    Lovis, die als bonne sauvage ange-legte Matriarchin, erinnert durch zahl-reiche ihrer „ursprünglichen“ Eigen-schaften an bekannte weibliche Figu-ren der antiken Mythologie. CrommesInterpretationsansatz, der die heil-pflanzenkundige und Wolfslieder sin-gende Lovis in die Nähe der Hexenstellt, soll hier nicht übernommen wer-den, obwohl Cromme diese relativie-rend „als Repräsentant einer anderenAuffassung von weiblicher Gleichbe-rechtigung aufgrund gleichwertiger(zu Teilen überlegener) weiblicherStärke“(Cromme 288) definiert.

    Vielmehr könnte davon ausgegan-gen werden, dass die – für viele Leservermutlich unerwartete – Mächtekon-stellation in Ronja Räubertochter dervon Judith Butler elaborierten und aufdem Machtbegriff Michel Foucaultsfußenden Gendertheorie nahesteht.

    judith Butlers gendertheo-rie Die 1959 in Cleveland/ Ohio gebo-

    rene Poststrukturalistin Judith Butlererlangte durch ihre multidisziplinärenTheorien internationale Berühmtheit.Butler ist eine der angloamerikani-schen feministischen Wissenschaftle-rinnen, die zu Beginn der 1990er Jahreein Umdenken im bestehenden gesell-schaftlichen Rollendiskurs forderten.Mit ihrem 1990, knapp zehn Jahre

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    nach Veröffentlichung von Ronja Räu-bertochter, erschienenen Werk GenderTrouble: Feminism and the Subversion of

    Identity 14 stößt Butler bei vielen femi-nistischen Philosophinnen und Sozial-wissenschaftlerinnen auf dezidierteKritik und Ablehnung. Diese – als„konservativ“ zu bezeichnenden – Fe-ministinnen werfen Butler eine Schwä-chung des feministischen Subjekts vor.Tatsächlich lehnt sie diese Formulie-rung kategorisch ab.15 Butler sprichtsich für eine neue Lesart des BegriffsSubjekt aus, das nicht länger als Syno-nym zu den Begriffen Individuumoder Person verwendet werden solle.16

    Besonderen Stellenwert im WerkButlers hat die Auseinandersetzungmit den biologisch-geschlechtlichenUnterschieden zwischen Mann undFrau oder vielmehr einer Verneinungsolcher natürlichen Differenzen. Sieführt die Gedanken Simone de Beau-voirs weiter, die in Le deuxième sexeprovokant fragte, was eine Frau sei, obes überhaupt Frauen gäbe.17 Im Ver-ständnis Butlers sind sowohl das bio-logische Geschlecht als auch die Ge-schlechtsidentität rein diskursiv, wassie zu einer strikten theoretischenTrennung zwischen dem sozialen Ge-schlecht „Gender“ und dem biologi-schen Geschlecht „Sex“ veranlasst. DieAmerikanerin geht davon aus, dassder Zusammenhang zwischen biolo-

    gisch-körperlichem Geschlecht, Ge-schlechtsidentität und Sexualität kei-nesfalls kausal sondern durch histori-sche Praktiken, das heißt durch stän-dige Imitation eines als einmal typischmännlich oder weiblich festgelegtenVerhaltens entstanden sei.18

    Auf Astrid Lindgrens Ronja Räuber-tochter angewendet, könnte dieseTheorie einen neuen Zugang eröffnen:Wie bereits erwähnt, wächst Ronja imKreise der Räuberbande und ihrer El-tern auf, ohne Verbindung zu anderenMenschen. Die Mutter Lovis und derVater Mattis sind demzufolge Ronjaseinzige Rollenvorbilder, die sie nachButler imitieren würde, deren Verhal-ten sie sich zu Eigen machen müsste.Betrachtet man die Interaktion zwi-schen Birg und Ronja unter dieser Per-spektive, fällt auf, dass dieses Nachei-fern im Roman tatsächlich stattfindet.

    Ronja hat sich den etwas schroffen,aber dennoch nicht unherzlichen Um-gangston der Mutter angeeignet (vgl.Lindgren 55) und weiß sich auch imKontakt mit den erwachsenen Räu-bern wie Lovis zu behaupten. Sie übt– wie diese – durchaus Macht undEinfluss auf die Runde aus. Auch diepraktische, zupackende Seite der Älte-ren übernimmt Ronja (vgl. Lindgren101f.). Nach der durch den Umzug ineine alte Bärenhöhle vollzogenen fa-

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    miliären Abnabelung imitiert Ronjadie Mutter auch in ihrer Rolle als Part-nerin: „Ronja sah ihn an und lächelte.,Jetzt hast du wohl ganz und gar denVerstand verloren!’ Das sagte Lovismanchmal zu Mattis.“ (Lindgren 169)Auch in Birgs Verhalten scheint das –ebenfalls dem traditionellen Rollen-bild entgegengesetzte – Agieren seinerEltern durch. Wie Borka kann er sehraufbrausend und verstockt sein, gibtsich stark und männlich, wünscht sichaber vor allem Einigkeit (vgl. Lind-gren 169, 194). Auffallend ist jedoch,dass die Verhaltensimitation im analy-sierten Text dennoch auf das gleichge-schlechtliche Elternteil begrenzt ist.19

    Geht man folglich wie in Butlers Theo-rie davon aus, dass das weibliche (bio-logische) Geschlecht keineswegs auto-matisch die Rolle der Unterlegenenmit sich bringt, wird somit auch dieVariable der Macht in den Diskurs ein-bezogen.20

    Für Foucault ist die Macht eineuniverselle Größe, die in Familien,Freundeskreisen und öffentlichen In-stitutionen unter den beteiligten Sub-jekten ihre wechselseitige Wirkung ent-faltet (vgl. Ruoff 107). Entgegen derweitverbreiteten Annahme, Machtwürde von Menschen durch Hand-lung generiert, geht Foucault davonaus, dass Macht schon vorhanden istund so der Handelnde von ihr instru-

    mentalisiert wird und nicht umge-kehrt (vgl. Schneider 169). Für Butlerist Macht im Sinne Foucaults als schonvor der menschlichen Aktion vorhan-dene Größe zu betrachten (vgl. Butler1991, 55).

    Auch Lindgren stellt in Ronja Räu-bertochter die Größe der Macht überdie Kategorisierung durch Zweige-schlechtlichkeit. In Lindgrens Romansind sowohl die männlichen Charak-tere, als auch die weiblichen situations-bedingt mächtig – oder schwach. Mankönnte demnach festhalten, dass hierdie einzige Kategorie die Machtformist, welche die Figuren in Mächtigeund Unmächtige, nicht in Mann/ Fraueinteilt. Auffällig ist, dass alle binären

    Starke Ronja? Ausschnitt aus dem Covervon Ronja Räubertochter (Oetinger)

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    Paare des Romans, die verfeindetenRäubersippen, die Eltern-Kind-Verbindungen und auch die Ehepart-ner, nicht einseitig gezeichnet sind,sondern auch „intern“, das heißt cha-rakterlich, ausnahmslos diese Binaritätaus mächtig/ schwach und gut/ böseoffenbaren (vgl. Edström 294).

    Durch die Loslösung ihrer Figurenvon stereotypen Rollenschemata ver-mittelt Lindgrens Jugendroman einsehr weltoffenes, gesundes und imbesten Sinne postmodernes Ge-schlechterbild. Die Autorin selbst hatsich zeitlebens gegen die Unterstel-lung eines pädagogischen Mehrwertsihrer Romane gewehrt:

    Ich denke überhaupt nicht soviel. Ich schreibe einfach. DasEinzige, was ich mit meinen Bü-chern beabsichtige, ist, das Kindin mir selbst zufriedenzustellenund den Kindern ein Leseerleb-nis zu schenken. Ich versuchenicht, die Kinder, die meine Bü-cher lesen, bewusst zu erziehenoder zu beeinflussen; das Ein-zige, worauf ich zu hoffen wage,ist, dass sie den Kindern viel-leicht ein klein wenig zu einermenschenfreundlichen, lebens-bejahenden und demokratischenEinstellung verhelfen. (Tove 27)

    Da die Beeinflussung von Kindernund Jugendlichen durch Literaturnicht überschätzt werden kann, bleibtzu hoffen, dass Butlers Theorie in die-

    sem Fall den Weg über die literarischeAdaption in das Bewusstsein der ju-gendlichen und auch der erwachsenenLeserschaft fand, findet und findenwird. Ronja Räubertochter ist undbleibt, bald dreißig Jahre nach derErstveröffentlichung, ein hochaktuel-les Buch.

    Dorothée Brandt

    (*1981) promoviert

    nach ihrem Stu-

    dium in Franzö-

    sisch, Spanisch

    und Geschichte in

    Freiburg, Sevilla,

    Lissabon und

    Hamburg zurzeit zum Thema „Weiblich-

    keit und Heldentum im zeitgenössischen

    französischen und portugiesischen

    Drama“. Seit 2008 ist sie wissenschaftli-

    che Mitarbeiterin am Institut für Roma-

    nistik der Universität Hamburg. Sie hat

    eine sechsjährige Tochter.

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    Brandt Genderrelevanz der Macht

    Anmerkungen

    1„Wenn man begreifen möchte, was Astrids Kindheit so glücklich gemacht hat, dannmuss man die Kinder aus Bullerbü lesen, denn genauso ist es gewesen.“ (Ljunggren 18).2 Die Namensfindung ihrer Personen betrieb Lindgren auf ungewöhnliche Weise. „Wiesollte das Räubermädchen heissen? … [E]s gibt eine Lappenkote mit Namen Juronjau-rekote. Ich habe einfach zwei Silben herausgenommen: Ronja.“ (Ebenda 85).3 „… [D]ie gespaltene Burg auf der Klippe [erhebt sich wie] ein Symbol für die hasser-füllte Feindschaft zwischen der Mattis-Sippe und den Borkaräubern ….“ (Edström294).4 Deren jüngster Spross Birg wird im Laufe der Handlung erst zu Ronjas Vertrautem,dann ihr „Nennbruder“ (vgl. 80) und schließlich zum (platonisch) Geliebten.5 Dieser Beruf, im Falle des Mattis überdies Berufung, hat durch die amoralische Hand-lung außerdem eine eindeutig negative Konnotation und führt letztendlich zur Ent-fremdung zwischen Tochter und Vater.6 Ronja kann mit ihren elf Jahren, ihrem burschikosen Erscheinungsbild und furchtlo-sen Wesen nur gesondert betrachtet werden.7 So auch von Gabriele Cromme in ihrer Dissertation über die Darstellung von Frauenund Mädchen, Astrid Lindgren und die Autarkie der Weiblichkeit, Hamburg 1996.8 Mattis hat Birg gefangen und möchte damit den Auszug der Borkasippe aus derNordburg erzwingen. Als es am Höllenschuld zur „Verhandlung“ kommen soll,springt Ronja auf die Seite der feindlichen Räuber, um Birg zu schützen. Mattis, derRonjas Selbstlosigkeit gegenüber Birg als Verrat empfindet, bricht daraufhin für einigeZeit mit seiner abgöttisch geliebten Tochter.9 „Hier gibt es ein Ausleben von Leidenschaften wie nie zuvor bei Astrid Lindgren, eineSprengkraft, die in der Energie der Sprache spürbar ist, vor allem in den lustvollen Zu-sammensetzungen. Schimpfwörter wie „Lümmelgeschwätz“, „Haderlumpen“ ladendie Erzählung mit komischer Energie auf.“ (Edström 299).10 Er wird in einem Zweikampf gegen Ende des Romans sogar Borka besiegen undsomit zum Anführer der vereinigten Räuberbanden werden.11 „‚Lovis’, sagte er zu seiner Frau, ‚unser Kind muss lernen, wie es ist, im Mattiswaldzu leben. Lass Ronja hinaus!’ Schau an, hast du das endlich auch begriffen?’, sagteLovis. ‚Wenn es nach mir gegangen wäre, dann wäre sie schon längst draußen.’“(Ebenda 16).12 „‚Das will ich dir sagen’, schrie Ronja und schlug immer noch auf Mattis ein. ‚Rau-ben kannst du meinetwegen, Geld und alles mögliche Zeug, aber Menschen darfst dunicht rauben, denn dann will ich nicht länger deine Tochter sein.’“ (Ebenda 124).13 Erneut muss an dieser Stelle einer Einschätzung Crommes widersprochen werden,die das Verhalten Lovis´ als bewusste Konfrontation, ja Herausforderung des mit derGefangennahme Birgs Unrecht begehenden Mattis deutet (vgl. Cromme 330). Es kannvielmehr davon ausgegangen werden, dass sich die Mutter aus rein pragmatischenGründen einmischt, dass sie die Wunde säubern will, um eine Infektion zu verhindern,welche die Situation unnötig verschärfen würde. So hat sie anscheinend keine grund-sätzlichen Einwände gegen die Entführung des Kindes. Ein Hinweis darauf ist, dass sieden beleidigenden Begriff „Otterngezücht“, mit dem Mattis den Jungen bezeichnet, inihrer Antwort aufgreift (vgl. Lindgren 125).14 In diesem Aufsatz wird aus der 1991 im Suhrkamp Verlag erschienen ÜbersetzungDas Unbehagen der Geschlechter zitiert.

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    15 „Die feministische Kritik muss auch begreifen, wie die Kategorie ‚Frau(en)’ , das Sub-jekt des Feminismus, gerade durch jene Machtstrukturen hervorgebracht und einge-schränkt wird, mittels derer das Ziel der Emanzipation erreicht werden soll.“ (Butler17).16 „… Die Genealogie des Subjekts als kritischer Kategorie jedoch verweist darauf, dassdas Subjekt nicht mit dem Individuum gleichzusetzen, sondern vielmehr als sprachli-che Kategorie aufzufassen ist, als Platzhalter, als in Formierung begriffene Struktur.“(Butler 15f.). 17 Vgl. de Beauvoir 11. Die renommierte französische Schriftstellerin de Beauvoir istnur ein Jahr jünger als Astrid Lindgren. Ihre Lebensläufe haben kaum ‚Gemeinsamkei-ten, und dennoch sind beide Frauen über ihr respektives Oeuvre, vielleicht in Lind-grens Falle unbewusst, zu Vor(be)reiterinnen des Feminismus geworden.18 „… Wie einem Großteil der als postmodern etikettierten Denkrichtungen [geht esdarum] das Subjekt, wie auch den Körper, aus seinem ‘metaphysischen Gehäuse′ zubefreien, ihm seinen überhistorischen und einzigartigen Stellenwert zu nehmen.“ (Bu-blitz 13f.)19 Dies wiederum könnte durch Freuds vielzitierte Tiefenpsychologie, im Besonderendurch die Theorie zum Elektra-/ Oedipuskomplex erklärbar werden (vgl. Freud). 20 Macht gilt als Kernbegriff der Schriften des bekannten französischen Philosophen Mi-chel Foucault, auf den sich Butler in ihren Theorien beruft (vgl. Ruoff 146).

    LiterAturAngAben

    Beauvoir, Simone de., Le deuxième sexe. Paris 1949.Butler, Judith. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt 1991.---. Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung., Frankfurt 2001.Cromme, Gabriele. Astrid Lindgren und die Autarkie der Weiblichkeitt. Hamburg 1996.Edström, Vivi. Astrid Lindgren. Im Land der Märchen und Abenteuer. Hamburg 1997.Freud, Sigmund. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse 1856-1939. Frankfurt

    1999. Lindgren, Astrid. Ronja Räubertochter, Hamburg 1982.Ljunggren, Kerstin. Besuch bei Astrid Lindgren., Hamburg 1992..Schneider, Ulrich Johannes. Michel Foucault. Darmstadt 2004.Tove, Sylten. „Romeo und Julia im schwedischen Märchenwald.“ In: Dagen, Stock-

    holm, 9.19.9. 1981. S??Pohlmann, Sanna. Phantastisches und Phantastik in der Literatur. Zu phantastischen Kinder-

    romanen von Astrid Lindgren. Wettenberg 2004.Ruoff, Michael. Foucault-Lexikon. Paderborn 2007.