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Die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs Von Gerd Schultze-Rhonhof Start Die britisch-deutsche Rivalität 1900-1914 Die Französisch-deutsche Rivalität 1872-1914 Marokko-Krisen 1904 und 1911 Bagdadbahn 1900 - 1914 Sarajewo und Folgen Vertrag von Versailles Saar Abstimmung 1935 Rheinlandbesetzung 1936 Österreich-Anschluß Anschluß des Sudetenlandes Tschechoslowakei - Protektorat Anschluß Memelland Wirtschaftliche Kriegsgründe 1918-1939 Aufrüstung Polens Minderheiten 1920-1939 Polens Bündnispolitik Deutschland-Polen 1918-1939 Die Zuspitzung um Danzig 1939 Der Hitler-Stalin-Pakt 23.8.1939 Deutsch-polnische Verhandlungen vor Kriegsausbruch Hitlers Kriegsabsichten 1939 Zusammenfassung

Schultze Rhonhof,G. Die Vorgesch. d. 2. Weltkriegs

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Die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs

Von Gerd Schultze-Rhonhof

StartDie britisch-deutsche Rivalität 1900-1914

Die Französisch-deutsche Rivalität 1872-1914Marokko-Krisen 1904 und 1911

Bagdadbahn 1900 - 1914Sarajewo und FolgenVertrag von VersaillesSaar Abstimmung 1935

Rheinlandbesetzung 1936Österreich-Anschluß

Anschluß des SudetenlandesTschechoslowakei - Protektorat

Anschluß MemellandWirtschaftliche Kriegsgründe 1918-1939

AufrüstungPolens Minderheiten 1920-1939

Polens BündnispolitikDeutschland-Polen 1918-1939

Die Zuspitzung um Danzig 1939Der Hitler-Stalin-Pakt 23.8.1939

Deutsch-polnische Verhandlungen vor KriegsausbruchHitlers Kriegsabsichten 1939

Zusammenfassung

Die Ursachen, die zum Zweiten Weltkrieg führen, liegen wie bemalte Glasscheiben übereinander. Ganz klar sieht man nur das bunte Bild auf dem obersten, zuletzt aufgelegten Glas. Das Bild auf der nächsten, darunter liegenden Scheibe ist noch erkennbar, doch schon erheblich matter. Die Bilder auf den unteren, älteren Glasplatten schimmern nur noch ganz schwach durch, doch ihre Farben und Konturen sind noch immer ein Teil dessen, was man von oben sieht. So zeigt das Oberflächenbild, dass 1939

- Deutschland über Polen herfällt,

- Russland sich die Hälfte Polens raubt,

- Polen dabei nur das Opfer ist,

- Frankreich und England den bedrängten Polen helfen

- und die USA zu guter letzt die Helfer unterstützen und retten.Doch schon das Bild darunter - von 1920 an - zeigt die schweren Menschenrechtsverletzungen an den 11 Millionen Menschen der nichtpolnischen Minderheiten im Vielvölkerstaat Polen. Die Drangsalierung der Millionen von Ukrainern, Deutschen und Weißrussen in Polen nimmt 1939 Formen an, dass schon sie allein ein Kriegsgrund für die Sowjetunion und Deutschland gegen Polen hätten sein können. Zum Bild auf dieser zweitobersten Glasscheibe gehören außerdem der deutsch-polnische Streit um Danzig und um freie Verkehrsverbindungen durch den „polnischen Korridor“ ins damals vom Reich abgetrennte Ostpreußen und die noch offene sowjetische Rechnung für die Gebiete der Ukraine und Weißrusslands, die ihnen Polen 1920 abgenommen hatte. Auf einer weiteren Schicht darunter sind die Rüstungswettläufe der Amerikaner, Briten und Japaner ab 1920 erkennbar, die Rüstungsaufholjagd der Sowjets ab 1930, die von den Franzosen bis 1933 blockierten Genfer Abrüstungsverhandlungen und dann die deutsche Wiederaufrüstung ab 1934. Aus den Schichten tieferer Gläser schimmern noch die Demütigungen bis oben durch, die die Siegermächte 1920 den Deutschen, den Österreichern und den Ungarn durch „Versailles“ und die entsprechenden Verträge bereitet hatten, die Kriegsvorbereitungen der Briten ab 1906 gegen das kaiserliche Deutschland die Rache der Franzosen für ihre 1871 erlittenen Gebietsverluste und die Demütigung der Polen bei

den drei Teilungen ihres Staates aus der Zeit davor. Dieses alles und viel anderes mehr zeigt 1939 Wirkung.

Die folgenden Seiten sollen einen raschen Überblick über dieses schicksalshafte Kapitel deutscher Geschichte verschaffen. Die Einzelthemen widmen sich daher allein den Vorkriegsjahren und bieten Stoff für das Erstellen von Schularbeiten, Hausaufgaben, Seminar- oder Magisterarbeiten. Sie sind dem Schüler, der ein Referat vorbereitet, genauso ans Herz gelegt, wie dem Studenten, der sein Studium vertiefen, oder dem Lehrer, der sein Wissen erweitern möchte. Einen ausführlichen Überblick über den Inhalt dieser Seite finden Sie unter dem Menüpunkt "Zusammenfassung". (Am Ende)

Die britisch-deutsche Rivalität 1900-1914

Viele englische Politiker z. B. die Premierminister Winston Churchill und John Major sahen den Ersten und den Zweiten Weltkrieg als eine historische Einheit, in der es um die Vorherrschaft in Europa ging. Sie sprachen deshalb auch von einem „Zweiten Dreißigjährigen Krieg“ von 1914 bis 1945. Ich will dieser plausiblen Logik folgen.

Eine der Ursachen für den Zweiten Weltkrieg liegt in der deutsch-britischen Rivalität, die sich seit etwa der Jahrhundertwende von 1900 entwickelt. Mit der deutschen Einigung von 1871 entsteht ein Wirtschaftsraum von erheblicher Dynamik. Von 1880 bis 1907 zum Beispiel vervierfacht Deutschland seine Steinkohleförderung und schließt damit fast zu England auf. An Stahl erzeugt Deutschland 1907 bereits doppelt so viel wie man in England produziert. Dementsprechend entwickelt sich auch der Außenhandel Deutschlands. Obwohl London 1887 mit der „Merchandise marks act“ den Versuch macht, deutsche Exporte mit dem Verbraucherwarnhinweis „Made in Germany“ einzudämmen, wächst der deutsche Außenhandel von 1887 bis 1907 um 250 Prozent, während der englische in den gleichen 20 Jahren nur um 80 Prozent steigt. Auch Frankreich wird in diesem Zeitraum wirtschaftlich von Deutschland abgehängt. Damit ist für England die „balance of power“ auf dem Kontinent bedroht.

In Kenntnis dieser Entwicklung argwöhnt man in England, Deutschland strebe danach, ganz Europa zu beherrschen. Deutschlands Wirtschaftsaufstieg und seine Konkurrenz werden in England vor dem Ersten Weltkrieg als Bedrohung angesehen. So bemühen sich die englischen Regierungen seit 1904, das Deutsche Reich auf dem Feld der Außenpolitik zu isolieren.

Am 1. Januar 1907 verfaßt ein Beamter des englischen Außenministeriums, Sir Eyre Crowe, eine Denkschrift, in der er schreibt, nun und in Zukunft hieße der einzige potente Gegner Englands Deutschland. Die Deutschen strebten mit Konsequenz und Energie nach der Vorherrschaft in Europa. Sie werden zum Schluß Groß Britannien zerbrechen, um sich an seinen Platz zu schieben.

Englands Vertragspolitik

England und Frankreich schließen 1904 eine „Entente cordiale“, mit der sie zunächst nur ihre kolonialen Interessen koordinieren. Doch 1906 schon vereinbaren die Kriegs- und Außenminister beider Staaten, die Militäraktionen beider Länder für die Zukunft aufeinander abzustimmen. 1911 sagt der englische Generalstabschef dem französischen Kollegen sechs Heeresdivisionen für den Fall eines Kriegs mit Deutschland zu. So legt sich England gegen Deutschland fest, ohne daß von letzterem auch nur die leiseste Drohung mit einem Kriege ausgegangen wäre. Und Frankreich kann ab 1911 mit Englands Hilfe rechnen, und im Falle einer Spannung mit Deutschland dementsprechend pokern.

Im August 1907 schließen England und Russland einen Vertrag, in dem sie ihre „Einflußzonen“ in Afghanistan und Persien markieren. Bereits im November 1907 reist der Oberbefehlshaber des englischen Heeres nach Sankt Petersburg, um dort mit russischen Generalen und Ministern über weit mehr als nur Afghanistan und Persien zu sprechen. Er legt den Russen nahe, ihre Truppen an der Westgrenze gegenüber Deutschland zu verstärken. So zieht Großbritannien auch hier die Fäden gegen Deutschland, das außer Wirtschaftsexpansion zu der Zeit keine anderen, vor allem keine territorialen Ziele hat.

Das Flottenwettrüsten

Ein verhängnisvolle Fehler, den Deutschland gegenüber Englands Machtanspruch begeht, ist es, den eigenen Aufschwung mit einer maritimen Komponente zu versehen. Kaiser Wilhelm II. läßt ab 1898 eine Flotte bauen, die über die bisher betriebene Küstenverteidigung hinaus die Handels- und Überseeverbindungen bei internationalen Krisen oder im Verteidigungsfall vor Unterbrechungen schützen soll. Der deutsche Flottenbau soll sowohl Deutschland befähigen, im Rennen der modernen Staaten um Märkte und Einfluß in der Welt Schritt zu halten als auch, eine neue Position gegenüber England aufzubauen. Deutschland will damit erstens seine Fischfangflotte vor den rüden Übergriffen der englischen Fischer schützen. Es will zum zweiten seinen Im- und Export über See und

damit einen Großteil seiner Wirtschaftsadern von Englands „Gnaden“ lösen. Deutschland will sich zum dritten militärisch gegen Englands Flotte sichern, dabei vor allem gegen deren Seeblockademöglichkeiten. Und die deutsche Politik hofft viertens, mit einer angemessenen Flotte ein interessanter Bündnispartner für Großbritannien zu werden. Admiral von Tirpitz und die Marineleitung entwickeln die Vorstellung, daß eine deutsche Kriegsmarine in Stärke von etwa 60% der englischen der Königsweg zur Lösung der vier gesteckten Ziele ist: dem Schutz der Nordsee-Fischerei, des eigenen Handels auf den Meeren, dem Schutz vor Seeblockaden und der Bündnisfähigkeit mit England. Mit einer solchen 60%-Flotte kann man nach Tirpitz’ Überzeugung Englands Sicherheit und Seeherrschaft nicht in Wirklichkeit gefährden. Außerdem, so kalkulieren Admiral von Tirpitz und der Kaiser, könnte Großbritannien im Falle eines Krieges mit seinen zwei Kolonialrivalen Frankreich und Rußland, die nach England die nächststarken Marinen unterhalten, ein Interesse an einem Bündnis mit dem flottenstarken Deutschland haben. Doch diese Rechnung geht nicht auf.

Das rasche deutsche Wirtschaftswachstum und die deutsche Handelskonkurrenz auf dem Festland und in Übersee lassen sich nicht mit einem Krieg bekämpfen, ohne dabei den Makel der Schuld an einen solchen Krieg zu übernehmen, es sei denn, man spielt die Kriegsschuld Deutschland zu. So wird der deutsche Flottenbau in Englands öffentlicher Meinung zu einem Kriegsgrund aufgebaut und Deutschland unterstellt, nach Weltherrschaft zu streben.

Englands Feindbild

Erkennbar wird die deutsch-englische Entfremdung auch an dem Wandel des Bildes, das die Historiker in England von der Geschichte ihres deutschen Nachbarn zeichnen. Politisch im besonderen wirksam ist das Bild, das sich die englischen Historiker von Preußen machen. Bis etwa 1910 beherrschen die für ihre Zeit sehr liberalen, effizienten und auf die Rechte ihrer Bürger achtende Preußenkönige, das tüchtige Militär und der Patriotismus von Steins und Hardenbergs die Szene. Danach verkehrt sich das bis dahin so positive Preußenbild in das Image eines Preußen als Hort der Unfreiheit, der Obrigkeitshörigkeit, des Militarismus und der Gewalt.

Dies Preußen wird pars pro toto mit ganz Deutschland gleichgesetzt und stellt als solches in den Augen vieler britischer Historiker den Gegensatz zum positiv gesehenen liberal-parlamentarischen England dar. Der „Teutone“, vor Jahrzehnten noch Ahnherr der Deutschen und der Briten, wird im Ersten Weltkrieg sogar zum Schimpfwort für die Deutschen, und das Preußentum zur „Bedrohung der Zivilisation“. Der Unterstaatssekretär im Londoner Außenministerium Sir Charles Hardinge schreibt in einer Denkschrift vom 30. Oktober 1906:

„Man muß ganz allgemein zur Kenntnis nehmen, daß Deutschland infolge seiner ehrgeizigen Pläne für eine Weltpolitik, eine maritime Vorherrschaft und eine militärische Vorherrschaft in Europa der einzige Störfaktor ist.“

Die Marokkokrisen und der Bau der Bagdadbahn

Englands klare Position an Frankreichs Seite und gegenüber Deutschland zeigt sich 1904-06 und 1911 in den zwei Marokkokrisen und ab 1900 beim Bau einer deutschen Eisenbahn nach Bagdad im Irak. In Marokko versucht Frankreich, dieses bis dahin souveräne Land in sein Kolonialreich einzugliedern, was die deutschen Handelskonzessionen und Bergbaurechte dort gefährdet. Frankreich bricht mit diesem Vorgehen zwar einen Vertrag von 1880, doch England steht trotzdem auf Frankreichs Seite und antwortet auf die Entsendung eines kleinen deutschen Kriegsschiffs nach Agadir mit der Drohung, notfalls mit Frankreich gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen. Es geht England offensichtlich darum, Frankreich als Gegenkraft zu Deutschland stark zu machen, und es geht um die ernst gemeinte Warnung, der deutschen Konkurrenz bei weiterer Rührigkeit mit Krieg ein Ende zu bereiten.(Einzelheiten dazu siehe unter dem Stichwort „Marokko-Krisen)

Ein weiterer Reibungspunkt zwischen Berlin und London bildet sich beim Bau einer Eisenbahn in die Türkei, mit der sich Deutschland zunächst den Wirtschaftsraum Kleinasien erschließt. Als etwa 1900 der Bahnbau in Richtung Bagdad fortgesetzt wird und zu der Zeit Erdöl beiderseits der Trasse im Raum Mossul entdeckt wird, gerät Deutschland unversehens in Konflikt mit Englands neuen Ambitionen auf die Erdölfelder in Persien, Irak und Kuwait.

(Einzelheiten dazu siehe unter dem Stichwort Bagdadbahn )

So gibt es 1914 , als sich nach dem Mord an Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo der Konflikt zwischen Serbien und Habsburg entzündet, zahlreiche Großmächte, die sofort Partei ergreifen und sich auf der einen wie der anderen Seite hinter die beiden Kontrahenten stellen: Russland und Frankreich hinter Serbien und Deutschland hinter Österreich. England hatte mehrmals vorher angekündigt, im Falle eines Krieges Frankreich gegen Deutschland auf der Seite der Franzosen gegen Deutschland mitzukämpfen. Trotzdem gibt es für einen kurzen schicksalsschweren Augenblick die Chance, daß Großbritannien dem Ersten Weltkrieg fernbleibt. ( Siehe dazu unter Stichwort Sarajewo und die Kettenreaktion ) Doch Großbritannien erklärt dem Deutschen Reich den Krieg. Die Briten bringen hohe Opfer und entgehen einer Niederlage nur Dank des Kriegseintritts der USA auf ihrer Seite im Jahre 1917.

Welche Ziele konnten es dann wert sein, die Männer Englands 1939 erneut in einen Weltkrieg gegen Deutschland marschieren zu lassen? 1919, wenige Monate nach Ende des Ersten Weltkriegs, findet sich dazu in der angesehenen britischen Tageszeitung „TIMES“ folgende, verblüffend ehrliche Notiz: „Wenn Deutschland in den nächsten 50 Jahren wieder Handel zu treiben beginnt, ist dieser Krieg umsonst geführt worden .“

Die französisch-deutsche Rivalität 1872-1914

Elsaß-Lothringen

Die Spannungen zwischen Deutschen und Franzosen, die das Verhältnis beider Völker 1914 prägen, haben tiefe Wurzeln. Schon 1555 beginnen die Könige von Frankreich, ihr Staatsgebiet nach Osten zum Rhein hin auszudehnen. Sie nutzen innerdeutsche Streitigkeiten und den Druck der Türken auf das Reich, um sich zuerst die deutschen Festungsstädte Metz, Toul und Verdun, dann zehn elsässische Städte, dann Teile Lothringens und zum Schluß das ganze Elsaß anzugliedern. Die deutsche Muttersprache der Elsässer Bevölkerung ist den Franzosen dabei kein Hinderungsgrund. Der französische Versuch, dann auch noch das damals

deutsche Luxemburg zu annektieren, mißlingt jedoch. Im 30jährigen und im Pfälzischen Krieg nutzt Frankreich die Gelegenheiten, in Deutschland einzudringen und in Kurpfalz und Baden-Durlach ein Gebiet von 160 Kilometer Länge und etwa gleicher Breite einzuäschern. Dörfer, Felder, Weinberge und Städte werden abgebrannt, dabei Heidelberg, Worms, Bingen, Mannheim, und Speyer. Die Franzosen schaffen damit einen Ödlandgürtel, der verhindern soll, daß die Annexion des Elsaß je von deutschem Boden aus rückgängig gemacht werden kann. Der Vandalismus der Franzosen in der Pfalz hinterläßt in Deutschland ein Frankreichbild, das bis zum Zweiten Weltkrieg mit dem bösen Wort vom Erbfeind in Erinnerung bleibt. In Norddeutschland ist es die französische Besatzungszeit der Jahre 1806 bis 13, die mit hohen Kontributionen, Steuerlasten, Einquartierungen und dem Zwang, an Napoleons Kriegen teilzunehmen, ein unangenehmes Bild der Franzosen hinterläßt.

1870 versucht Frankreich ein weiteres Mal, sich das damals deutsche Luxemburg, die Pfalz und das Saarland anzugliedern und seine Grenze zum Rhein hin vorzuschieben. Es verursacht, erklärt, beginnt und verliert den Krieg mit Deutschland und muß dafür mit der Abtretung Elsaß-Lothringens bezahlen. Deutschland seinerseits zahlt mit dem Haß der Franzosen und damit, daß Frankreich nun ein neuer Kriegsgrund gegen Deutschland bleibt. Der Wechsel Elsaß-Lothringens zwischen beiden Nachbarländern ist stets ohne das Votum der Betroffenen erfolgt. Volksabstimmungen zur Zugehörigkeit sind 1681, 1766 und 1871 noch nicht üblich. 1872 kann die Bevölkerung „optieren“. 10,3% bekennen sich zu Frankreich und 5 % wandern dorthin ab. Doch die Stimmung in beiden Landesteilen bleibt lange pro-französisch.

Frankreich sucht sich rechtzeitig Verbündete, um Elsaß und Lothringen bei Gelegenheit zurückzuholen. 1894 schließt es den Zweibund mit Rußland. 1912 gibt Präsident Poincaré der russischen Regierung die Zusicherung, daß Frankreich Rußland militärisch unterstützen werde, gleichgültig, ob Rußland angegriffen werde oder selbst den Krieg beginne. Frankreich schließt 1904 die „entente cordiale“ mit Großbritannien und holt sich 1911 die Zusage Englands auf Heeresunterstützung für den Fall des Krieges mit dem Deutschen Reich. Damit stehen Frankreich zwei mächtige Verbündete zur Seite, Großbritannien und Russland.

Die Rivalität in den Kolonien

Neben dem Elsaß-Streit ist es der Wettlauf um die letzten „offenen“ Kolonien, der die französisch-deutsche Nachbarschaft vergiftet. Das Rennen um die Kolonien ist um die Jahrhundertwende 1900 weltweit noch voll im Gange. Bei dieser Jagd nach Überseegebieten kommt Frankreich in Marokko in Konflikt mit Deutschland. 1880 waren im Vertrag von Madrid dem Sultan von Marokko die Souveränität in Tanger und Deutschland freie Handelsrechte im ganzen Land zugesichert worden. Als Paris versucht, sich auch das Gebiet von Tanger anzueignen, will die deutsche Reichsregierung den französischen Vertragsbruch und den eigenen Nachteil so nicht schlucken. Kaiser Wilhelm II. begibt sich persönlich mit seiner Yacht nach Tanger und protestiert dort in Absprache mit der Reichsregierung gegen das französische Bemühen, ganz Marokko inklusive Tanger „friedlich zu durchdringen“, wie das die Franzosen nennen. Das Ergebnis dieser Intervention in der Ersten Marokko-Krise von 1904 bis 05 ist ein deutsch-französischer Vertrag, in dem sowohl das „besondere politische Interesse“ Frankreichs an Marokko anerkannt als auch Deutschland eine Beteiligung an der wirtschaftlichen Erschließung des Landes zugestanden wird. Doch der Kompromiß ist nicht einmal ein halber Sieg. Dafür ist der Preis zu hoch. Deutschland rutscht mit dem Marokko-Streit in eine internationale Isolation, die sich bis 1914 nicht mehr löst. Deutschland besteht zwar mit Recht auf dem noch gültigen Vertrag von Madrid, aber England und Italien stellen sich hinter Frankreich, weil sie sich dafür vorher freie Hand für eigene koloniale Pläne eingehandelt haben. So bleibt der Kompromiß um Marokko eher ein Sieg für Frankreich.

1911 in der Zweiten Marokko-Krise geht der nächste Punkt an Frankreich. Die französische Regierung läßt Marokko unter dem Vorwand, dort bei inneren Unruhen für Ordnung sorgen zu müssen, von eigenen Truppen besetzen. Paris erklärt Marokko zu seinem Protektorat, was nichts anderes bedeutet, als daß nun auch Marokko zu Frankreichs Kolonien zählt. Was folgt, ist in der Schilderung des deutsch-britischen Verhältnisses zum Teil bereits erwähnt. Das deutsche Kanonenboot Panther läuft Agadir an. Deutschland verlangt von Frankreich Kompensation im Kongo und erhält für den Verlust des deutschen Handels in Marokko ein Stück Französisch Kongo, das Deutsch Kamerun als Grenzland zugeschlagen wird. Ein

bedeutungsloser Landgewinn drei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Viel schwerer wiegt dagegen der Ärger der Franzosen über Deutschlands neue Konkurrenz in Afrika.

So schieben sich in Frankreich viele Gründe aufeinander, mit Deutschland abzurechnen. Es ist der Wille, Elsaß und Lothringen wiederzugewinnen. Es ist der Ärger über den kolonialen Mitbewerber Deutschland, und es ist die Sorge, daß der deutsche Nachbar als Land- und neue Seemacht weiter stärker werden könnte. In Deutschland ist man sich zwar des tiefen Grolls bewußt, den die Franzosen wegen des Verlusts von Elsaß und Lothringen hegen, aber ein Gefühl von Unrecht hat man in Deutschland deshalb nicht. Landabtretungen nach verlorenen Kriegen sind damals üblich. Und die eroberte Bevölkerung ist nach der Muttersprache überwiegend deutsch. Vor dem Ersten Weltkrieg sprechen im Elsaß und in Lothringen immerhin noch 1,3 Millionen Bürger Deutsch; Französisch dagegen nicht ganz 200tausend. Aus deutscher Sicht werden Elsaß und Lothringen deshalb auch nicht als Anlaß für den Krieg begriffen. Der liegt für jedermann erkennbar 1914 auf dem Balkan. Die furchtbare Rache, die die Franzosen nach dem Kriege an den Deutschen nehmen, stößt deshalb in Deutschland auch auf kein Verständnis. Hitler wird vom Unmaß dieser Rache profitieren.

Die Marokko-Krisen 1904 und 1911

Deutsch-französische Handelsrivalität in Marokko

Englands klare Position an Frankreichs Seite zeigt sich 1904 und 1911 in den sogenannten zwei Marokkokrisen. In beiden geht es darum, daß Paris versucht, seinen Einfluß auf Marokko auszudehnen, und daß es dabei den Vertrag von Madrid von 1880 bricht, in dem die Souveränitätsrechte des Sultans von Marokko und deutsche Handelskonzessionen festgeschrieben worden waren.

Die Erste Marokkokrise

Die erste dieser beiden Krisen entsteht, als 1904 ein französisch-englischer Geheimvertrag bekannt wird, in dem die Briten den Franzosen die

alleinige "friedliche Durchdringung Marokkos" überlassen. Paris sichert London dafür "freie Hand in Ägypten" und 30 Jahre Handelsfreiheit in Marokko zu. Die deutsche Reichsregierung glaubt nun, ihre in Madrid verbrieften Wirtschaftsrechte und die Hoheitsrechte des Sultans durch einen Einspruch erhalten zu können. Kaiser Wilhelm II. , 1905 gerade mit seiner Yacht im Mittelmeer auf Reisen, läuft in Absprache mit der Reichsregierung den Hafen Tanger an und verlangt vor Ort demonstrativ die Einhaltung der Vertrages von Madrid.

Die an Marokko interessierten Mächte legen daraufhin 1906 den Konflikt auf einer Konferenz in der südspanischen Stadt Algeciras bei. Nach der Akte von Algeciras darf Frankreich Marokko fortan "friedlich durchdringen" und Deutschland bekommt die "offene Tür" für seinen Marokko-Handel zugestanden.

Die Zweite Marokko-Krise und der Panther-Sprung nach Agadir

Die Zweite Marokkokrise von 1911 - drei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg - geht mit dem „Panthersprung“ in die Geschichte ein. Der Vorfall zeigt, daß Großbritannien schon jetzt bereit und willens ist, selbst um eine Nichtigkeit wie diese in einen Krieg mit Deutschland einzutreten. 1911 nimmt Paris den zweiten Anlauf innerhalb nur weniger Jahre, Marokko in sein Kolonialreich einzugliedern. Das Außenministerium in Berlin, aus Angst, den deutschen Handel und die Bergbaukonzessionen in Marokko zu verlieren, weist ein deutsches Kriegsschiff namens Panther an, den Hafen von Agadir außerhalb der französischen Besatzungszone anzulaufen und dort zur Wahrung deutscher Interessen „Flagge“ zu zeigen. Die „Panther“, ein kleines Mehrzweckschiff zum Fluß- und Küstendienst in deutschen Kolonien, ist zu der Zeit reif zur Überholung und deshalb auf dem Rückweg von Westafrika zur Werft in Deutschland. Es läuft Kurs Casablanca, um dort Kohlen für die Weiterfahrt zu bunkern, wird aber vorher umgeleitet. So legt die Panther fast ohne Treibstoff und reif für die Instandsetzung am 1. Juli 1911 in Agadir im Hafen an. Die englische Regierung bewertet das sogleich als gewaltsame Demonstration deutscher Macht in Übersee und unterstellt der Reichsregierung, sie wolle einen deutschen Kriegshafen in Agadir anlegen lassen. Die britische Regierung fordert die deutsche zur Stellungnahme auf, doch ehe diese eingeht, bezieht sie selber Stellung. Ein Teil der Royal Navy wird mobil gemacht, der Kohlevorrat für die Schiffe der Marine wird ergänzt, und

Schatzkanzler Lloyd George erklärt am 21. Juli im Namen der englischen Regierung, „daß sein Land im Falle einer deutschen Herausforderung an der Seite Frankreichs in den Krieg ziehen werde.

Die Regierungen in London und Paris hatten sich offensichtlich 1904 bereits ohne Wissen der Regierung in Berlin darauf verständigt, daß Marokko französisches Interessengebiet sei und daß England dafür freie Hand in Ägypten und Sudan bekomme. Da stören deutscher Handel und deutsche Bergbaurechte in Marokko. Doch ein Streit zwischen den Franzosen und den Deutschen um ein paar deutsche Rechte in Marokko und das Erscheinen eines kleinen Kolonialdienstschiffes sind an sich kein Grund, mit Krieg zu drohen. Es geht England erneut darum, Frankreich als Gegenkraft zu Deutschland stark zu machen und es geht um die ernst gemeinte Warnung, der deutschen Konkurrenz bei weiterer Rührigkeit mit Krieg ein Ende zu bereiten.

Im Deutschland der Jahre 1914 und 1918 begreift noch kaum jemand den Aufstieg des eigenen Landes in Industrie und Handel als Grund für einen Krieg. Auch solche Krisen, wie die beiden in Marokko, bei denen Deutschland lediglich versucht, ein letztes Stück vom kolonialen Kuchen abzukriegen, hinterlassen bei den Deutschen kein Gefühl von deutscher Schuld. Sie nähren höchstens die Befürchtung, sich in der Welt zu isolieren. Schließlich hat das Deutsche Reich - anders als das Britische Imperium der letzten 20 Jahre - kein anderes weißes Volk angegriffen und ihm Kolonien abgejagt.

Die Bagdadbahn 1900-1914

Das Osmanische Reich als Wirtschaftsraum für Deutschland

Deutschland tritt auch im Nahen Osten als neuer Konkurrent für England auf; zunächst im Handel und ein paar Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs auch bei dem Versuch, die frisch entdeckten Erdölquellen des damals noch osmanischen Irak zu nutzen. Ab 1888 , schon zehn Jahre bevor das englische Interesse für die Golf-Region erwacht, bemühen sich deutsche Industrielle und Bankiers, das Osmanische Reich als Wirtschaftsraum für Deutschland zu erschließen. Die deutschen

Aktivitäten in dieser Richtung – zunächst ohne weitere außenpolitische Bedeutung – werden zu einem Tanz auf dem Vulkan, sobald man zwischen Mossul und Kuwait Erdöl entdeckt.

Bis zur Jahrhundertwende um 1900 fördern nur die USA, Mexiko und Rußland Erdöl in nennenswerten Mengen. Die neue Energie verändert schnell die Technik. Ab 1870 schon gibt es Schiffe, die mit Erdölfeuerung statt mit Kohle fahren, wodurch sich der Aktionsradius solcher Schiffe vervierfacht, was für die Handelsflotten und die Kriegsmarinen ein epochaler Fortschritt ist. Als 1883 der Benzinmotor und 1893 der Dieselantrieb erfunden werden, bekommt der Besitz von Erdölquellen endgültig wirtschafts- und gegebenenfalls auch kriegsentscheidende Bedeutung.

Das britische Protektorat Kuwait

Die Seemacht England – um das Jahr 1900 noch ohne eigene Erdölquellen – bemüht sich zu der Zeit, im damals osmanischen Irak und in Persien Fuß zu fassen und sich die dort gerade erst entdeckten Erdölvorkommen zu sichern. 1899 schließen die Briten mit dem Scheich von Kuwait einen Vertrag, in dem der verspricht, daß weder er noch seine Erben jemals Verträge über die Niederlassung dritter Mächte in Kuwait unterzeichnen werden. 1901 entsendet London Kriegsschiffe nach Kuwait und zwingt die osmanische Regierung, zu deren Reich Kuwait gehört, ein britisches „Protektorat“ über das Scheichtum Kuwait zu akzeptieren. 1913 läßt sich England außerdem die dortigen Erdölförderkonzessionen gegen Geldgeschenke vom Scheich von Kuwait übertragen. Im selben Jahr kauft die Londoner Regierung die Aktien-mehrheit an der persischen Erdölgesellschaft. Als Folge der Erwerbungen in Persien und des „Protektorats“ über das damals noch osmanische Kuwait betrachtet England die Golf-Region schon bald nach der Jahrhundertwende als seine wesentliche Einfluß- und Interessensphäre.

Die Anatolische Eisenbahn

Zehn Jahre bevor die Briten Kuwait für sich entdecken – nämlich 1889 – beginnen deutsche Unternehmer und Bankiers ein wirtschaftliches Großprojekt in gleicher Richtung, den Bau der Eisenbahn von Istanbul nach Ankara. Die deutsch-türkische Zusammenarbeit trägt Früchte, und

1890 schließen die deutsche und die osmanische Regierung einen Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag, der drei Jahre später dazu führt, daß der osmanische Sultan Abdul Hamid II. der Deutschen Bank anbietet, eine weitere Strecke von Eskischehir nach Konya zu bauen. 1896 ist die Bahn bis Konya fertig. Noch ahnt niemand, daß sie in eine Richtung läuft, in der in Kürze Öl gefunden wird. 1898 bietet Abdul Hamid II. Kaiser Wilhelm II. an, daß deutsche Firmen die Bahn von Konya über Bagdad bis Basra und an den Persischen Golf ausbauen. Als 1903 jedoch der Bau der Bagdadbahn beginnt, sitzen die Briten schon zwei Jahre mit Militär und Ölfachleuten in Kuwait, nur 100 Kilometer südlich von Basra, wohin die deutsche Bahn nach Fertigstellung führen soll.

Die Finanzierung der Bagdad-Bahn

Die deutsche Reichsregierung sieht bereits sehr früh, daß das Bagdadbahn-Projekt ohne die Billigung der Regierungen in London und Paris zu Schwierigkeiten führen wird. Die Deutsche Bank weiß außerdem, daß die Bahn ohne englische und französische Kapitalbeteiligung so gut wie nicht zu finanzieren ist. So reist Kaiser Wilhelm II. schon 1899 zu seiner Großmutter Queen Victoria nach London, um sie zu bitten, daß sich Londons Banken am Bau der Bahn beteiligen. Auch die Deutsche Bank versucht, Kapital in Paris und London aufzutreiben. Es gibt jedoch in Frankreich nur ein geringes und in England gar kein Echo. Der englische Premierminister Lord Balfour sagt zwar zunächst die britische Beteiligung zu, doch er muß sie später widerrufen, weil das Unterhaus und Englands Presse den Bau der Bahn aufs Schärfste kritisieren. So bleiben die Mitfinanzierungen aus London und Paris gering. Statt dessen gibt es 1903 in Englands Presse eine äußerst heftige Kampagne gegen das deutsch-osmanische Projekt, die Bahn nach Bagdad, die letztendlich bis zum Golf von Persien führen soll.

Erdölkonzessionen entlang der Bagdadbahn

Die Trasse der Bagdadbahn führt über die Stadt Mossul, um die herum man um die Jahrhundertwende reichlich Öl entdeckt. 1912 überschreibt die türkische Regierung der Deutschen Bank die Konzessionen für alle Erdöl- und Mineralvorkommen 20 Kilometer beiderseits der Bahn bis Mossul als Kompensation für ihre Kosten beim Bau der Eisenbahn. So eröffnet sich für Deutschland mit der Bagdadbahn nicht nur die Erschließung eines

neuen Marktes, sondern auch die Aussicht auf ein reiches Erdölfeld zur eigenen Verfügung, was für seine industrielle und wirtschaftliche Entwicklung ausgesprochen wichtig ist.

Deutsch-englische Rivalität im Zweistromland

Deutschland ist im Begriff, sich mit der neuen Eisenbahn nach Bagdad und in die anatolische Türkei auch den Irak als Wirtschaftsraum zu öffnen. Das Mittel dazu, die alten Karawanen-routen zu modernen und leistungsfähigen Transportwegen auszubauen, bindet den Nahen Osten an Europa an. Was hier so positiv erscheint, hat jedoch zwei negative Seiten. Zum einen entwertet Deutschland damit Großbritanniens alten Seeweg in den Golf von Persien und das Transportmonopol, das England und die Niederlande bislang mit ihren Handelsflotten dorthin innehaben. Zum zweiten würde die Bahn, wenn sie bis Basra und an den Schat el Arab fertig würde, den Deutschen einen Festpunkt an Englands Seeweg vom Mutterland nach Indien bieten. Damit würde sich das Deutsche Reich dem Lebensnerv des kolonialen Weltreichs Großbritanniens nähern.

Daß dies in England Argwohn weckt, kann man in einer als Buch ( „The Serbs“ ) veröffentlichten Vortragsreihe des englischen Historikers Professor Laffan lesen, mit der dieser im Jahre 1917 die Offiziere des Britischen Beratercorps in Serbien über den strategischen Hintergrund ihrer Mission auf dem Balkan im Ersten Weltkrieg unterrichtet. Laffan sagt und schreibt:

„Deutschlands ... Grundidee war, ein eine Kette von verbündeten Staaten unter deutscher Vorherrschaft zu errichten, die sich von der Nordsee bis zum Golf von Persien erstreckt... Würde die Bahn Berlin-Bagdad fertiggestellt, wäre eine riesige Landmasse unter deutscher Herrschaft vereinigt worden, in der jeder erdenkliche wirtschaftliche Reichtum hergestellt werden könnte, die aber für eine Seemacht unangreifbar wäre. ... Die deutsche und die türkische Armee könnten leicht auf Schussweite an unsere Interessen in Ägypten herankommen und vom persischen Golf aus würde unser indisches Empire bedroht.“ ...: „Ein Blick auf die Weltkarte zeigt, aus welchen Gliedern sich die Kette der Staaten zusammensetzt, die zwischen Berlin und Bagdad liegen: das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei. Nur ein kleiner Gebietsstreifen verhindete, daß die beiden Enden der Kette

miteinander verbunden werden konnten. Dieser kleine Streifen ist Serbien. Serbien war in der Tat die erste Verteidigungslinie für unsere Besitzungen im Osten. ...“

So zieht sich ein roter Faden von der Bagdadbahn zum Ersten Weltkrieg.

Das Attentat von Sarajewo 1914 und die politischen Folgen

Der Reihe der Daten der langen und komplizierten Kettenreaktion vom Mord in Sarajewo bis zum Kriegsausbruch sei diese Kurzversion vorausgeschickt, um eine Übersicht zu geben.

Als 1914 ein bosnisch-serbischer Attentäter im bosnisch-österreichischen Sarajewo den Habsburger Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand ermordet, spitzt sich die Lage zwischen Habsburg und Serbien unversehens zu. Das Deutsche Reich stellt sich sofort in Bündnistreue hinter Habsburg. Die Regierung in Wien mißbraucht dies als Blankoscheck und überzieht ihre Drohungen und Ultimaten an das souveräne Serbien, zu dessen „Nutzen“ das Attentat begangen worden ist. Serbien holt sich Rückendeckung bei seiner Schutzmacht Rußland. Die wiederum versichert sich der Bündnistreue Frankreichs. Und das kann vereinbarungsgemäß auf die Hilfe Englands zählen. So stehen sich kurz nach dem Mord von Sarajewo Serbien, Rußland, Frankreich und England auf der einen Seite und Österreich-Ungarn und Deutschland auf der anderen Seite gegenüber. In dieser zugespitzten Lage schickt Österreich-Ungarn den Serben eine Kriegserklärung. Dem folgen Kriegsvorbereitungen in Frankreich und in Rußland. Als beide Staaten ihre Truppen mobilmachen und England das gleiche mit der Flotte tut, kommt das Deutsche Reich in Zugzwang, mobilisiert später aber schneller und greift als erstes Frankreich an. Dabei läßt die deutsche Heeresleitung einen Teil der Truppen durch das neutrale Belgien aufmarschieren. Daraufhin erklärt England dem Deutschen Reich den Krieg. Dem folgen Kriegserklärungen Englands, Frankreichs und Rußlands an die Türkei. Als nächstes klinkt sich Japan ein, das dem Deutschen Reich den Krieg erklärt,

um dadurch Deutschlands Kolonien im Pazifik zu erwerben. Und Italien - zunächst im Bund mit Deutschland und Österreich-Ungarn - wechselt 1915 auf die andere Seite, erklärt seinen Bündnispartnern ebenfalls den Krieg, um seine Grenzen von Süden her bis zum Kamm der Alpen vorzuschieben. So bleibt die Konstellation bis zum Kriegseintritt der USA im Jahre 1917. Es kämpfen Österreich-Ungarn, Deutschland und die Türkei gegen Großbritannien, Frankreich, Rußland, Japan und Italien. Die Balkanländer schlagen sich teils auf die eine und teils auf die andere Seite.

Die Kettenreaktion vom Juli 1914

28.06.1914 Ermordung des Habsburger Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo.

Danach: Die politischen und militärischen Spitzen des Deutschen Reichs, der Kaiser, der Reichskanzler, der Außenminister, der Generalstabschef und der Chef der Marineleitung treten ihren Sommerurlaub an, weil sie nichts Schlimmes vorhersehen. Die Presse wird gebeten, nichts über Kriegsgefahr zu schreiben.

23.07.1914

Habsburger Regierung stellt serbischer Regierung ein 48-Stunden-Ultimatum, jede antiösterreichische Hetzpropaganda in Serbien zu unterbinden, österreichische Organe bei der Terrorbekämpfung in Serbien zuzulassen und österreichische Beamte zu den gerichtlichern Untersuchungen des Sarajewo-Mordes hinzuzuziehen. Die letzten beiden Forderungen gehen der serbischen Regierung zu weit.

15.-25.07.

Englische Seekriegsleitung ordnet Mobilmachungsübung für die Flotte an. Nach Übungsende wird nicht demobilisiert, sondern die Flotte in Kriegsbereitschaft gehalten. Die Briten haben damit 14 Tage Vorsprung vor der deutschen Mobilmachung.

20.-23.07.

Französischer Staatspräsident Poincaré und sein Ministerpräsident Viviani in Sankt Petersburg. Sie bekräftigen den Französisch-Russischen Zweibund von 1894 gegen Deutschland und sichern den Russen ihre Bündnistreue für den Fall des Krieges zu. So steht dem Leichtsinn Wilhelms II. mit seiner Bündnistreueerklärung an Habsburg der gleiche Leichtsinn Poincarés mit solch einer Zusicherung an Rußland gegenüber.

25.07.1914

Russische Regierung beschließt, Serbien zu unterstützen. Sie gibt der serbischen Regierung ein Hilfsversprechen. Die lehnt daraufhin das Wiener Ultimatum mit einer teils abweisenden und teils entgegenkommenden Note ab und macht die serbische Armee mobil. Dem folgt noch am gleichen Abend die Teilmobilmachung der österreich-ungarischen Streitkräfte gegen Serbien.

25.07.1914

Kaiser Wilhelm II. liest den Text der serbischen Antwort vom 25. Juli 1914 Er urteilt: „... Damit fällt jeder Kriegsgrund fort. ... Daraufhin hätte ich niemals Mobilmachung befohlen“

26.-31.07.

Deutschland und England versuchen mehrfach zu vermitteln. London schlägt eine Balkankonferenz vor.

27.07.1914

Kaiser Wilhelm II. bemüht sich vergeblich, die Höfe in Petersburg und Wien zu bewegen einzulenken. Wien erklärt daraufhin lediglich, daß es bei diesem Streit mit Belgrad nicht die Absicht hege, serbisches Territorium zu erwerben.

28.07.1914

Habsburg erklärt trotz aller deutschen und englischen Bemühungen den Krieg an Serbien. Jetzt handelt auch der Hof in Petersburg. (siehe 29.07.)

Nacht 28. auf 29. 07.

Der deutsche Reichskanzler von Bethmann Hollweg versucht Englands Absicht für den Fall auszuloten, daß sich der Balkankonflikt auf Frankreich und Deutschland ausweiten sollte. Von Bethmann Hollweg bestellt den englischen Botschafter in Berlin, Sir Goschen, zu sich und erklärt ihm, daß Deutschland mit England Frieden halten wolle und im Falle einer Ausweitung des Krieges auf Frankreich keine Gebietserwerbungen auf französische Kosten beabsichtige. Von Bethmann Hollweg deutet an, daß Deutschland je nach Frankreichs Verhalten gezwungen sein könnte, Belgiens Neutralität für eine begrenzte Dauer zu verletzen. Auf die Frage nach Englands Haltung und Absicht antwortet Botschafter Sir Goschen, daß sich seine Regierung zu diesem Zeitpunkt noch nicht festlegen wolle.

29.07. und danach:

Der britische Außenminister Sir Grey beginnt ein Doppelspiel. Er informiert nacheinander den deutschen und den französischen Botschafter in London über Englands Haltung. Dem deutschen, Fürst Lichnowsky, teilt er mit, daß sein Land gedenkt, nur neutral zu bleiben, solange sich der Krieg auf Rußland und Österreich beschränkt. Wenn aber Deutschland und Frankreich in diesen Krieg hineingezogen würden, könne England nicht mehr lange abseits stehen. Den Franzosen, Botschafter Cambon, läßt er verklausuliert das gleiche wissen, so daß die französische Regierung mit Englands Waffenhilfe rechnen kann. Grey gibt Frankreich auf diese Weise diskret englisch zu verstehen, daß es im Streit der Russen, Österreicher und Serben freie Fahrt zum Krieg mit Deutschland hat. Es kann sich - das drückt Grey so aus - getrost in einen Krieg „hineinziehen“ lassen.

29.07.1914

Rußland mobilisiert 13 Armeekorps an den Grenzen zu Österreich-Ungarn. Am gleichen Tag bittet die Regierung in London die in Berlin, noch einmal in Wien zu intervenieren. Das britische Außenministerium teilt dabei aber bereits mit, daß England nur so lange neutral zu bleiben gedenke, wie Frankreich nicht am Krieg beteiligt sei. Das ist die erste leise Drohung an die Adresse Deutschlands, denn mit Österreich kann Großbritannien schließlich keinen Seekrieg führen. England steht „Gewehr bei Fuß“ gegen Deutschland, das verrät dieser frühe Hinweis auf die Bereitschaft, an der Seite Frankreichs Krieg zu führen. Das ist seit der Marokkokrise von 1911 die zweite Drohung in drei Jahren.

30.07.1914

Rußland macht generalmobil. Deutschland steht damit infolge des Vertrags mit Österreich-Ungarn automatisch gegen Rußland. Frankreich hat einen Vertrag mit Rußland und steht damit gegen Deutschland.

30.07.1914

General von Moltke, Chef des deutschen Generalstabs, sieht die militärische Gefahr, die aus dieser Krise für das Deutsche Reich erwachsen kann. Er drängt seinen österreichischen Kameraden, General von Hötzendorf, die Allgemeine Mobilmachung der Truppen Österreich-Ungarns zu beschleunigen. Am gleichen Tag rät Kanzler Bethmann Hollweg dem österreichischen Außenminister Graf Berchtold dringend, vom Krieg mit Serbien abzulassen. Das sind zwei gegenläufige Impulse. Auch an diesem Tag versucht Kaiser Wilhelm II. ein weiteres Mal, seinen angeheirateten „Vetter“ Zar Nikolaj II. vom Kriege abzubringen. Er bittet ihn eindringlich, die Teilmobilmachung vom Vortag zurückzunehmen. Der Zar lenkt zunächst ein, fügt sich dann doch dem Druck seines Außenministers und der Kriegspartei im eigenen Lande. Nun macht Rußland total mobil, das heißt, auch gegenüber Deutschland.

31.07.1914

Kaiser Wilhelm II. fordert die russische Regierung mit einem Ultimatum auf, die Mobilmachungsbefehle binnen zwölf Stunden zurückzuziehen, anderenfalls sei der Kriegszustand zwischen Deutschland und Rußland unvermeidlich. Die russische Regierung geht darauf nicht mehr ein. Sie hat den Angriff ihrer Truppen gegen Deutschland offensichtlich bereits angeordnet. Mit dieser so plötzlich eingetretenen Entwicklung steht Deutschland unversehens vor der Gefahr, zwischen zwei Fronten zu geraten. Die zwei großen Nachbarn im Osten und im Westen sind seit 1894 vertraglich gegen das Deutsche Reich verbunden. Ein Krieg nach zwei Seiten ist für Deutschland eine existentielle Bedrohung, zumal da Deutschland zu der Zeit noch immer nicht mobilgemacht hat.

31.07.1914

Berlin fragt deshalb in Paris an, wie Frankreich gedächte, sich in einer russisch-deutschen Auseinandersetzung zu verhalten. Paris hält Berlin hin und antwortet vieldeutig: „Man werde nach den französischen Interessen

entsprechend handeln“. Das kann Frieden heißen oder Krieg um Elsaß-Lothringen.

31.07.1914

In London weiß man, daß Deutschland nun in der Klemme steckt und zur eigenen Rettung höchstwahrscheinlich Belgiens Neutralität verletzen muß. Das ist Englands Eintrittskarte in den Krieg. Die britische Regierung fordert die deutsche und die französische auf, Belgiens Neutralität zu achten. Frankreich sichert das den Briten sofort zu; es plant ja, den Krieg am Oberrhein zu eröffnen. Deutschland fragt zurück, ob England seinerseits Neutralität und Frieden gegenüber Deutschland wahren werde, wenn es auf den Durchmarsch durch belgisches Gebiet verzichten würde. Nun hätte es England in der Hand gehabt, die Belgier vor dem deutschen Durchmarsch zu bewahren. Doch London, das seine Kriegserklärung an Berlin drei Tage später mit der deutschen Verletzung der belgischen Neutralität begründet, ist nicht bereit, dem Krieg, der sich zusammenbraut, zugunsten Belgiens fernzubleiben. London sagt auf diesem Höhepunkt der Krise weder Neutralität noch Frieden zu.

01.08.1914

Um 19 Uhr, nach Ablauf des deutschen Ultimatums an die Russen, überreicht der deutsche Botschafter in Sankt Petersburg die deutsche Kriegserklärung, und fast gleichzeitig überschreiten die ersten russischen Kavallerieverbände die deutsche Grenze in Ostpreußen. Die Entfernung zwischen Petersburg und der deutsch- russischen Grenze und der Dienstweg zwischen dem Hof des Zaren und den russischen Schwadronschefs in ihren Aufmarschräumen an der Grenze sind - vor allem damals - viel zu weit, als daß ein Angriffsbefehl binnen einer oder auch nur weniger Stunden von da nach dort hätte durchgegeben werden können. Der Befehl zum Angriff und damit zur Kriegseröffnung gegen das noch immer abwartende Deutschland ist in Sankt Petersburg ohne jeden Zweifel schon vor der deutschen Kriegserklärung erlassen worden.

01.08.1914

Die französische Regierung ordnet die Mobilmachung der Streitkräfte an. Deutschland hängt nun schon vier Tage hinter der Teilmobilmachung und drei Tage hinter der Generalmobilmachung in Rußland her und 17 Tage hinter der inoffiziellen Mobilmachung der englischen Flotte. Die Tage, in denen der Kaiser und die Reichsregierung versucht haben, zwischen Habsburg und Rußland zu vermitteln, fehlen nun für die eigenen Vorbereitungen auf einen Krieg.. Nach Eingang der schlechten Nachricht aus Paris versucht Berlin, das aufzuholen.

Daß die Befürchtungen des deutschen Generalstabs nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigt sich zu Kriegsbeginn, als sich erweist, daß Frankreichs Truppen nicht nur zur Verteidigung des eigenen Landes aufmarschieren, sondern von Anfang an auch für einen Angriff gegen Deutschland mit einer Offensive in Richtung auf den Oberrhein. Da Frankreich ab dem 1. August mobil macht, die Vorbereitungen zum Krieg trifft, offensichtlich darauf wartet, daß die deutschen Truppen in Richtung Rußland abmarschieren und sich weigert, seine Neutralität zu erklären, muß man in Deutschland damit rechnen, daß Frankreich losschlägt, sobald sich Rußland regt. So ist der strategisch schlimmste Fall für Deutschland eingetreten.

02.08.1914

Die deutsche Regierung fragt die belgische ultimativ um die Erlaubnis, Truppen durch belgisches Gebiet nach Nordfrankreich marschieren lassen zu dürfen. Berlin garantiert dabei die Unversehrtheit des belgischen Gebiets und sagt zu, dem Staat Belgien alle Durchmarschkosten zu bezahlen und etwaige Schäden zu ersetzen. Die belgische Regierung lehnt das ab. Inzwischen sind die Würfel in London längst gefallen. An diesem 2. August, noch ehe deutsche Truppen belgisches Gebiet betreten, gibt England die Mobilmachung seiner schon seit Mitte Juli kriegsbereiten

Flotte offiziell bekannt. Am gleichen Tag teilt der englische Außenminister Grey der französischen Regierung mit, daß die britische Flotte der französischen zu Hilfe kommen werde, falls die deutsche mit feindlichen Handlungen gegen die französische beginnen werde. Außerdem hatte England den Franzosen bereits1911 sechs Heeresdivisionen für den Fall des Krieges heimlich zugesagt. So ist Großbritannien am 2. August schon kriegsbereit und festgelegt. Wahrheitswidrig stellt sich Minister Grey am Tag danach, dem 3.8., vor das Unterhaus in London und erklärt den offensichtlich ahnungslosen Abgeordneten, England habe sich in Bezug auf den in Europa beginnenden Krieg bisher in keiner Weise festgelegt.

Die Nutzung belgischen Gebiets für einen eigenen Aufmarsch in einem befürchteten Krieg mit Frankreich oder sogar mit Frankreich und England ist auf deutscher Seite seit langem gedanklich in alle Verteidigungsvorbereitungen einbezogen worden. Der Große Generalstab geht von der Annahme aus, daß sich auch Engländer und Franzosen in einem Krieg nicht scheuen werden, gegen Deutschland durch Belgien, Luxemburg und Holland aufzumarschieren. (England hat 1906 versucht, Belgien aus seiner Neutralität zu lösen und in seine Kriegsvorbereitungen gegen Deutschland einzubeziehen.) So ist die komplizierte Aufmarschplanung der deutschen Heerestruppen für den Kriegsfall unter Einbeziehung des belgischen Eisenbahnnetzes vorgenommen worden. Dies vor allem deshalb, weil man sich deutscherseits die größten Erfolgschancen gegen das französische Heer durch eine Nordumfassung entlang der Kanalküste ausgerechnet hat. Und der Weg nach Nordfrankreich führt nun einmal durch Belgien. Dieser Aufmarschplan des Großen Generalstabs ist zwar außenpolitisch töricht und ihn dann auch noch gegen den Willen der belgischen Regierung durchzusetzen, ist ein Völkerrechtsverstoß. Doch militärisch verspricht der Plan Erfolg zum Schutz des eigenen Landes, vor allem, wenn Deutschland zur gleichen Zeit nach zwei Seiten um seine Existenz kämpfen muß.

03.08.1914

Berlin erklärt Paris den Krieg. Deutscher Angriffsbeginn.

03.08.1914

Als deutsche Truppen am 3. August beginnen, durch Belgien gegen Frankreich vorzugehen, stellt London Berlin ein Ultimatum und verlangt, die Truppen unverzüglich aus Belgien zurückzuziehen. Deutschland kann auf den Durchmarsch durch das neutrale Land jetzt nicht mehr verzichten und setzt den Aufmarsch fort.

Dem folgt am Tag darauf:

14.08.1914

Englands Kriegserklärung an das Deutschland.

04.08.1914

Der deutsche Reichskanzler von Bethmann Hollweg drückt die Skrupel der deutschen Reichsregierung , Belgiens Neutralität zu verletzen, vor dem Reichstag mit den Worten aus:

„So waren wir gezwungen, uns über den berechtigten Protest der luxemburgischen und der belgischen Regierung hinwegzusetzen. Das Unrecht - ich spreche offen - das Unrecht, das wir damit tun, werden wir wieder gutzumachen suchen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist. Wer so bedroht ist wie wir und um sein Höchstes kämpft, der darf nur daran denken, wie er sich durchhaut“ .

Der Versailler Vertrag und seine Folgen 1920

Die Vorgeschichte

Das deutsche Drama nach dem Ersten Weltkrieg beginnt damit, daß US-Prädident Wilson der deutschen Seite noch im Kriege einen Friedensschluß anbietet, den die Sieger später ignorieren. Wilsons Friedensangebot – die sogenannten 14 Punkte - enden mit den Sätzen:

„Wir sind nicht eifersüchtig auf die deutsche Größe und es ist nichts in diesem Angebot, das sie verringert. ... Wir wünschen nicht, Deutschland zu verletzen oder in irgendeiner Weise seinen berechtigten Einfluß oder seine Macht zu hemmen. ... Wir wünschen nur, daß Deutschland einen Platz der Gleichberechtigung unter den Völkern einnimmt, statt eines Platzes der Vorherrschaft.“

Dem US-Angebot folgen je fünf Noten von amerikanischer und von deutscher Seite, in denen man sich gegenseitig versichert, daß man sich an die 14 Punkte halten wolle. Die einzige Abtrennung deutsch besiedelten Gebietes, die schon dort vereinbart wird, ist die Abtretung Elsass-Lothringens an Frankreich. Mit der Zusicherung „Wir wünschen nur, daß Deutschland einen Platz der Gleichberechtigung unter den Völkern einnimmt.“ legt Deutschland seine Waffen nieder und beginnt, die Truppen aufzul&;ouml;sen.

Die Konferenz

Es kommt zum Waffenstillstand und der Konferenz von Versailles, die in fataler Weise Geschichte schreiben wird. Die Konferenz leitet nun nicht mehr Woodrow Wilson, dessen 14-Punkte-Vorschlag die deutsche und österreichisch-ungarische Seite verleitet hatte, ihre Truppen von den Fronten abzuziehen und in der Heimat aufzulösen. Die Konferenz leitet der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau. Clemenceau erkennt die 14 –Wilson-Punkte in den Teilen, die Deutschlands Nachkriegsrechte sichern sollten, nicht mehr an, und er lässt die deutsche Konferenzdelegation auch nicht zu den Verhandlungen zu. So verhandeln Briten, Franzosen, Amerikaner, Belgier, Polen und weitere 22 Siegerstaaten geschlossen unter sich. Sie beschließen die Abtrennung deutscher Gebiete und die Geld- und Sachreparationen, die Deutschland an

sie abtreten, zahlen oder leisten soll. Sie legen die nach Versailles genannte Nachkriegsordnung für Europa zu den alleinigen Lasten der Besiegten fest.

Am 7. Mai 1919 werden die von den 27 Siegerstaaten festgelegten Bedingungen erstmals der deutschen Delegation eröffnet. Clemenceau überreicht sie mit den Worten: „Die Stunde der Abrechnung ist da.“ Die Bitte der deutschen Delegation, den „Vertrag“, den sie nun unterschreiben soll, vorher zu verhandeln, wird abgelehnt. Um dem Ausmaß ihrer Forderungen den Anschein von Berechtigung zu geben, versteigen sich die Sieger dazu, Deutschland und seinen Kriegsverbündeten die Alleinschuld am Ersten Weltkriegs zuzuschreiben. Der Vertrag verlangt von Deutschland eine große Zahl von Land- und Bevölkerungsabtretungen: das zu 88% deutschsprachige Elsaß-Lothringen an Frankreich, die Provinzen Posen, fast das ganze, zu 70% deutschsprachige Westpreußen und das oberschlesische Industriegebiet an Polen, das Memelgebiet an den Völkerbund, das Hultschiner Ländchen an die Tschechoslowakei, Nordschleswig an Dänemark, das Gebiet um die zwei Städte Eupen und Malmedy an Belgien und Danzig mit dem Umland als Freistaat unter die Hoheit des Völkerbunds. Der Vertrag stellt das Saargebiet für 15 Jahre unter Frankreichs Herrschaft. Er verbietet außerdem den Anschluß Rest-Österreichs an Deutschland, den die neue Wiener Nationalversammlung gleich nach dem Krieg gefordert hatte. Mehr als die Landverluste schmerzen die erzwungenen Bevölkerungsabtretungen. Die Ausgliederung von 7 Millionen Menschen aus dem Deutschen Reich und die Grenzen neuer Staaten trennen Millionen von Familien auf unbestimmte Dauer. Mit dem Vertrag verliert Deutschland seine Kolonien, zumeist an England. Die Streitkräfte werden auf 100.000 Mann im Heer und 15.000 in der Marine reduziert. Das Deutsche Reich muß den größten Teil der Handelsflotte und der Goldreserven an die Sieger übergeben, dazu einen Großteil seiner jährlichen Eisenerz- und Kohleförderung, Unmengen von Nutzvieh und Landwirtschafts-maschinen, 150.000 Eisenbahnwaggons und viele tausend Lokomotiven und Lastkraftwagen. Das gesamte private Auslandsvermögen und unzählige Industriepatente werden konfisziert. Die Geldzahlungen sind exorbitant und über 70 Jahre zu bezahlen. Deutschland wird sie, wie sich später zeigen wird, nie in voller Höhe zahlen können.

Die Folgen

Die unmittelbarste Folge sind die Ausweisung oder Flucht von über einer Million Deutscher aus ihrer Heimat in das deutsche Kernland, das zu der Zeit weder Arbeitsplätze noch Wohnraum noch soziale Hilfe für die Vertriebenen im nötigen Maße bieten kann. Dazu kommen über 20 Jahre lang für viele Millionen Deutsche, die sich entschlossen hatten, in ihrer angestammten Heimat zu verbleiben, eine Mischung von unfreundlicher Duldung, Diskriminierung, Entrechtung und Verfolgung in den Staaten, denen sie nun ungefragt und ungebeten angehören müssen. Die kurze Zeit bis 1939 läßt kein Vergessen der selbst erlebten Schicksalsschläge zu. Als ab 1934 die wirtschaftliche Lage Deutschlands wieder deutlich besser wird, und die Vertriebenen in ihrer Mehrzahl wieder Arbeit, Lohn und Wohnraum finden, und als zwischen 1935 und ´38 erst des Saargebiet, dann die Sudetenlande und dann das Memelgebiet und damit über 3 Millionen Deutsche „heim ins Reich“ kehren, wollen vor allem diese gerade von der Fremdherrschaft erlösten Menschen sicher nicht schon 1939 wieder eine nächsteNiederlage gegen ihre Fremdherrschaft von gestern. Für sie - wie für die Mehrheit aller Deutschen - ist der neue Kriegsanlaß von 1939 - Danzig, die Verkehrswege ins abgetrennte Ostpreußen und die Garantie der Menschenrechte für die in Polen lebenden Volksdeutschen - nur die konsequente Fortsetzung einer Außenpolitik, die ihnen gerade selbst die Befreiung von einer Fremdherrschaft beschert hat.

Der Erste Weltkrieg ist für fast alle kämpfenden Parteien auch ein finanzieller Opfergang gewesen. Die Deutschen hatten ihre Kriegsausgaben mit Steuern und mit Staatsanleihen selber finanziert. Briten und Franzosen hatten sich die nötigen Gelder größtenteils bei Banken in Amerika geliehen. Die Kriegskosten der USA dagegen waren durch den späten Eintritt in den Krieg relativ gering geblieben. So versuchen die Regierungen Englands und Frankreichs, ihre Kriegsschulden und Kriegslasten nach 1919 aus dem besiegten Deutschland einzutreiben.

Deutschland werden demzufolge nicht nur Kolonien, Auslandsvermögen, Patente und Industrieanlagen von immensen Werten abgenommen, sondern die neue deutsche Republik soll neben Sachleistungen wie Kohle, Holz, Vieh und anderem auch in „barem“ Geld bezahlen.

Reparationen in Geld, Gold und Devisen

Als erstes muß Deutschland 1919 zur Sicherung der noch nicht festgelegten Reparationen bei ausländischen Banken eine Schuldverschreibung über 100 Milliarden Goldmark unterschreiben und dafür ab der Unterzeichnung 5% Zinsen - das sind 5 Milliarden Goldmark jährlich - zahlen. Um die Größenordnung zu verstehen, sei erwähnt, daß Frankreich 1871 nach einem Kriege, den es selbst verursacht, erklärt und dann verloren hatte, mit einer Gesamtreparation von ca. 5 Milliarden Goldfranken ( gleich ca. 4 Mrd. Goldmark ) davongekommen war. Die alliierten Sieger verlangen 1919 statt dessen einen Beitrag in fast der gleichen Höhe, aber einmal jährlich, und das ohne Tilgungsanteil.

Im Januar 1921 legen die Siegermächte dann die Gesamthöhe der Reparationen Deutschlands für die nächsten 42 Jahre fest: ca. 331 Milliarden Goldmark. Auch hier zwei Zahlen zum Vergleich. Die Kosten Deutschlands für den gesamten Ersten Weltkrieg hatten nur halb soviel betragen ( 163 Mrd. ). Und das besiegte Russland hatte 1918 im Frieden von Brest-Litowsk überhaupt keine Reparationen an die Sieger Deutschland und Österreich-Ungarn zahlen müssen. Man sieht im Ausland schon damals, wie völlig maßlos die eigenen Forderungen in Versailles sind. Dazu drei Siegerstimmen: Der damalige italienische Ministerpräsident Nitti: „Noch niemals ist ein ernstlicher und dauerhafter Friede auf die Ausplünderung, die Quälerei und den Ruin eines besiegten Volkes gegründet worden.“ Der amerikanische Außenamts-Staatssekretär Lansing noch während der Versailler Sitzungen: „Die Friedensbedingungen erscheinen unsagbar hart und demütigend, während viele von ihnen mir unerfüllbar erscheinen.“ Und Churchill in seinen Erinnerungen: „Die wirtschaftlichen Bestimmungen des Vertrages waren so bösartig und töricht, daß sie offensichtlich jede Wirkung verloren. Deutschland wurde dazu verurteilt, unsinnig hohe Reparationen zu leisten.“ Doch die rechtzeitigen und auch die späteren Einsichten führt nicht dazu, dem besiegten Deutschland eine Brücke zu bauen.

Die junge deutsche Republik hat außer den Reparationen auch noch die eigenen Kriegsanleihen abzutragen, die Unterstützung für die Kriegsopfer

aufzubringen, die Entschädigungen für die in Elsaß-Lothringen verlorenen Sachwerte zu leisten und obendrein den Siegern die Besatzungskosten zu bezahlen. So kommt es, daß das Deutsche Reich schon die zweite Monatsrate nicht mehr voll bezahlen kann. Die Sieger besetzen daraufhin zum ersten Mal als Straf- und Repressionsmaßnahme einen Teil des Ruhrgebiets, die Städte Duisburg, Düsseldorf und Ruhrort.

Im Mai 1921 legen die Siegermächte dann einen „endgültigen Reparationsplan“ fest, der allerdings nicht lange ( end- ) gültig bleibt. Die neue Schuld beträgt noch 132 Milliarden Goldmark plus einer 26%-Abgabe auf alle deutschen Exporte, was jährlich noch einmal bei 2 bis 3 Milliarden liegt. Auch 1922 kann die Weimarer Republik die Schulden nicht bezahlen. Als gegen Ende ´22 noch 1,6% der Jahresrate fehlen, marschieren belgische und französische Truppen ein zweites Mal ins Ruhrgebiet und besetzen Oberhausen und Essen. Die Reichsregierung Cuno ruft daraufhin zum „Passiven Widerstand“ gegen die Besatzungstruppen auf, was zur Erschießung von 14 deutschen Arbeitern und der Vertreibung von 80.000 Männern aus dem Ruhrgebiet führt, die damit Heim, Arbeitsplatz und Lohn verlieren. Frankreich unterbindet außerdem die Lieferung von Kohle von der Ruhr ins nicht besetzte Deutschland. Da die Weimarer Republik schon die Kohlereviere Saar an die Franzosen und Oberschlesien an die Polen hatte übergeben müssen, bricht mit dem Kohle-Embargo an der Ruhr die Energieversorgung im ganzen Deutschen Reich zusammen. Dem folgen der Kollaps der deutschen Industrieproduktion und kurz darauf auch der Zusammenbruch der Reichsmark-Währung. Es kommt zur Inflation, bis 4 Milliarden Reichsmark nur noch den Wert von einem Dollar haben. Es kommt zu hoher Arbeitslosigkeit und zur Verelendung eines großen Teiles der Bevölkerung in Deutschland.

1924 folgt der nächste Zahlungsplan der Sieger, der DAWES-Plan, der wieder keine Obergrenzen für die deutschen Zahlungspflichten nennt, aber geringere Jahresraten ansetzt. Deutschland - nach wie vor nicht zahlungsfähig - leiht sich das verlangte Geld bei US-Banken und zahlt seine Reparationen nun fünf Jahre lang mit immer neuen Schulden. 1930 wird der DAWES-Plan vom YOUNG-Plan abgelöst, der die „endgültige“ Höhe der Reparationen festlegt und die Zahlungsdauer 1988 enden läßt. Auch die YOUNG-Raten muß sich die Weimarer Republik bei Banken in den USA besorgen. Die Reste der DAWES- und der YOUNG-Anleihen

zahlt die Bundesrepublik Deutschland noch bis zum Jahr 2010 bei Banken in den USA ab.

1930 beginnt die Weltwirtschaftskrise in Nordamerika. Die US-Banken - nun selbst in Schwierigkeiten - verlangen von den deutschen Schuldner-Banken, alle kurzfristigen Kredite der letzten Jahre sofort zurückzuzahlen, worauf im Sommer 1931 fast alle deutschen Banken Konkurs anmelden müssen. Es folgt die Zeit der Depression in Deutschland, die Zeit der 6 Millionen Arbeitslosen und der Versuch der Reichsregierung Brüning, die Weimarer Republik am Parlament vorbei mit Notverordnungen wirtschaftlich zu retten. Dies ist der Tod der Republik von Weimar .

Die Volksabstimmung an der Saar 1935

Der erste Anschluß fällt Hitler sozusagen in den Schoß. Während der Siegerkonferenz in Versailles versichert der französische Ministerpräsident Clemenceau wiederholt , daß die Saarländer französischer Abstammung seien und, soweit doch von deutscher Herkunft, Bürger Frankreichs werden wollten. Trotz des festen Willens der Franzosen findet ihre Absicht, auch das Saargebiet zu schlucken, in Versailles keine Mehrheit. Die Russen, die ihnen die Saar noch in einem Geheimvertrag von 1917 zugesichert hatten, sind bei der Versailler Konferenz nicht mehr beteiligt. Und US-Präsident Wilson sowie der englische Premier Lloyd George sind nicht einverstanden, daß Frankreich das Saarland samt Bevölkerung und Bodenschätzen annektiert. Als Kompromiß der drei großen Siegermächte wird das Saargebiet zunächst für 15 Jahre unter die Verwaltung des Völkerbunds gestellt. Dann erst soll nach einer Volksabstimmung entschieden werden, ob es auf Dauer französisch, selbständig oder wieder deutsch wird. Die Einzelheiten dieses Wechsels regelt der Versailler Vertrag, Artikel 49, mit dem "1. Saarstatut".

Das Saarland und das Erste Saarstatut

Eine fünfköpfige, international besetzte "Saarkommission” soll das Saarland in diesen 15 Jahren im Auftrag des Völkerbunds regieren. Die Saarkommission steht unter dem Vorsitz eines französischen Präsidenten. Sie entpuppt sich bald als alleinige Vertretung französischer Interessen.

Das ändert sich auch nicht, als das kanadische und das deutsche Mitglied der Kommission deshalb aus Protest dies Gremium verlassen. Die Verhältnisse an der Saar verschlimmern sich dadurch nur noch weiter zum Schaden der betroffenen Bevölkerung. Frankreich schaltet und waltet de facto als neuer Herrscher an der Saar. Die Proteste der angestammten Bevölkerung werden auf Weisung der Franzosen in der Kommission in aller Regel dem dafür zuständigen Völkerbund nicht einmal zugeleitet. Die Regierung in Paris verlegt gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrags 5.000 französische Soldaten in das Saargebiet. Die deutsche Beamtenschaft wird zum größten Teil ausgewiesen und durch französische ersetzt. Das gleiche passiert mit den deutschen Firmenleitungen in der Industrie und im Bergbau an der Saar.

Zankapfel Saargebiet

1935 sind die 15 Jahre Saarstatut zu Ende, und Frankreich muß die 1920 in Versailles festge-legte Volksabstimmung dulden. So ist die Tatsache der Volksabstimmung an der Saar kein Verdienst des Kanzlers Hitler. In den Monaten vor der Abstimmung tobt ein heftiger Wahl-kampf an der Saar, bei dem die französische Verwaltung vor Ort den Heimvorteil besitzt, und das Deutsche Reich dagegen keinen unmittelbaren Zutritt hat. Der Wahlkampf wird von französischer Seite bewußt gegen den Nationalsozialismus und die neuen Mißstände im Dritten Reich geführt. Die Emotionen schlagen dabei hoch, und die Volksabstimmung droht, zu harten Auseinandersetzungen auszuarten. Da schlägt der deutsche Regierungschef Hitler der französischen Regierung vor, die Zukunft der Saar durch eine freundschaftliche Vereinbarung zwischen beiden Regierungen zu regeln und auf die Volksabstimmung zu verzichten Sein Vorschlag lautet, das Saargebiet Deutschland wieder anzuschließen und durch einen Wirtschaftsvertrag zu regeln, daß die französische Industrie die Bodenschätze an der Saar so ausbeuten dürfe wie bisher. Die französische Regierung lehnt den Vorschlag ab. Sie wertet ihn als Hitlers Eingeständnis der schlechten deutschen Chancen bei der Wahl.

Die Saarabstimmung 1935

Am 13. Januar 1935 wird unter der Aufsicht des Völkerbunds gewählt. 90,8 Prozent der Saarländer votieren für den Anschluß an das Deutsche Reich, 8,8 Prozent für die Selbständigkeit der Saar und 0,4 Prozent für den

Anschluß an Frankreich. Diese Wahl außerhalb des deutschen Staatsgebiets hat ohne jeden Zweifel ohne deutsche Manipulationen und Pressionen stattgefunden. Und sie wirkt, dank des Wahlkampfthemas der Franzosen “Nationalsozialismus in Deutschland” statt einer Entscheidung für Deutschland und gegen Frankreich wie eine breite Zustimmung zum neuen nationalen Sozialismus des deutschen Kanzlers Hitler. So bescheren die Franzosen Hitler einen innenpolitischen Triumph, der stärker nachwirkt als sie ahnen. Für Hitler wird der erste Anschluß nach der Niederlage von 1918 zugleich ein Plebiszit für die “Bewegung”. Am 1. März 1935 geht die Hoheit über das Saargebiet wieder auf das Deutsche Reich über.

( In der gängigen Literatur sind diese Geschehnisse auch unter den Stichworten Beitritt des Saargebiets , Rückgabe des Saargebiets , Anschluss des Saargebiets und Angliederung des Saargebiets zu finden. )

Die Rheinlandbesetzung 1936

Das entmilitarisierte Rheinland

In den 20er Jahren hat Deutschland durch den Versailler Vertrag nicht nur gewaltige Einbußen an Menschen, Land und Industriepotenzialen erfahren. Es hat im „Frieden“ von Versailles vor allem keinen Friedensschluß erreicht. Der Versailler Vertrag hatte Deutschland u. a. auferlegt, das Rheinland mit der Pfalz links des Rheins und eine 50 Kilometer tiefe Zone rechts des Rheins von der Schweiz bis zu den Niederlanden von eigenen Truppen und Befestigungen freizuhalten. Damit stand zukünftigen Friedensbrüchen eine Türe offen.

Der Pakt von Locarno (auch Rheinpakt 1925)

1921 und 1923 nutzen Frankreich und Belgien diese ungeschützte Grenze, um Deutschland für nicht geleistete Reparationen zu “bestrafen” und erst Düsseldorf und Duisburg und dann das ganze Ruhrgebiet mit fünf Heeresdivisionen zu besetzen. Dennoch bestätigt die deutsche Reichsregierung 1925 im Pakt von Locarno noch einmal diese

Entmilitarisierung der deutschen Grenzregion in Richtung Frankreich, um sich damit die Mitgliedschaft im Völkerbund und den Abzug der französischen Besatzungstruppen aus der „Kölner Zone” zu erkaufen. Gleichzeitig garantieren sich Frankreich, Deutschland und Belgien gegenseitig den Verlauf ihrer gemeinsamen Grenzen, und sie vereinbaren, in Zukunft „in keinem Falle zu einem Angriff oder zu einem Einfall oder zum Kriege gegeneinander zu schreiten“.

Der Französisch-Sowjetische Vertrag 1935

Das Ende des Locarnopakts beginnt mit einem französisch-russischen Vertrag. 1935 ersetzen Frankreich und die Sowjetunion einen auslaufenden Nichtangriffspakt von 1932 durch einen neuen Beistandspakt. In einem Zusatzprotokoll sagen sich Paris und Moskau ihre Waffenhilfe auch für den Fall zu, daß eines ihrer Länder von einem Drittland angegriffen wird, und - das ist das Besondere – das auch wenn der Völkerbund eine solche Waffenhilfe nicht empfiehlt. Damit behalten sich Paris und Moskau vor, bei einem Streit mit dritten Staaten in eigener Machtvollkommenheit zu entscheiden, wer der Aggressor ist. Da die inzwischen wieder gut aufgerüstete Sowjetunion nicht von den kleinen Baltenstaaten und auch nicht von den militärisch weit unterlegenen Polen oder Rumänen bedroht ist, macht der Pakt nur in einem Krieg mit Deutschland einen Sinn. Frankreich hatte sich jedoch im Locarnopakt verpflichtet, keine militärischen Operationen gegen Deutschland mehr zu führen, es sei denn zur eigenen Verteidigung oder aufgrund früherer Verpflichtungen, die Frankreich gegenüber den Polen und den Tschechen eingegangen war. Ein französisches Versprechen, der Sowjetunion im Falle eines deutsch-sowjetischen Krieges mit Waffenhilfe beizustehen, ist also ein Bruch des Paktes von Locarno. Und in Locarno - und das ist hier von Bedeutung - wird deutscherseits die Entmilitarisierung des Rheinlands zugesagt, die Hitler nun im Gegenzuge kündigt.

Dem französisch-sowjetischen Vertragsschluß am 2. Mai 1935 geht eine Monate dauernde diplomatische Auseinandersetzung zwischen Paris und Berlin voraus, an der auch die Garantiemächte des Locarno-Paktes ihren Anteil haben. Im April 1935 warnt der britische Außenminister Simon die französische Regierung,

„daß England beunruhigt sein würde, wenn Frankreich einen Vertrag

unterschriebe, der es eventuell in einen Krieg mit Deutschland hineinziehen könnte und das unter Bedingungen, die mit dem § 2 des Locarno-Paktes unvereinbar sind.”

Am 25. Mai 1935 übersendet die deutsche Regierung der französischen ein Memorandum, in dem sie geltend macht, daß der neue sowjetisch-französische Vertrag Artikel 16 der Völkerbundsatzung verletze und nach deutscher Auffassung auch den Locarno-Pakt. Am 27. Februar 1936 wird der Sowjetisch-Französische Beistandspakt ungeachtet dessen von der französischen Nationalversammlung ratifiziert.

Für Hitler ist der Sowjetisch-Französische Vertrag ein Rückschlag in dem Bemühen, Deutschland nach außen abzusichern. Sein Erfolg von 1934, der Nichtangriffspakt mit Polen, hatte Frankreichs Ring um Deutschland aufgebrochen. Nun stopft Paris die Lücke mit einem neuen Waffenbruder. Damit wird für die deutsche Seite dreierlei erkennbar: erstens, daß man in Paris den deutschen Garantien von Locarno keinen unbedingten Glauben schenkt, zweitens daß man in Paris durchaus noch einen weiteren Krieg ins Auge faßt und drittens, daß sich die Allianz der potentiellen Gegner Deutschlands an Frankreichs Seite um eine weitere Million Soldaten verstärkt. Für Deutschland ist dies in Erinnerung an das französisch-russische Zusammenspiel von 1914 eine schlechte Perspektive. Bei nüchterner Betrachtung zeigt sich, daß Frankreich 1935 sein Bündnissystem ein weiteres Mal zu deutschen Lasten ausbaut und daß Deutschlands Grenze zu Frankreich schutzlos offenliegt. Die Drohung Frankreichs während der oberschlesischen Kämpfe von 1921, in Deutschland einzumarschieren, und die ja tatsächlich erfolgten Einmärsche der Belgier und Franzosen vom 8. März 1921 und vom 11. Januar 1923 sind in Deutschland schließlich nicht vergessen.

Die französische Verletzung des Locarno-Vertrages durch den Abschluß des Beistands-abkommens mit der Sowjetunion ist für Hitler Anlaß, sich nun auch nicht mehr an diesen Pakt zu halten und das eine mit dem anderen zu begründen. Hitler faßt den politischen Entschluß, das von deutschen Truppen nicht geschützte Rheinland wieder zu besetzen.

Anfang März 1936 eröffnet der Diktator Hitler den Entschluß dazu den Spitzen des Auswärtigen Amtes und der Wehrmacht. Von beiden Seiten wird ihm schärfstens abgeraten.

Die Besetzung des Rheinlands März 1936

Am 7. März 1936 läßt Hitler 19 Wehrmachtsbataillone in die entmilitarisierte Zone einmarschieren. Um der politischen Provokation nicht noch eine militärische Drohgebärde hinzuzufügen, überschreiten zunächst nur drei der 19 Bataillone den Rhein nach Westen und rücken in Saarbrücken, Trier und Aachen ein. Hitler verletzt mit diesem Handeln die Verträge von Locarno und Versailles. Doch er schafft damit auch die Voraussetzung für die Verteidigungsfähigkeit des Deutschen Reichs nach Westen. Hitler begleitet diesen Schritt mit einem neuen Angebot an Frankreich. Er regt an, in Zukunft eine entmilitarisierte Zone auf beiden Seiten der deutsch-französischen Grenze einzurichten, die deutschen und die französischen Streitkräfte bei gemeinsamen Höchstzahlen zu begrenzen und einen Nichtangriffspakt von 25 Jahren Dauer abzuschließen. Frankreich lehnt das ab und lässt statt dessen Truppen von Südfrankreich in Richtung Deutschland vorverlegen.

Am 14. März 1936 tritt der Rat des Völkerbunds zusammen, um über den deutschen Bruch des Versailler Vertrages zu befinden. Frankreich fordert, Deutschland wegen der Vertrags-verletzung zu verurteilen. Der britische Vertreter erklärt jedoch :

„Es ist offensichtlich, daß der Einmarsch der deutschen Truppen in das Rheinland eine Verletzung des Versailler Friedensvertrages darstellt. Dennoch stellt diese Aktion keine Bedrohung des Friedens dar und erfordert keinen unmittelbaren Gegenschlag. Zweifellos schwächt die Wiederbesetzung des Rheinlandes die Macht Frankreichs, aber sie schwächt in keiner Weise seine Sicherheit.“

In der Literatur erscheint dieser Vorgang meist als Remilitarisierung des Rheinlands. Dieser Terminus verbirgt, dass es hier letztlich um die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands gegen noch immer mögliche Angriffe aus Frankreich und Belgien ging. Immerhin waren 1921 und 1923 französische und belgische Truppen durch diese offene Westgrenze ins Ruhrgebiet und nach Frankfurt am Main marschiert.

Der Österreich-Anschluß 1938

Die Wiedervereinigung Deutschlands und Österreichs 1938, genannt „der Anschluß“, hat eine sehr lange Vorgeschichte. Die staatliche Gemeinsamkeit der deutschen Länder einschließlich derer, die später den Staat Österreich bilden, beginnt im Jahr 911 mit der Wahl Konrad I. zum König des Ostfrankenreiches, für das sich bald der Name “Reich der Deutschen” und später “Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation” durchsetzt. Im Jahr 1273 geht die Krone dieses Reiches erstmals an einen Fürsten aus dem Hause Habsburg über, ehe sie dann ab 1438 in ununterbrochener Herrscherfolge bis 1806 dort verbleibt. So sind die Landesteile des Hauses Habsburg fast ein Jahrtausend lang ein integraler Teil des Deutschen Reichs, und die Fürsten Habsburgs während der letzten 368 Jahre zugleich die Könige und Kaiser Deutschlands. Auch nach Auflösung des ersten deutschen Reichs im Jahre 1806, als 1815 der Deutsche Bund gegründet wird, steht diesem bis 1866 wieder der Chef des Hauses Habsburg, vor.

Es folgt ein halbes Jahrhundert der österreichisch-deutschen Trennung. Als 1918 das geschlagene Österreich und das geschlagene Deutschland Republiken gründen, beschließen die ersten Parlamente in Berlin und Wien, ihren Staaten neue Verfassungen zu geben. In beide Verfassungen schreiben die Abgeordneten ein Wiedervereinigungsgebot. In der österreichischen heißt es:

„Deutsch-Österreich ist eine demokratische Republik. ... Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik.“

In der ersten deutschen Verfassung steht ein vergleichbarer Satz. Am 6. September 1919, verkündet der österreichische Staatskanzler Dr. Renner noch einmal in der Wiener Nationalversammlung:

“Deutsch-Österreich wird niemals darauf verzichten, die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich als das Ziel seiner friedlichen Politik zu betrachten.”

Beide Wiedervereinigungsgebote, sowohl das österreichische als auch das deutsche, müssen bald darauf auf Druck der Siegermächte aus den zwei Verfassungen entfernt werden. Doch der Wunsch nach einer Vereinigung

Österreichs und Deutschlands ist damit nicht erloschen.

Die Zeit der deutsch-österreichischen Trennung von 1866 bis 1918 hat Ähnlichkeit mit der deutschen Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die 54 Jahre der deutsch-deutschen Trennung seit 1866 haben das Empfinden, zum selben Volke zu gehören, in Deutschland und in Österreich genausowenig sterben lassen, wie die 45 Jahre deutscher Teilung bei den Deutschen in West- und Mitteldeutschland nach 1945.

1931 wagen Österreich und Deutschland noch einmal einen Annäherungsversuch, die deutsch-österreichische Zollunion. Auch diese scheitert wieder am Protest der Sieger. Aus der Sicht der Sieger hat das Verbot der deutsch-österreichischen Vereinigung zunächst durchaus einen Sinn. Mit einem angeschlossenen Österreich hätte das besiegte Deutschland seine Verluste an Land und Menschen wieder ausgeglichen. Doch dieses Rechenspiel der Sieger mißachtet ihre selbst aufgestellte Regel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Das Nachkriegsösterreich

Die 20er Jahre sind für Österreich arm und bitter. Das wirtschaftliche Netzwerk Habsburgs ist zerschlagen. Die Zahl der Arbeitslosen klettert auf 557.000. Die Auslandsschulden Österreichs sind bald nicht mehr abzutragen. Die Hoffnung auf spätere Vereinigung mit Deutschland bleibt in Österreich ungebrochen, und alle politischen Parteien - außer Monarchisten und Marxisten - sind sich darin einig und äußern dies auch immer wieder. So erinnert der Führer der Sozialdemokraten Dr. Renner 1928 in einer öffentlichen Rede:

„Heute, zehn Jahre nach dem 10. November 1918, und immerdar halten wir in Treue an diesem Beschluß fest und bekräftigen ihn durch unsere Unterschrift. ... Der Friede von Saint-Germain hat das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in Österreich vernichtet. ... Laßt Österreichs Bürger frei abstimmen und sie werden mit 99 von 100 Stimmen die Wiedervereinigung mit Deutschland beschließen.“

Die 30er Jahre sind in Österreich politisch ähnlich turbulent wie die im

Deutschen Reich. Eine Parlamentskrise im März 1933, in der es zunächst nur um einen Eisenbahnerstreik gegangen ist, endet damit, daß der österreichische Bundeskanzler Dollfuß den Nationalrat auflöst und fortan gestützt auf eine so genannte Vaterländische Front als Diktator allein regiert. Er verbietet erst die Kommunistische, dann die Nationalsozialistische Partei in Österreich, dann die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften. Politische Gegner werden in „Anhaltelagern“ inhaftiert, die den Konzentrationslagern entsprechen, die im gleichen Jahre in Deutschland eingerichtet werden. Dollfuß, der als Diktator schon im eigenen Lande keine Lust hat, seine Macht und Herrschaft mit neuen Wahlen zu riskieren, will beides erst recht nicht bei einem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich verlieren. So endet Österreichs Anschluß-Politik mit Dollfuß und dem Ende der Demokratie im Nachkriegs-Österreich. Die Ära des Bundeskanzlers Dollfuß endet im Juli 1934 mit seiner Ermordung durch österreichische Nationalsozialisten. Dem Diktator folgt Bundeskanzler Schuschnigg, der den Regierungsstil seines Vorgängers mit aufgelöstem Parlament, mit Parteienverboten und KZ´s fortsetzt. Auch er versucht, eine Vereinigung Österreichs mit Deutschland zu verhindern.

Im Sommer 1936 kommt es unter dem sanften Druck Italiens zu einem Wiederannäherungs-versuch der beiden deutschsprachigen Staaten. Im Juli 36 wird ein Deutsch-Österreichisches Abkommen über die Normalisierung und die freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten geschlossen. Deutschland erkennt darin die “volle Souveränität des Bundes-staates Österreich” an, und Österreich bekennt sich ausdrücklich dazu, ein „deutscher Staat“ zu sein. Zusätzlich sichert Schuschnigg schriftlich zu, „Vertreter der bisherigen sogenannten Nationalen Opposition in Österreich” zur Mitwirkung an der politischen Verantwortung heranzuziehen. Trotz des geschlossenen Abkommens läßt der Druck der Diktatur im Donau-Staat nicht nach. Zudem läßt ein Wirtschaftsaufschwung wie der in Deutschland auf sich warten. Besonders viele Menschen aus der Arbeitnehmerschaft sehen im Anschluß eine wirtschaftliche Hoffnung. So wird der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich für die Bürger Österreichs wieder zur attraktiven Perspektive. Hinzu kommt, daß sich die Diktatur in Österreich kaum von der in Deutschland unterscheidet, so daß letztere kein Grund ist, einen Anschluß abzulehnen. Im gleichen Zeitraum schließen sich die Saarländer mit 90,8% Pro-Deutschland-Stimmen an das Deutsche Reich an.

Bundeskanzler Schuschnigg, der den Drang weiter Bevölkerungskreise zu einem Anschluß kennt, bittet um einen Staatsbesuch bei Hitler.

Am 12. Februar 1938 kommt der Besuch zustande. Hitlers Wunschvorstellung ist sicherlich gewesen, daß ein frei gewählter Nationalrat und eine österreichische Regierung kraft des Selbstbestimmungsrechts der Völker von sich aus den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich verkünden, den Anschluß den die Verfassungsväter Österreichs schon vor zwei Jahrzehnten fest beschlossen hatten. Doch Hitler ist inzwischen klar, daß mit der Diktatur des christ-sozialen Schuschnigg, ohne Parlament und ohne Wahlen kein legaler Weg für einen Anschluß offensteht.

Das Gespräch der zwei Diktatoren Schuschnigg und Hitler ist ein einziger Streit gewesen. Hitler hält Schuschnigg vieles vor, das Vorgehen der Polizei in Österreich gegen die Nationalsozialistische Partei, Grenzbefestigungen gegen Deutschland und anderes mehr. Hitler legt Schuschnigg eine „Liste mit deutschen Vorschlägen für eine endgültige Regelung der österreichischen Frage” vor. Die wesentlichen Forderungen lauten:

- politische Betätigungsfreiheit der österreichischen Nationalsozialistischen Partei zur legalen Betätigung im Rahmen der „Vaterländischen Front”,

- Amnestie für alle wegen nationalsozialistischer politischer Betätigung inhaftierten Österreicher,

- Wiederherstellung der Pressefreiheit,

- Vorbereitung der Angleichung der Wirtschaftssysteme beider Länder.

Dafür sichert die Deutschen Reichsregierung zu, daß sich reichsdeutsche Parteidienststellen

nicht in innerösterreichische Verhältnisse einmischen. Die „Vorschläge” enden mit einem Ultimatum, nach dem sich Bundeskanzler Schuschnigg schließlich widerstrebend bereiterklärt, die vereinbarten Maßnahmen bis zum 18. Februar 1938 durchzuführen.

Dr. Schuschniggs “Volksabstimmung”

Nun tritt der Bundeskanzler Schuschnigg die Flucht nach vorne an. Er setzt am 9. März, ganz überraschend eine Volksabstimmung zur Anschlußfrage für den nächsten Sonntag an, das ist vier Tage später. Die kurzgesteckte Frist und manches andere zeigen, daß der Bundeskanzler hier in Panik handelt. Er unterlässt, wie in der Verfassung vorgeschrieben, das Kabinett zu seiner Absicht einer Volksabstimmung zu befragen. Da es seit 1929 auf Bundesebene und seit 1932 auf Landesebene keine Wahlen mehr gegeben hat, gibt es in Österreich keine aktuellen Wählerlisten mehr. Zudem hat Schuschnigg angeordnet, daß die Stimmauszählung allein von der „Vaterländischen Front” vorzunehmen sind, also vom Regierungslager. Des weiteren begrenzt Schuschnigg das Wahlalter nach unten auf 25 Jahre. Er befürchtet, daß besonders junge Wähler zu einem Anschluß an das Deutsche Reich tendieren. Es wird außerdem angeordnet, daß die Angehörigen des Öffentlichen Dienstes am Tage vor der Wahl in ihren Abteilungen geschlossen unter Aufsicht zur Wahl zu gehen haben und ihre ausgefüllten Wahlzettel ihren Vorgesetzten offen zu übergeben haben. Und als letztes verfügt Dr. Schuschnigg, daß in den Wahllokalen nur Stimmzettel mit dem Aufdruck “JA” ausgegeben werden, was ein Ja zur Unabhängigkeit bedeutet. Ansonsten verhandelt Kanzler Schuschnigg in aller Eile mit den Führern der bisher verbotenen Parteien und der aufgelösten Gewerkschaften, um sie für Wahlaufrufe gegen einen Anschluß zu gewinnen. Als Preis verlangen die so plötzlich angesprochenen Führer, daß ihre Parteien unverzüglich wieder zugelassen werden, und sie fordern, daß ihre zu Tausenden in den Konzentrationslagern inhaftierten Parteimitglieder endlich freigelassen werden.

Dr. Schuschniggs getürkte Volksabstimmung bleibt nicht ohne Widerspruch. Innenminister Seyß-Inquart und Minister Glaise-Horstenau, teilen ihrem Kanzler unverzüglich mit, daß die Wahl so verfassungswidrig ist, und sie verlangen die Verschiebung der Volksabstimmung,damit sie vorbereitet werden kann. Bundeskanzler Schuschnigg lehnt die Forderung ab. Seyß-Inquart und Glaise- Horstenau versuchen in den folgenden vier Tagen noch dreimal, Schuschnigg umzustimmen. Die letzte Forderung

enthält fünf verfassungsgemäße Bedingungen und das Ultimatum, die Bedingungen „noch heute, bis spätestens 13 Uhr“ anzunehmen. Als Schuschnigg das erneut ablehnt, wendet sich Seyß-Inquart telefonisch direkt vom Kanzleramt in Wien an Minister Göring in Berlin und fragt um Rat.

Die Wiedervereinigung

In Deutschland hat man die Turbulenzen in Österreich seit dem 9. März verfolgt. Hitler wird unverzüglich von den Überrumpelungswahlen Schuschniggs informiert. Es ist nicht schwer, die Absicht hinter den Wahlauflagen zu durchschauen. Die Stimmauszählung nur durch eigene Leute riecht nach Fälschungsabsicht, und, die jungen Wähler auszuschließen, ist der offensichtliche Versuch, pro-deutsche Wähler von den Urnen fernzuhalten. Hitler sieht die Chance schwinden, daß sich Österreichs Bürger zu einem späteren Zeitpunkt in freien und korrekten Wahlen für den Anschluß an das Deutsche Reich entscheiden können, wenn zuvor nach einer manipulierten Volksbefragung das Gegenteil beschlossen worden ist. Hitler ist verärgert, hat aber zunächst noch kein Konzept, wie er reagieren soll. Die politischen Stränge zieht auf deutscher Seite nun vor allem der Minister Göring.

Am 11. März etwa 14.30 Uhr, erfolgt der schon erwähnte Anruf von Seyß-Inquart aus Wien bei Göring in Berlin. Der österreichische Innenminister teilt Minister Göring mit, daß Bundeskanzler Schuschnigg noch immer nicht gewillt ist, die Volksabstimmung zu verschieben. Göring informiert Hitler von der Neuigkeit aus Wien. Beide sehen, daß es so keine Chance mehr für eine faire Volksabstimmung in der Anschlußfrage gibt. Sie beschließen, nun direkt in das österreichische Geschehen einzugreifen und Schuschnigg durch Seyß-Inquart zu ersetzen. Göring übermittelt dem österreichischen Bundeskanzler Dr. Schuschnigg mit Hitlers Einverständnis die Forderung, die Volksabstimmung zu verschieben und Dr. Seyß-Inquart mit der Bildung einer neuen Regierung zu beauftragen. Schuschnick versucht nun, sich in einer Blitzaktion der Rückendeckung Mussolinis zu versichern. Doch der lehnt eine Unterstützung für ihn ab. Schuschnigg gibt anschließend „auf Raten“ nach. Er läßt Hitler übermitteln, daß er mit der Verschiebung der Volksabstimmung einverstanden ist. Doch Göring gibt sich allein mit einer

Wahlverschiebung nun nicht mehr zufrieden. Er schickt ein nächstes Ultimatum und verlangt die sofortige Ernennung Dr. Seyß-Inquarts zum Bundeskanzler, andernfalls erfolge ein deutscher Einmarsch in Österreich. Nachdem Seyß-Inquart Kanzler Schuschnigg auch diese Botschaft übermittelt haben, gibt der auf und über Radio bekannt, daß er zurücktritt.

In den Morgenstunden des neuen Tages - es ist inzwischen Samstag, der 12. März 1938 - marschieren deutsche Truppen in Richtung Salzburg, Linz und Innsbruck. Blumenschmuck und Fahnen auf den Militärfahrzeugen sollen zeigen, daß dies eine Wiedervereinigung nach langen Jahren deutscher Trennung und kein Eroberungsfeldzug ist. Dies Zeichen wird auch so verstanden. Die österreichische Bevölkerung beiderseits der Straßen reagiert erst freundlich, dann bald mit steigender Begeisterung. Es gibt Umarmungen, Winken, Händeschütteln, Freudentränen, Fahnenschwenken. Als Hitlers Wagenkolonne gegen Abend auf den Marktplatz der Stadt Linz rollt, warten dort schon 60.000 Menschen zum Empfang. Hitler hält eine kurze Rede und wird dabei wieder und immer wieder von Beifallsstürmen unterbrochen. Die Begeisterung der Menschenmenge hinterläßt ihm, der sich bis dahin der ungeteilten Zustimmung der Österreicher nicht sicher sein konnte, einen tiefen Eindruck.

Bundeskanzler Seyß-Inquart, frisch vom österreichischen Bundespräsidenten vereidigt, und einige der neu ernannten Minister sind zur Begrüßung Hitlers nach Linz gekommen. Seyß-Inquart, der kein Freund des Einmarschs ist, schlägt Hitler vor, auch österreichische Truppen nach Deutschland zu entsenden, um aller Welt zu zeigen, daß sich hier eine freiwillige Vereinigung vollzieht und keine einseitige Eroberung. Hitler ordnet auf der Stelle an, so zu verfahren. Schon tags darauf marschieren österreichische Truppen nach München, Dresden, Stuttgart und Berlin. Sonntag morgen, den 13. März 1938 um 1 Uhr früh, rollt die erste Wehrmachtseinheit in Österreichs Hauptstadt Wien ein. Die Straßen sind trotz Nacht und Kälte voll von Menschen. Vor der Oper ist ein österreichisches Musikkorps angetreten und empfängt die ersten deutschen Truppen zu einer improvisierten Militärparade. Die Polizeiabsperrungen, die die Menschen von den vorbeimarschierenden Wehrmachts-kompanien trennen sollen, brechen unter dem Ansturm der begeisterten Menge bald zusammen. Der Militäreinmarsch vollzieht sich so, als wäre der politische Anschluß Österreichs schon vorausgegangen.

Doch noch sind Seyß-Inquart Bundeskanzler und Miklas Bundespräsident von Österreich. Gegen Abend erklärt Miklas seinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten. Damit gehen nach geltender Verfassung, Artikel 77, die Befugnisse des Präsidenten auf den Bundeskanzler über. So ist Seyß-Inquart für ganz kurze Zeit Regierungschef und Staatsoberhaupt in einem. Schon am Vormittag des Tages hatten Seyß-Inquart als neuer Bundeskanzler, Glaise-Horstenau als Vizekanzler und Justizminister Hueber ein neues “Bundesverfassungsgesetz” verfaßt und unterschrieben, in dem es in Artikel I heißt: „Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches.“ Artikel II verkündet, daß am 10. April 1938 eine freie und geheime Volksabstimmung über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich stattfindet.

Am 3. April, eine Woche vor der Volksabstimmung, erklärt sich der erste Nachkriegs-Bundeskanzler Dr. Renner in einem Interview im NEUEN WIENER TAGEBLATT:

“Als Sozialdemokrat und somit als Verfechter des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, als erster Kanzler der Republik Deutsch-Österreich und als gewesener Präsident ihrer Friedensdelegation zu Saint-Germain werde ich mit JA stimmen.”

Noch vor der Legitimation durch eine Wahl nimmt auch das Ausland Stellung. Die Regierungen in London und Paris erkennen beide schon am 2. April den Anschluß an, und Mussolini vergleicht ihn mit der Einigung Italiens im Jahre 1856. Damit ist auch Artikel 88 des Vertrags von Saint-Germain gefallen.

Die für den 10. April angesetzte Volksabstimmung wird zur Bestätigung der österreichischen Verfassungsväter von 1918. Von 4.284.795 Wählern stimmen 4.273.884 für die Wieder-vereinigung Österreichs und Deutschlands und 9.852 dagegen. Das sind 99,73 % pro Anschluß. Die Deutschen in Österreich und im so genannten Altreich – so zeigt die Wahl – sind an jenem 10. April 1938 durch das verbunden, was die Nation ausmacht: die gleiche Sprache und Kultur, die gemeinsame Geschichte, das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und der Wille, zusammen zu gehören .

Der Anschluß der Sudetenlande 1938

Die Deutschen in der Tschechoslowakei

Der Name Sudetendeutsche leitet sich von ihrer Heimat, den Sudeten ab, wie die Gebirge rund um Böhmen und Mähren bis 1945 heißen. Ab 1204 rufen böhmische Könige deutsche Bauern, Handwerker und Kaufleute zur Aufsiedlung und Entwicklungshilfe in ihr Land, wodurch die Randgebiete Böhmens und Mährens und einige Sprachinseln im Lande deutsch besiedelt werden und es über 700 Jahre bleiben. Die Deutschen sind dort, wie die Tschechen, Angehörige des Habsburger Reichs. So ist es nur natürlich, daß sie sich nach der Zerschlagung Habsburgs zunächst Österreich zugehörig fühlen. Am 29. Oktober 1918, nach dem Untergang der Habsburg-Monarchie, rufen die Abgeordneten der deutschsprachigen Wahlkreise Böhmens, Nordmährens und Österreichisch-Schlesiens die „Provinz Deutschböhmen“ aus und teilen der Wiener Nationalversammlung und dem US-Präsidenten Wilson mit, daß die Provinz ein Teil Deutsch-Österreichs werden soll. Trotz dieses klaren Votums landen die Sudetendeutschen 1918 erst durch die militärische Gewalt der Tschechen und dann 1919 durch den Spruch der Siegermächte im Staat der Tschechen und Slowaken. 1918 nutzen tschechische Soldaten, die bisher Untertanen des Kaisers von Österreich waren, den Zusammenbruch der habsburgischen Armeen, bilden die "Tschechische Legion", erobern die nun schutzlosen Randgebiete Böhmens und Mährens und schaffen damit Fakten gegen den Willen der dort lebenden Sudetendeutschen. Im Vertrag von St. Germain schreiben die Siegermächte diese Landeroberungen der Tschechen zu Lasten Österreichs später fest.

Tschechoslowakische Minderheitenpolitik

Die Tschechoslowakei ist ein erst 1919 entstandener Kunststaat. Der Doppelname Tschechoslowakei verweist nur auf die Völker der Tschechen und Slowaken. Er verschleiert, daß die größten Völker die Tschechen mit 6,7 Millionen Bürgern und die Sudetendeutschen mit 3,1 Millionen Bürgern sind. Das Leben der Sudetendeutschen in „ihrem“ neuen Staate erweist sich bald als unerfreulich. Staatsapparat, Polizei und Militär sind

überwiegend tschechisch und spiegeln den Proporz der Völker in keiner Weise wider. Wirtschaft, Schulen und Verwaltung in den bis dahin rein und überwiegend deutsch bewohnten Städten und Gemeinden werden gegen den Willen der ansässigen Bevölkerung und auch gegen die Garantien der Verfassung mit Nachdruck tschechisiert. 354 deutsche Volksschulen und 47 Mittelschulen müssen schließen. Etwa 40.000 deutsche Staatsbeamte werden aus dem Dienst entfernt. Die deutschen Städte werden umgetauft und erhalten tschechische Namen. Alle deutschen Landerwerbungen seit 1620 werden enteignet und an den tschechischen Bevölkerungsanteil „zurückerstattet” ( 1 ). Die Bestimmungen der Verträge von Saint-Germain und Trianon, die Tschechoslowakei zu einem Bundesstaat mit gleichen Rechten für alle Völker zu entwickeln, werden niemals umgesetzt. ( ( 1 ) 1620 war der protestantische Adel Böhmens nach einem Aufstand gegen das Kaiserhaus in Wien in der "Schlacht am Weißen Berge" vernichtend geschlagen und anschließend im "Prager Strafgericht" enteignet worden. Das damals in den Besitz des deutschen katholischen Adels übergegangene Land soll 1920 nach dem Willen der tschechischen Regierung wieder in tschechisches Eigentum übergehen. )

Die Sudetendeutsche Frage

In den 20er und 30er Jahren nimmt der Verdruß der Sudetendeutschen an der Vorherrschaft und an der Selbstbedienung der Tschechen in ihrem neuen Staate stetig zu. 1933 gelingt es einem 35jährigen Sudetendeutschen namens Konrad Henlein , die deutschsprachigen Bürger der Tschechoslowakei in einer Bewegung, die er die "Sudetendeutsche Heimatfront” nennt, zu sammeln. Henlein erkennt die Tschechoslowakei als den Staat der Sudetendeutschen an, doch er versucht, die Kultur, das Heimatrecht, die wirtschaftliche Stellung und die Arbeitsplätze der deutschen Bevölkerung in ihrem neuen Staate zu erhalten und, wo nötig, durchzusetzen. Aus der Sudetendeutschen Heimatfront bildet sich alsbald die “Sudetendeutsche Partei” (SdP), die schon bei den Mai-Wahlen 1935 stimmenstärkste Partei im Lande wird. Die Sudetendeutschen und die Slowaken drängen nun auf die in Saint-Germain versprochene innere Autonomie der Nationen im Vielvölkerstaate Tschechoslowakei.

Im Februar 1937 versucht Henlein, ein „Volksschutzgesetz” in die Prager National-versammlung einzubringen. Der Gesetzentwurf fordert die

Autonomie der vielen Völker dieses Staates. Dem folgt ein ergebnisloses Gespräch Henleins mit Ministerpräsident Hodscha zur Frage der deutschen Selbstverwaltung. Weitere Gespräche zu dieser Frage lehnt Hodscha danach ab. Im Oktober kommt es im Wahlkampf zu Gemeindewahlen zur offenen Konfrontation zwischen Tschechen und Sudetendeutschen. Konrad Henlein , der zu der Zeit noch immer um die Zukunft der Deutschen innerhalb der Tschechoslowakei kämpft, schickt Staatspräsident Beneš nun ein förmliches Ultimatum mit der Aufforderung, die innere Autonomie der Sudetenlande zu erklären. Beneš würdigt Henleins Ultimatum nicht einmal einer Antwort. Da Henlein bei Hodscha und Beneš kein Gehör gefunden hat, richtet er am 19. November 1937 ein schriftliches Ersuchen an Hitler, die deutsche Bevölkerung in der Tschechoslowakei zu unterstützen Das ist sein erster Hilferuf nach außen, der letzte Schritt vor der offiziellen Bitte, die Sudetengebiete dem Deutschen Reiche anzugliedern.

Die deutsche Einmischung in die tschechische Sudetenkrise

und der Fall GRÜN

Schon am 5. November 1937 weiht Hitler die Spitzen der Wehrmacht erstmals in seine Absicht ein, die Tschechei eines Tages zu erobern und, wie vor 1918, in das Deutsche Reich einzugliedern. Aus einer Weisung an die Wehrmacht vom 21. Dezember 1937 entnimmt man, daß Hitler zu der Zeit noch keine schnelle Lösung anvisiert. Es heißt dort: „Entwickelt sich die politische Lage nicht oder nur langsam zu unseren Gunsten, so wird damit auch die Auslösung des Falles „Grün“ von unserer Seite her noch um Jahre hinausgeschoben werden müssen.“

Grün ist fortan der Tarnname der Wehrmacht für die Tschechoslowakei. Hitler läßt intern die Eroberung der Tschechoslowakei vorbereiten und verlangt nach außen und öffentlich nicht mehr, als daß die Staatsführung in Prag „die Sudetendeutschen anständig behandelt”. Am 21. April 1938 gibt Hitler dem Oberkommando der Wehrmacht den Auftrag, sich mit der Tschechoslowakei zu befassen und die Möglichkeit eines Angriffs gegen sie als sog. Studie GRÜN zu untersuchen.

Im Februar 1938 bieten Hodscha und Beneš den Sudetendeutschen Zugeständnisse bei der Pflege und Anerkennung der deutschen Sprache und Kultur an, doch sie verbinden dieses Angebot mit einer scharfen Zurückweisung aller Forderungen nach Autonomie der Nationen innerhalb der Tschechoslowakei. Die Anerkennung der deutschen Sprache und Kultur ist jedoch nur das, was den Sudetendeutschen nach der tschechoslowakischen Verfassung ohnehin schon zugestanden hätte. Die sudetendeutsche Bevölkerung ist nun mit kulturellen Zugeständnissen allein nicht mehr zu gewinnen. Arbeitslosigkeit und materielle Not der in ihren eigenen Gebieten vom tschechischen Staat wirtschaftlich benachteiligten Deutschen verschärfen den Konflikt. Am 20. Februar 1938 äußert sich Hitler zum ersten Male öffentlich zum Los der Deutschen in der Tschechoslowakei. Er fordert in einer Reichstagsrede das von Amerika proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für die Deutschen in Österreich und in der Tschechoslowakei. Hitler verlangt mit seiner Februar-Rede vor dem Reichstag noch keinen Anschluß. Er gießt kein Öl ins Feuer.

Die DAILY MAIL kommentiert den Zustand am 6. Mai 1938 in einem Leitartikel:

„Die Deutschen sind ein sehr geduldiges Volk. Ich kann mir auch nicht einen Augenblick lang vorstellen, daß Großbritannien zwanzig Jahre lang ruhig zugesehen hätte, wie drei und eine halbe Million Briten unter der Knute eines durch und durch verabscheuten Volkes lebten, das eine fremde Sprache spricht und eine völlig verschiedene nationale Weltanschauung hat. Soweit ich meine Landsleute kenne, wären sie nach wenigen Jahren gegen eine solche Vergewaltigung eingeschritten.”

Die Zuspitzung der Sudetenkrise 1938

Ab dem 24. April 1938 entwickelt die Sudetenfrage ihre eigene Dynamik. Henlein verkündet auf einem Parteitag der SdP in Karlsbad einen Forderungskatalog an die Prager Regierung. Er verlangt die volle Gleichberechtigung der deutschen Volksgruppe mit der tschechischen, eine deutsche Selbstverwaltung für die Angelegenheiten der Deutschen in den Sudetenlanden, einen gesetzlichen Schutz für die Deutschen und die

volle Freiheit des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum und zur deutschen Weltanschauung. Er verlangt damit noch keinen Anschluß der Sudetenlande an das Deutsche Reich. Kaum daß das „Karlsbader Programm“ verkündet worden ist, verlangen die Slowaken, die Polen und die Ungarn in der Tschechoslowakei die gleiche Autonomie für sich. England und Frankreich drängen nun die Tschechoslowakei, mit den Sudetendeutschen zu verhandeln. Doch Henlein geht jetzt nicht mehr darauf ein. Im Mai 1938 werden bei Übergriffen 3 Sudetendeutsche getötet und 130 verletzt, viele davon schwer. Dazu kommen 40 Überfälle mit Mißhandlungen von sudetendeutschen Bürgern in der Tschechoslowakei.

Die Runciman-Mission

Präsident Beneš macht am 20. Mai die Armee der Tschechoslowakei mobil, beruft 180.000 Reservisten zu den Waffen und behauptet zur Begründung, Deutschland habe zuvor mobilgemacht. Das tschechische Kriegsministerium ergänzt, die deutsche Wehrmacht sei bereits mit 8 bis 10 Division auf dem Marsch zur Tschechoslowakei. Doch beide Nachrichten sind falsch. Beneš hat versucht, die Briten, Russen und Franzosen durch diesen Schachzug für sich und gegen Deutschland einzunehmen. Am 8. August 1938 entsendet die britische Regierung eine Kommission unter Sonderbotschafter Runciman nach Prag, um dort den Stand der sudetisch-tschechischen Differenzen zu ermitteln und, wenn nötig, zu vermitteln. Lord Runciman erfährt sehr schnell, daß ein Ausgleich zwischen Tschechen und Sudetendeutschen nicht mehr möglich ist. Sein Bericht vom 21. September 1938 fällt vernichtend für die Tschechen aus. Er gibt Henlein zwar die Alleinschuld für den letzten Abbruch der Gespräche. Doch im Runciman-Bericht steht auch:

„ Mein Eindruck ist, daß die tschechische Verwaltung im Sudetengebiet, wenn sie auch in den letzten 20 Jahren nicht aktiv unterdrückend und gewiß nicht “terroristisch” war, dennoch einen solchen Mangel an Takt und Verständnis und so viel kleinliche Intoleranz und Diskriminierung an den Tag legte, daß sich die Unzufriedenheit der deutschen Bevölkerung unvermeidlich zu einem Aufstand fortentwickeln mußte. ...Sogar“ so beklagt Runciman, “jetzt noch, zur Zeit meiner Mission, habe ich bei der tschechischen Regierung keinerlei Bereitwilligkeit gefunden, diesem Sachverhalt in erschöpfendem Maße abzuhelfen.”

Runciman schließt mit der Empfehlung, die Grenzbezirke mit überwiegend deutscher Bevölkerung unverzüglich von der Tschechoslowakei zu trennen und Deutschland anzugliedern.

Die Regierungen in London und Paris warnen nun zwar die Reichsregierung in Berlin vor einem Gewaltakt zugunsten der Sudetendeutschen. Doch beide stellen intern fest, daß sie zu einem Kriege nicht gerüstet sind, und London lehnt es ab, eine Garantieerklärung für die Tschechoslowakei abzugeben.

Chamberlains erster Vermittlungsversuch und Benešs Vorschlag zur Aussiedlung der Sudetendeutschen

Chamberlain sieht realistisch, daß die Ereignisse auf einen Krieg zutreiben, der die Briten gegen ihren Willen auf die Seite der Tschechen zwingen würde. In dieser Lage versucht er zu retten, was zu retten ist. Er bietet Hitler an, gemeinsam mit ihm eine friedliche Lösung der anstehenden Probleme in der Tschechoslowakei zu suchen. Am 15. September sucht Chamberlain Hitler in Berchtesgaden auf. Hitler fordert nicht weniger und nicht mehr als die von einer deutschen Mehrheit bewohnten Grenzgebiete für das Reich und für umstrittene Bezirke eine Volksabstimmung. Der deutsche Kanzler kündigt an, er werde die Probleme der Sudetendeutschen in Bälde „so oder so aus eigener Initiative lösen”. Chamberlain versteht die Drohung dieser Worte. „So oder so” heißt in Hitlers Art, sich auszudrücken: Einlenken der Gegenseite oder Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei. Chamberlain sagt Hitler zu, die Frage des Selbstbestimmungsrechts für die Sudetendeutschen sofort mit seinem Kabinett in London zu beraten und dann baldmöglichst zu einem zweiten Gespräch nach Deutschland zurückzukommen.

Chamberlain, der ohne Mandat der Tschechen verhandelt, kann deren Einverständnis zu Henleins und Hitlers Anschlussforderung nicht erreichen. Hitler sagt Chamberlain jedoch zumindest zu, daß die Wehrmacht solange nicht marschiert, wie die deutsch-englischen Gespräche laufen. Am 19. September fordern die englische und die französische Regierung die tschechische auf, selbst und auf eigenen

Entschluß mit oder ohne Volksabstimmung die Gebiete mit mehr als 50% sudetendeutscher Bevölkerung an das Deutsche Reich zu übergeben. Am 20. September, 20 Uhr, übermittelt der tschechische Außenminister Krofta den Botschaftern Englands und Frankreichs die Prager Antwort. Die Regierung der Tschechoslowakei lehnt es ab, die Sudetenlande abzutreten. Doch schon zwei Stunden später schwenkt Ministerpräsident Hodscha ein und läßt Paris und London übermitteln, daß die tschechoslowakische Regierung im Falle eines Krieges ohne britische Unterstützung zum Nachgeben bereit wäre. Die Antwort aus Paris folgt auf dem Fuß. Sie lautet: "Indem die tschechoslowakische Regierung den französisch-britischen Vorschlag ablehnt, übernimmt sie die Verantwortung dafür, daß sich Deutschland dazu entschließt, zu den Waffen zu greifen!" Die Antwort aus London ist nicht minder klar. England und Frankreich lehnen es also ab, den Tschechen im Falle eines deutschen Angriffs beizustehen. Am 21. September um 17 Uhr übergibt der tschechoslowakische Außenminister Krofta den Botschaftern Englands und Frankreichs die endgültige Entscheidung seiner Regierung . Der englisch-französische Plan zur Abtretung der mehrheitlich von Sudetendeutschen bewohnten Gebiete wird darin "mit dem Gefühl des Schmerzes" akzeptiert. Der Weg ist nun frei für weitere Gespräche zwischen Chamberlain und Hitler. Dieser wenig formelle Akt des Akzeptierens wird in der Geschichtsschreibung bisweilen als die "Prager Abtretung vom 21. September 1938" bezeichnet, die in der Tat der eigentliche völkerrechtliche Akt beim Wechsel der Sudetenlande von der tschechoslowakischen Hoheit unter deutsche Hoheit ist. Damit hätte die Auseinandersetzung um die Sudetenfrage eigentlich beendet werden können. Doch es kommt anders.

Auch der tschechische Staatspräsident Beneš sucht noch eine Lösung, allerdings in seinem Sinne. Er schlägt dem französischen Präsidenten Daladier vor, böhmische Landesteile mit 800-900.000 Sudetendeutschen an Deutschland abzutreten und dafür 1,5 bis 2 Millionen Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei nach Deutschland auszusiedeln. Als Beneš´ Abtretungsplan auf keine Gegenliebe stößt , fragt er am 19. September in Moskau an, ob ihn die Sowjetunion in einem Kriege gegen Deutschland unterstützen würde. Doch auch dieser Plan schlägt fehl. Die Polen und Rumänen gewähren den Sowjets keine Durchmarscherlaubnis für die Rote Armee hin zur Tschechoslowakei.

Chamberlain und Hitler in Bad Godesberg vom 22. bis 24. September 1938

Am 22. September treffen sich Chamberlain und Hitler ein zweites Mal, diesmal in Bad Godesberg bei Bonn. Ministerpräsident Chamberlain berichtet Hitler von der nur mit Druck und Mühen erreichten Annahme des englisch-französischen Plans durch die Regierung der Tschechoslowakei. Er rechnet nun mit Hitlers Dank, doch der schiebt zu seiner Bestürzung zwei neue Forderungen nach. Er verlangt die gleichen Regelungen für die ungarische und die polnische Minderheit sowie die sofortige Besetzung der mehrheitlich von Sudetendeutschen bewohnten Zonen durch die Wehrmacht innerhalb von nur vier Tagen. Die Konferenz von Godesberg droht, an Hitlers Nachforderungen zu scheitern. Daß die zweite Forderung des deutschen Kanzlers nicht ganz unberechtigt ist, erweist sich noch während der Gespräche. In Prag wechselt die Regierung, und am zweiten Konferenztag um 22.30 Uhr verkündet die neue Regierung der Tschechoslowakei die Allgemeine Mobilmachung und ruft 1,5 Millionen Soldaten zu den Waffen. Chamberlain versucht, Hitler diese Mobilmachung als Defensivmaßnahme zu erklären, doch auch der Naivste muß jetzt merken, daß die Tschechen den französisch-englischen Plan nun nicht mehr akzeptieren.

In den Folgetagen steht Europa am Rande eines neuen Krieges. Die deutsche Wehrmacht ist mit sieben Divisionen aufmarschiert. Die tschechische Regierung lehnt Hitlers Forderungen - besonders wegen der verlangten Volksabstimmung - ab und bringt das Heer mit Reservisten auf 43 Divisionen. Hitler beharrt darauf, daß die tschechische Regierung seine Godesberger Forderungen bis zum 28. September akzeptiert. Andernfalls - so seine Drohung - werde die Wehrmacht die Sudetengebiete am 1. Oktober 1938 mit Gewalt besetzen.

Die Münchener Konferenz vom 29. und 30. September 1938

Dank der Vermittlung des italienischen Ministerpräsidenten Mussolini kommt es am 29. und 30. September 1938 dann doch zu einer Lösung.

Hitler lädt die Staats- und Regierungschefs aus Rom, Paris und London nach München ein. Die Prager Regierung wird aus London informiert, doch nicht von Hitler eingeladen. Der „Führer” will mit der Regierung, die den Sudetendeutschen keine Freiheit geben wollte, nicht verhandeln. Es folgen zwei Tage harten Ringens. Am 30. September 1938 frühmorgens ist der Vertrag formuliert und unterschrieben. Die wesentlichen Punkte dieses nach dem Tagungsort benannten Münchener Abkommens lauten :

- Die Räumung der vorwiegend deutsch bewohnten Sudetengebiete beginnt am 1. Oktober

und ist bis zum 10. Oktober 1938 abzuschließen.

- Ein internationaler Ausschuß unter tschechischer Beteiligung bestimmt zusätzliche Gebiete, in denen die spätere Zugehörigkeit durch eine Volksabstimmung geklärt wird.

- Ein Optionsrecht für Tschechen und Sudeten innerhalb von sechs Monaten stellt einen freiwilligen Bevölkerungsaustausch sicher.

Dieses Münchener Abkommen von 1938 der vier Mächte wird den Tschechen mit der dringenden Empfehlung eröffnet, es unverzüglich anzunehmen. Bis zum 10. Oktober 1938 werden die Sudetengebiete mit zirka 3 Millionen Deutschen dem Deutschen Reiche angeschlossen. Damit sind der Wählerwille und das Selbstbestimmungsrecht der Bürger in der 1918 ausgerufenen „Provinz Deutschböhmen“ mit 20jähriger Verzögerung doch noch eingelöst worden.

Das Münchener Abkommen 1938

Der genaue Wortlaut des Münchener Abkommens ist es wert, aufmerksam studiert zu werden. Die Präambel lautet: "Deutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien sind unter Berücksichtigung des Abkommens, das hinsichtlich der Abtretung des sudetendeutschen Gebiets bereits grundsätzlich erzielt wurde, über folgende Bedingungen und Modalitäten dieser Abtretung ... übereingekommen." Hiermit drücken die vier Unterzeichner aus, daß die Abtretung nicht in München, sondern im Grundsatz schon zuvor entschieden worden ist. Die Formulierung "des Abkommens, das ... bereits grundsätzlich erzielt wurde," bezieht sich

ausdrücklich auf die "Prager Abtretung" vom 21. September. Die Abtretung ist zwar auf massiven deutschen Druck erfolgt, aber dennoch nicht zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei vereinbart worden. Und das hat seine Vorgeschichte, die mit Punkt 2 des Abkommens erkennbar wird. Punkt 2 lautet: "Das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien vereinbaren, daß die Räumung des Gebiets bis zum 10. Oktober vollzogen wird." Hier ist Deutschland nicht erwähnt, und das hat seinen Grund. Nur die drei Siegermächte des Ersten Weltkriegs vereinbaren die Räumung der Sudetenlande mit der Tschechoslowakei, weil nur sie es sind, die den Tschechen die Rechte an den deutschen Gebieten wieder aberkennen können, die sie ihnen im November 1918 unter falschen Voraussetzungen zugesprochen hatten. Beneš hatte den Siegern 1918 in Paris falsche Angaben zu dem Bevölkerungsanteil der Deutschen und zu ihren Siedlungsflächen vorgelegt und zudem versprochen, die nationalen Minderheiten nach Art der Schweiz an ihrem neuen Staate zu beteiligen. Mit Punkt 2 des Abkommens korrigieren die Siegermächte von 1918 einen ihrer in Saint-Germain gemachten Fehler.

Das Münchener Abkommen wird nach dem Zweiten Weltkrieg annulliert, und es dient den Tschechen und den Siegern, die Vertreibung der Sudetendeutschen aus ihrer angestammten Heimat und die Dekrete des Ministerpräsidenten Beneš zu begründen. Das Abkommen wird dabei im nachherein zur Ursache der Vertreibung und der Dekrete umgedeutet. Doch das Abkommen von München ist nicht zuerst die Ursache für die Verbrechen der Tschechen an den Deutschen im Jahre 1945 sondern vorher 1938 die Wirkung der vielen Wortbrüche, Diskriminierungen, Vergehen und Verbrechen der Tschechen an „ihren” Deutschen seit 1918. Mussolini, Daladier und Chamberlain setzen ihre Unterschriften in München nicht alleine unter den Vertrag, um Kriegsgefahr zu bannen. Sie unterzeichnen dies Abkommen über die Köpfe der Tschechen hinweg auch deshalb, weil sie nur zu gut wissen, daß die Tschechen sich die Gebiete der Sudetendeutschen 1918 ohne Rechtstitel, mit der Gewalt der Waffen angeeignet haben. Sie haben zur Kenntnis nehmen müssen, daß die Tschechen und Slowaken den Deutschen und Ungarn die in Saint-Germain versprochenen und in der Verfassung von 1920 festgeschriebenen Minderheitenrechte niemals völlig zugestanden haben.

(In der gängigen Literatur sind diese Geschehnisse auch unter den

Stichworten Beneš-Minderheitenpolitik - in deutscher Schreibweise Benesch-Minderheitenpolitik -, unter Sudetenland und unter Appeasement-Politik zu finden.)

Die Tschechoslowakei auf ihrem Weg zum Protektorat 1939

Die Tschechoslowakei als Vielvölkerstaat

Die Tschechoslowakei ist nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegermächten aus Landesteilen zusammengefügt worden, die vormals österreichisch, ungarisch, deutsch oder polnisch waren, aber nie in der Geschichte einen Staat gebildet haben. Der Name verschleiert, daß im neu geschaffenen Staat die größten Völker Tschechen und Sudentendeutsche sind und nicht Tschechen und Slowaken, und er läßt nicht erkennen, daß der neue Staat drei Landesteile hat und nicht nur zwei. Die Karpato-Ukraine, ganz im Osten der Tschecho-slowakei, bildet mit ihrer ruthenisch-ukrainischen Bevölkerung ein eigenes Gebiet. 1938 zählt die Tschechoslowakei neben 6,7 Millionen Tschechen auch 3,1 Millionen Deutsche, 2 Millionen Slowaken, 734tausend Ungarn, 460tausend Ruthenen (Ukrainer), 180tausend Juden, 75tausend Polen und 240tausend Menschen anderer Herkunft. Die Tschechen stellen damit im eigenen Staat nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung. Der Status dieses neuen Staatsgebildes ist in den Verträgen von Saint-Germain, von Trianon und von Versailles festgeschrieben. Die Verträge bestimmen, daß jede da genannten Minderheiten ihre innere Autonomie in der neuen Tschechoslowakei erhalten soll. Von Seiten der Tschechen wird das auch so zugesagt. Der tschechische Delegierte in Saint-Germain Eduard Beneš teilt den Siegermächten diese Absicht als Versprechen in einer Note vom 20. Mai 1919 schriftlich mit:

„Die tschechoslowakische Regierung hat die Absicht, ihren Staat so zu organisieren, daß sie als Grundlage der Nationalitätenrechte die Grundsätze annimmt, die in der Verfassung der schweizerischen Republik zur Geltung gebracht werden, d.h., sie will aus der Tschechoslowakischen Republik eine bestimmte Art Schweiz machen.”

Schon die Verfassung von 1920 löst die Zusagen für eine Autonomie

nicht für alle Minderheiten ein. Den Slowaken gegenüber erkennen die Tschechen ihr Versprechen nicht mehr an und verweigern ihnen das zugesagte eigene Landesparlament. Auch die Deutschen, die Ungarn und die Polen werden in dieser Hinsicht nicht bedacht. Sie stehen lediglich unter dem Schutz von Minderheitenartikeln in der Staatsverfassung. Der neue Staat entwickelt sich statt dessen bald zu einem Zentralstaat in der Hand der Tschechen. Staatsapparat, Polizei und Militär sind überwiegend tschechisch. Die einsetzende Bedrückung der vielen Minderheiten durch die Tschechen belastet fortan das Verhältnis der Tschechoslowakei zu allen ihren Nachbarstaaten.

Das deutsch-tschechische Verhältnis ist dabei durch zweierlei Entwicklungen in einem besonderen Maß belastet. Die eine ist die historische Konkurrenz der Deutschen und der Tschechen, die nun offen an den Tag tritt. So veröffentlicht zum Beispiel ein tschechischer Jurist Namens Stěhule 1919 eine Denkschrift mit dem Titel „Der tschechoslowakische Staat im internationalen Recht“, in der er die Stellung der Deutschböhmen in seinem neuen Staat wie folgt beurteilt:

„... Der Deutsche als Feind der Menschheit kann das Recht auf Selbstbestimmung nicht nach seinen egoistischen Bedürfnissen wahrnehmen. ... Es sind die Slawen, auf deren Kosten sich der Deutsche ausgebreitet hat, und dieses Unrecht muß nach der Meinung der Menschheit wieder gutgemacht werden, d.h. das deutsche Volk muß dieses Territorium seinen rechtmäßigen Eigentümern herausgeben.“

Mäßigendere tschechische Stimmen dringen kaum noch durch.

Die andere Entwicklung zeigt sich in der gegen Deutschland gerichteten Bündnispolitik Prags mit Moskau und Paris. 1936, während der Rheinlandkrise bieten die Tschechen den Franzosen ihre Waffenhilfe gegen Deutschlands „Rücken“ an. Verbündete sowjetische Offiziere erkunden Flugplätze in der Tschechoslowakei, um sie gegebenenfalls in einem Kriege zu nutzen. Der französische Luftfahrtminister Cot äußert noch am 14. Juni 1938 in einem Interview: „... daß gemeinsame Angriffe der französischen und der tschechischen Luftwaffe sehr schnell alle deutschen Produktionsstätten vernichten könnten.“ So bildet die Tschechoslowakei mit ihrer weit in deutsches Staatsgebiet hineingeschobenen geo-strategischen Lage und ihrer Bündnispolitik eine

latente Bedrohung für das Deutsche Reich.

Hitler erwähnt in einer - von Oberst Hoßbach protokollierten - Generalsbesprechung im November 37 erstmals, daß er gedenkt, den tschechischen Landesteil der Tschechoslowakei, der bis 1918 fast 1000 Jahre lang zum Deutschen Reich gehört hat, als „Lebensraum im Osten“ und wegen der latenten Bedrohung von dort bei Gelegenheit zu annektieren. Im Dezember 1937 ordnet Hitler der Wehrmachtsführung gegenüber erstmals an, Pläne für eine spätere Eroberung der Tschechei zu erarbeiten.. Mit einer weiteren Weisung vom 21. Dezember 1937 wird die Tschechei zum eigenen Kriegs- und Eroberungsziel. Jetzt geht es auch nicht mehr alleine um die „Heimkehr“ der Sudetendeutschen. Nun steht die Tschechoslowakei als Erweiterung des deutschen Lebensraums und als militärisch dauerhaftes Risiko für Deutschlands Sicherheit auf Hitlers Tagesordnung.

Das tschechisch-slowakische Verhältnis

Abgesehen von der zunächst vertraglich vereinbarten und dann doch nicht zugestandenen Autonomie für die Slowakei übernehmen die Tschechen von Beginn an in vielen Gemeinden der Slowakei die kommunale Gewalt, die nun eigentlich auf die Slowaken übergehen sollte. Als 1928 ein führender slowakischer Politiker, der spätere Staatspräsident der Slowakei, Professor Dr. Vojtech Tuka in einer von ihm verfassten Schrift die einst zugesagte Autonomie für sein Volk verlangt, wird er mit 15 Jahren Haft bestraft. Die Unzufriedenheit der Slowaken wächst, je länger die Tschechen die Tschechoslowakei als "ihren" Staat regieren. 1937 fordert der Chef der Slowakischen Volkspartei Andrej Hlinka noch einmal die zugesagte Autonomie für die Slowaken, dazu die Anerkennung seines Volkes als politische Körperschaft mit Minderheitenrechten und eine Besitzstandsgarantie für den Landbesitz des slowakischenn Bevölkerungsanteils. Im selben Jahr schreibt der "Slowakische Rat" der Exilslowaken aus den USA an die tschechische Regierung einen offenen Brief, in dem es heißt:

"Mit welchem Recht habt ihr die Slowakei und Ruthenien besetzt? Wir sind keine Tschechen, keine Tschechoslowaken. Wir sind Slowaken und wollen Slowaken bleiben. Unser Volk leidet Mangel. Tschechische Polizei schießt bei Demonstrationen auf Slowaken. ... Gebt uns unsere Freiheit

wieder."

Die tschechoslowakische Ehe ist Ende der 30er Jahre zerrüttet.

Die Sudetenkrise

Im. März 1938 wird Österreich an Deutschland angeschlossen. Von da an steht das Thema „Tschechoslowakei” in London, Paris und Moskau auf die Tagesordnung. Hier argwöhnt man zu Recht, daß Hitler der Sudetendeutschen wegen und um sich der Tschechen im eigenen Rücken zu entledigen, als nächstes die Tschechoslowakei erobern könnte. Auch innerhalb der Tschechoslowakei spitzt sich nun die Lage zu. Die Forderungen der Sudetendeutschen nach der Verwirklichung der in der Verfassung vorgesehenen Autonomie innerhalb der Tschechoslowakei werden immer direkter vorgetragen. Die Benachteiligung und Verfolgung der Sudetendeutschen hört indes nicht auf. Vom 1. bis 31. Mai 1938 werden in der Tschechoslowakei bei Übergriffen 3 Sudetendeutsche getötet und 130 verletzt, viele davon schwer. Des weiteren sind 40 Überfälle mit Mißhandlungen von sudetendeutschen Bürger bekannt geworden.

Im August 1938 entsendet die britische Regierung eine Kommission unter Sonderbotschafter Runciman nach Prag, um dort den Stand der sudetisch-tschechischen Differenzen zu ermitteln und, wenn möglich, zu vermitteln. Lord Runciman erfährt sehr schnell, daß ein Ausgleich zwischen Tschechen und Sudetendeutschen nicht mehr möglich ist. Runcimans Bericht vom 21. September 1938 fällt vernichtend für die Tschechen aus. Runciman empfiehlt, die Grenzbezirke mit überwiegend deutscher Bevölkerung unverzüglich von der Tschechoslowakei zu trennen und an Deutschland anzugliedern. Für weitere Gebiete, in denen die Sudeten nicht die große Mehrheit bilden, schlägt er Volksabstimmungen vor und einen autonomen Status innerhalb der verbleibenden Tschechoslowakei.

In dieser Lage versucht der britische Premierminister Chamberlain zu retten, was zu retten ist.

Chamberlain verhandelt am 15. September in Berchtesgaden mit dem deutschen Kanzler Hitler und noch einmal vom 22. bis 24. September in Bad Godesberg bei Bonn, um das Problem der über drei Millionen

Sudetendeutschen ohne Krieg zu lösen. Hitler verlangt den Anschluß der Sudetenlande bis zum 1. Oktober 1938 und droht anderenfalls mit Krieg. Dank der Vermittlung des italienischen Ministerpräsidenten Mussolini kommt es am 29. und 30. September 1938 auf der Münchener Konferenz dann doch zu einer Lösung. Hier beschließen die Staats- und Regierungschefs aus Rom, Paris, London und Berlin in einem Kompromiß:

1. Die Räumung der vorwiegend deutsch bewohnten Sudetengebiete zwischen dem 1. und dem 10. Oktober 1938 und

2. daß ein internationaler Ausschuß unter tschechischer Beteiligung zusätzliche Gebiete bestimmen soll, in denen die spätere Zugehörigkeit durch eine Volksabstimmung geklärt wird.

Dieses Münchener Abkommen der vier Mächte wird den Tschechen von den Botschaftern Englands und Frankreichs wie ein Urteil ohne Berufungsmöglichkeit eröffnet mit der dringenden Empfehlung, es unverzüglich anzunehmen. So verliert die Tschechoslowakei im Oktober 1918 ihre überwiegend deutsch bewohnten Landesteile.

Der Zerfall der Tschechoslowakei

Die Trennung der deutschsprachigen Bevölkerung vom Staat der Tschechen und Slowaken nach der Konferenz von München löst das Problem nicht, das dieser Staat seit seiner Gründung hat. Den Slowaken, Ungarn, Polen und Ruthenen (Ukrainern) sind 1919 in der „Vereinbarung von Pittsburgh“ und im Minderheitenabkommen von Saint-Germain Rechte zugesprochen worden, die sie nun - wie jetzt die Sudetendeutschen - endlich haben wollen. Doch die Tschechen kämpfen trotz des bitteren Lehrgelds, das sie in München hatten zahlen müssen, weiterhin um ihre Vorherrschaft über die Slowaken und Ruthenen. Zum Druck von innen folgt nun neuer Druck von außen. Im Oktober 1938 fordert Polen Grenzgebiete von den Tschechen, im März 1939 folgen ungarische Ansprüche. Am 13. März teilt der rumänische Außenminister Gafencu der deutschen Reichsregierung mit, daß

„Rumänien kein Interesse an einem Fortbestand der Tschechei oder der Slowakei habe, und daß es sich in keiner Weise mehr an Prag gebunden fühle”.

An diesem Tage lösen sich die Slowakei und die Karpato-Ukraine aus der Tschechoslowakei. Die slowakische Regierung bittet Hitler unverzüglich, die Schutzherrschaft über ihren neuen Staat zu übernehmen. Die Karpato-Ukraine wird sofort von Ungarn annektiert. Am 14. März 1939 hat die Tschechoslowakei aufgehört, zu existieren.

Die Tschechei wird zum Protektorat

Am 13. März 1939, nimmt der englische Botschafter Henderson in Berlin Verbindung zu Staatssekretär von Weizsäcker im Auswärtigen Amt auf. Er will erfahren, was Hitlers weitere Absicht ist. Von Weizsäcker, der Hitlers Einmarschpläne kennt, weicht aus und sagt nur: „Was auch immer getan wird, wird in einer anständigen Weise geschehen”. Henderson warnt von Weizsäcker in aller Eindringlichkeit vor dem Eingreifen Englands für den Fall, daß das Münchener Abkommen verletzt werden sollte. Diese Warnung bleibt, was Hitler später wohl vermerkt, eine leere Drohung. Henderson drängt am gleichen Tag noch seinen tschechischen Kollegen, er möge seinem Außenminister in Prag nahelegen, sofort nach Berlin zu reisen und die tschechoslowakische Entwicklung mit der Reichsregierung absprechen.

Ob auf Druck des englischen Botschafters oder aus eigenem Entschluß, am 14. März wendet sich der bisherige Staatspräsident der Tschechoslowakei, und ab diesem Tag nur noch Präsident der Tschechen, Dr. Hacha an den deutschen Kanzler. Er bittet um einen baldigen Besuchstermin. Noch am 14. nachmittags reisen Dr. Hacha und sein Außenministers Chvalkowsky mit der Bahn von Prag nach Berlin. Dr. Hacha trifft spät abends ein und wird mit allen zeremoniellen Ehren, die einem ausländischen Staatsoberhaupt gebühren, in der Reichshauptstadt empfangen. Im Vorgespräch, das der tschechische Präsident noch im Hotel mit dem deutschen Außenminister führt, sagt Dr. Hacha zu von Ribbentrop, daß er gekommen sei, „um das Schicksal der Tschechei in die Hände des Führers zu legen”. Von Ribbentrop meldet Hitler diese hachasche Redewendung,

worauf der von Ribbentrop beauftragt, sofort ein deutsch-tschechisches Abkommen zu diesem Zwecke zu entwerfen.

Als Dr. Hacha bei Hitler eintrifft, ist es inzwischen 1.15 Uhr morgens; für den alten und herzleidenden Präsidenten eine arge Strapaze. Hacha kann auf das, was nun auf ihn zukommt, nicht ganz unvorbereitet gewesen sein. Bereits beim Empfang am Bahnhof hatte ihn der tschechische Botschafter davon unterrichtet, daß soeben deutsche Truppen in Mährisch-Ostrau auf tschechisches Territorium vorgedrungen wären. Ansonsten sind die deutschen Verbände, die zur Besetzung vorgesehen sind, während sich Dr. Hacha und Hitler gegenübertreten, bereits auf ihrem Marsch zur Grenze. Hitler hatte den Einmarsch deutscher Truppen schon vor zwei Tagen für diesen Morgen auf 6 Uhr in der Frühe festgelegt.

Präsident Hacha geht mit ausgestreckten Armen auf Hitler zu und eröffnet das Gespräch mit einem Schwall von Freundlichkeiten:

„Exzellenz, Sie wissen gar nicht, wie ich Sie bewundere. Ich habe alle Ihre Werke gelesen, und ich habe es möglich gemacht, daß ich fast alle ihre Reden hören konnte.”

Nach der Konferenzeröffnung ist es wieder der tschechische Präsident, der sofort das Wort ergreift. Nachdem er zunächst erklärt, daß er den nun selbständigen Slowaken „keine Träne nachweint” kommt er zum deutsch-tschechischen Verhältnis:

„Jahrhunderte lang haben unsere Völker nebeneinander gelebt und den Tschechen ist es nie so gut gegangen wie dann, wenn sie mit den Deutschen im Einvernehmen lebten. Deshalb habe ich Sie auch um eine Unterredung gebeten, denn ich will die Mißverständnisse, die zwischen unseren beiden Ländern aufgetaucht sein mögen, ausräumen. Ich lege das Schicksal meines Volkes in Ihre Hände mit der Überzeugung, daß ich es in gar keine besseren legen könnte.”

Hitler erwidert zunächst freundlich, doch dann beginnt er aufzuzählen, wie die alte Tschechoslowakei das deutsch-tschechische Verhältnis ruiniert hat. Auch nach der Konferenz von München vor sechs Monaten und nach der Ausgliederung der Sudetengebiete habe sich am alten Geist der Feindschaft nichts geändert. Die tschechische Armee sinne nur auf

Rache.

„So sind”, sagt Hitler, „bei mir am letzten Sonntag die Würfel gefallen. ... Ich habe der Wehrmacht den Befehl gegeben, in die Rest-Tschecho-Slowakei einzurücken und sie in das Deutsche Reich einzugliedern. .... Jetzt gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: entweder leistet die tschechische Armee dem Vormarsch der deutschen Truppen keinen Widerstand. In diesem Falle hat Ihr Volk noch gute Aussichten für die Zukunft. Ich werde ihm eine Autonomie gewähren, die weit über alles hinausgeht, wovon es zu Zeiten Österreichs hätte träumen können. Oder aber ihre Truppen leisten Widerstand. In diesem Falle werden sie mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln vernichtet werden.”

Eine Verhandlung zwischen Hitler und Hacha findet nicht mehr statt. Der „Führer” drängt den tschechischen Präsidenten, seinen Truppen sofort zu befehlen, keinen Widerstand zu leisten. Der anwesende Oberbefehlshaber der Luftwaffe Göring, setzt nach und droht, andernfalls am nächsten Morgen Prag zu bombardieren. Dr. Hacha gibt schweren Herzens der Erpressung nach und weist Verteidigungsminister Sivory an, jeden Widerstand der tschechischen Armee zu unterbinden. Nachdem das klar ist, wird auch auf deutscher Seite ein Schießverbot für die Wehrmachtsteile ausgesprochen, die ab 6 Uhr die Grenzen überschreiten sollen.

Morgens um 3.55 Uhr schreiten Hitler und Dr. Hacha zur Unterzeichnung der Erklärung, die Außenminister von Ribbentrop nach seinem ersten Gespräch mit Hacha am vergangenen Abend auf Hitlers Geheiß entworfen hatte:

„... Auf beiden Seiten ist übereinstimmend die Überzeugung zum Ausdruck gebracht worden, daß das Ziel aller Bemühungen die Sicherung von Ruhe, Ordnung und Frieden in diesem Teil Mitteleuropas sein müsse. Der tschecho-slowakische Staatspräsident hat erklärt, daß er um diesem Ziel zu dienen und um eine endgültige Befriedung zu erreichen, das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches legt. Der Führer hat diese Erklärung angenommen und seinem Entschluß Ausdruck gegeben, daß er das tschechische Volk unter den Schutz nehmen und ihm eine seiner Eigenart gemäße autonome Entwicklung seines völkischen Lebens

gewährleisten wird.”

Das Protektorat Böhmen und Mähren

Der Vollzug dieser erpreßten Abmachung geht erstaunlicher Weise ohne alle Reibungen über die Bühne der Tschechei. Die Wehrmacht besetzt noch bis zum Abend die Landesteile Böhmen und Mähren. Hacha bleibt Regierungschef bis 1945. Der frühere deutsche Außenminister von Neurath wird ihm als „Reichsprotektor” und Hitlers persönlicher Vertreter vorgesetzt. Die deutsche Reichsregierung übernimmt die Ressorts Außenpolitik, Finanzen, Wirtschaft und Verteidigung in eigene Regie. Hachas tschechische Regierung verfügt mit der Hoheit über Inneres, Kultur und weitere Ministerien dann nur noch über die Befugnis, ein im Inneren autonomes Eigenleben zu gestalten. Die Polizei bleibt demnach tschechisch. Das Militär wird von 150.000 Mann auf 7.000 abgerüstet.

Diese Darstellung darf nicht verdecken, daß die Protektoratsmacht Deutschland die Tschechei bis 1945 mit einem Heer von 5.000 Polizeibeamten kontrolliert und damit alle antideutschen Bestrebungen im Keim erstickt. Eine geschätzte Zahl von 36 bis 55tausend Tschechen wird in den sechs Jahren Opfer deutscher Herrschaft, wobei - auch das gehört zum deutsch-tschechischen Verhältnis - mehr als 90 Prozent der Denunziationen und Anzeigen, die zur Verhaftung von Tschechen führen, auch von Tschechen stammen .

Der Anschluß des Memellandes 1939

Die Geschichte des Memellandes

Im 12. und 13. Jahrhundert missionieren und erobern der Livländische Schwertbrüderorden von Norden und der Deutsche Orden von Süden die baltischen Gebiete entlang der Ostseeküste. Die dort ansässigen Kuren und die deutschen Eroberer vermischen sich. Das Kurische als Sprache dieses Landstrichs stirbt dabei langsam aus. So wird das Memelgebiet schon um das Jahr 1200 deutsch. Die Litauer siedeln zu der Zeit noch weiter östlich hinter dem Siedlungsgebiet der benachbarten Szamaiten als übernächste Nachbarn.

1252 gründen deutsche Ordensbrüder dort, wo die Danje in die Ostsee mündet, an einer Stelle, die auf Kurisch "Klajs peda" ( deutsch: flache Stelle ) heißt, ihre erste Burg und unmittelbar daneben eine deutsche Siedlung. Daß die "Memelburg" der Ordensritter die erste Burg an diesem Platze war, ist daraus zu schließen, daß die Kuren ihre Burgen auf den Höhen bauten und nicht wie Klajs peda an einer flachen Stelle in der Niederung am Meer. So weist der heutige litauische Name Klaipeda für die früher deutsche Stadt Memel auf den kurischen Namen einer deutschen Burg hin und nicht auf eine frühere litauische Siedlung.

Ein Weiteres verdient erwähnt zu werden. Schon zur Zeit der ersten deutschen Besiedlung wandern getaufte Litauer - wenn auch in geringen Zahlen - von Osten in das Ordensland. Sie sind im damals noch heidnischen Litauen der Verfolgung ausgesetzt und suchen Schutz beim Orden. Drei Jahrhunderte danach, nach der Reformation und der Umwandlung Ostpreußens und des Memellands von einem geistlichen Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum, werden diese so genannten Kleinlitauer zusammen mit ihren deutschen Nachbarn Protestanten. Sie behalten zwar die Muttersprache, doch entwickeln sie einen eigenen litauischen Dialekt und eine deutsch-litauische Zweisprachigkeit in ihrer Alltagspraxis. Zu Ende des Ersten Weltkriegs stellen diese Kleinlitauer im Memelland 48% der ansässigen Bevölkerung. Trotz der Bezeichnung und trotz der Muttersprache fühlt sich die Mehrheit der Kleinlitauer zum deutschen Kulturkreis und zum Deutschen Reich gehörig. Bei der Memeler Volksbefragung nach den "Familiensprachen" im Jahre 1922 bekennen sich 71.156 Memelländer zur deutschen Sprache und 67.259 zur litauischen Sprache, doch nur 2,2% der Kleinlitauer wünschen, den Lese- und Rechtschreibunterricht in den Schulen von Deutsch auf Litauisch zu wechseln. Deutsch ist inzwischen ihre zweite angestammte Sprache. Soweit zur Vorgeschichte des Memellandes.

Versailles und das Memelland

Der Landzipfel zwischen dem Fluß Memel im Süden und dem Ort Nimmersatt im Norden, der den Staat Litauen nach der geographischen Gegebenheit so ideal ergänzt, ist vor 1923 niemals litauisch gewesen. 1919 in Versailles beanspruchen die zwei Staaten Polen und Litauen das Memelland für sich. Beide sehen im Zusammenbruch des besiegten

Deutschen Reichs die Chance, ihre neu formierten Länder zu Lasten Deutschlands "aufzurunden". Die Polen wollen ganz Litauen samt Memelland für sich, die Litauer das Memelland mit der Stadt und dem Hafen Memel als Tor zur nahen Ostsee. Die alliierten Siegermächte erfüllen weder Polens noch Litauens "Ansprüche" auf das Memelland. Auch die deutschen Versuche, das Memelland zu halten, werden von den Siegermächten abgewehrt. Drei Vorstöße der Deutschen Reichsregierung und der memelländischen Volksvertretung im Mai, im August und im September 1919 werden mit der Begründung abgelehnt, das Memelgebiet sei nach dem Versailler Vertrag nicht mehr Teil des Deutschen Reichs, und man könne deshalb mit Deutschland in dieser Sache nicht verhandeln. Das Memelland wird 1919 von den Siegermächten von Deutschland abgetrennt und als Völkerbundsmandat unter französische Verwaltung gestellt und dann 1923 völkerrechtswidrig von Litauen annektiert.

Die Annexion des Memellandes 1923 durch Litauen

Vom 10. Januar 1923 dringen 5 bis 6.000 litauische Freischärler und zivil gekleidete Soldaten in das Memelgebiet ein und vertreiben die 200 französischen Soldaten, die bis dahin das Memelland kontrollieren. Die Ständige Botschafterkonferenz der Siegermächte legt Protest ein, doch Litauen weigert sich, das Memelland herauszugeben. Die Siegerstaaten geben nach und übertragen am 16. Februar 1923 die Souveränität über das Memelgebiet an Litauen. Damit haben die Siegermächten den Versailler Vertrag ein weiteres Mal gebrochen. Sie setzen allerdings den Abschluß einer „Memelkonvention“ durch, die am 8. Mai 1924 im Namen des Völkerbunds mit Litauen geschlossen wird. Mit dieser Konvention wird Litauen auferlegt, den Memelländern eine weitgehende Autonomie in ihrem neuen Staate einzuräumen. Zur Memelkonvention gehört als Anhang das „Memelstatut“ , die Verfassung für das übertragene Gebiet.

Das Memelland unter dem Memelstatut

Die litauische Regierung ist fortan durch einen Gouverneur im Memelland vertreten. Das Land regiert sich durch ein Direktorium selbst. Die Gesetze erlässt der Memeler Landtag . Die Memelländer werden, ohne daß man sie dazu befragt hat, Litauer. Die Wahl des ersten Memeler Landtags am 29.Oktober 1925 erbringt 94% der Stimmen für die Parteien der deutschen Einheitsfront und 6% für die litauischen Parteien. Der litauische

Gouverneur in Memel verweigert der deutschen 94%-Mehrheit das Recht, den Regierungschef im Direktorium zu stellen. Er setzt statt dessen einen Litauer als Chef des Memeler Direktoriums ein. Eine Beschwerde des Landtags beim Völkerbund hierzu bleibt ohne Wirkung.

Die Folgejahre bleiben für die memelländische Bevölkerung und die Litauer eine Zeit der unerfreulichen Auseinandersetzungen. Die Litauer werfen den Memelländern mangelnden Integrationswillen und Illoyalitäten vor. Die Memelländer ihrerseits beklagen eine nicht endende Kette von Verstößen der Litauer gegen die Memelkonvention. Es gibt Streit über die Benutzung des Deutschen als Schul- und zweite Amtssprache, über die Verwaltung des Memeler Hafens, über die staatliche Finanzausstattung des autonomen Memelgebiets, über die vom Staat zu leistenden Pensionszahlungen, über litauische Gerichtsurteile ohne Verfahren und Anhörung, über die konventionswidrigen Anwendungen des Kriegsrechts, über die wiederholte Absetzung des deutsch-memelländischen Chefs des Direktoriums, über die Pressezensur, über die Verhaftung von Landtagsabgeordneten, über die ständige Blockierung von Landtagsgesetzen durch den litauischen Gouverneur und so weiter und so fort.

Die 11 Klagepunkte

Im Laufe des Jahres 1935 bemüht sich Litauen um einen Nichtangriffspakt mit Deutschland. Reich zu schließen. Die Reichsregierung lehnt das mit Hinweis auf die zu oft verletzte Memelkonvention ab. Im März 1938 verlangt die deutsche Regierung von der litauischen in einer Note, die Konvention ohne Abstrich einzuhalten. Die Note besteht aus “11 Klagepunkten” von denen die Reichsregierung fordert, sie alsbald abzustellen. Die Klagepunkte sind: Der Kriegszustand im Memelgebiet seit 1926, die Beschränkungen der Vereins-, Versammlungs- und Pressefreiheit, Verhaftungen durch den litauischen Kriegskommandanten und die litauische Politische Polizei, die weitgehende Lahmlegung der gesetzgeberischen Tätigkeiten des Memeler Landtags durch das häufige Veto des litauischen Gouverneurs im Gegensatz zu den Bestimmungen der Konvention, unangemessen umfangreiche Enteignungen von Memeldeutschen im Memeler Stadtgebiet im September 1937, Druck auf die Betriebe, deutsche durch litauische Arbeitskräfte zu ersetzen und so weiter. Bemerkenswert bei der Note der “11 Klagepunkte” ist, daß die

Reichsregierung mit keiner Silbe das Verlangen äußert, das Memelland an Deutschland abzutreten.

Hitler faßt eine militärische Lösung des Problems allerdings schon im Oktober 1938 als Möglichkeit ins Auge. Am 21. Oktober gibt er der Wehrmacht die lapidare Weisung,

„Die Wehrmacht muß jederzeit darauf vorbereitet sein, das Memelland in Besitz zu nehmen“.

Konkrete Pläne und Befehle folgen daraus jedoch zunächst noch nicht.

Die ersten deutsch-litauischen Verhandlungen 1938

Nachdem Österreich und die Sudetenlande 1938 an Deutschland angeschlossen worden waren, fordern auch die Memelländer ihre Rückkehr in ihr deutschen Mutterland. Als sich die litauische Regierung ihren Herrschaftsanspruch über das Memelland von Frankreich und von England garantieren lassen will, winken beide Mächte ab. Als Konsequenz dieser außenpolitischen Lage beginnt die litauische Regierung nun, bei der deutschen zu sondieren. Der litauische Gesandte Šaulys trägt am 31. Oktober in Berlin den Wunsch vor, die deutsch-litauischen Beziehungen neu zu gestalten, und er bittet um eine Erklärung der deutschen Seite zur Unverletzbarkeit des litauischen Staatsgebiets. Das kommt dem Wunsch gleich, daß Deutschland endgültig auf das Memelland verzichtet. Die Reichsregierung verlangt jedoch vor weiteren Gesprächen erst einmal die völlige Einhaltung der Autonomie fürs Memelland. Inzwischen ist der Verdruß der Memelländer über ihre litauische Herrschaft allerdings zu groß geworden, als daß sie noch mit der Autonomie hätte befriedigt werden können. Ab November 1938 kommt es im Memelland zu prodeutschen Aufmärschen und Fackelzügen und zu der offenen Forderung nach baldiger Rückgliederung ins Deutsche Reich. Die Reichsregierung hält sich trotzdem zunächst weiterhin zurück.

Die Memeler Landtagswahl 1938

Am 20. November 1938 läßt die litauische Regierung die deutsche wissen, daß sie bereit sei, mit Deutschland über alle offenen Fragen zu verhandeln. Am 1. Dezember erklärt sie auch die Bereitschaft, dem Memelgebiet die

volle Autonomie zu geben. Reichsaußenminister von Ribbentrop erwägt die Einladung seines litauischen Kollegen und läßt zwei Verträge ausarbeiten. Entwurf eins sieht die Rückkehr des Memellands zu Deutschland vor und als Gegenleistung einen litauischen Freihafen und Wirtschaftsprivilegien in Memel. Entwurf zwei verlangt nur die volle Autonomie für das Memelland. Ansonsten informiert der Außenminister sein Haus, daß eine gewaltsame Rückeroberung des Memelgebietes nicht in der Absicht Hitlers liegt.

Am 11. Dezember 1938 wird erneut gewählt.. Die deutsche Liste bekommt 87% der abge-gebenen Stimmen. Das Ergebnis wirkt wie ein Votum der Bevölkerung für den Anschluß an das Deutsche Reich.

Die Reaktionen aus Berlin und Kaunas auf die Landtagswahlen sind so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm. Der “Stellvertreter des Führers” Rudolf Heß erläßt am 2. Februar 1939 eine streng geheime Weisung an die deutschen Dienststellen im Memelgebiet und im Deutschen Reich, “daß jedes Hinarbeiten deutscher Parteistellen nach dem Memelgebiet zu unterbleiben habe, daß vor der Hand jeder Konflikt mit der litauischen Regierung zu vermeiden sei und daß die memeldeutsche Führung für die Durchführung dieser Weisung verantwortlich gemacht werde”.

Als am 15. März 1939 der im Dezember1938 neu gewählte Landtag noch immer nicht vom litauischen Gouverneur zu seiner ersten Sitzung einberufen worden ist, hält der Vertreter der deutschen Parteienliste Dr. Ernst Neumann eine öffentliche Rede. Er beklagt die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Memelländer. Er prangert den wirtschaftlichen Niedergang des Gebiets unter litauischer Herrschaft an, und er verlangt vom Gouverneur, den Landtag bis zum 25. März zu seiner ersten Sitzung einzuberufen. Und Dr. Neumann gibt Vertretern der Agentur Reuter und des DAILY TELEGRAPH ein Interview, in dem er erstmals öffentlich erklärt, die deutsche Bevölkerung des Memellands erwarte den Anschluß an das Deutsche Reich und hoffe, die litauische Regierung werde das Gebiet freigeben. Er fügt hinzu, daß die Memelländer keine Feindschaft gegen die litauische Bevölkerung empfinden würden, auch nicht gegen die litauischen Soldaten. - Damit ist die Katze aus dem Sack.

Der Deutsch-Litauische Staatsvertrag 1939

Nun will sich die litauische Regierung ihren Anspruch auf das Memelland von England und Frankreich garantieren lassen, doch die Regierungen in Paris und London winken ab. Am 20. März, nachdem Litauen in Paris und London keinen Rückhalt findet, reist Außenminister Urbšys nach Berlin zu Ribbentrop. Der deutsche Minister nutzt nun die ausweglose Lage des litauischen Kollegen. Er weiß, daß Litauen das Memelland einst ohne Recht und mit Gewalt genommen hat, daß es die Memelkonvention die längste Zeit nicht eingehalten hat, daß die Memelländer sich mit übergroßer Mehrheit für das Deutsche Reich entschieden haben und daß Litauen nun bei den Siegermächten keinen Rückhalt findet. Von Ribbentrop stellt Urbšys vor die Wahl.

„Es gibt zwei Möglichkeiten”, so von Ribbentrop, “eine freundschaftliche Regelung mit nachfolgendem freundschaftlichem Verhältnis zwischen den beiden Ländern. Hierbei würden wir wirtschaftlich großzügig sein und die Freihafenfrage zu Gunsten Litauens lösen. Anderenfalls ist nicht zu sehen, wo die Entwicklung endet. Kommt es im Memelgebiet zu Aufständen und Schießereien, wird Deutschland nicht ruhig zusehen. Der Führer wird blitzartig handeln und die Situation wird dann von den Militärs bestimmt.”

Von Ribbentrop beendet das Gespräch mit dem Angebot eines Vertrages, der beides regeln soll, die Rückkehr Memels und den Freihafen für Litauen. Am Folgetag berät das litauische Kabinett das deutsche Angebot und beschließt, das Memelland zurückzugeben. Am Tag danach, dem 22.März, schließen beide Länder den von Deutschland angebotenen Vertrag, der das Memelland zurück ins Reich bringt und Litauen einen Freihafen in Memel und gewisse Rechte garantiert. Zeitgleich gehen Noten der litauischen Regierung an die in London, Rom, Paris und Tokio, die nach Artikel 15 der Memelkonvention als Signatarmächte dieser Konvention “der Übertragung der Souveränitätsrechte über das Memelgebiet zustimmen” müssen. Die angeschriebenen Mächte bekunden, daß sie nichts gegen die Rückübertragung des Memellands an Deutschland unternehmen werden. So wird das Memelgebiet am 22. März 1939 völkerrechtlich wieder deutsch.

Die Heimkehr des Memellandes 1939

Schon in der Nacht zum 23. beginnt das litauische Militär, vertragsgemäß

aus Memel abzurücken. In den frühen Morgenstunden marschieren dafür drei nahe stationierte deutsche Heeresbataillone von Tilsit kommend ein, und ein Dutzend Schiffe der Kriegsmarine legt im Memeler Hafen an. Die ganze Übergabe ist kein kriegerisches Unternehmen.

Der Anschluß des Memellandes entspricht dem Willen der großen Mehrheit der betroffenen Bevölkerung, und er folgt einem völkerrechtlich gültigen Vertrag. Am 15. Mai 1939 erkennt die britische Regierung die Rückkehr des Memellandes in einer Note an, in der sie schreibt:

„Ihrer Majestät Botschaft ... hat die Ehre, das (deutsche) Außenministerium ... davon in Kenntnis zu setzen, daß Ihrer Majestät Regierung des Vereinigten Königsreichs entschieden hat, die deutsche Vereinigung mit Memel de jure anzuerkennen. ...”

Diese de-jure-Anerkennung ist insofern bemerkenswert, als sie in England und bei den anderen Erste-Weltkrieg-Siegermächten bald danach vergessen ist. Auf der Siegerkonferenz von Potsdam 1945 legen der englische Premier Churchill und US-Präsident Truman gemeinsam fest, was nach ihrer Lesart „Deutschland” ist. Für sie ist es das "Deutschland in den Grenzen von 1937" ohne Memel. Auch das Internationale Militärtribunal von Nürnberg erklärt die Heimkehr Memels in ihrem Urteil 1946 zu einer von sechs Verletzungen des Versailler Vertrags. Dies Urteil übergeht, daß die Regierungen Englands und Frankreichs der Rückgabe 1939 auf litauisches Befragen nicht widersprochen und den Artikel 99 des Versailler Vertrags damit selber aufgehoben haben. Es übergeht die „de-jure-Anerkennung” der englischen Regierung, mit der die Briten 1939 sagen, daß ihre Anerkennung „von Rechts wegen” geschieht und nicht etwa aufgrund der geschaffenen Fakten oder infolge von Gewalt .Wirtschaftliche Kriegsgründe 1918-1939

Weltweite ökonomische Verwerfungen

Die Jahre zwischen den beiden großen Kriegen sind eine Epoche weltweiter ökonomischer Verwerfungen . Staaten finden sich dabei zu wirtschaftlichen Bündnissen zusammen und gehen bei Notwendigkeit auch wieder auseinander. So haben wir als erstes die Gold-Block-Staaten Frankreich, Schweiz, Belgien und Niederlande, die ihre Währungen in ein festes Verhältnis zum Preis des Goldes setzen und ihr Papiergeld zu einem

Wertanteil mit ihrem Staatsgold decken. Dies nennt man Goldstandard . Auch andere Staaten, wie die USA, England und die britischen Dominions führen den Goldstandard nach dem Weltkrieg wieder ein, doch sie gehen zu Beginn der 30er Jahre wieder davon ab. Sie versuchen, mit einer Mischung von freiem Handel, Manipulationen ihrer Wechselkurse, mit Schutzzöllen und Einfuhrquoten durch die wirtschaftlich schweren Zeiten der frühen 30er Jahre durchzu-kommen. Dann gibt es eine dritte Gruppe, die sogenannten Devisen-Kontroll-Staaten, die sich einerseits an den Goldstandard halten und andererseits ihre Außenhandels-Geldgeschäfte und den Außenhandel staatlich lenken. Dazu gehören Deutschland, Österreich, die Sowjet-union und eine Reihe südosteuropäischer Länder. Die vierte Gruppe sind der Sterling-Club, also England und die Dominion-Staaten, die ihre Währungen nach der Loslösung vom Goldstandard an das Pfund Sterling binden. Die Regierungen aller Staaten versuchen, den Menschen ihrer Länder „Lohn und Brot“ zu bieten, doch dieses oft zu Lasten anderer Völker. Einen weltweiten Konsens über die „einzig richtigen“ Wirtschaftsregeln gibt es nach dem Ersten Weltkrieg nicht. So führt der Kampf um „Lohn und Brot“, der zugleich ein Kampf um Macht, Reichtum und Ressourcen ist, in aller Regel auch zu Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Nationen.

Die Kriegsschulden aus dem Ersten Weltkrieg

Nach 1919 ist die Welt verändert. Die USA sind vom größten Vorkriegsschuldner zum größten Nachkriegsgläubiger geworden. Briten und Franzosen haben sich die Kosten des Ersten Weltkriegs zu großen Teilen von US-Banken finanzieren lassen. Sie müssen ihre Kriegsschulden nun in Amerika begleichen. Das Deutsche Reich hat Reparationen in einer Höhe an die Sieger zu bezahlen, die sogar das Doppelte der gesamten deutschen Kriegskosten von 1914 bis 1918 übersteigen ( 164 Mrd. RM deutsche Kriegskosten 1914-1918 [ inflationsbereinigt ] zu 331 Mrd. RM Reparationen nach der Forderung von 1921 ). Aus diesen deutschen Zahlungen hoffen Frankreich und England, ihre Kriegsschulden in den USA tilgen zu können. Auch die Sowjetunion muß noch Kriegsschulden bei ihren früheren Alliierten bezahlen, doch sie unterläßt es, da sie finanziell vom Kriege und von der Revolution stark angeschlagen ist. Mit diesen Hypotheken geht die Weltwirtschaft der frühen 20er Jahre an den Start.

Geld ist der Treibstoff für jede Art von Wirtschaft: für Handel, Investitionen, Modernisierungen, für die Finanzierung von Industrieansiedlungen, Verkehrsinfrastruktur, Handelsflotten usw. Ohne eigenes oder geliehenes Kapital kommt nichts in Gang. So arbeiten die Volkswirtschaften aller Länder in den 20er Jahren mit Leih- und Eigenkapital unter recht unterschiedlichen Bedingungen. Dazu kommt, daß die Regeln des Marktes und der Wirtschaft durch den vorhergegangenen Krieg und die Friedensverträge zu großen Teilen außer Kraft gesetzt sind. Das Geld fließt zwischen den Nationen jetzt nicht nur zur Verrechnung von gelieferten Waren und geleisteten Diensten. Es fließt in exorbitanter Menge auch zur Bezahlung der Kriegsschulden zwischen den Siegerstaaten und zur Entrichtung der Reparationen von den Besiegten an die Sieger, dies alles ohne wirtschaftlichen Gegenwert. So werden die einen Länder immer reicher und die anderen immer ärmer, bis ein normaler internationaler Warenaustausch nicht mehr möglich ist. Das alles belastet und verfälscht die Weltwirtschaft der 20er Jahre.

Die deutsche Wirtschaft nach Versailles

Für Deutschland kommt hinzu, daß es durch den Versailler Vertrag zunächst als Handels-partner weitestgehend ausgeschlossen wird. Deutsches Eigentum, das für den Außenhandel nötig wäre, wird enteignet, wie die Handelsagenturen, die Warenlager und die Immobilien im Ausland, und wie die deutsche Handelsflotte. Ab 1921 wird der deutsche Außenhandel außerdem durch einen 26%-Zoll auf alle ausgeführten Waren zusätzlich behindert. Der Zoll geht an die Siegerstaaten. Trotz dieser Lage ist Deutschland zum Export gezwungen. Es müßte nicht nur die lebensnotwendigen Importe durch Exporte in gleichem Wert verdienen. Deutschland müßte auch das Geld für seine Reparationen, die ja zunächst für 70 Jahre vorge-sehen sind, erst einmal durch die Ausfuhr deutscher Güter im Ausland einnehmen. Da das nur in sehr geringem Umfang möglich ist, lebt das Deutsche Reich in den Nachkriegsjahren vor allem von ausländischen Krediten.

Die golden twenties

In den 20er Jahren boomt die Weltwirtschaft. Nur Deutschland stürzt infolge seiner bisher nicht zurückgezahlten Kriegsanleihen, infolge der Reparationen und weiterer Kriegsfolge-lasten, wegen der Erschöpfung von

Industrie und Rohstoffen und durch den gebremsten Außenhandel 1923 in eine schlimme Inflation. Im November 23 wird eine Billion „Papiermark“ in eine Rentenmark getauscht. Hinzu kommt, daß das Deutsche Reich ab Sommer 1923 zunehmend verschuldet. Nach der Inflation kommt es zu einer kleinen Konjunktur, den „golden twenties“, aber auch die beruht vor allem wieder auf Krediten aus dem Ausland. Deutschland blüht für kurze Zeit auf Pump.

Die Weltwirtschaftskrise

Englands wirtschaftliche Lage ist solang solide, bis Frankreich mit seinem Außenhandel Englands Handel abhängt und bis höhere Zinsen in Paris in großem Umfang Kapital aus London abzieht. 1926 beginnt schließlich auch Großbritanniens Goldvorrat nach Frankreich abzufließen. Frankreich schädigt so zu sagen England. 1929-30 wird Nordamerika von drei Bankenkrisen nacheinander heimgesucht, ausgelöst vom Preisverfall für Landwirtschafts-produkte und in dessen Folge vom Konkurs von 600 kleinen Banken und „gekrönt“ vom Zusammenbruch der Börse in New York im Oktober 1929. Der Börsenkrach in den USA und Englands Finanz- und Wirtschaftsschwäche schlagen weltweit durch. Die USA ziehen ihr verliehenes Kapital kurzfristig aus Deutschland ab, sodaß der New Yorker Börsenkrash auf Deutschland überspringt. Was nun folgt, sind drei Jahre weltweiter Depression.

Zu Beginn der 30 er Jahre gehen viele Staaten, wie die USA, Kanada und England vom Goldstandard ab. Weltweit beginnen die Industrienationen, ihre heimischen Volkswirt-schaften und Gold- und Devisenreserven mit Schutzzöllen, Importquoten und anderen Handelshemmnissen vor der Konkurrenz des Auslandes abzuschirmen. Frankreich und die USA sind zunächst in einer komfortablen Lage. Die US-Wirtschaft fährt trotz hoher Arbeits-losigkeit und Bankenkrisen nach wie vor Gewinne ein. Der US-Goldvorrat nimmt bis zum Kriegsbeginn hin kräftig zu. Frankreich lebt für ein paar Jahre gut von Industrie und Handel, von gesunden Banken, von Exporten und den Reparationsleistungen und –zahlungen aus Deutschland. Die Franzosen finanzieren und rüsten in der Zeit die Länder Osteuropas „in Deutschlands Rücken“ auf. England leidet zur gleichen Zeit schon unter seinem defizitärem Außenhandel, unter Kapitalflucht, dem Abfließen eines Teiles seines Goldvorrats und hoher Arbeitslosig-keit. Deutschlands Lage ist bereits beschrieben.

Die Konferenz von Lausanne 1932

Mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 verändert sich das Bild. Die großen Industrienationen versuchen, nach recht unterschiedlichen Methoden dem Dilemma der Krise zu entrinnen. 1932 bemühen sich Sieger und Besiegte auf einer Konferenz in Lausanne, die Restschulden Österreichs und Deutschlands aus den noch offenen Reparationen einvernehmlich festzulegen, doch kein fremdes Land gibt Deutschland die nötigen Kredite, um die Restschuld abzutragen. Deutschland stellt die Zahlungen ein. Nun weigern sich Paris und London ihrerseits, ihre Kriegsschulden in New York zu zahlen. Dem folgt ein Kreditverbot der USA gegenüber Großbritannien und Frankreich, das bis zum Zweiten Weltkrieg gilt. Ein jeder gibt die Schuld dafür den Anderen.

beggar-my-neighbour policy

Die USA und England lösen sich vom Goldstandard und entdecken die Geldentwertung als wirtschaftliche Waffe. Der Wert von Pfund und Dollar läßt sich nun nach den Beschlüssen von Zentralbank und Regierung gegenüber dem Preis des Goldes senken. Und eine billigere eigene Währung fördert die Exporte, verbilligt die Kredite, hebt die Inlandspreise und damit die Einkommen in Industrie und Landwirtschaft, und hält tendenziell ausländische Produkte vom eigenen Markte fern. Die Staaten versuchen, mit billigen eigenen Währungen möglichst viele Waren im Ausland abzusetzen und damit Inlandsarbeitsplätze zu schaffen oder zu erhalten. Doch das verschiebt nur die eigene Arbeitslosigkeit ins Ausland. Der englisch-amerikanische Ausdruck von damals für diese Währungs- und Wirtschaftspolitik heißt deshalb „beggar-my-neighbour-policy“ ; in holperigem Deutsch: „ Mach-meinen-Nachbarn-zum-Bettler-Politik“. Das ist Wirtschaftskampf mit monetären Mitteln. Die ersten Opfer dieser Manipulationen sind Frankreich, die andere Gold-Block-Staaten und das Deutsche Reich. Die USA riegeln ihren Inlandsmarkt außerdem bis Ende 1932 durch hohe Zölle und Importquoten von der Einfuhr fremder Waren ab. Als das die Massenarbeitslosigkeit nicht lindert, wirft Roosevelt bei seinem Amtsantritt das Ruder um. Er setzt auf freien Handel und verlangt von allen Staaten, ihre Märkte für Waren und Produkte aus den USA zu öffnen. Er erhebt den „freien Handel“ ohne Zölle und Quoten zu einem der Ziele der amerikanischen Außenpolitik.

Die Konferenz von Ottawa 1932

Ab Sommer 1932 geht England einen eigenen Weg. Es bildet auf der Konferenz von Ottawa einen Wirtschaftsblock der Empire-Staaten, die ihre Währungen von nun an statt an Gold an das Pfund Sterling binden. Dieser Sterling-Club ist damit eine der neuen Sonderwirtschafts-zonen, die sich mit Handelsprivilegien nach innen und Schutzzöllen nach außen Vorteile zu schaffen suchen. Der Sterling-Block ist für die USA ein wirtschaftsschädigender Konkurrent. 1939 gelingt es Roosevelt, die „Ottawa-Zone“ zu knacken, als England Kapital und Waffen aus den USA für den Zweiten Weltkrieg braucht. Frankreich, Belgien und die anderen Gold-Block-Länder halten ihre Währungen noch für ein paar Jahre an das Gold gebunden und damit stabil. Da Franc, Belga, Gulden usw. jetzt gegenüber Pfund und Dollar teurer werden, verlieren diese Länder viel an ihren Exporten und am Volkseinkommen. Die Kapital- und Goldverluste sind so hoch, daß Frankreich 1936 den Goldstandard aufgibt und 1938 den Franc ans Pfund ankoppelt. Damit gehört auch Frankreich ab 1938 zum Sterling-Club und damit zum wirtschaftlichen „Gegnerlager“ der USA.

Die Wirtschaft im Dritten Reich

Deutschland und Österreich, sowie viele Länder Südosteuropas, des Nahen Ostens und Südamerikas haben Anfang der 30er Jahre alle ähnliche Probleme. Ihnen mangelt es an eigenem Kapital, und Deutschland fehlen seit Hitlers Wahl zum Kanzler zusätzlich die Kreditgeber im Ausland. So stagniert ihr Außenhandel und damit die Einnahmen, mit denen die notwendigsten Importe zu bezahlen wären. Dem folgen sinkende Volkseinkommen, hohe Arbeitslosigkeit und die Verelendung der ärmeren Bevölkerungsschichten.

Deutschland sucht sich seit 1933 einen eigenen Weg aus dem Dilemma: die wirtschaftliche Autarkie. Die Reichsregierung beginnt, mit zwei Vierjahresplänen die Volkswirtschaft zu steuern. Der Erste Vierjahresplan von 1933 soll die Ernährung der Bevölkerung verbessern und den schnellen Abbau der hohen Arbeitslosigkeit bewirken. Der Plan hat in erster Linie Binnenwirkung. Der Zweite Vierjahresplan von 1936 soll die wirtschaftliche Abhängigkeit des Deutschen Reichs vom Ausland minimieren. Nach der jahrelangen Abschnürung Deutschlands von seinen

Rohstoff- und Nahrungsmitteleinfuhren während des vergangenen Krieges will Hitler Deutschland vor der Wiederholung einer solchen Zwangslage sichern. ( siehe hierzu Fußnote ) Der Plan von 1936 soll die Selbstversorgung Deutschlands steigern, die wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Ausland verbessern und der Förderung des eigenen Exportes dienen. Der Zweite Vierjahresplan schlägt folglich störend auf die Volkswirtschaften anderer Länder durch. Die Reichsregierung steuert damit einen Kurs, die eigene Wrtschaft weitgehend ohne ausländische Waren, Produkte und Kredite zu sanieren. Zwei Gleise liegen auf dem Kurs, das eine für die Binnenwirtschaft, das andere für den Außenhandel. In der Binnenwirtschaft entwickeln Wissenschaft und Industrie Ersatzstoffe und Produkte, die bisher aus dem Ausland kamen. Der Geldkreislauf im Inland für die Aufbauleistungen im Straßenbau, Wohnungsbau und in der Rüstung wird mit einem Kunstgeld, den sogenannten Mefo-Wechsel , angestoßen. Die Zinssätze der Banken werden drastisch abgesenkt. Der Devisen- und Goldverkehr mit dem Ausland wird staatlich kontrolliert und der Privatwirtschaft entzogen. Dabei dürfen Gewinne ausländischer Firmen nur noch als Waren, nicht mehr als Geld ins Ausland fließen. Mit alledem wird die Volksversorgung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze angekurbelt.

Die deutsche Sonderwirtschaftszone

Auf dem zweiten Gleis spielt sich der deutsche Außenhandel ab. Das Deutsche Reich schließt mit 25 devisenschwachen Ländern in Südosteuropa, im Nahen Osten und in Südamerika zweiseitige Verträge über einen zahlungsfreien d.h. devisenlosen Außenhandel , also Ware gegen Ware, z.B. Linsen aus Chile gegen Lokomotiven aus Deutschland. Der Warenaustausch zwischen Deutschland und den Partnerländern wird monatlich Wert gegen Wert verrechnet , ohne daß noch Devisen zur Bezahlung fließen, und ohne daß der Handel mit geliehenem und verzinsten Geld vorfinanziert werden müßte. So baut sich Deutschland zwischen 1932 und 1936 eine informelle Sonderwirtschaftszone auf, ein deutsches Präferenzsystem . Die meisten der Vertragspartnerländer sind seit der Weltwirtschaftskrise so knapp an Devisen, daß sie Ihren Devisenaußenhandel staatlich kontrollieren müssen; daher die Bezeichnung Devisen-Kontroll-Staaten. An dem System des devisenlosen und weitgehend zinsfreien Außenhandels profitiert jedes Land, das sich vertraglich an Deutschland bindet. Dabei aber - und das ist der Pferdefuß -

verlieren die USA, Großbritannien und Frankreich auf Märkten große Marktanteile, auf denen sie bisher beherrschend waren, besonders die USA in Südamerika. Außerdem verlieren New York und London ihre Kreditgeschäfte bei der Vorfinanzierung des Außenhandels in den Staaten, die jetzt Tauschhandel mit den Deutschen treiben.

Deutschland als wachsender Konkurrent vor dem Zweiten Weltkrieg

Es sieht so aus, als würde Deutschland vom finanziellen Zwerg zum wirtschaftlichen Riesen wachsen, und zwar zu Lasten der Sieger aus dem Ersten Weltkrieg. Das Wachstum zu einem Wirtschaftsmittelpunkt ist in der Wahrnehmung der Amerikaner, Briten und Franzosen 1939 noch nicht abgeschlossen. Hitlers und von Ribbentrops Bemühen um „freie Hand“ für eine politische Hegemonie in Ost- und Südosteuropa signalisiert, daß der deutsche wirtschaftliche Aufstieg offensichtlich weitergehen soll. Für die USA ist damit neben England und seinem Sterling-Club ein zweiter Konkurrent entstanden. Präsident Roosevelt muß sich nun Sorgen machen, daß Deutschland in Südamerika wirtschaftlich Erfolge hat und die US-Exporte dorthin behindert, daß es damit in den Ländern Südamerikas politisches Ansehen und Gewicht bekommt, daß die US-Kreditgeschäfte in Südamerika abnehmen und zuletzt auch, daß das deutsche „Modell“ in den USA an Attraktivität gewinnen und seine - Roosevelts - Popularität beschädigen könnte. Immerhin gelingt es dem deutschen Reichsbankpräsidenten und Handelsminister Hjalmar Schacht und Hitlers Politik, die Arbeitslosigkeit in Deutschland bis 1938 abzubauen und das Volkseinkommen zu verdoppeln, während Roosevelt mit seinem New-Deal-Programm trotz guten Außenhandels immer noch auf 10,4 Millionen Arbeitslosen sitzt.

Roosevelts Forderung nach weltweitem Freihandel

Wie ernst es Roosevelt mit der deutschen Konkurrenz ist, zeigt, daß er häufig vor einer Durchdringung Lateinamerikas durch die Achsenmächte warnt, und daß er sich bemüht, die südamerikanischen Staaten mit wirtschaftlichen und finanziellen Repressalien wieder aus dem deutschen Präferenzsystem herauszubrechen. Präsident Roosevelt verpackt die US-Handels- und Finanzinteressen in seinem politischen Programm der „friedlichen Weltordnung“ als Programmpunkt „friedliche und freie Handelspolitik“. In den beiden Begriffspaaren bedeutet „friedlich“ zuerst

einmal US-amerikanisch. Der sogenannte freie Handel ist für Roosevelt - wie sich später zeigt - ein Kriegsgrund. Als er im März 1940 nach Polens Niederlage in Berlin, Paris und London sondieren läßt, wie man in Europa zu einem Frieden kommen könnte - England und Frankreich haben zu der Zeit Deutschlands Angebot zu einem Frieden abgelehnt - , stehen fünf Fragen auf der Tagesordnung: die Zukunft Polens und die der Tschechei, die Wirtschaftsordnung in Europa, die Abrüstung und nachgeordnet auch die Menschenrechte. Bei den Sondierungen, die der US-Unterstaatssekretär Welles in Roosevelts Auftrag bei den Deutschen vornimmt, ist der von Hitler und Göring vorgebrachte Standpunkt, daß man deutscherseits bereit ist, sich aus Polen - ohne Korridor und Danzig - zurückzuziehen, desgleichen aus der Tschechei als einem in Zukunft weitgehend entmilitarisierten Staat. Nur in den Wirtschaftsfragen beharren sowohl Hitler als auch Göring auf der deutschen Wirtschafts- und Währungspolitik, wozu das System des devisenlosen Tauschhandels mit Ländern in Südosteuropa und Südamerika gehört. Auf dieser Basis ist Roosevelt nicht an einem Frieden interessiert. Er setzt seine Politik der Vorbereitung der USA auf eine Kriegsteilnahme fort. Mit einem Kriege in Europa kann der amerikanische Präsident zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. England muß die Ottawa-Sonderwirtschaftszone als Preis für den Kriegseintritt der USA an seiner Seite opfern. Und Amerika und Großbritannien können bei einem Sieg gemeinsam Deutschlands Sonderwirtschaftszone tilgen.

Deutschlands Handel als ein Kriegsgrund unter anderen

Auch Großbritannien ist von Deutschlands eigenem Weg betroffen. Obwohl die Ottawa-Staaten sich selbst nach außen hin abriegeln und so den freien Handel unterbinden, ist Deutschlands Art, den internationalen Kapitalmarkt auszuschließen und sich durch Vorzugsregelungen die Märkte von 25 anderen Ländern zu erschließen, aus ihrer Sicht nicht akzeptabel. Wie man den deutschen Handel von London aus beurteilt, ist schon an früherer Stelle dieses Buchs beschrieben. Der englische General und Historiker Fuller schreibt nach dem Krieg rückschauend zum deutsch-englischen Verhältnis:

„Hitlers Traum war daher ein Bündnis mit Großbritannien. ... Ein solches Bündnis war jedoch unmöglich, hauptsächlich deshalb, weil unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung dessen Wirtschaftspolitik des direkten

Tauschhandels und der Exportprämien dem britischen und amerikanischen Handel einen tödlichen Streich versetzte.“

US-Präsident Roosevelt drückt das Gleiche an dem Tage, an dem er beschließt, die USA an der Seite Englands in den Krieg zu führen, kürzer aus, als er zu seinem Sohne Elliott sagt:

"Will irgendwer behaupten, daß Deutschlands Versuch, den Handel in Mitteleuropa zu dominieren, nicht einer der Hauptgründe für den Krieg war?"

Die Methoden, welche die Staaten zwischen der Weltwirtschaftskrise und dem Krieg anwenden, nutzen den Anwendern und schaden allen Konkurrenten, egal ob Schutzzoll, Geldabwertung, Zinsanhebung, Vorrangvertrag, Tauschhandel oder Importquoten. Sie alle sind Instrumente finanz- und handelstechnischer Natur. Doch die USA , wie auch Britannien, umhüllen diese Instrumente mit einem moralisches Gewand. Sie deklarieren ihre eigenen Konkurrenzmethoden als „friedlichen und freien“ Handel. Zum Schluß sind Pfund und Franc und Mark dem Dollar angekoppelt, der das Stück bis 1971 noch mit 0,7 Gramm Gold gedeckt ist und danach mit nichts mehr. Ab da können die USA ihre Importe mit selbstgedruckten Dollar finanzieren, während alle anderen Staaten sich ihre Importe erst verdienen müssen, meist in Dollar. Der Weg zu diesem Sieg der USA beginnt in den 30er Jahren, und der Krieg gegen das Deutsche Reich ist auf dem Weg ein Schritt .

Fußnote zu Vierjahresplan 1936: Hitlers schriftliche Aussagen in seinem Vierjahresplan beziehen sich auf einen von ihm als unausweichlich angesehenen Abwehrkampf Deutschlands gegen einen zukünftigen Angriff der bolschewistischen Sowjetunion .

Polens Minderheiten 1920-1939

Das neue Polen ist mit der Angliederung ehemals ukrainischer, weißrussischer, litauischer, tschechischer und deutscher Landesteile ein Vielvölkerstaat geworden. Die Bevölkerung des Landes besteht 1921 aus 30 Millionen polnischen Staatsbürgern, von den 19 Millionen - das sind zwei Drittel - als Muttersprache Polnisch sprechen. 5 Millionen sind

Ukrainer, 2,5 Millionen Juden, 2 Millionen Deutsche und 1,2 Millionen sind Weißrussen. Dazu kommen weitere Minderheiten litauischer, tschechischer oder ungarischer Herkunft sowie Kaschuben und Slonzaken. Im eroberten „Ostpolen“ sind die Polen selber eine Minderheit. Auf 7,4 Millionen Ukrainer, Juden und Weißrussen kommen dort gerade einmal 1,5 Millionen angestammte Polen, also knapp ein Sechstel aller Menschen, die dort wohnen.

Polen hat die Rechte seiner Minoritäten zunächst in dem zum Versailler Vertrag gehörenden Minderheitenschutzvertrag garantieren müssen. Doch die Polen und die Siegermächte entwerten diesen Schutzvertrag alsbald mit einer Serie von gegen die Minderheiten gerichteten Handlungen und Verordnungen. Die Polen rächen damit die früher erduldete Russifizierung und Eindeutschung aus der Zeit der polnischen Teilungen. Doch sie gehen mit der Polonisierung derer, die nun Minderheit in Polen sind, weit über das hinaus, was ihnen selbst zuvor - zumindest unter deutscher und habsburger Herrschaft - zugemutet worden ist.

Der Völkerbund macht die Lage der Minderheiten in Polen wiederholt zum Thema, doch er greift kaum ein. Am 15. Juni 1932 berichtet Lord Noel-Buxton vor dem Unterhaus in London über eine Tagung des Völkerbund-Rats zu diesem Thema:

„In den letzten Tagen sind auf den Tagungen des Rats des Völkerbundes wichtige Fragen, die die nationalen Minderheiten betreffen, behandelt worden. Vor allem wurde auf der Januar-Tagung ein Bericht verhandelt, der sich mit der so genannten Terrorisierung beschäftigte, die im Herbst 1930 in der Ukraine stattgefunden hat. .... Assimilierung durch Zerstörung der Kultur ist an der Tagesordnung. ... Aus dem Korridor und aus Posen sind bereits nicht weniger als 1 Million Deutsche seit der Annexion abgewandert, weil sie die Bedingungen dort unerträglich finden. ... Im polnischen Teil Ostgaliziens wurden vom Ende des Krieges bis 1929 die Volksschulen um zwei Drittel vermindert. In den Universitäten, in denen die Ukrainer unter österreichischer Herrschaft elf Lehrstühle innehatten, besitzen sie jetzt keinen, obwohl ihnen 1922 von der polnischen Regierung eine eigene Universität versprochen worden war. In dem Teil der polnischen Ukraine, der früher zu Rußland gehörte, in Wolhynien, sind die Bedingungen noch härter... Wir können in diesem Zusammen-hang eine besonders beklagenswerte Tatsache nicht beiseite lassen, nämlich die

Folterung von Gefangenen in Gefängnissen und von Verdächtigen, die sich die Ungnade der polnischen Behörden zugezogen haben.“

Weißrussen und Ukrainer als angestammte Mehrheit östlich der Curzon-Linie setzen sich energisch gegen alle Polonisierungs- und Katholisierungsversuche zur Wehr. Als die Regierung Polens daran geht, Land in Weißrußland zu enteignen und 1924 und 25 die weißrussische Sprache für Zeitungen und Schulen zu verbieten, kommt es zu einem Volksaufstand, zu Terror und zu Gegenterror. Bis 1938 zerstört die polnische Armee den Weißrussen und Ukrainern 127 orthodoxe Kirchen, Bethäuser und Kapellen Das Land bleibt bis zur Besetzung durch die Sowjetunion im September 1939 unbefriedet.

Auch in der Ukraine steht das Nebeneinander von Polen und Ukrainern unter einem schlechten Stern. Nach Ende des Weltkrieges kommt es zuerst zu schweren Ausschreitungen der Ukrainer gegen die Polen, die sie als frühere Unterdrücker in Erinnerung haben. Dann erobert Polen die Westukraine östlich der Curzon-Linie, und die Rache tobt in umgekehrter Richtung.. 1930 schreibt Erzbischof Szeptyćkyj, Metropolit der griechisch-katholischen Kirche von Lemberg, einen Brief an einen Freund, in dem er klagt:

„Wir durchleben schreckliche Zeiten. Die Strafexpeditionen ruinieren unsere Dörfer, unsere Schulen, unsere wirtschaftlichen Institutionen. Tausende von Dorfbewohnern, sechs Priester, Frauen, Intellektuelle wurden geprügelt, oft bis sie das Bewußtsein verloren.“

Auch die 2,5 Millionen Juden im Lande zählen als fremde Minderheit. Der polnische Historiker Halecki schreibt 1970 in seiner „Geschichte Polens“:

„Die jüdische Frage wurde besonders brennend vor dem Zweiten Weltkrieg. Dies war eine sehr einschneidende Frage, wenn man bedenkt, daß mehr als drei Millionen Juden .... über das ganze Land verstreut lebten, ... Unter diesen Umständen war das Aufkommen einer antisemitischen Bewegung, aus wirtschaftlichen Gründen weit mehr als aus rassischen, fast unvermeidlich.“

Die antisemitische Bewegung, wie Halecki das bezeichnet, führt dazu, daß in den Jahren von 1933 bis 1938 557.000 Juden ihr polnisches

Heimatland verlassen und Zuflucht im benachbarten Deutschland und auf dem Weg über Deutschland im westlichen Ausland suchen, meist in den USA..

Eine weitere Minderheit, jedoch mit nur 106.000 Menschen, sind die Kaschuben, die Urbevölkerung im küstennahen Pomerellen aus der Zeit vor der ersten polnischen Eroberung. Sie pflegen neben ihrer eigenen Sprache auch ihre eigene Identität. Die politische Bedeutung der Kaschuben in den 20er Jahren ergibt sich aus ihrem Siedlungsgebiet in Norden Westpreußen-Pomerellens, dort wo Pommern und Ostpreußen sich am nächsten kommen. Die Polen zählen die Kaschuben als Polen, um damit nachzuweisen, daß die Bevölkerung im Korridor schon immer polnisch war. Die Unzufriedenheit der Kaschuben mit ihrer neuen Staatsgewalt in Warschau wird ihnen von den Polen als Undank und als Dummheit ausgelegt.

Die deutsche Minderheit in Polen - zunächst gut 2 Millionen Menschen - nimmt bis 1923 auf 1,2 Millionen ab. Als erstes inhaftiert man 16.000 Deutsche als „Staatsfeinde“ in zwei Konzentrationslagern im Posener Gebiet. Ab 1922 werden die Deutschen ausgewiesen, die nach 1908 ins Land gekommen sind. Dann stellt man die Deutschen vor die Wahl, sich für Polen zu entscheiden oder für Deutschland oder andere Länder zu „optieren“ und dorthin auszuwandern. Die „Optanten“, die sich zu Deutschland oder Österreich bekennen, müssen ab 1925 das Land verlassen und werden für die zurückgelassene Habe, für das Bauernland und ihre Forsten zunächst nicht entschädigt. Zudem entläßt man die deutschsprachigen Beamten. Etwa die Hälfte der russischen, jüdischen und deutschen Schulen und Universitäten wird geschlossen. Der doppelsprachige Unterricht, soweit nach Kriegsende noch erteilt, wird per Gesetz verboten. Einem großen Teil der Deutschen, genauso wie der Ukrainer, Weißrussen, Juden und Österreicher werden ihre Arzt- und Apothekerapprobationen und die Geschäfts- und Verlagslizenzen entzogen. Und ansonsten wird polnischerseits geschäftlich alles boykottiert, was nicht polnisch ist.

Als 1938 erst Österreich und dann die Sudentengebiete mit dem Deutschen Reich vereinigt werden – oder okkupiert, wie das die Polen sehen - steigt die Angst der Polen, Deutschland könnte auch von ihnen Land und Menschen aus dem Bestand des früheren Deutschen Reichs

zurückverlangen. Nach der Annexion des Teschener Gebiets durch Polen im September 38, als Hitler Verhandlungen über die Zukunft der Stadt Danzig fordert und eine Garantie für sichere Verkehrsverbindungen ins abgetrennte Ostpreußen, nimmt die Feindschaft der Polen gegen ihre deutsche Minderheit wieder scharfe Formen an. Terrorakte gegen Deutsche, die Zerstörung deutscher Geschäfte und Brandstiftungen auf deutschen Bauernhöfen werden zum Pogrom. Nach der Rückgliederung des Memellandes an das Reich im März wird die Lage der Deutschen in Polen gänzlich unerträglich. Im Sommer 1939 wird die Zahl der Deutschen, die dem entkommen wollen und Polen „illegal“ verlassen, immer größer. Bis Mitte August sind über 76.000 Menschen ins Reich geflohen und 18.000 zusätzlich ins Danziger Gebiet. Die Berichte über den Umgang der Polen mit ihrer deutschen Minderheit und die Schilderungen der Geflohenen sind Öl aufs Feuer des deutsch-polnischen Verhältnisses in den letzten Wochen und Tagen vor dem Kriegsausbruch. Der damalige Staatssekretär von Weizsäcker schreibt dazu in seinen Erinnerungen:

„Unsere diplomatischen und Konsularberichte zeigten, wie 1939 die Welle immer höher auflief und das ursprüngliche Problem, Danzig und die Passage durch den Korridor überdeckte.“

Polen hat sich, anders als von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs vorhergesehen und gewünscht, nicht zu einem Vielvölkerstaat nach Art der Schweiz entwickelt. Es verspielt von Anfang an die Chance, die Minderheiten in ein neues Vaterland zu integrieren. Man macht im neuen Polen nicht einmal den Ansatz des Versuchs, die großen Minderheiten der Deutschen, Juden, Weißrussen und Ukrainer für das eigene Land zu gewinnen. Das Bemühen, die Identität der Minderheiten zu zerstören, dreht Haß und Terror in einer Spirale fast zwei Jahrzehnte lang nach oben. So ist 1939 in Deutschland und in Rußland auch niemand mehr bereit, die Polen als die Opfer der drei früheren Teilungen zu betrachten, denen man historisch etwas schuldet. Man sieht in ihnen mittlerweile die Täter gegen Deutsche und Ukrainer, denen ein schlimmes Schicksal das Los der Minderheit in Polen aufgebürdet hat .

Polens Bündnispolitik 1920-1939

Polens Sicherheit beruht auf einem Netzwerk von Verträgen. Zunächst knüpfen Frankreich und das Kollektiv der Siegermächte dieses Netz.

Letztere binden Polen an einen Minderheitenschutzvertrag, um den vorhersehbaren Sprengstoff, den die neu geschaffenen Minoritäten bilden, zu entschärfen und um den Vaterländern dieser Minderheiten den Grund für spätere Interventionen oder Rückeroberungen zu nehmen. Polen empfindet diese Regelung als Diskriminierung und kündigt 1934 den Vertrag, der jedoch Teil des Vertragswerks von Versailles ist. Polen rüttelt damit zum zweiten Mal an der Konstruktion der Pariser Vorortverträge. Das erste Mal war das die Nichtanerkennung der Curzon-Linie. Die polnischen Regierungen demontieren damit eine Friedensordnung, auf die sie sich trotzdem immer wieder selbst berufen; eine Ordnung, die Polen später vielleicht hätte schützen können.

Das Verhältnis Polen - Frankreich

Nach 1920 knüpft Frankreich sein Netz von bilateralen Verträgen mit den Staaten Mittel-Osteuropas, um Deutschland mit einer so genannten „Kleinen Entente“ einzukreisen. Am 19. Februar 1921 schließen Polen und Frankreich einen Allianzvertrag mit dem Versprechen, sich im Falle eines nicht provozierten Angriffs durch dritte Staaten gegenseitig beizustehen. Der Vertrag wird durch eine geheime Militärkonvention ergänzt, die die französische Unterstützung im Falle eines deutschen oder sowjetischen Angriffs gegen Polen regelt. Frankreichs Absicht hinter den Verträgen ist indessen, daß Polen Frankreich mit Truppen gegen Deutschland unterstützt, sollte Frankreich dessen irgendwann einmal bedürfen.

1936, als Hitler Truppen in die Rheinlandzone einmarschieren läßt und damit die Wehrhoheit im eigenen Lande wiederherstellt, fühlt Frankreich sich zu schwach, das zu verhindern. Es macht keinen Gebrauch mehr von der Möglichkeit, die Kleine Entente zu einer „Strafaktion“ gegen Deutschland zu aktivieren. Spätestens von da an weiß man auch in Warschau, daß Paris nun nicht mehr auf die polnische Karte setzt.

Am 16. März 1939 ändert sich das wieder. Hitler bricht an diesem Tag sein Münchener Versprechen und macht die Rest-Tschechei zum Protektorat. Das ist für die Polen, Briten und Franzosen Grund zu der Befürchtung, daß die Deutschen bald auch Danzig übernehmen werden. Nun bittet Polen England und Frankreich um ein Garantieversprechen für

sich selbst. Am 25. März 1939 gibt London das Versprechen. Am 31. März folgt Paris mit einer Garantieerklärung. Am 15. Mai besprechen der polnische Kriegsminister General Kasprzycki und sein französischer Kamerad General Gamelin, wie Frankreich Polen in einem Kriege unterstützen würde. Man sagt sich gegenseitig zu, gemeinsam gegen Deutschland vorzugehen. Polen stellt dabei in Aussicht, der deutschen Wehrmacht größtmögliche Verluste beizubringen und, sobald die Wehrmacht angeschlagen ist, Ostpreußen anzugreifen. Der Franzose Gamelin verspricht seinerseits eine französische Großoffensive ab dem 15. Tag der Allgemeinen Mobilmachung in Frankreich. Für Deutschland ist dabei bedeutend, daß die Zusage eines Angriffs der Franzosen gegen Deutschland auch dann gilt, wenn nicht Polen angegriffen, sondern nur Danzig an Deutschland angeschlossen wird.

Das Verhältnis Polen - Großbritannien

Großbritannien übernimmt erst kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs die Rolle einer „Schutzmacht“ Polens. Die Haltung Londons gegenüber Warschau bleibt zunächst lange Zeit sehr distanziert. Man registriert in England, daß Polen zwischen 1918 und 1938 mit der Sowjetunion, mit Deutschland, Litauen und der Tschechoslowakei Kriege anfängt, um sich nach allen Seiten auszudehnen. Desgleichen sieht man die Unterdrückungspolitik der Polen gegenüber den Ukrainern, Weißrussen, Juden und Deutschen mit großem Unbehagen. So ist Polen für Großbritannien bis 1939 das, was man heute als „Schurkenstaat“ bezeichnet.

Mit Hitlers Tschechei-Handstreich im März 1939 rückt Polen plötzlich wieder in das Zentrum des englischen Interesses. In London weiß man sehr genau, daß nach einer Heimkehr Danzigs irgendwann die Kolonien an die Reihe kämen, die Großbritannien 1919 Deutschland abgenommen hat. England will dem weiteren Gang der Revisionen deshalb rechtzeitig ein Ende setzen, und dazu eignet sich der deutsche Streit mit Polen um den Freistaat Danzig. Es schlägt vor, Frankreich und die Sowjetunion als weitere Garantiemächte mit ins Boot zu nehmen. Doch Polen will vermeiden, daß die Sowjetunion auf diesem Wege zur eigenen Schutzmacht wird, und bemüht sich, die Russen außen vor zu halten. In

Warschau befürchtet man zu Recht, daß Moskau sich in einem Kriege gegen Deutschland die ihm 1920 abgenommenen Gebiete der West-Ukraine und Weißrußlands wiederholen könnte. Die polnische Regierung ersucht deshalb die britische um ein bilaterales Schutzabkommen gegen Deutschland. Am 31. März 1939 spricht Lord Halifax vor dem Unterhaus in London eine Garantieerklärung für Polen aus. Am 25. August, schließen London und Warschau das Beistandsabkommen, das sich die Briten und die Polen im März in London zugesichert hatten

Die Garantien aus London und Paris sind nicht nur Warnung, sie sind auch zugleich Verlockung. So sehr man in Berlin nun damit rechnen muß, daß kein weiterer Gewaltschritt ohne Antwort bleiben wird, so sehr verlockt der Schutz die Polen, in Zukunft kompromißlos gegenüber Deutschland aufzutreten. So wechselt Polen 1939 in das antideutsche Lager. Aufschluß über Englands Interessenlage gibt ein Geheimes Zusatzprotokoll, das Briten und Polen in Ergänzung zu ihrem Beistandsabkommen unterzeichnen. Im Geheimen Zusatzprotokoll vom 25. August wird präzisiert, daß das abgeschlossene Bündnis nur gegen Deutschland gültig ist. Als die Rote Armee am 17. September 1939 nach Polen einmarschiert und „Ostpolen“ annektiert, nimmt die britische Regierung dies auch ohne Konsequenz zur Kenntnis.

Das Verhältnis Polens zur Sowjetunion

ist zunächst durch den Vertrag von Riga bestimmt, in dem die Sowjets 1921 Teile der Ukraine und Weißrußlands an Polen abzutreten hatten. Für die Russen bleibt das eine offene Wunde, für die Polen ein Etappenziel. Marschall Piłsudski, dem ein neues Polen in den Grenzen der alten Polnisch-Litauischen Union von 1470 vorschwebt, verfolgt als Fernziel eine Föderation mit Litauen, ganz Weißrußland und der ganzen Ukraine unter Polens Protektorat.

1929 gelingt es dem sowjetischen Außenminister Litwinow, Polen, Rumänien und die Baltenstaaten für einen regionalen „Kriegsächtungspakt“ zu gewinnen. Sie unterzeichnen am 29. Februar 1929 das „Litwinow-Protokoll“, nach dem Kriege zwischen diesen Staaten zur Lösung internationaler Streitfälle in Zukunft ausgeschlossen werden sollen. Damit ist Polen, einschließlich seiner umstrittenen Gebiete in „Ostpolen“ vertraglich zunächst gegen Rußland abgesichert.

Am 23. Januar 1932 wird dann noch ein Polnisch-Sowjetischer Nichtangriffspakt paraphiert, im Juli unterschrieben, der die für Polen wichtige Bestimmung enthält, daß die Sowjetunion dem Deutschen Reich im Falle eines deutsch-polnischen Konflikts keinen Beistand leisten darf. Damit ist Polen durch einen weiteren Vertrag vor der Sowjetunion geschützt. Doch die Verträge von 1929 und 1932 verlieren ihre Wirkung, als Polen der Tschechoslowakei 1938 gegen Rußlands Warnung den Rest des Teschener Gebiets entreißt. Die Sowjetunion, seit 1935 ebenfalls mit der Tschechei verbündet, hatte Polen zuvor angedroht, den Polnisch-Sowjetischen Nichtangriffspakt im Falle eines Angriffs der Polen auf die Tschechoslowakei zu kündigen. So hat Polen mit der Teschener Annexion gleich zwei Verträge mit der Sowjetunion verletzt und faktisch annulliert. Man kann zwar mit Recht feststellen, daß die Sowjets später andere Nichtangriffsverträge z.B. mit Finnland und weiteren Ländern auch nicht eingehalten haben, und daß die zwei Verträge mit Polen vermutlich bei Bedarf ebenfalls gebrochen worden wären, doch der Vertragsbruch des Litwinow-Protokolls geht eindeutig von den Polen aus. Die Polen haben mit dieser eigenmächtigen Landerwerbung zu Lasten ihrer tschechischen Nachbarn auch den Kellogg-Pakt ( s. u. ) mißachtet. Sie haben die Verträge, die ihr „Ostpolen“ vor den Sowjets hätte schützen können, selbst zerrissen. Polen jagt als Hai im Haifischbecken solange mit, bis es selbst gefressen wird.

Das Verhältnis Polens zur Tschechoslowakei

Das Verhältnis der Nachbarn Tschechoslowakei und Polen bleibt in den 20 Jahren ihrer Unabhängigkeit kühl und distanziert. Ein paar Gegensätze trennen diese beiden Nachbarn. Das ist zum ersten Polens Forderung nach dem tschechoslowakischen Teil des Teschener Industriegebiets. Das ist zweitens in umgekehrter Richtung die offene Unterstützung des Tschechen für die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukrainer im benachbarten polnischen Galizien. Und das ist zum dritten die Unterstützung der Polen für die Ungarn, die die ungarisch besiedelten Randgebiete der Tschechoslowakei zurückerhalten wollen.

So paktiert in diesem Raum ein jeder mit dem Feind des Nachbarn, statt

mit dem Nachbarn Ausgleich und Schulterschluß zu suchen. Die polnische Führung kommt überdies schon sehr früh zu der Auffassung, daß die Tschechoslowakei als Versailler Kunstprodukt nicht lebensfähig ist und durch den inneren Nationenkonflikt von selber auseinanderbrechen wird. Als die französische Diplomatie vor der Sudetenkrise 1938 den Versuch macht, Polen gegen Deutschland einzunehmen, läßt Polens Außenminister Beck den französischen Botschafter Noël in Warschau wissen, daß die „Tschechoslowakei in naher Zukunft verschwinden müsse“ und „daß man sich in Polen selbst darauf vorbereite, einen Teil des Erbes an sich zu nehmen.“

Das Verhältnis Polens zum Deutschen Reich

Die deutsch-polnischen Beziehungen werden in Einzelheiten im nachfolgenden Kapitel „Das deutsch-polnische Verhältnis zwischen 1918 und 1939“ noch beschrieben werden. Als Außenminister Stresemann 1925 seine Versöhnungsbemühungen gegenüber Frankreich mit dem Rheinpakt und mit der Anerkennung der deutsch-französischen Grenze krönt, versucht Marschall Piłsudski, die gleichen Garantien für die deutsch-polnische Grenzen und für Polens Landgewinne zu bekommen. Der deutsche Außenminister weist Piłsudskis Wünsche ab und erklärt, daß Deutschland zwar keinen Krieg beginnen werde, doch auf Gelegenheit zu einer Neuregelung in den Grenzregionen warte. Polen seinerseits läßt nicht mit dem Bemühen nach, Danzig in kleinen Schritten und mit vielen Winkelzügen aus dem Völkerbundmandat zu lösen und sich selber einzugliedern. Zudem wollen die vielen halbamtlichen Stimmen aus Polen nicht verstummen, die Schlesien, Ostpreußen und Pommern für Polen fordern. So steht das Verhältnis beider Länder zueinander bis 1933 unter der doppelten Hypothek der deutschen Ansprüche an Polen und der polnischen Wünsche nach weiterem deutschen Land.

Erst Adolf Hitler bricht mit dieser starren deutschen Haltung. Für Hitler ist der Staat Polen ein Puffer zwischen dem „Dritten Reich“ und der ihm so verhaßten kommunistischen Sowjetunion. Unter Hitler und Piłsudski schließen Deutschland und Polen im Januar 1934 einen Freundschafts- und Nichtangriffspakt für die Dauer von 10 Jahren.

Von da an gestalten sich die Beziehungen zwischen Berlin und Warschau zunächst recht positiv. Selbst bei den polnisch-deutschen Differenzen um Minderheiten und Gebiete sieht es zwischendurch so aus, als seien Lösungen zu finden. Nun folgt, eine Serie von sechs vergeblichen Versuchen von deutscher Seite, das Danzig- und das Korridor-Problem auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Kern der deutschen Kompromißvorschläge ist das Angebot, die polnischen Gebietserwerbungen in Oberschlesien, Westpreußen und Posen als endgültig anzuerkennen. Um diese Anerkennung hatte Marschall Piłsudski bis zu seinem Tode mehrfach vergeblich nachgefragt. Die 16 Reichsregierungen vor Hitler hatten diesen Wunsch der Polen nicht erfüllen wollen. Hitler bietet die erbetene Garantie nun gegen zwei „Tauschobjekte“: die Angliederung Danzigs, das völkerrechtlich ohnehin nicht polnisch ist, zurück ans Reich und exterritoriale Zugangswege in das abgetrennte Ostpreußen. Die Serie der Gespräche beginnt am 24. Oktober 1938 und setzt sich mit immer neuen Versuchen am 19. November, am 5. Januar 1939, am 25. und 26. Januar, am 21. März und am 28. April fort, bis am 30. August 1939 die letzte Offerte an Polen geht.

Am 24. Oktober 1938 schlägt Außenminister von Ribbentrop seinem polnischen Kollegen ein Acht-Punkte-Programm zur Lösung der deutsch-polnischen Probleme vor. Die wichtigsten von ihnen lauten:

1. Der Freistaat Danzig kehrt zum Deutschen Reich zurück.

2. Durch den Korridor wird eine exterritoriale, Deutschland gehörende Reichsautobahn und eine ebenso exterritoriale mehrgleisige Eisenbahn gebaut.

3. Polen behält im Danziger Gebiet ebenfalls eine exterritoriale Straße oder Autobahn und Eisenbahn und einen Freihafen.

4. Polen erhält eine Absatzgarantie für seine Waren im Danziger Gebiet.

5. Die beiden Nationen anerkennen ihre gemeinsamen Grenzen (Garantie) oder die beiderseitigen Territorien.

6. Der deutsch-polnische Vertrag wird von 10 auf 25 Jahre verlängert.

Trotz allen bisherigen Bemühens beider Seiten, die Beziehungen zueinander intakt zu halten, beginnt nun eine innerpolnische Entwicklung, die den Dialog zwischen polnischer und deutscher Regierung überrollt. Seit 1937 verändert sich in Polen die innere Großwetterlage. Zum ersten wird Becks „Verständigung“ mit Deutschland angegriffen. Zum zweiten erreicht die Drangsalierung der Minderheiten einen neuen Höhepunkt und drittens schießt sich die Presse in Polen auf alles Deutsche ein. Damit hat Beck so gut wie keinen Spielraum mehr. Am 19. November 1938 läßt Botschafter Lipski von Ribbentrop in einer Unterredung wissen, daß sein Außenminister Beck den deutschen Danzig-Wünschen aus innenpolitischen Gründen nicht werde zustimmen können.

Am 5. Januar unterbreitet Hitler ein zweites Mal den Vorschlag vom Oktober und bietet erneut die Anerkennung der verlorenen Gebiete als polnischen Bestand. Den Danzig-Vorschlag bringt Hitler nun auf eine entgegenkommendere Formel:

„Danzig kommt politisch zur deutschen Gemeinschaft und bleibt wirtschaftlich bei Polen.“

Selbst der Korridor soll dabei polnisch bleiben. Auch diesmal kommt ihm der polnische Außenminister kein Stück entgegen.

Im März 1939 ergibt sich für Polen eine Chance, das deutsche Drängen in Zukunft mit Englands Rückendeckung offen abzuwehren, als Hitler deutsche Truppen in die Tschechei marschieren läßt. Polens Außenminister Beck nutzt die Verärgerung der Briten und bittet die Londoner Regierung um ein Schutzabkommen gegen Deutschland. Polens Marschall Rydz-Śmigły läßt die polnischen Streitkräfte durch eine Mobilmachung verdoppeln und läßt Kampfverbände in Richtung Danzig und Pomerellen aufmarschieren. Diese Drohgebärde als Antwort auf ein Verhandlungsersuchen widerspricht dem Geist des deutsch-polnischen Vertrages, in dem zur Lösung von Streitigkeiten vereinbart worden ist:

„Unter keinen Umständen werden die Vertragsparteien zum Zweck der Austragung solcher Streitfragen zur Anwendung von Gewalt schreiten.“

Zu der Zeit gibt es von deutscher Seiten noch keine einzige Drohung gegenüber Polen.

Am 21. März ersucht Außenminister von Ribbentrop Botschafter Lipski, nach Warschau zu fahren und seiner Regierung die deutsche Bitte um neue Verhandlungen zu übermitteln. Am 26. März 1939 kehrt Lipski nach Berlin zurück und übergibt ein Antwortmemorandum, das ein mit diplomatischen Freundlichkeiten garniertes klares Nein zu den zwei deutschen Wünschen darstellt. Die Brisanz der Note liegt in dem Wortwechsel, mit der sie übergeben wird. Nachdem von Ribbentrop das polnische Memorandum gelesen hat, sagt er zu Lipski, daß diese Antwort keine Lösung darstellt. Er beharrt darauf, daß der einzig gangbare Weg die Wiedereingliederung Danzigs in das Reich und exterritoriale Transitwege seien. Lipskis Antwort darauf ist, daß

„er die unangenehme Pflicht habe, darauf hinzuweisen, daß jegliche weitere Verfolgung dieser deutschen Pläne, insbesondere soweit sie die Rückkehr Danzigs zum Reich beträfen, den Krieg mit Polen bedeuten“.

Hier taucht die erste Drohung mit dem Kriege auf. Und es ist der Pole, der sie ausspricht.

Drei Tage nach dem klaren Nein aus Polen, am 31. März 1939, verkündet die britische Regierung, daß England die Unversehrtheit Polens gegenüber Deutschland garantiert.

Die Ankündigung der Polen, statt einen Kompromiß zu schließen lieber Krieg zu führen, die provozierende Mobilmachung und das Dazwischentreten Englands nehmen Hitler in den letzten Märztagen 1939 jede weitere Hoffnung, in der Danzig-Frage auf dem bisherigen Weg allein zum Ziel zu kommen. Er setzt die militärische Option erst jetzt neben weitere Verhandlungen. Am 3. April gibt Adolf Hitler der Wehrmacht erstmals den Auftrag, einen Angriff gegen Polen so vorzubereiten, daß er ab 1. September 1939 möglich ist. Polen tanzt ab dem 3. April 1939 auf dem Vulkan. Der Ausbruch ist für den 1. September angesagt.

Hitler sieht in der polnischen Mobilmachung als Antwort auf ein Verhandlungsanerbieten und im Britisch-Polnischen Abkommen einen Bruch des Deutsch-Polnischen Freundschafts- und Nichtangriffsvertrages von 1934, den er deshalb am 27. April mit einem Memorandum kündigt. Im Memorandum erkennt Hitler noch einmal Polens Anspruch auf

Westpreußen-Pomerellen und den Ostsee-Zugang an. Er schlägt vor, die Streitpunkte zwischen Deutschland und Polen durch neue vertragliche Regelungen endgültig aus der Welt zu schaffen. Hitler droht Polen im Memorandum mit keinem einzigen Wort mit Gewaltmaßnahmen oder Krieg. Noch immer wäre bei einer Rückkehr Danzigs der Weg zum Frieden zwischen dem Deutschen Reich und Polen offen.

In Polen beurteilt man die Dinge völlig anders. Am 5. Mai 1939 begründet Außenminister Beck seine Politik des Status quo und der Abweisung der deutschen Forderungen vor dem Seijm. Der Status der Freien Stadt - so sagt er - beruhe nicht auf den Verträgen von Versailles, sondern auf der jahrhundertelangen Zugehörigkeit der Stadt zu Polen. Das Angebot der Deutschen, alle Gebietserwerbungen früher deutscher Territorien durch Polen nach dem Ersten Weltkrieg als endgültig polnisch anzuerkennen, sei kein Angebot. Die Gebiete seien „de jure und de facto“ längst unbestreitbar polnisch.

Am gleichen Tag, dem 5. Mai, antwortet die polnische Regierung der deutschen auf die Kündigung des Nichtangriffspaktes mit einer Note, in der sie die Respektierung der Rechte Polens im Freistaat Danzig fordert. Doch genau die sind im abgelehnten deutschen Vorschlag zugesichert worden. Zudem fordert Polen in der Note, daß Deutschland den Nichtangriffspakt von 1934 einhält, weil der vor Ablauf von 10 Jahren nicht gekündigt werden darf. Dabei wird tunlichst übergangen, daß die Teilmobilmachung in Polen und der Aufmarsch von Truppen vor den Toren Danzigs selbst Verstöße gegen das Abkommen von 1934 waren. Außerdem beruft sich die polnische Regierung in ihrer Note auf den Kellogg-Pakt, den sie schon viermal selbst gebrochen hat. Im Kern schlägt die polnische Note vom 5. Mai 1939 nichts anderes vor, als daß Deutschland den Verbleib Danzigs außerhalb des deutschen Reichsverbandes im Verein mit Polen selber garantieren soll.

Was nun folgt, ist wie der Rutsch auf schiefer Ebene. Im Juni und Juli 1939 nehmen die Drangsalierungen der Minderheiten in Polen, die Grenzzwischenfälle und der Druck aus Danzig derart zu, daß ein spannungsfreies Verhandeln zwischen der polnischen und der deutschen Regierung nicht mehr möglich ist. Ende Juli, Anfang August belastet ein Streit zwischen Polen und dem Danziger Senat um den Zolldienst im Freistaat zusätzlich das deutsch-polnische Verhältnis. Der Danziger Senat

gibt auf Anraten Hitlers nach, und polnische sowie französische Zeitungen berichten, Hitler sei vor der festen Haltung Polens in die Knie gegangen. Der Streit beginnt nun auch psychologisch abzugleiten.

Am 30. August 1939 schiebt Hitler in allerletzter Stunde ein neues Angebot - wie es die Deutschen meinen - beziehungsweise eine neue Forderung - wie es die Polen sehen - nach. Hitler baut eine Brücke, über die die Polen gehen könnten. Das Angebote umfaßt 16 Punkte. Dazu gehören:

- Danzig kehrt heim ins Reich.

- Im nördlichen Korridor soll die Bevölkerung in einer Abstimmung selbst entscheiden, ob das Gebiet polnisch oder deutsch wird.

- Die Hafenstadt Gdingen bleibt dabei auf jeden Fall polnisch.

- Je nach Abstimmungsergebnis im Korridor erhält entweder Deutschland exterritoriale Verkehrswege nach Ostpreußen oder Polen exterritoriale Verkehrswege nach Gdingen.

- Die Beschwerden der deutschen Minderheit in Polen und die der polnischen Minderheit in Deutschland werden einer internationalen Kommission unterbreitet und von dieser untersucht. Beide Nationen zahlen Entschädigungen an betroffene Geschädigte nach Maßgabe der Kommission.

- Im Falle einer Vereinbarung nach diesen Vorschlägen demobilisieren Polen und Deutschland sofort ihre Streitkräfte.

Dies ist das sechste und letzte Angebot von deutscher Seite. Hitler läßt den Polen nun keinen Raum mehr, auf Zeit zu spielen. Er setzt eine Frist für den Gesprächsbeginn. Er „erwartet“, daß Warschau bis zum 30. August 1939 um 24 Uhr einen bevollmächtigten Unterhändler nach Berlin entsendet. Außenminister Beck dagegen will weder den Zeitdruck noch den Verhandlungsort Berlin akzeptieren. Er weist Lipski in der deutschen Hauptstadt an, den neuen deutschen Vorschlag nicht entgegenzunehmen.

Einen Tag und fünf Stunden nachdem der vorgeschlagene und „erwartete“ Termin für den Beginn neuer Gespräche ergebnislos verstrichen ist, marschiert die Wehrmacht in Polen ein.

Polen und der Kellogg-Pakt

Ein weiteres Vertragswerk, das die Polen hätte schützen können, ist der schon erwähnte Kellogg-Pakt von 1928, in dem die USA, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Polen, Deutschland und andere erklären,

„daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten.“

und

„daß die Regelung und Entscheidung aller Streitigkeiten ..., die zwischen ihnen entstehen könnten, ..., niemals anders als durch friedliche Mittel angestrebt werden sollen.“

Der Pferdefuß an dem Vertrag für Polen ist die Präambel. Sie bestimmt, daß

„jede Signatarmacht, die zum Kriege schreitet, der Vorteile, die dieser Vertrag gewährt, verlustig erklärt werden sollte.“

Nachdem Polen versucht hat, Frankreich 1933 zum Kriege gegen Deutschland zu bewegen, und nachdem es 1938 erst Litauen und dann die Tschechoslowakei mit Krieg bedroht hat, liegt auf der Hand, daß Deutschland und die Sowjetunion der Empfehlung folgen und den Kellogg-Pakt nicht mehr für Polen gelten lassen.

Die Bilanz

In der Bilanz hat Polen 1939 wenig zu seinen Gunsten vorzuweisen. Die

Annexion von Land von vier der Nachbarstaaten, dieAußenpolitik der ständigen Vorteilnahme ohne eigene Vertragstreue wird für Polen zur „Reise nach Jerusalem“. Es wechselt seinen Platz so oft, daß ihm zum Schluß kein Stuhl mehr bleibt. Das Patronat des Völkerbunds und die Sympathie Englands hat Polen schnell mit den Brutalitäten gegen seine Minderheiten abgenutzt. Frankreichs Polenliebe ist erloschen, seit Deutschland auf Elsaß und Lothringen verzichtet hat. Der Kellogg-Pakt ist so oft gebrochen worden, daß Polen keinen Schutz mehr durch ihn zu erwarten hat. Der Vertrag mit Rußland ist 1938 für das halbe Industrierevier von Teschen geopfert worden. Der Vertrag mit Deutschland wird mißachtet, als die Reichsregierung um Gespräche wegen Danzig bittet, Polen daraufhin mobil macht und Truppen vor Danzig aufmarschieren läßt. Der Vertrag, den Polen dafür mit England schließt, bringt Polen keine Sicherheit. Großbritannien will Deutschland die Flügel stutzen und nicht Polen retten. England überlaßt die Polen - als es ernst wird - erst den Deutschen und dann der Sowjetunion. Nach knapp zwei Jahrzehnten neuer Souveränität steht Polen im August 1939 auf dem Scherbenhaufen seiner Außenpolitik, drei Wochen später ist es selbst ein Scherbenhaufen.

Das deutsch-polnische Verhältnis zwischen 1918-1939

Die zwischenstaatlichen Beziehungen vieler Länder in Europa zwischen 1918 und 1939 sind alles andere als friedlich. Sie sind eruptiv. Polen und die Sowjetunion haben ihre Spannungen und Kriege. Polen und Litauen leben in andauernder Spannung und führen einen Krieg. Italien fällt über Albanien her. Frankreich und Italien haben Differenzen um Territorien; genauso Dänemark und Norwegen, Italien und Griechenland, Jugoslawien und Österreich, Deutschland und die Tschechoslowakei, Ungarn und die Tschechoslowakei, Polen und die Tschechoslowakei, England und Irland und Spanien und Italien. Trotz der zuerst genannten Kriege und der dann aufgezählten Vielzahl an zwischenstaatlichen Differenzen entzündet sich der Zweite Weltkrieg erst 1939 an den polnisch-deutschen Streitigkeiten. Der große Knall kommt erst, als Adolf Hitler 1939 Danzig zurückverlangt, dazu eine exterritoriale Autobahn- und Eisenbahnverbindung zwischen dem Reichsgebiet und dem seit 1918 abgetrennten deutschen Ostpreußen und eine Garantie für die Gewährung der Menschenrechte für die deutsche Minderheit in Polen. Adolf Hitler löst den Krieg aus, als er die drei

genannten Probleme nach langer Verhandlungsdauer schließlich mit Gewalt löst. Warum erst 1939?

Das deutsch-polnische Verhältnis ist zwischen beiden Kriegen nicht immer so schlecht wie 1939. Der Start ist schlecht und auch das Ende. 1918 nehmen sich die Polen, nachdem das Deutsche Reich im Westen gegenüber den USA, Großbritannien und Frankreich hatte kapitulieren müssen, im Osten die bis dahin deutschen Provinzen Posen und Westpreußen. Das im Westen geschlagene Deutschland kann es militärisch und diplomatisch nicht verhindern. Die Polen nehmen sich die zwei Provinzen, ehe ihnen diese Gebiete durch die Siegermächte in Versailles zugestanden werden. Für die mehrheitlich von Polen bewohnte Provinz Posen wird das in Deutschland akzeptiert. Aber die Provinz Westpreußen ist zu 70% deutsch bevölkert, so daß dieser eigenmächtige Gewaltstreich Polens in der Weimarer Republik von keiner der demokratisch legitimierten Reichsregierungen anerkannt wird.

1918 und 1919 fordert Polen in Versailles außerdem Teile Pommerns, Schlesiens und ganz Ostpreußen für sich, was ihm jedoch nicht zugestanden wird, aber doch Ängste in Deutschland hinterläßt. 1921 startet Polen den Versuch, ganz Oberschlesien mit Milizen und den dort überwiegend in dritter Generation ansässigen polnischen Gastarbeitern zu erobern. Nach einer Volksabstimmung, die Polen zu verhindern versucht, erhält es das ostoberschlesische Industriegebiet von den Siegerstaaten zugesprochen. 1933 fordert Polen Frankreich dreimal zu einem Zweifrontenkrieg gegen Deutschland auf, was Frankreich allerdings ablehnt. Polen verfügt 1933 mit 298.000 Mann im Heer immerhin noch über dreimal so viel Militär wie Deutschland mit seinem 100.000-Mann-Heer. So wird Polen vor Hitlers Amtsantritt 1933 von allen demokratischen Parteien in Deutschland und von der Reichswehr als Bedrohung angesehen.

Erst unter den Diktatoren Hitler in Deutschland und Pilsudski in Polen gibt es eine Annäherung für ein paar Jahre, die auch nach Pilsudskis Tod 1935 noch für eine Weile anhält. Nach Pilsudskis Versuch von 1933, Frankreich zu einem Krieg gegen Deutschland aufzurufen - der ja gescheitert ist - lenkt Pilsudski ein. Er schließt 1934 mit Hitler einen Freund-schaftsvertrag. Das nun stabile deutsch-polnische Verhältnis führt dazu, daß die polnische Regierung sich 1938 ihre Landerwerbung in der damals

zerfallenden Tschechoslowakei von Hitler billigen läßt. Polen annektiert daraufhin 1938 den tschechischen Teil des Industrie-gebiets von Teschen und dabei auch die weitgehend deutsch bevölkerte Stadt Oderberg. ( Das Teschener Gebiet liegt in südöstlicher Fortsetzung Oberschlesiens ) Die Stadt Oderberg wird im Fortgang der Geschichte noch eine Rolle spielen.

Da Polen von 1918 bis 1938 seine Nachbarn Sowjetunion, Litauen, Deutschland und die Tschechoslowakei je ein- oder mehrfach angegriffen und Grenzgebiete aller dieser Nachbarn annektiert hat, ist der Staat Polen bis Anfang 1939 für England das, was man heute als Schurkenstaat bezeichnet. Obwohl sich Deutschland und Polen bis 1938 angenähert haben, gibt es nach wie vor die drei deutsch-polnischen Probleme: 1. die Wahrung der Menschen-rechte der deutschen Minderheit in Polen, 2. den deutschen Wunsch, die Hansestadt Danzig wieder an Deutschland anzuschließen; schließlich fordert die zu 97% deutsche Bevölkerung der Stadt dies seit Jahren. Und Danzig ist Mandatsgebiet des Volkerbunds und mitnichten ein Teil des Staates Polen, aber die Sieger hatten den Polen in Danzig besondere Zoll-, Post-, Bahn- und Handelsrechte eingeräumt.

Das 3. Problem ist der deutsche Wunsch nach exterritorialen Verkehrswegen vom Reichs-gebiet in das seit 1918 abgetrennte Ostpreußen; die so genannte Korridor-Frage. Dieser deutsche Wunsch kommt nicht von ungefähr. Ostpreußen ist nach zwei Verträgen durch 8 Eisenbahnverbindungen über nun polnisches Gebiet mit Pommern und Schlesien verbunden. Nach den Verträgen sind die Transitgebühren in Zloty zu bezahlen, was zunächst keine Schwierigkeiten bereitet. Während und nach der Weltwirtschaftskrise nimmt Deutschland im Außenhandel jedoch nicht mehr genug Zloty ein. Um die Gebühren zu entrichten, überweisen die deutschen Behörden die an Zloty fehlende Beträge monatlich in Reichsmark. Doch Polen sieht darin einen Vertragsbruch, was es streng nach dem Vertragstext ja auch ist, und schließt zur Strafe ab 1936 eine Eisenbahnverbindung nach der anderen. 67% der Eisenbahntransporte jedoch dienen der Energieversorgung Ostpreußens. Sie fahren Kohle aus Oberschlesien für Industrie, Gewerbe, den Hausbrand und die Stromerzeugung in die abgeschnittene Provinz. Die Kohle ist zu jener Zeit der Energieträger, den heute Erdöl und Erdgas darstellen. Schließlich droht die polnische Seite einmal damit, bei weiterhin unvollständigen Zloty-Zahlungen auch die letzten Strecken zwischen Ostpreußen und dem Reichsgebiet zu schließen. Damit wäre

Ostpreußen von seiner Energieversorgung abgeschnitten und dem wirtschaftlichen Ruin preisgegeben, wie zwei Jahrzehnte später beinahe die Stadt Berlin während der sowjetischen Blockade. So kommt im Reichswirtschaftsministerium die Idee auf, mit den Polen statt über Zloty-Zahlungen über exterritoriale Verkehrsverbindungen in deutscher Hoheit und Regie zu verhandeln.

Damit stehen 1939 die drei deutsch-polnischen Differenzen auf der Tagesordnung: das Los der deutschen Minderheit in Polen, die Transitwege nach Ostpreußen und die Zukunft der Stadt Danzig. Interessant ist, daß auch Politiker im Ausland die Brisanz der deutsch-polnischen Probleme sehen. Churchill warnt schon am 24. November 1932 - also noch vor der Wahl, die Hitler 1933 an die Macht bringt - das Oberhaus in London. Er sagt: “Wenn die englische Regierung wirklich wünscht, etwas für die Förderung des Friedens zu tun, dann sollte sie die Führung übernehmen und die Frage Danzigs und des Korridors ihrerseits wieder aufrollen, solange die Siegermächte noch überlegen sind. Wenn diese Fragen nicht gelöst werden, kann keine Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden bestehen.“ In Frankreich gibt es zu der Zeit vereinzelt ähnliche Ansichten. Doch nichts geschieht. Die Siegermächte hatten diese Ursachen für einen neuen Krieg in Versailles selbst geschaffen und sie dann nicht beseitigt, als dafür die Zeit längst reif war.

Hitler glaubt 1938 zwei Trümpfe für die Lösung dieser Probleme in der Hand zu haben. Der erste: die polnischen Regierungen hatten die 16 deutschen Reichsregierungen vor Hitler gebeten, ihre Gebietsgewinne in Posen, Westpreußen und Oberschlesien als endgültig anzuerkennen. Alle Regierungen der Weimarer Republik hatten das abgelehnt. Hitler bietet diese Anerkennung an. Der zweite Trumpf: Die Polen hatten 1938 bei der Annexion des tschechischen Industriegebiets von Teschen auch die schon erwähnte, überwiegend deutsch bewohnte Stadt Oderberg mit annektieren wollen. Das Auswärtige Amt in Berlin hatte Einspruch dagegen eingelegt. Doch hier schreitet Hitler ein und gesteht Oderberg den Polen zu. Sein Argument: „Wir können nicht um jede deutsche Stadt mit Polen streiten.“ Seine Hoffnung ist, daß Polen dafür der Wiedervereinigung der deutschen Stadt Danzig mit dem Deutschen Reich zustimmen werde.

Nach der Annexion des Teschener Gebiets und Oderbergs durch Polen im September 1938 beginnt Hitler Oktober 1938 die Verhandlungen mit

Polen um Danzig, die Transitwege und die Einhaltung der Menschenrechte für die Deutschen in Polen. Sein erstes Angebot ist die Anerkennung der polnischen Gebietserwerbungen seit 1918 und die Verlängerung des deutsch-polnischen Freundschaftsvertrags von 10 auf 25 Jahre. Im Januar 1939 legt Hitler noch einmal nach. Er schlägt vor: „Danzig kommt politisch zur deutschen Gemeinschaft und bleibt wirtschaftlich bei Polen.“ Eine faire Kompromisslösung, denn Danzig gehört ja bislang politisch auch nicht zu Polen, sondern zum Völkerbund. Bis in den März 1939 hinein gibt es bei den deutsch-polnischen Verhandlungen leichte Annäherungen, aber keinen Durchbruch.

Zu der Zeit ist Polen in Europa wegen seiner vielen Kriege seit 1920 und wegen der Teschen-Annexion vom vergangenen September noch geächtet. Ende März 1939 aber wendet sich das Blatt. Hitler begeht einen großen Fehler. Er erklärt die Tschechei - entgegen früher gegebener Versprechen - zum deutschen Protektorat und läßt sie besetzen. Nun brauchen die Briten Verbündete gegen Deutschland. Sie bieten den Polen einen Beistandspakt gegen Deutschland an. Polen wechselt seinen Partner und geht auf Englands Seite über. Obwohl die deutsch-polnischen Gespräche zunächst noch weiterlaufen, schließt Polen Ende März 1939 den Vertrag mit England, macht seine Truppen teilweise mobil, so daßdas Heer verdoppelt wird, stellt Korpsstäbe auf und läßt Truppen in Richtung Ostpreußen aufmarschieren. März 1939!

Hitler reagiert und gibt am 3. April 1939 der Wehrmachtsführung erstmals den Befehl, einen Angriff gegen Polen vorzubereiten, so daß er am 1. September beginnen kann. Nun herrscht Eiszeit zwischen Deutschland und Polen. Dennoch macht die deutsche Reichsregierung noch ein paar Anläufe weiterzuverhandeln. Doch die polnische Regierung erklärt nun, der Status des Freistaats Danzig beruhe nicht auf dem Vertrage von Versailles, sondern auf der jahrhundertelangen Zugehörigkeit Danzigs zu Polen. Und Posen und Westpreußen gehörten de jure und de facto längst zu Polen. Die angebotene deutsche Anerkennung sei keine Gegenleistung. Hitler bittet danach die englische Regierung, zwischen Deutschland und Polen zu vermitteln. In den letzten neun Tagen vor Kriegsbeginn laufen die Verhandlungsdrähte heiß. Die Verhandlungen gehen nun über den englischen Botschafter Henderson in Berlin und von dort über die englische Regierung nach Warschau und zurück, doch ohne daß es dabei eine Annäherung zwischen Berlin und Warschau gäbe. In die

Verhandlungen zwischen Berlin und London wird außerdem ein Vermittler eingeschaltet, der schwedische Industrielle Dahlerus.

Am 30. August 1939 unternimmt die deutsche Reichsregierung nach neun Verhandlungstagen einen letzten von insgesamt sechs Versuchen. Sie macht der polnischen Regierung einen 16-Punkte-Vorschlag zur Lösung der deutsch-polnischen Probleme und verlangt, daß Polen noch bis Mitternacht des gleichen Tages einen bevollmächtigten Unterhändler zu Verhandlungen nach Berlin entsendet. Die wesentlichen Punkte dieses Vorschlags lauten: Die Bevölkerung im Korridor soll in einer Volksabstimmung unter internationaler Kontrolle selbst entscheiden, ob sie zu Polen oder zu Deutschland gehören will. Der Wahlverlierer bekommt exterritoriale Verkehrswege durch den Korridor. Bleibt der Korridor bei Polen, erhält Deutschland exterritoriale Verbindungen nach Ostpreußen. Kommt der Korridor an Deutschland, bekommt Polen exterritoriale Verbindungen an die Ostsee nach Gdingen. Der Hafen und die Stadt Gdingen bleiben - so der deutsche Vorschlag - unabhängig vom Wahlausgang bei Polen, und Polen behält seine Handelsprivilegien in Danzig. Das ist der letzte deutsche Vorschlag vor dem Krieg.

Was während dieser neun Verhandlungstage so erstaunt, ist daß Hitler den schon für den 23. August befohlenen Angriff der Wehrmacht gegen Polen noch dreimal verschieben läßt, obwohl der Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion bereits geschlossen ist, und Deutschland damit „Rückendeckung“ für die Eröffnung des Feldzugs gegen Polen hat. Doch Hitler läßt den Beginn des Angriffs - wie schon erwähnt - dreimal mit der Begründung verschieben, er brauche noch Zeit zum Verhandeln. Hätte Hitler ganz Polen erobern wollen, hätte er den Krieg nicht wegen der Verhandlungen um viel geringere Kriegsziele, nämlich Danzig und den deutsch bewohnten Teil des Korridors mehrmals verschoben.

Die Zuspitzung um Danzig 1939

Ein Teil der früheren Provinz Westpreußen ist die Stadt Danzig als Hauptstadt der Provinz. Doch 1920 rückt sie gesondert in das Rampenlicht der Weltgeschichte. Die Hansestadt wird am 15. November 1920 nach dem Beschluß der Siegermächte ohne Volksabstimmung vom Deutschen

Reich getrennt und „unter den Schutz des Völkerbunds gestellt“. Die Bürger Danzigs verlieren die deutsche Staatsbürgerschaft und sind nun Bürger eines neu gebildeten „Freistaats Danzig“. In Stadt und Umland leben zu der Zeit 340.000 Menschen. 97% der Bevölkerung sind bis dahin deutsch. Die Bevölkerung verlangt in den Jahren zwischen beiden Kriegen mehrmals eine Volksabstimmung über ihre Zugehörigkeit zum Deutschen Reich. Der Völkerbund lehnt alle Begehren in dieser Richtung ab.

Polen und Danzig

Auch Polen ist nicht mit dem Status Danzigs als Freistaat unter Völkerbunds-Herrschaft zufrieden. Während der Siegerkonferenz von Versailles hat die polnische Delegation gefordert, Danzig dem neuen Polen anzugliedern. Die Begründung wird hier wieder weitgehend aus einer frühen Zugehörigkeit der Stadt zu Polen abgeleitet.

Der Freistaat Danzig ab 1920

Artikel 104 des Versailler Vertrags bestimmt, daß Danzig fortan eine „Freie“ Stadt mit eigener, autonomer Verwaltung unter der Regie eines vom Völkerbund ernannten Hochkommissars sein soll. Die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten Danzigs obliegt nach dem Vertrag der polnischen Regierung. Die Interessen Danzigs im Ausland werden also in den nächsten 19 Jahren von Warschau aus vertreten und nicht mehr von Berlin. Nach Artikel 104 gehört Danzig von 1920 an außerdem zu Polens Zollgebiet. Die Danziger Wasserstraßen und der gesamte Hafen stehen den Polen ohne Einschränkung zur Benutzung zur Verfügung. Polen überwacht den Eisenbahn- und Wasserstraßenverkehr in Danzig und Umgebung. Die Post und Telefonverbindungen von Polen in den Hafen - allerdings nur diese - werden polnischen Behörden übertragen. Polens Einfluß auf den Freistaat ist damit klar begrenzt. Doch in den 19 Jahren bis 1939 versucht der Staat Polen, sich den Freistaat in einer Folge kleiner Schritte Zug um Zug einzuverleiben.

Polens Danzig-Politik

Polen dehnt das eigene Postnetz auf den ganzen Freistaat aus, obwohl der polnische Postdienst nach Versailler Vertrag ausschließlich für den Hafen vorgesehen ist. Es weigert sich, die Völkerbundwährung, den Danziger

Gulden, auf Danziger Gebiet als Zahlungsmittel anzunehmen. Das polnische Militär legt gegen den ausdrücklichen Protest des Danziger Senats ein Munitionsdepot im Hafen an. Dann versucht es, die eigenen Truppen im Hafen zu verstärken, um - wie es heißt - das Depot zu schützen. Die Verstärkung der polnischen Soldaten im Hafen von Danzig scheitert allerdings am Einspruch des Völkerbunds. 1932 nutzt Polen einen englischen Flottenbesuch in Danzig, um eigene Kriegsschiffe dorthin zu verlegen. Als der Senat der Freistadt dagegen Einspruch einlegt, wird ihm mitgeteilt, daß „polnische Kriegsschiffe das nächste öffentliche Gebäude beschießen werden, falls die Danziger Bevölkerung die polnische Flagge auf den polnischen Schiffen beleidige“. Ab August 1932 beansprucht Polen dann generell das Recht zum Aufenthalt seiner Flotte im Danziger Hafen. So weitet sich der Zugriff Polens auf den Freistaat langsam aber unaufhörlich aus.

In Danzig steigt das Verlangen nach Anschluß an das Mutterland. In Deutschland glaubt man das Recht auf eigener Seite, als Hitler den Anschluß Danzigs und sichere Verkehrswege ins abgeschnittene Ostpreußen fordert. Und in Polen nehmen Wut und Haß gegen die „illoyalen“ Danziger Bürger zu.

Ab Juni 1939 mehren sich im Freistaat Danzig die gegenseitigen Beschuldigungen und Verdächtigungen zwischen der deutsch-Danziger Bevölkerung und den polnisch-Danziger Behörden. Polnische Militärtransporte fahren durch den Freistaat, ohne daß sie, wie es vereinbart ist, vorher beim deutschen Danziger Senat gemeldet werden. Die polnische Militärbesatzung auf der Westerplatte neben Danzigs Hafen wird auf 240 Soldaten verstärkt, obwohl der Völkerbund nur 88 zugelassen hat. Die polnischen Zöllner, ursprünglich sechs Beamte, sind inzwischen 110 geworden.

Der Zollinspektorenstreit 1939

Besonders kritisch wird im Sommer 1939 ein Zwist, der als der „Zollinspektorenstreit“ bekannt geworden ist. Ab Mai verschärfen sich Kontrollen und Verhalten der polnischen Zollbeamten gegenüber den Danzigern im kleinen Grenzverkehr, der für die Menschen dort in ihrer Insellage von besonderer Bedeutung ist. Die polnischen Zollbeamten maßen sich gegenüber ihren deutschen Kollegen Befehlsbefugnisse an, die

sie so nicht haben, und die Zahl der polnischen Beamten wird wesentlich erhöht. Die deutsche Polizei behauptet, ein Teil der zusätzlichen Zollbeamten gehöre dem polnischen Nachrichtendienst an und werde auf diese Weise nach Danzig eingeschleust. Die deutschen Beamten arbeiten daraufhin mit den polnischen nicht mehr recht zusammen. Die wiederum verzögern die Ausfuhr Danziger Agrar- und Fischereiprodukte, die im heißen 39er Sommer besonders leicht verderben. In dieser angespannten Lage beschwert sich der Präsident des Danziger Senats Greiser beim polnischen Generalkommissar über die beschriebenen Vorfälle und kündigt an, daß deutsche Zollbeamte von den polnischen zu Zukunft keine Weisungen mehr entgegen nehmen werden. Der Generalkommissar Chodacki schickt dem Präsidenten Greiser als Antwort postwendend ein Ultimatum, diese Weisung bis 18 Uhr des gleichen Tags zurückzunehmen, andernfalls

„wird die polnische Regierung unverzüglich Vergeltung gegen die freie Stadt anwenden“.

Außerdem teilt Chodacki mit, daß der polnische Zoll ab sofort bewaffnet werde. Hitler, vom Senatspräsidenten um Rat gefragt, drängt, für Entspannung zu sorgen und „die Angelegenheit nicht noch mehr zu vergiften“. Es gelingt dem Präsidenten Greiser den Generalkommissar Chodacki zu bewegen, das Ultimatum aufzuheben.

Kriegsgefahr um Danzig

So belanglos dieser Zwischenfall auch scheint, er zeigt doch, wie nah die Welt am Rand des Krieges steht. Staatssekretär im Auswärtigen Amt von Weizsäcker übermittelt dem polnischen Geschäftsträger in Berlin die Mißbilligung der Reichsregierung zum Zollinspektorenstreit, zum Ultimatum und zur Drohung gegenüber der Danziger Bevölkerung. Der nimmt Rücksprache mit seinem Ministerium in Warschau und teilt von Weizsäcker tags darauf offiziell mit, daß Polen jede Einmischung der Reichsregierung in die polnisch-Danziger Beziehungen zu Lasten Polens als „Angriffshandlung“ betrachten werde. Das polnische Außenamt gibt damit zu verstehen, daß schon jedes Parteiergreifen der Reichsregierung zu Gunsten Danzigs und zu Lasten Polens Krieg bedeuten werde. Angesichts des unbedeutenden Zollstreits in Danzig ist das eine ganz massive Drohung, zumal England und Frankreich zugesichert hatten, Polen in

jedem von Deutschland ausgelösten Krieg zu unterstützen.

Hitler zeigt sich über das polnische Ultimatum in dieser ohnehin so spannungsreichen Zeit empört, und er spricht davon, daß „die Grenze seiner Duldsamkeit erreicht ist“. Polens Presse gießt nun noch Öl ins Feuer, indem sie schreibt, Hitler habe im Zollstreit „klein beigegeben“ und eine einzige ein wenig schroffe Note habe genügt, „ihn in die Knie zu zwingen“.

Das ist drei Wochen vor dem Krieg. Das Chodacki-Ultimatum und Hitlers Reaktion darauf so kurz vor Kriegsbeginn lassen Rückschlüsse auf dessen Absichten in Bezug auf Polen zu. Wenn der „Führer“ wirklich Krieg mit Polen statt nur Danzig und die Transitwege hätte haben wollen, hätte er ihn jetzt leicht haben können. Er hätte dem Danziger Senat nur bedeuten müssen, im Zollinspektoren-Streit nicht nachzugeben. Polen wäre dann, wie angedroht, gegen den Freistaat vorgegangen. Danzig hätte als Reaktion darauf den Anschluß an das Deutsche Reich erklären können und Polen wäre - das ist sicher - militärisch gegen Danzig vorgegangen. Damit hätten die Polen und nicht die Deutschen den Krieg, der in der Luft liegt, ausgelöst. Wenn Hitler Anfang August 1939 unbedingt Krieg mit Polen hätte haben wollen, hätte er sich diese Chance kaum entgehen lassen. Er hätte Senatspräsident Greiser wohl nicht den Rat gegeben, „die Angelegenheit nicht noch mehr zu vergiften.“

Auf deutscher Seite werden die polnischen Ausschreitungen gegen Angehörige der deutschen Minderheit inzwischen durch Repressalien gegen Polen im Reichsgebiet vergolten. Den Ausweisungen von Deutschen dort folgen Ausweisungen von Polen hier. Das alles heizt die antideutsche Stimmung in Polen weiter an. Derweilen rumort es in Danzig, wenn auch auf eine andere Weise. Die deutsche Bevölkerung der Stadt fordert auf Großveranstaltungen mit der Parole „heim ins Reich“ den Anschluß an das Mutterland. Die SS-Heimwehr tritt im August zum ersten Male öffentlich mit einer Parade in den Straßen Danzigs auf.

Auch der August bringt keine Besserung der Lage. Das Deutsche Reich bleibt gegenüber Polen bei den bekannten Forderungen. Die Polen lehnen jede Einigung zu ihren Lasten in der Danzig- und der Transitwege-Frage ab. Engländer und Franzosen versuchen, die Russen gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen, ehe Deutschland seinerseits die Russen für die

kommenden Auseinandersetzung zur Neutralität verpflichtet. Derweil wird die Hintergrundmusik aus Danzig und aus Polen immer schriller.

Botschafter Hendersons Mäßigungsversuch

Am 16. August versucht Englands Botschafter Henderson noch einmal von Berlin aus zu Vernunft und Mäßigung zu raten. Er schickt Außenminister Halifax ein Telegramm:

„Ich würde persönlich empfehlen, der polnischen Regierung nahezulegen - und zwar sofort - ,ihren hiesigen Botschafter anzuweisen, irgendeinen diplomatischen Schritt zu unternehmen, was ihm über Göring ein leichtes sein sollte. ... Lipski ist, trotz allem, was vorgefallen ist, hier immer noch „persona grata“. Die Polen könnten vorschlagen, zum Verhandlungsstand vor dem März zurückzukehren ... um es zu ermöglichen, wieder in Gespräche einzusteigen.“

Zwei Telegramme am Folgetag von Halifax an Kennard in Warschau zeigen keine Reaktion auf Hendersons Empfehlung.

In der letzten Woche vor dem Kriegsausbruch versuchen polnische Flak-Batterien noch ein paar Mal, Passagiermaschinen der Deutschen Lufthansa auf ihrem Flug von Berlin nach Königsberg über der Ostsee abzuschießen. Es kommt zu zahlreichen Schießereien an den Grenzübergängen zwischen polnischen und deutschen Zollbeamten und Soldaten, wobei es viele Tote gibt. Das „Abfackeln“ deutscher Bauernhöfe im polnischen Grenzland geht unvermindert weiter. Die deutsch-polnische Grenze steht im August 1939 auch ohne Krieg in Flammen .

Der Hitler-Stalin-Pakt 23.8.1939

Die deutsch-sowjetische Verständigung 1939

Als Warschau den antideutschen Kriegspakt zwischen London, Moskau und Paris aus Angst vor der Sowjetunion verhindert, nutzt Berlin die unvorhergesehene Chance und bietet Moskau Gespräche zur Verständigung an. Am 4. August 1939 gibt der sowjetische Außenminister

Molotow dem deutschen Botschafter Graf von der Schulenburg eine Audienz. Der Graf nutzt die Gelegenheit, Molotow dreierlei zu sagen. Erstens daß es aus deutscher Sicht keine territorialen Interessengegensätze zwischen der Sowjetunion und Deutschland gäbe, zweitens, daß man in Berlin gedenke, die Integrität der Baltenstaaten weiterhin zu respektieren, und drittens, daß man hoffe, die deutschen Forderungen an die Polen auf dem Verhandlungswege durchzusetzen. Sei dies nicht möglich, so sei man in Berlin bereit, bei einer gewaltsamen Lösung die Interessen der Sowjetunion zu wahren.

Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen 1939

Am 15. August, dem zweiten Tag der noch laufenden britisch-französisch-russischen Verhandlungen, beginnen in Moskau deutsch-sowjetische Gespräche. Außenminister Molotow gibt dem Grafen gegenüber zu erkennen, woran die Sowjets Interesse haben. Das sind vier Angelegenheiten. Zuerst hofft man in Moskau auf einen mäßigenden Einfluß Berlins auf Tokio, denn die Sowjetunion und Japan liegen noch im Krieg. Zum zweiten und zum dritten wünscht Molotow einen Nichtangriffspakt und einen Handels- und Kreditvertrag mit Deutschland. Der vierte Wunsch ist offensichtlich eine Täuschung. Molotow fragt, ob Deutschland die Existenz der Baltenstaaten gemeinsam mit der Sowjetunion garantieren wolle. Graf von der Schulenburg berichtet über den Besuch bei Molotow unverzüglich nach Berlin. Bemerkenswert ist, daß er dem Bericht am Tag darauf einen Kurzbrief folgen läßt, in dem er seine Zweifel daran äußert, daß die Sowjets wirklich den Bestand der Baltenstaaten gemeinsam mit den Deutschen garantieren wollen. Von Ribbentrop sichert den Sowjets einen Nichtangriffspakt für 25 Jahre zu, und stellt in Aussicht, wie ersucht, auf Japan einzuwirken. Wiederum bemerkenswert ist, daß von Ribbentropp bekundet, daß das Deutsche Reich bereit ist, „die baltischen Staaten gemeinsam mit der Sowjetunion zu garantieren.“

Zwei Tage danach, am 17. August, meldet sich der deutsche Botschafter ein zweites Mal bei Molotow und überbringt die Reaktionen aus Berlin. Der sowjetische Außenminister übergibt seinerseits eine schriftliche formulierte Antwort auf die Fragen, die seit Schulenburgs erster Audienz bei ihm im Raume stehen. In dieser Antwortnote sind noch einmal die Wünsche nach einem Handels- und Kreditabkommen und einem

Nichtangriffspakt genannt. Des weiteren räumt Molotow in diesem Schreiben ein, daß die Sowjetunion infolge der sowjetfeindlichen Haltung Deutschlands gezwungen gewesen sei,

„erste Maßnahmen zur Vorbereitung einer Abwehrfront gegen eine mögliche Aggression auf die Sowjetunion von Seiten Deutschlands zu ergreifen.“

Damit sind zweifelsohne die vor drei Tagen den Briten und Franzosen vorgeschlagenen Angriffe gegen Ostpreußen und Schlesien gemeint. Der Brief setzt fort:

„... daß die Sowjetregierung niemals irgendwelche aggressiven Absichten gegen Deutschland gehabt hat. ...

Das geheime deutsch-sowjetische Zusatzprotokoll vom 23. August 1939

Statt der bisher stets erwähnten Absicht, den Bestand der Baltenrepubliken gemeinsam mit dem Deutschen Reich zu garantieren, schlägt Molotow nun ein „spezielles Protokoll“ vor, „das einen integrierenden Bestandteil des Paktes bildet.“ Da in dem Schreiben Molotows nichts zum Inhalt dieses Protokolls gesagt wird, fragt von der Schulenburg sofort, was denn mit dem Protokoll vereinbart werden solle. Molotow gibt dazu keine Antwort, doch – wie man heute weiß.- ist aus dem „speziellen Protokoll“ schon eine Woche später das „geheime Zusatzprotokoll“ geworden, mit dem die deutsche Reichsregierung anerkennt, daß Ostpolen, Bessarabien, Finnland und die Baltenstaaten zur Interessensphäre der Sowjetunion gehören. So haben die Sowjets ihre Nägel für den Hitler-Stalin-Pakt vom 24. August schon einge-schlagen, als sie am gleichen Ort noch mit den Briten und Franzosen über einen Krieg mit Deutschland sprechen.

Außenminister von Ribbentrop schreibt am 18. August noch einmal, daß die Reichsregierung mit der „Garantierung der baltischen Staaten“ einverstanden ist.

Am 19. August teilen die englische und die französische Regierung der sowjetischen mit, daß sie ihren schon ausgehandelten Vertrag aufgrund des Einspruchs der polnischen Regierung nicht unterzeichnen werden. Damit steht Rußlands Seitenwechsel nichts mehr im Weg. Der deutsche

Botschafter wird erneut zu Molotow bestellt. Der überreicht ihm einen Textentwurf für den Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt. Der Vertragstext enthält noch nicht das Zusatzprotokoll, doch er endet mit dem Satz:

„Der gegenwärtige Pakt ist nur bei gleichzeitiger Unterzeichnung eines besonderen Protokolls über die Punkte, an denen die vertragsschließenden Teile auf dem Gebiet der auswärtigen Politik interessiert sind, gültig.“

Die „Katze“ mit den Baltenländern ist damit nach wie vor nicht „aus dem Sack“.

Nun folgt Zug auf Zug. Hitler - in der Danzig-Krise unter Zeitdruck - schaut nur auf den Nichtangriffspakt mit Stalin, von dem er hofft, daß er die Polen, Briten und Franzosen zu einem Nachgeben beim Danzig-Korridor-Problem bewegt. Er schaut nicht auf das Zusatzprotokoll, von dem er immer noch nicht weiß, was die Sowjets da hinein verpacken werden. Hitler telegraphiert am 20. August mit Stalin und teilt mit, daß er den Entwurf des Nichtangriffspaktes akzeptiert. Am 21. August dankt Stalin Hitler für das Telegramm und lädt von Ribbentrop für den 23. August nach Moskau ein.

Von Ribbentrop bei Stalin am 23. August 1939

Am 23. August trifft Ribbentrop in Moskau ein. Um 18 Uhr empfangen Stalin und Molotow von Ribbentrop und Graf von der Schulenburg im Kreml. Nach kurzer und höflicher Begrüßung kommt man schnell zur Sache. Der Nichtangriffspakt, auf den man sich bald einigt, entspricht fast ganz dem russischen Entwurf, bis auf den Punkt, daß er für zehn, statt wie von den Sowjets vorgeschlagen fünf Jahre gelten soll. Dann geht es um das von Stalin gewünschte Geheime Zusatzprotokoll. Von Ribbentrop, dem Hitler eine uneingeschränkte Verhandlungsvollmacht mitgegeben hat, ist sich seiner Sache angesichts der Forderungen Stalins nicht ganz sicher. Er bittet gegen 22 Uhr, die Gespräche für kurze Zeit zu unterbrechen, und holt sich telefonisch Hitlers Einverständnis ein.

Der Deutsch-Sowjetische Nichtangriffspakt 1939

Hitler vor die Wahl gestellt, mit Stalins Rückendeckung seine

Handlungsfreiheit in der Danzig-Frage zu erhalten, oder ohne Stalin auf Danzig, die exterritorialen Transitwege und den Schutz der deutschen Minderheit in Polen zu verzichten, akzeptiert die Interessensphären-Grenzen, die der Russe fordert. Hitler, der Stalins Forderungen vorher nicht gekannt hat, entscheidet offensichtlich ohne langes Zögern. Kurz nach Mitternacht, am 24. August, werden der Nichtangriffspakt und das Geheime Zusatzprotokoll von Molotow und Ribbentrop unter-schrieben. Die entscheidenden zwei Abschnitte des Zusatzprotokolls lauten:

„1. Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland, Litauen) gehörenden Gebieten bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessensphären Deutschlands und der UdSSR. Hierbei wird das Interesse Litauens am Wilnaer Gebiet beiderseits anerkannt.

2. Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staate gehörenden Gebiete werden die Interessensphären Deutschlands und der UdSSR ungefähr durch die Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San abgegrenzt.

Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wären, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden. ...“

Die deutsch-sowjetische Einigung, so schnell nach dem Scheitern der französisch-englisch-sowjetischen Verhandlungen, ist ein Schock für London und Paris und doch für Warschau kein Anlaß, in der Danzig-Frage auf Deutschland zuzugehen. Die Überraschung ist so groß, weil die Beziehungen zwischen Moskau und Berlin seit dem Ersten Weltkrieg nicht frei von Belastungen und Gegensätzen sind. Der Deutsch-Sowjetische Nichtangriffspakt sichert sowohl Deutschland als auch Rußland zu, daß die jeweils andere Macht im Falle eines Krieges nicht zum Schutze Polens Partei ergreifen wird. Damit ist auch der deutsch-sowjetische Gegensatz kein Schutz mehr für die Polen in der Mitte.

Das Geheime Zusatzprotokoll spricht nur von Interessensphären. Es bringt nicht zum Ausdruck, daß die Sowjetunion nun Finnland und die Baltenstaaten einkassieren darf. So harsch dies deutsch-sowjetische

Geheimabkommen auch später kritisiert wird, es entspricht den Gepflogenheiten jener Zeit. So schließt z. B. auch Großbritannien 1938 mit Italien und mit Spanien solche Abkommen.

Die deutsch-britisch-polnischen Verhandlungen

Die letze Woche vor dem Kriegsausbruch

Adolf Hitler ist entschlossen, die offene Danzig-Frage, das Problem der Verkehrsanbindung Ostpreußens an das Reich und den Minderheitenschutz für die Deutschen in Polen noch vor dem Winter auf dem Verhandlungswege oder - wenn das nicht möglich ist - mit einem Krieg zu lösen. Die Generalität hat zwar mehrmals gewarnt, daß ein Krieg mit Polen auch Krieg mit England, mit Frankreich und bei längerer Dauer auch mit den USA nach sich ziehen werde, und daß ein Zweifrontenkrieg nicht zu gewinnen sei. Aber sie hat auch beraten, daß militärische Operationen, wenn es denn zum Kriege kommen sollte, aufgrund der Klima- und Wetterdaten nicht nach dem 2. September begonnen werden dürften. Die Wegeverhältnisse würden für das Heer und das Flugwetter für die Luftwaffe danach in Osteuropa bald zu schwierig werden. So ist Hitlers Entscheidung nicht frei vom Einfluß dieses Datums.

Mittwoch, der 23. August 1939 Neun Tage vor dem Kriegsausbruch:

Die Sensation der Morgenpresse ist die Nachricht von Stalins Einladung an den deutschen Außenminister von Ribbentrop nach Moskau. Premierminister Chamberlain, der inzwischen vom Scheitern der englischen Bemühungen in Moskau um einen Pakt mit der Sowjetunion gegen Deutschland erfahren hat, schickt Botschafter Henderson mit einem Brief zu Hitler. Hitler versichert Henderson zunächst seine persönliche Wertschätzung, beklagt sich aber dann über Englands Haltung gegenüber Deutschland in der Danzig-Frage. Henderson entgegnet, daß die deutsche Regierung der polnischen zwar ein Verhandlungsangebot unterbreitet habe, doch das habe den Charakter eines Diktats.

Hitler bedauert, daß England sich ihm, „der er selbst der größte Freund Englands sein wollte, zum Feinde macht“ und er betont, „daß Deutschland niemals etwas zum Schaden Englands unternommen habe und daß sich England trotzdem gegen Deutschland stelle.“

Hendersons Antwort stellt die Dinge britisch dar:

„man habe sich nur gegen den Grundsatz der Gewalt gestellt.“

Hitler droht,

„daß er bei dem geringsten polnischen Versuch, noch weiterhin gegen Deutsche oder gegen Danzig vorzugehen, sofort eingreifen werde.“ ... „Bei der nächsten polnischen Provokation werde ich handeln.“

Da Tätlichkeiten gegen Deutsche in Polen an der Tagesordnung sind und Zwischenfälle an Danzigs Grenzen keine Seltenheit, sagt Hitler damit, daß Deutschland auf dem Sprung ist, Polen anzugreifen. Damit ist dies Gespräch beendet. Hitler hat Botschafter Henderson klargemacht, daß er England die Schuld dafür gibt, daß Verhandlungen mit Polen inzwischen zwecklos sind. Und Henderson hat versucht, Hitler klarzumachen, daß Krieg mit Polen Krieg mit Großbritannien nach sich zieht, auch wenn die Sowjetunion nun nicht mehr auf der Seite Englands steht.

Chamberlains Brief, den Henderson an Hitler übergibt enthält zwei Angebote. Das erste ist ein Spiel auf Zeit. Chamberlain schlägt vor, die Verhandlungen mit Polen so lange auszusetzen, bis sich das deutsch-polnische Verhältnis abgekühlt und beruhigt hat. Das zweite Angebot muß Hitler locken. Der britische Premier stellt Verhandlungen in Aussicht, die parallel zur Danzig-Frage „gleichzeitig die großen zukünftigen internationalen Beziehungen regeln könnten, einschließlich derer, die England und Deutschland interessieren“. Das ist verklausuliert das Angebot, mit der Regelung der Polen-Sache auch das deutsch-englische Verhältnis neu zu arrangieren. Das ist es, was Hitler seit seinem Amtsantritt versucht.

Hitler antwortet Chamberlain am gleichen Tag. Der deutsche Kanzler betont in diesem Brief den Wunsch nach Freundschaft mit Großbritannien, und er beklagt sich über Polen:

„Deutschland war bereit, die Frage Danzig und die des Korridors durch einen wahrhaft einmalig großzügigen Vorschlag auf dem Wege von Verhandlungen zu lösen.“

England habe, so argumentiert er, dieses Angebot durch Stimmungsmache gegen Deutschland und durch die Garantieerklärung an die Polen sabotiert. Deutschland werde Druck auf die deutsche Minderheit in Polen und Ultimaten gegen die Stadt Danzig nicht mehr weiter dulden. Der Brief endet mit den Sätzen:

„Die Frage der Behandlung der europäischen Probleme im friedlichen Sinn kann nicht von Deutschland entschieden werden, sondern in erster Linie von jenen, die sich seit dem Verbrechen des Versailler Diktats jeder friedlichen Revision beharrlich und konsequent widersetzt haben. ... Ich habe Zeit meines Lebens für eine deutsch-englische Freundschaft gekämpft, bin aber durch das Verhalten der britischen Diplomatie - wenigstens bisher - von der Zwecklosigkeit eines solchen Versuchs überzeugt worden. Wenn sich dies in der Zukunft ändern würde, könnte niemand glücklicher sein als ich.“

Dieser erste Notenaustausch in der letzten Woche vor dem Krieg läßt noch auf Verständigung hoffen. Beide Regierungschefs versichern sich, daß sie Krieg vermeiden wollen. Doch beide verfolgen jeder für sich eine Doppelstrategie, die in sich widersprüchlich ist. Chamberlain will die Lösung der anstehenden Probleme nur auf dem Verhandlungswege dulden, doch den hat er mit seinem Garantieversprechen an die Polen de facto selbst versperrt. Und Hitler will sowohl eine Annäherung an England als auch in der Danzig-Frage nicht weiter auf der Stelle treten. Auch das ist kaum vereinbar. Hitler steht vor dem „entweder - oder“ und er bereitet beides vor: Verhandlungen und Krieg.

Zum 23. August gehören noch Außenminister von Ribbentrops Moskauer Verhandlungen mit Stalin und Außenminister Molotow. Es wird späte Nacht, ehe der Deutsch-Sowjetische Nichtangriffspakt die Unterschriften beider Seiten trägt.

Donnerstag, der 24. August 1939 Acht Tage vor dem Kriegsausbruch:

Um 2 Uhr morgens meldet von Ribbentrop am Telefon aus Moskau dem „Führer“ die Unterzeichnung des Vertrags. Hitler schöpft nun wieder Hoffnung, daß England seine Rolle bei der Unterstützung Polens angesichts der neuen Lage überdenkt, und daß auch Polen eher bereit sein wird, wegen Danzig zu verhandeln.

Als Göring die Briefe Chamberlains und Hitlers liest, schöpft auch er Hoffnung für einen Ausweg aus der inzwischen deutsch-englischen Auseinandersetzung um die Danzig-Polen-Frage. Göring spielt nun an Außenminister von Ribbentrop vorbei. Er nutzt dazu Gesprächs-kontakte, die er selbst nach London hat, und einen schwedischen Mittelsmann, den Industriellen Dahlerus. Der Marschall bittet den Schweden, am Folgetag nach London zu fliegen und der englischen Regierung zu übermitteln, daß die Deutsche Reichsregierung zu einer deutsch-britischen Verständigung zu kommen wünsche.

In London hält Premier Chamberlain derweilen eine Rede vor dem Unterhaus. Er bestätigt erneut die Bündnistreue der Briten zu den Polen. Er beklagt, daß die Deutsche Reichs-regierung, nun kompromißlos Danzig fordert, und weist außerdem das Ansinnen Hitlers, Osteuropa als deutsche Interessensphäre anzuerkennen, mit dem Hinweis von sich, England stehe für die Freiheit und die Unabhängigkeit der Völker. Die Rede ist aus britischem Selbstverständnis genauso nachvollziehbar, wie sie aus damaliger deutscher Sicht scheinheilig wirkt. Polen ist in der Danzig-Sache genauso kompromißlos wie das Deutsche Reich. Und Großbritannien hält sich in Asien und Afrika selbst seine Interessensphären. Es schert sich wenig um die Freiheit und Unabhängigkeit der kolonial gehaltenen Völker von Indien bis Nigeria. Dennoch, die Rede baut keine neue Hürden auf.

Gegen Mittag, mit der Unterzeichnung eines englisch-polnischen Beistandsvertrags, zerstört sich vorerst Hitlers Hoffnung, daß der deutsch-sowjetische Vertragsabschluß von letzter Nacht die Briten dazu bewegen könnte, den Polen anzuraten, in der Danzig-Frage einzulenken. Er läßt General Keitel, den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, kommen und verschiebt den schon befohlenen Angriff gegen Polen ein erstes Mal.

Er müsse - so Hitler - „Zeit für weitere Verhandlungen gewinnen.“ Der „Führer“ bevorzugt an diesem Tage, dem 24. August, offensichtlich noch immer eine Lösung ohne Blutvergießen.

In Paris bemüht man sich inzwischen auf die eigene Art um Frieden.

„Die Französische Regierung empfiehlt nachdrücklichst der Polnischen, sich vor jeder militärischen Reaktion zu hüten und mit einer diplomatischen Aktion zu antworten, wenn der Danziger Senat von sich aus den Anschluß Danzigs an das Deutsche Reich erklären sollte.“

Was wundert, ist, daß Frankreich diesen „Selbstanschluß“ nicht als Idee und Kompromiß in die deutsch-englisch-polnische Debatte wirft. Es wirkt vielmehr so, als ob die französische Regierung in dieser hoch angespannten Lage lieber wartet, bis Deutschland selbst nach Danzig greift und die Schuld am Kriege übernimmt.

In Washington läßt Roosevelt die Polen wissentlich in eine Falle laufen.. Am frühen Morgen dieses Tages verrät ein deutscher Diplomat in Moskau einem amerikanischen Kollegen den Inhalt des gerade geschlossenen geheimen Zusatzabkommens, das Osteuropa in eine russische und eine deutsche Interessensphäre teilt. Die Trennungslinie teilt auch Polen. Mittags um 12 Uhr kabelt der amerikanische Botschafter den Inhalt des geheimen Zusatzprotokolls nach Washington. Nur wenig später kennt Präsident Roosevelt die heiße Nachricht und damit auch die Gefahr, die Polen ab sofort von Rußland droht. Roosevelt tut nichts, um Warschau, London und Paris zu warnen.. Eine Warnung noch am gleichen Tage hätte die Polen vielleicht dazu bewegen können, Hitlers Vorschlag vom 28. April zu akzeptieren. Dieses letzte Hitler-Angebot war ein Freihafen und Wirtschaftsprivilegien in Danzig, die Anerkennung der polnischen Gebietsgewinne seit 1918 in Posen, Westpreußen und Südost-Oberschlesien und ein Friedensvertrag für 25 Jahre gegen exterritoriale Wege durch den Korridor und Danzig. Eine Warnung an die Briten hätte den Garantievertrag für Polen, der an diesem Tag geschlossen wird, vielleicht verhindert. Doch für Roosevelt ist wichtig, daß Hitler sich im Danzig-Streit verfängt.

Polens Beitrag dieses Tages ist, daß es am Vormittag um 11 Uhr die Außengrenzen Danzigs schließt. Die dadurch erzeugten

Versorgungsschwierigkeiten in der Stadt tragen dazu bei, die Stimmung der Danziger für einen schnellen Anschluß weiter anzuheizen.

Freitag, der 25. August Sieben Tage vor dem Kriegsausbruch:

Gegen 8 Uhr startet der schwedische Vermittler Dahlerus in Marschall Görings Auftrag mit einer Sondermaschine von Berlin-Tempelhof nach London.

In Berlin jagt inzwischen eine Nachricht die andere, alle für den „Führer“ nicht gerade angenehm. Es sind die Berichte von den Zusammenstößen und Handstreichaktionen beider Seiten. Noch immer werden deutsche Bauernhöfe auf der polnischen Seite der Grenze abgebrannt. Deutsche Stoßtrupps vergelten die Brandstiftungen noch in gleicher Nacht auf der Gegenseite. Auch der Flüchtlingsstrom hält weiter an. Polnische Grenztruppen versuchen, die deutschen Flüchtlingsgruppen mit Gewehr- und MG-Feuer von der Grenze wegzutreiben. Wieder sind in der Nacht acht Menschen auf der Flucht erschossen worden. Überdies ist ein ziviles Passagierflugzeug auf dem Weg nach Königsberg über der Ostsee von polnischen Flak-Geschützen beschossen worden.

Die Aussicht, wegen Danzig und der Transitwege in einen Krieg mit England zu geraten, verträgt sich nicht mit Hitlers strategischen Vorstellungen von einer zukünftigen deutsch-britischen Zusammenarbeit und Freundschaft. So beschließt Hitler noch am Vormittag des 25. August, den Angriff gegen Polen weiter aufzuschieben und England erneut ein Angebot zu machen. Er läßt den Angriff ein zweites Mal verschieben. Dann bestellt er den englischen Botschafter Henderson zu sich in die Reichskanzlei. Um 13.30 Uhr stehen sich die beiden Männer gegenüber. Hitler knüpft an das letzte Gespräch an, in dem Henderson die Hoffnung auf eine deutsch-britische Verständigung geäußert hatte und stellt ein großes, umfassendes Bündnis mit England in Aussicht, wenn erst einmal das deutsch-polnische Problem gelöst sei. In der Sache aber bleibt Adolf Hitler hart. Er sagt:

„Das Problem Danzig und Korridor muß gelöst werden.“ Und er legt nach: „Wenn die britische Regierung diese Gedanken erwägen würde, so könnte

sich daraus ein Segen für Deutschland und auch für das Britische Weltreich ergeben. Wenn sie diese Gedanken ablehnt, wird es Krieg geben.“

Henderson beharrt auf Englands Bündnis mit den Polen und erwidert, das deutsche Bündnisangebot könne erst in Betracht gezogen werden, nachdem die polnische Frage auf dem Verhandlungswege gelöst worden sei. Nachdem Henderson gegangen ist, beschleichen Hitler offensichtlich Zweifel, daß er den Engländer hat überzeugen können. Er bringt seine Anliegen noch einmal in sechs Punkten zu Papier und schickt sie Henderson unverzüglich in die Botschaft nach. In Punkt zwei der Liste schlägt Hitler einen Ton an, der so bisher fehlt. Er bittet, daß Großbritannien bei der Rückgewinnung Danzigs und des Korridors behilflich ist. Damit ist der Ball bei England, das nun vermitteln könnte oder Polen drängen, auf die moderaten deutschen Forderungen einzugehen.

Um 17.30 Uhr meldet sich der französische Botschafter Coulondre bei Hitler, der das Gespräch eröffnet:

„Angesichts des Ernstes der Lage will ich Ihnen eine Erklärung abgeben, die ich Sie bitte, Herrn Daladier ( franz. Ministerpräsident ) zu übermitteln. Ich hege ich keine feindseligen Gefühle gegen Frankreich. Ich habe persönlich auf Elsaß-Lothringen verzichtet und die deutsch-französische Grenze anerkannt. Ich will keinen Konflikt mit Ihrem Land. ... Infolgedessen ist mir der Gedanke, daß ich Polens wegen mit Frankreich kämpfen müßte, außerordentlich schmerzlich. ... Ich habe vor mehreren Monaten Polen, als ich die Rückkehr Danzigs und einen schmalen Gebietsstreifen als Verbindung dieser Stadt mit Ostpreußen forderte, außerordentlich vernünftige Vorschläge gemacht. ... Die polnische Regierung hat nicht nur meine Vorschläge zurückgewiesen, sondern sie hat auch die deutschen Minderheiten auf das Schlimmste mißhandelt. ... Frankreich würde so etwas genauso wenig dulden wie Deutschland. ... Ich werde Frankreich nicht angreifen, aber wenn es in den Konflikt eingreift, so werde ich bis zum Ende gehen. ... Sagen Sie das, bitte, Herrn Daladier von mir.“

Botschafter Coulondre erwidert:

„Jetzt, da jedes Mißverständnis behoben ist, lege ich Wert darauf, Ihnen mein Ehrenwort als Soldat zu geben, daß Frankreich Polen, falls es angegriffen würde, mit seinen Streitkräften zur Seite stehen wird. Ich kann Ihnen aber gleichfalls mein Ehrenwort geben, daß die Regierung der Französischen Republik bis zum letzten Augenblick alles tun wird, was in ihrer Macht steht, um den Frieden zu bewahren. Sie wird es der polnischen Regierung an Mahnungen zur Vorsicht nicht fehlen lassen.“

Hitler mußte hier - und eigentlich schon lange - erkennen, daß ihm nun die Rechnung für die unrechtmäßige Besetzung der Rest-Tschechei vorgelegt wird. Auf der Rechnung stehen unausgesprochen weitere Posten:

- Die Kündigung von Versailles,

- die Angliederung Deutsch-Österreichs,

- die Häresie der autoritären Staatsform,

- der Machtzuwachs des Reiches in den vergangen sechs Jahren,

- die schnell wachsende deutsche Konkurrenz auf internationalen Märkten,

- die Aufrüstung der Wehrmacht,

- Hitlers Forderung nach Rückgabe der ehemals deutschen Kolonien und

der deutsche Wille, zur Vormacht in Mittelosteuropa aufzusteigen.

Es geht hier nicht mehr allein um Danzig und um Transitwege. Danzig ist für Großbritannien und Frankreich nun die Hürde, vor der sie das Deutsche Reich zum Stehen oder mit der sie es zum Fallen bringen wollen.

Auch zwischen der englischen Botschaft in Warschau und dem Außenministerium in London gehen Telegramme hin und her. Um 1 Uhr fordert Halifax aus London Kennard in Warschau auf, die Polen zu ermahnen, „jede Handung zu unterlassen, die sie in die Rolle des Aggressors versetzen könnte.“

Um 14 Uhr schickt Kennard noch eine Einschätzung der Lage an Halifax

in London:

„Ich bezweifele ausgesprochen, daß es irgendeinen Nutzen bringt, wenn der polnische Botschafter ein Gespräch mit Hitler sucht.“

Paris und London sind in Sorge, daß der Krieg von Polen statt von Deutschland losgetreten wird. In Warschau bezeichnet man die Gesprächsversuche von deutscher Seite als Intrige, und Kennard zeigt keine Neigung, die Polen zu Gesprächen mit den Deutschen zu bewegen.

Mittlerweile hat der schwedische Vermittler Dahlerus in London bei Außenminister Lord Halifax vorgesprochen. Etwa um 18.30 Uhr - also Stunden nach der Unterzeichnung des Polnischen-Britischen Beistandspakts - erklärt Lord Halifax, daß er seit dem Besuch von Henderson bei Hitler heute morgen hoffnungsvoll gestimmt sei. Obwohl er noch keinen genauen Bericht über das Resultat dieser Besprechung erhalten habe, hoffe er, daß die Initiative zur Aufnahme offizieller Verhandlungen eine friedliche Lösung ermöglichen würde. Dahlerus glaubt an einen Durchbruch und ruft um 22.20 Uhr Marschall Göring an, um ihm zu berichten. Göring wirkt sehr nervös. Er erklärt, daß er für jeden Augenblick den Kriegsaus-bruch befürchtet. Der englisch-polnische Vertrag vom Vormittag werde vom „Führer“ als eine ausdrückliche Erklärung Englands dahingehend aufgefaßt, daß es nun keine friedliche Lösung mehr wünsche. Dahlerus informiert noch in der gleichen Nacht den Chef der Zentralabteilung des Außenministeriums in London, wie der Vertrag mit Polen auf den deutschen Kanzler wirkt. Der drückt seine Verwunderung darüber aus, daß der Vertrag in Deutschland mißverstanden werde. Dahlerus bittet um einen neuen Termin bei Halifax.

An diesem Freitag, eine Woche vor dem Kriegsausbruch, wiederholt die britische Regierung ihren Schachzug vom 23. März des Jahres. Mit ihrer Unterschrift unter den britisch-polnischen Schutzvertrag bekräftigt sie noch einmal ihre Rückendeckung für die Polen. Die Chamberlain-Regierung will damit Hitler daran hindern, Danzig dem Deutschen Reich ohne englisch-polnische Zustimmung anzugliedern. Doch sie muß auch wissen, daß sie bei der nun gestärkten Haltung Warschaus Hitler vor die Wahl stellt, auf Danzig und den Schutz der deutschen Minderheit in Polen zu verzichten, oder Krieg zu führen. Mit der englischen Unter-schrift unter den britisch-polnischen Vertrag am heutigen Tag dreht Chamberlain den

Schlüs-sel in der Tür zum Konferenzsaal der deutsch-polnischen Verhandlungen noch einmal um.

Sonnabend, der 26. August Sechs Tage vor dem Kriegsausbruch:

Um 7.50 Uhr fliegt Botschafter Henderson nach London, um Hitlers Vorschlag an die britische Regierung zu überbringen. Um 11 Uhr spricht Dahlerus, erneut bei Außenminister Halifax vor. Er schildert ihm die Wirkung des britisch-polnischen Vertrags auf Hitler. Der Schwede bittet Halifax, Göring einen Brief zu schreiben und Englands ernsten Willen zu einer friedlichen Lösung zu bestätigen. Dahlerus fliegt zurück mit dem erbetenen Schreiben und übergibt es Göring. Der hält die Botschaft für so wichtig, daß er sofort zu Hitler fährt und ihn davon in Kenntnis setzt. Inzwischen ist es wieder Mitternacht. Der Brief und Dahlerus’ mündliche Übermittlung machen Hitler nun für eine Zeitlang glauben, daß England an einer friedlichen Danzig-Lösung interessiert sei, aber bei einer einseitigen gewaltsamen Lösung von deutscher Seite Krieg erklären werde.

Kurz nach Mitternacht (27.8.) läßt Hitler Dahlerus zu sich in die Reichskanzlei bestellen. Jetzt wird der Schwede vom Vermittler zwischen Göring und der englischen Regierung zum Vermittler zwischen Hitler und den Briten. Die Konferenz zu tiefer Nacht, die nun über eineinhalb Stunden folgt, wird zum Dialog zwischen Hitler und dem Schweden, bei dem beide ihre Auffassungen über die Kriegschanzen austauschen. Zum Schluß geht Hitler sehr erregt im Zimmer auf und ab, bleibt plötzlich vor Dahlerus stehen und sagt:

„Sie, Herr Dahlerus, haben meine Auffassung gehört. Sie müssen sofort nach England reisen, um sie der englischen Regierung mitzuteilen. Ich glaube nicht, daß Henderson mich verstanden hat, und ich wünsche aufrichtig, daß eine Verständigung zustande kommt.“

Hitlers Position wird wiederum in sechs Punkte definiert, die nun zum Teil schon weiter greifen, als die sechs Punkte, die Hitler Henderson mit auf den Weg gegeben hat:

„1. Deutschland wünscht ein Bündnis mit England, das alle Streitfragen politischer oder wirtschaftlicher Art in Zukunft beseitigen soll.“

Dieses Angebot gilt also unverzüglich und nicht erst nach der Danzig-Lösung, wie es Hitler vorher vorgeschlagen hatte.

„2. England wird gebeten mitzuwirken, daß Deutschland Danzig und den Korridor erhält, jedoch mit Ausnahme eines Freihafens in Danzig, der Polen zur Verfügung stehen soll. Polen soll einen Korridor zur Hafenstadt Gdingen erhalten und ganz über diese Stadt und ein hinreichend großes Gebiet um sie herum verfügen.“

Hier wird nun mit dem Korridor mehr verlangt, als nur die exterritorialen Transitwege. Da Polen bisher auf die von Hitler vorgeschlagene Minimallösung von sich aus nicht einge-gangen ist, hofft er, mit Englands Rückendeckung auch den nicht polnisch bewohnten Nord-Teil des Korridors für Deutschland heimzuholen.

„3. Deutschland verpflichtet sich, Polens Grenzen zu garantieren.

4. Deutschland wünsche ein Abkommen über Kolonien, über die Rückgabe seiner ehemaligen Besitzungen oder Kompensationen.

5. Deutschland wünsche Garantien über die Behandlung der deutschen Minderheit in Polen.

6. Deutschland verpflichtet sich, das Britische Empire, wo immer es angegriffen werden könnte, mit seiner Wehrmacht zu schützen.“

Dahlerus sagt zu, den neuen Vorschlag so schnell wie möglich in London vorzutragen.

Am gleichen 26. August erhält Präsident Daladier Hitlers Brief, in dem er schreibt, daß Deutschland von sich aus keinen Krieg gegen Frankreich eröffnen werde. Daladier und Außenminister Bonnet verfassen eine Antwort, welche die drei bekannten Positionen wiedergibt: Frankreichs Bündnistreue zu Polen, Frankreichs Friedenswillen und der Vorschlag, mit Warschau zu verhandeln. Daladier ergeht sich in einer langen Folge von Friedensbeteuerungen, die alle meinen: „Wir Franzosen sind friedlich, und

wer den Danzig-Status anrührt, ist es nicht.“ Die französische Regierung denkt also noch immer nicht daran, das von ihr in Versailles mitgeschaffene deutsch-polnische Problem, den Danzig-Status zur Disposition zu stellen und Polen zu veranlassen, in dieser Sache einzulenken.

Sonntag, der 27. August Fünf Tage vor dem Kriegsausbruch:

In London berät das Kabinett über Hitlers ersten, in sechs Punkten formulierten Vorschlag. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht, daß der für gestern erwartete Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen ausgeblieben ist. Man sieht darin ein Zurückweichen Hitlers vor der eigenen Politik der Unnachgiebigkeit, statt es als Entgegenkommen zu bewerten. Sobald Dahlerus in London eintrifft, wird er hinzugezogen. Die Herren prüfen Hitlers Offerte Punkt für Punkt. Dann wird vereinbart, daß der schwedische Vermittler an Stelle Hendersons mit der englischen Antwort nach Berlin zu Hitler fliegt, dessen Reaktion darauf sofort nach London übermittelt, damit die Londoner Regierung dann erneut beraten kann. Dahlerus fliegt nach Deutschland, wo er sofort von Göring in Empfang genommen wird. Es ist inzwischen wieder später Abend.

Göring hält die Antwort aus London für nicht in allen Punkten günstig und besteht darauf, sie Hitler persönlich vorzutragen und ihn unter vier Augen vom Nutzen der Reaktion aus London zu überzeugen. Die Antwort bezieht sich strikt auf Hitlers Punkte. Sie lautet zu Punkt 1, daß England grundsätzlich bereit ist, einen Vertrag mit Deutschland zu schließen, der eine friedliche Entwicklung auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet sichert. In Bezug auf Punkt 2, die Bitte bei der Wiedergewinnung von Danzig und dem Korridor zu helfen, steht die englische Regierung einer Lösung der Frage wohlwollend gegenüber und empfiehlt, hierfür direkte Verhandlungen zwischen Berlin und Warschau. Zu Punkt 3, der deutschen Garantie der zukünftigen Grenzen Polens, besteht die britische Regierung darauf, daß Polens zukünftige Grenzen nicht allein von Deutschland, sondern auch von Rußland, Italien, Frankreich und Großbritannien garantiert werden müssen. Zu Punkt 4, den ausreichenden Garantien für die deutsche Minderheit in Polen, akzeptiert die englische Regierung Deutschlands Forderung und empfiehlt, diese Frage ebenfalls durch

direkte Verhandlungen mit Polen zu lösen. Den in Punkt 5 erhobenen deutschen Anspruch auf die spätere Rückgabe der früheren deutschen Kolonien oder auf Ersatz lehnt die englische Regierung zunächst ab, stellt aber spätere Verhandlungen dazu in Aussicht. Das Angebot in Punkt 6, das britische Weltreich im Bedarfsfall militärisch zu unterstützen, wird gleichfalls abgelehnt.

Görings Zweifel an Hitlers positiver Reaktion sind nicht ganz unberechtigt. Schließlich trifft der Vorschlag, die Danzig- und Korridor-Sache deutsch-polnisch zu verhandeln, den wunden Punkt der deutschen Position. Außenminister Beck in Warschau ist in der Danzig-Transitfrage seit Oktober vorigen Jahres nicht einen Schritt auf Deutschland zugegangen. Die britischen und französischen Garantien und Versprechen vom März und Mai und von vor zwei Tagen haben Beck bestärkt, davon nicht abzugehen. Auch der Vorschlag, in der Minderheitenfrage zu verhandeln ist ein Hohn. Polen hat die im Versailler Vertrag unterzeichneten Minderheiten-schutzbestimmungen gekündigt und einen Minderheitenschutzvertrag mit Deutschland im eigenen Land nie durchgesetzt. Was sollte die Polen jetzt beflügeln, sich in Bezug auf Danzig, den Korridor und die Minderheiten umzustellen? Göring will versuchen, Hitler mit dieser Antwort der englischen Regierung vom Einmarsch in Polen abzubringen. Als er sich mit der von Dahlerus überbrachten Chamberlain-Antwort beim „Führer“ meldet, ist es fast Mitternacht.

Am gleichen Tag liegt in London der nächste Bericht aus Warschau vor. Botschafter Kennard teilt mit, wie er die Dinge sieht:

„Soweit ich das beurteilen kann, sind die deutschen Behauptungen über die massenhaften Mißhandlungen an Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen grobe Übertreibungen, wenn nicht sogar Fälschungen. ... Jedenfalls handelt es sich dabei schlicht und einfach um deutsche Provokationen im Zusammenhang mit einer Politik, die die zwei Nationen gegeneinander aufgebracht hat. Ich nehme an, daß dies geschieht, um (a) Kriegsstimmung in Deutschland zu entfachen, (b) die öffentliche Meinung im Ausland zu beeindrucken und (c) entweder Niedergeschlagenheit oder offensichtliche Aggressionen in Polen zu provozieren.“

Montag, der 28. August Vier Tage vor dem Kriegsausbruch:

Frühmorgens 1.30 Uhr: Göring kommt von Hitler zurück und hat mit der Dahlerus-Botschaft Erfolg gehabt. Trotz der Schlafenszeit fährt Göring noch zu Dahlerus und berichtet:

„Mit Freude begrüße Hitler Englands Wunsch, mit Deutschland zu einer friedlichen Abmachung zu gelangen. Der Reichskanzler würde größten Wert darauf legen, ein wirkliches Bündnis zwischen Großbritannien und Deutschland zustande zu bringen und nicht nur einen Vertrag. Hitler respektiere Englands Entschluß, seine Garantie für Polen aufrechtzuerhalten und ebenso die englische Forderung nach internationaler Garantie der polnischen Grenzen durch die fünf Großmächte. Er akzeptiere auch den englischen Vorschlag, die Fragen Korridor und Danzig endgültig durch direkte Verhandlungen zwischen Deutschland und Polen zu regeln. Er habe auch seiner Überzeugung Ausdruck gegeben, daß die Engländer bei den damit zusammenhängenden Verhandlungen ihr Bestes tun würden, um eine befriedigende Lösung herbeizuführen.“

Der Friede scheint gerettet. Immerhin gibt Hitler zu erkennen, daß er noch einmal wartet, und daß er einer Garantie der Grenzen Polens durch England, Frankreich, Italien und die Sowjetunion zustimmt. Dies Einverständnis läßt darauf schließen, daß sein Interesse an der Eroberung des Nachbarlandes Polen relativ gering ist.

Dahlerus beeilt sich, die Reaktionen Hitlers und Görings so schnell wie möglich nach London durchzugeben. Er hebt dabei hervor, daß England nun Polen überzeugen muß, daß es sofort beginnt, mit Deutschland zu verhandeln. Dahlerus übermittelt außerdem, daß es äußerst wichtig ist, daß die offizielle Antwort , die Henderson später überbringen soll, erwähnt, daß England sich verpflichtet, die Polen zu Verhandlungen mit Deutschland zu bewegen.

In London wird derweilen die offizielle Antwort der britischen Regierung auf Hitlers Sechs-Punkte-Angebot zu Ende formuliert. Um 14 Uhr geht ein Telegramm von Lord Halifax an den englischen Botschafter in Warschau Kennard mit dem Auftrag, sofort beim polnischen Außenminister

nachzufragen, ob sich die polnische Regierung zu direkten Verhandlungen mit der deutschen bereit erklärt. Im Telegramm steckt ein Schachzug Londons, der unweigerlich zum Kriege führt. Minister Halifax betont in diesem Auftrag an Botschafter Kennard, daß man in London genau zwischen der Methode der empfohlenen Verhandlung und den Zielen der Verhandlung unterscheide. Man werde die Andeutung der Verhandlungsbereitschaft von polnischer Seite nicht als Zustimmung zu Hitlers Forderungen in irgendeiner Weise mißverstehen. Großbritannien stehe weiter hinter Polen.

Das Telegramm enthält nicht ein einziges Wort zu Danzig und nicht den geringsten Hinweis an die Adresse Warschaus, den Deutschen ein Stück des Wegs entgegenzukommen. Die verklausulierte Botschaft lautet, daß die englische Regierung die polnische Verhandlungs-bereitschaft nicht als ein Nachgeben in der Danzig-Frage mißverstehen werde und daß Warschau das auch nicht tun sollte. Man erwarte, daß Polen verhandele und nicht mehr. Nach dieser Botschaft kann man in London sicher sein, daß Warschau in Bezug auf Danzig mauert.

Um 16 Uhr trifft die Antwort aus Warschau im Foreign Office ein:

„Außenminister Beck ist äußerst dankbar für die vorgeschlagene Antwort an Hitler und ermächtigt seiner Majestät Regierung, die deutsche Regierung zu informieren, daß Polen bereit ist, sofort in direkte Verhandlungen mit dem Reich einzutreten.“

Um 17 Uhr fliegt Henderson zurück nach Berlin.. Um 22.30 Uhr, als Henderson das Antwortschreiben Chamberlains an Hitler übergibt, betont er wieder die Bündnistreue Englands zu Polen und erklärt:

„Das englische Volk und besonders Mister Chamberlain wünschten eine Verständigung mit Deutschland, brauchten allerdings bei der Durchführung dieser Absicht die Mitwirkung Deutschlands, das versuchen müßte, sich mit den Polen auf friedlichem Wege zu einigen.“

Hitler entgegnet,

daß er bereit gewesen sei, die schwebenden Fragen mit der polnischen Regierung auf einer sehr vernünftigen Grundlage zu regeln. ... Jetzt hätten

sich die Dinge aber soweit zugespitzt, daß täglich neue Zwischenfälle und neue Gewalttaten gegenüber den Volksdeutschen geschähen. ... Für ihn bestehe die Wahl jetzt darin, die Rechte des deutschen Volkes zu verteidigen oder um den Preis einer Einigung mit England aufzugeben. Das sei für ihn keine Wahl, sondern er habe die Pflicht, für die Rechte des deutschen Volkes einzutreten.

Die erste Durchsicht des Briefes aus London stellt Hitler offensichtlich zunächst zufrieden. Dahlerus, der schwedische Vermittler, wird jedenfalls noch um 1.15 Uhr davon informiert,

„daß die Antwort höchst zufriedenstellend wäre und daß nun große Hoffnung bestehe, daß die Kriegsgefahr vorbei sei.“

Am gleichen Tage gibt es noch einen weiteren Hoffnungsschimmer für die deutsche Seite. Mussolini läßt dem Auswärtigen Amt mitteilen, daß das deutsche Anrecht auf Danzig grundsätzlich anerkannt werden müsse, und daß er für alle übrigen Fragen, wie die der Abrüstung, die der Rohstoffversorgung für Deutschland und die der Kolonien, eine Vierer- oder Fünferkonferenz anregen werde.

Dienstag, der 29. August Drei Tage vor dem Kriegsausbruch:

Gegen 11 Uhr morgens sehen sich Göring und Dahlerus wieder. Der Marschall drückt dem schwedischen Vermittler die Hand und sagt ganz aufgeregt: „Es bleibt Frieden! Der Frieden ist gesichert.“

Inzwischen ist man in der Reichskanzlei dabei, den Antwortbrief der englischen Regierung sorgfältig auszuwerten. Hitler ist mit alledem offensichtlich einverstanden. Doch der Brief enthält drei kritische Passagen. Der dritte und wohl folgenschwerste Haken in der Antwort aus London ist die Reihenfolge der Voraussetzungen, die nun gelten sollen. Hitler hat einen Freundschaftspakt geboten, wenn England bei der Danzig-Sache hilft. Die britische Regierung antwortet: wenn Deutschland und Polen den Danzig-Streit auf dem Verhandlungs-weg gelöst haben, ist England bereit, einen Freundschaftspakt zu schließen. Hitlers Voraussetzung für Deutschlands Einigung mit Polen ist der

Freundschaftspakt mit England. Chamberlains Voraussetzung für den Freundschaftspakt mit England ist Deutschlands Einigung mit Polen. Die Briten zeigen Hitler also nach wie vor die verschlossene Tür in Warschau und sagen „Geh hindurch“. Hitlers Rechnung oder Hoffnung geht also auch in diesem Punkt nicht auf. Dennoch ist ihm sein Fernziel eines Ausgleichs und eines Freundschaftspakts mit Großbritannien nun wichtiger als das Nahziel Danzig. Er geht auf Chamberlains schwierige Konditionen ein.

Hitler antwortet mit einer Note, in der er als erstes die Bedingungen aus London akzeptiert. Erst zum Schluß des Briefes baut er eine Hürde auf, über die nun die Briten und die Polen gehen müssen. Er beendet seinen Brief mit der Erwartung, daß die deutsch-polnischen Verhandlungen nun wirklich am Mittwoch, dem 30. August also binnen 29 Stunden aufgenommen werden:

Der deutsche Kanzler steht in vieler Hinsicht mit dem Rücken an der Wand. Er will so schnell wie möglich von den Briten Taten sehen oder herausfinden, ob er hingehalten wird. Außerdem will Hitler sich von der polnischen und der französischen Presse nicht wieder „weiche Knie“ wie vor drei Wochen attestieren lassen. Um 19 Uhr übergibt Hitler seine Antwort an Botschafter Henderson, der sie sofort lesend überfliegt. Henderson macht aus dem Entsetzen über die so kurz gesteckte Frist nicht den geringsten Hehl:

„Sie geben dem polnischen Unterhändler 24 Stunden Zeit, um nach Berlin zu kommen. Das klingt wie ein Ultimatum.“

„Aber keineswegs“, entgegnet Hitler. „Dieser Satz unterstreicht nur die Dringlichkeit des

Augenblicks. Bedenken Sie, daß es jederzeit zu einem schweren Zwischenfall kommen kann, wenn sich zwei mobilisierte Armeen gegenüberliegen.“

Henderson beharrt auf seiner Ansicht: „Die Frist ist unzureichend.“

„Nein“, so Hitler. „Es ist jetzt eine Woche, daß wir immer dasselbe wiederholen. Wir

tauschen unablässig Noten und Antworten aus. Dieses unsinnige Spiel kann nicht ewig weitergehen. ... Denken Sie an die Gewehre, die jeden Augenblick von allein losgehen können.“

Nach dem Besuch bei Hitler informiert Henderson sofort seinen polnischen Kollegen Lipski über das Gespräch mit Hitler und den Inhalt des Briefs an Chamberlain und dringt hände-ringend auf die sofortige Entsendung eines bevollmächtigten Unterhändlers von Warschau nach Berlin. Dann erst, um 21 Uhr, wendet er sich per Telegramm an Minister Halifax in London. Er kündigt Hitlers Brief an und weist er darauf hin, daß Hitler morgen, am 30. August, einen bevollmächtigten Unterhändler Polens in Berlin erwartet. Henderson ringt offensichtlich ehrlich um den Frieden.

In Warschau beraten derweil Außenminister Beck, Verteidigungsminister Kasprzycki und der Oberbefehlshaber der Streitkräfte Marschall Rydz-Śmigły. Ihr Ergebnis: in der Danzig-Frage wird nicht nachgegeben. Ein Entschluß zu verhandeln, wie von den Briten dringend angeraten, kommt nicht zustande. Am Nachmittag beschließt der polnische Ministerrat für morgen, den 30. August, die Allgemeine Mobilmachung offiziell bekanntzugeben. Der französische Botschafter und der englische, die unbedingt verhindern wollen, daß der Krieg im letzten Moment doch noch von Polen provoziert wird, protestieren sofort im polnischen Außenministerium gegen den Beschluß, öffentlich mobil zu machen.. Wenn Warschau jetzt den Krieg auslöst und nicht Berlin, ist kein Bündnisfall gegeben, und Paris hätte völkerrechtlich keine Legitimation, mit Deutschland abzurechnen.

Mittwoch, der 30. August Zwei Tage vor dem Kriegsausbruch:

Morgens um 4 Uhr erhält Henderson aus London die Weisung, der Deutschen Reichsregierung mitzuteilen, daß man nicht damit rechne, binnen 24 Stunden einen bevollmächtigten Unterhändler aus Warschau nach Berlin zu bekommen. Die Warnung, daß an diesem „letzten“ Tag kein Pole kommen werde, gibt Henderson weder an Außenminister von Ribbentrop noch an Hitler weiter.

Den ganzen Morgen erarbeitet eine Gruppe von Diplomaten und Juristen nach Hitlers Weisungen und Görings Vorschlägen das neue Verhandlungsangebot an die polnische Regierung. Hitler hat die früheren deutschen Wünsche aus der Zeit seiner demokratischen Vorgängerregierungen weit zurückgefahren. Ost-Oberschlesien und die Provinz Posen sind endgültig abgeschrieben. Auch in Bezug auf Westpreußen und den Korridor hat er die Forderungen, die er noch vor vier Tagen gegenüber Henderson geäußert hat, wieder reduziert. Hitler will offensichtlich die Briten mit einem sehr moderaten Vorschlag überzeugen, so daß die guten Gewissens die Polen zu einem Entgegenkommen drängen können. Die Auflistung der deutschen Wünsche und Angebote umfaßt 16 Punkte. Dazu gehören:

- Danzig kehrt heim ins Reich.

- Im nördlichen Korridor soll die Bevölkerung in einer Abstimmung selbst entscheiden, ob as Gebiet polnisch oder deutsch wird.

- Die Hafenstadt Gdingen bleibt dabei auf jeden Fall polnisch.

- Je nach Abstimmungsergebnis im Korridor erhält entweder Deutschland exterritoriale Verkehrswege nach Ostpreußen oder Polen exterritoriale Verkehrswege nach Gdingen.

- Die Beschwerden der deutschen Minderheit in Polen und die der polnischen Minderheit in eutschland werden einer internationalen Kommission untersucht. Beide Nationen zahlen Entschädigungen an betroffene Geschädigte nach Maßgabe der Kommission.

- Im Falle einer Vereinbarung nach diesen Vorschlägen demobilisieren Polen und Deutschland sofort ihre Streitkräfte.

Der Vertragsvorschlag wahrt das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen polnischen, kaschubischen und deutschen Bevölkerungsanteile in einer zeitgemäßen Weise. Aber so neuzeitlich und demokratisch die vorgeschlagene Regelung auch ist, für den Vielvölkerstaat Polen mit seinen nicht integrierten Minderheiten birgt sie eine ungeheure Sprengkraft. Die ukrainische, die weißrussische und die tschechische

Minderheit könnten dem deutschen Beispiel später folgen und das von ihnen ungeliebte Polen ebenfalls mit regionalen Volksabstimmungen verlassen wollen.

Der 30. August vergeht, ohne daß ein polnischer Unterhändler in Berlin erscheint, um den neuen Verhandlungsvorschlag Hitlers in Empfang zu nehmen. Statt dessen berichtet die deutsche Botschaft in Warschau, daß seit morgens in ganz Polen die Generalmobilmachung bekanntgegeben wird. Als auch am Nachmittag noch niemand aus Warschau angekündigt wird, schwindet Hitlers Hoffnung. Er verschiebt den bisher auf den 31. August festgelegten Beginn des Angriffs gegen Polen noch einmal um 24 Stunden. Die dritte Verschiebung unmittelbar vor Kriegsbeginn. Hitler räumt sich damit selber eine weitere Chance ein, ohne Blutvergießen zum Erfolg zu kommen. Für ihn ist ein Krieg, zwei Tage bevor er ihn eröffnet, offensichtlich noch immer nur der schlechtere von zwei Lösungswegen.

In Warschau ist die polnische Regierung derweil nach wie vor der Überzeugung, daß Hitler blufft und selber in der Klemme steckt. Man hält die letzte Drohung Hitlers, am 26. August in Polen einzumarschieren, nachträglich für ein mißglücktes Einschüchterungsmanöver, dem nun ein weiteres folgen wird. Außenminister Beck glaubt, man müsse das nur mit guten Nerven aussitzen. Er ist entschlossen, niemand nach Berlin zu entsenden.

Um 19.00 Uhr schickt Halifax ein Telegramm nach Warschau. Er weist Kennard an, Beck zu informieren, daß die deutsche Seite die englischen Vorschläge zu direkten deutsch-polnischen Verhandlungen und zur Fünf-Mächte-Garantie angenommen und versichert hat, Deutschland werde die vitalen Interessen Polens respektieren. Doch von den neuen 16 Punkten Hitlers, die er zum Teil schon von Dahlerus kennt, wird kein Sterbenswort erwähnt. Chamberlain versucht ganz offensichtlich, Hitlers Zeitreserve zu verbrauchen.

Gegen Abend wird auch für die deutsche Seite sichtbar, daß Außenminister Halifax die ganze Frist, die Hitler für eine Friedens- und Verhandlungslösung offenläßt, hat verstreichen lassen, ohne daß er Polen drängt, sofort Gespräche mit den Deutschen aufzunehmen. Um 18.50 Uhr schickt er Henderson in Berlin die Weisung, der deutschen Reichsregierung „nahezulegen, den polnischen Botschafter einzuladen, die

neuen deutschen Vorschläge entgegenzunehmen und nach Warschau weiterzuleiten“. Halifax unterläuft Hitlers Forderung nach einer sofortigen Aufnahme von Verhandlungen, indem er schreibt, er habe der polnischen Regierung nicht raten können, einen polnischer Unterhändler mit Vollmachten zur Entgegennahme der deutschen Vorschlage zu entsenden. Das Unterlaufen ist perfekt, weil Halifax den Brief so spät auf die Reise schickt, daß Hitlers Termin für den Beginn der deutsch-polnischen Gespräche bei Ankunft schon verstrichen ist. So ist der 30. August zum Kräftemessen zwischen Chamberlain und Hitler geworden, statt zum Ringen um den Frieden.

Der letzte Tag vor Kriegsausbruch, Donnerstag, 31. August

Kurz vor Mitternacht spricht Botschafter Henderson bei Minister Ribbentrop vor und übergibt die gerade erwähnte Antwort aus London auf den letzten Hitler-Brief. Das Treffen wird entgegen beider Männer Absicht zum Desaster. Von Ribbentrop beginnt, dem Botschafter den neuen deutschen 16-Punkte-Vorschlag vorzulesen. Henderson bittet nach kurzem Zuhören um Überreichung des Papiers, was Ribbentrop mit der Begründung ablehnt, der Vorschlag sei inzwischen überholt, da kein polnischer Unterhändler erschienen sei. Hendersons Vermittlung ist damit erst einmal gescheitert.

Henderson verläßt das Auswärtige Amt und eilt, um nichts unversucht zu lassen, in die polnische Botschaft. Er informiert Lipski von dem, was er von Hitlers 16 Punkten aus dem Gespräch mit Ribbentrop behalten hat, z. B. daß Deutschland lediglich die Abtretung Danzigs und eine Volksabstimmung im Korridor vorsähen, und daß die Vorschläge insgesamt nicht unvernünftig seien. Angesichts der äußerst kritischen Lage - so drängt Henderson in aller Schärfe - solle Lipski unverzüglich Außenminister von Ribbentrop anrufen und bitten, daß man ihm die neuen deutschen Vorschläge aushändigt. Lipski mauert und erklärt, daß er dies ohne Rücksprache mit Warschau nicht tun könne. Henderson beharrt auf seinem Rat und Lipski verspricht nun wenigstens, mit seiner Regierung zu telefonieren.

Noch in der Nacht erfahren Göhring und Dahlerus von der verpatzten

Übergabe der 16 Punkte von von Ribbentrop an Henderson. Göhring schickt den Schweden, um zu retten, was zu retten ist, mit einer Kopie des 16-Punkte-Vorschlags zum Stellvertreter Hendersons, dem Diplomaten Sir Ogilvie-Forbes, um ihn zu bitten, den Text so schnell wie möglich dem polnischen Botschaft Lipski zu überbringen. Um 11 Uhr treffen die beiden Emissäre bei Lipski ein. Die Szene, die nun folgt, hat etwas gespenstisch Unwirkliches. Die Botschaft ist so gut wie leergeräumt. Das Botschaftspersonal ist damit beschäftigt, die Abreise vorzubereiten. Dahlerus liest Lipski in dessen fast leerem Zimmer Hitlers 16-Punkte-Vorschlag an die polnische Regierung vor. Lipski unterbricht nach kurzem Zuhören und erklärt, den Inhalt nicht zu verstehen. Der Schwede verläßt den Raum, um eine Abschrift der Hitler-Note zu fertigen und zu übergeben. Derweil eröffnet Lipski dem zurückgebliebenen Ogilvie-Forbes, daß er

„keinerlei Anlaß habe, sich für Noten oder Angebote von deutscher Seite zu interessieren. Er kenne die Lage in Deutschland. ... Er sei überzeugt, daß hier im Falle eines Krieges Unruhen ausbrechen werden und daß die polnischen Truppen gegen Berlin marschieren werden.“

Um etwa 13 Uhr erhält Henderson per Telefon den Auftrag, die Reichsregierung davon zu informieren, daß die polnische Regierung nun ihren Botschafter ins Außenministerium schicken werde. Fast zeitgleich geht ein Telegramm direkt per Funk von Beck an Lipski in Berlin, wo sie von der deutschen Funkaufklärung mitgeschnitten und entschlüsselt wird. In der Niederschrift des Mitschnitts der deutschen Funkaufklärung hat diese Weisung einen Anhang, der da lautet:

„Lassen Sie sich unter keinen Umständen in sachliche Diskussionen ein. Wenn die Reichsregierung mündliche oder schriftliche Vorschläge macht, müssen Sie erklären, daß Sie keinerlei Vollmacht haben, solche Vorschläge entgegenzunehmen oder zu diskutieren, und daß Sie ausschließlich obige Mitteilung Ihrer Regierung zu übermitteln“

Inzwischen, gegen 16 Uhr, sucht Botschafter Lipski um ein Gespräch bei Außenminister von Ribbentrop nach. Der weiß ja seit ein paar Stunden, daß Lipski weder verhandeln noch die deutschen Verschläge entgegennehmen darf. Um 18.30 Uhr stehen sich die beiden Männer gegenüber. Lipski verliest die polnische Erklärung, die von Ribbentrop

bereits aus dem entschlüsselten Telegramm aus Warschau kennt. Der Minister fragt daraufhin, ob der Botschafter verhandeln dürfe. Der verneint. Dann fragt von Ribbentrop Botschafter Lipski ein weiteres Mal, ob er verhandeln dürfe. Als der ein zweites Mal verneint, ist das Gespräch beendet. Weder von Ribbentrop noch Lipski machen den leisesten Versuch, dem Gegenüber einen Weg zu lassen. Beide wissen, daß das den Krieg bedeutet.

So sind die letzten Versuche gescheitert und im Sand verlaufen, den Angriffsbeginn der Wehrmacht am 1. September zu verhindern. Gescheitert ist das Bemühen, mit Polen Gespräche über Hitlers 16-Punkte-Vorschlag zu beginnen, und im Sand verlaufen ist der Versuch, mit England statt mit Polen zu verhandeln.

Um 21 Uhr gibt der deutsche Rundfunk Hitlers 16-Punkte-Vorschlag bekannt. Zwischen 21 und 22 Uhr überreicht Staatssekretär von Weizsäcker die schriftlichen Ausfertigungen des Hitler-Vorschlags nacheinander an die Botschafter Englands, Frankreichs, Japans und an die Geschäftsträger der USA und der Sowjetunion.

Der Kriegsausbruch

Am 1. September 1939 um 4.45 Uhr früh tritt die Wehrmacht ohne Kriegserklärung zum Angriff gegen Polen an .

Hitlers Kriegsabsichten 1939 Hitlers Generalplan

Ein vieldiskutiertes Thema sind Hitlers Kriegspläne zu Beginn des Polenfeldzugs 1939. Die vorherrschende Historikermeinung in Deutschland geht davon aus, dass Hitler einen lang gehegten und seit 1933 vorbereiteten Langzeitplan für einen Eroberungs- und Vernichtungskrieg um „Lebensraum im Osten“ hatte. Manche Historiker sprechen auch von einem Rassen- und Vernichtungskrieg. Diese Mehrheitsmeinung geht dahin, dass Hitler 1939 nicht vor allem die Danzig-Frage regeln, die wirtschaftliche Abschnürung Ostpreußens durch Polen mit Hilfe einer Autobahn durch den Korridor beenden und das Los der eine Million in

Polen drangsalierten Deutschen mildern wollte, nein, diese Mehrheitsmeinung ist der Überzeugung, dass Adolf Hitler 1939 Polen erobern wollte, um zusätzlichen Lebensraum für Deutsche „im Osten“ zu erschließen. Um dieses zu belegen, verweisen die genannten Historiker zum ersten auf das Buch „Mein Kampf“ , in dem Hitler 1924 geschrieben hat, Deutschland brauche neuen Lebensraum im Osten, und sie führen zweitens an, dass Hitler das Angekündigte 1941 mit dem Russlandfeldzug in der Tat verwirklicht hat. So sei es von 1924 an, und so auch 1939 stets sein Plan gewesen, Deutschland nach Osten zu erweitern. Das klingt zunächst plausibel. Ein solcher Generalplan zur Osteroberung oder gar zur Welteroberung ist allerdings als Dokument nicht überliefert. Er ist bisher nur eine Hypothese.

Wie man an einigen der vielen Hitler-Reden aus den 30er Jahren nachvollziehen kann, sind das "deutsche Lebensraumproblem" und die "Idee vom Lebensraum im Osten" bei ihm latent präsent geblieben, ohne daß allerdings zu irgendeiner Zeit ein konkreter Handlungsplan daraus erwachsen ist. Doch es muss schon zu denken geben, dass Hitler seine Lebensraum-Vorstellungen zwischen „Mein Kampf“ im Jahre 1924 und seiner im Hoßbach-Protokoll überlieferten Ansprache von 1937 bereits deutlich auf Österreich und die Tschechei reduziert hat. Beides war 1939 schon „erledigt“. Auch die wirtschaftlichen Überlegungen, die Hitler 1924 zu seiner Lebensraum-Idee geführt haben, waren inzwischen durch den ausgedehnten Präferenzhandel mit 26 Export-Import-Partnerstaaten nicht mehr aktuell.

Die Gegentheorie

Hitler hatte 1924 zwar in seinem Buch „Mein Kampf“ geschrieben, dass Deutschland „Lebensraum im Osten“ gewinnen und mit deutschen Bauern besiedeln müsse, und er hatte 1941 mit der Eroberung der Ukraine und Weißrusslands auch so gehandelt, aber er hatte diese Absicht in den letzten Friedensjahren aufgegeben und selbst zu Kriegsbeginn nicht mehr verfolgt. Für diese These steht eine Zahl von schwerwiegenden Belegen.

1. Adolf Hitler hatte die Wehrmacht nicht für einen Krieg gegen die Sowjetunion rüsten lassen. Es fehlten die Winterbekleidung, die Logistik, die Fernbomber usw. Wenn er den Kampf um den „Lebensraum im Osten“

1935 bis 1939 noch immer im Sinn gehabt hätte, hätte er die Wehrmacht entsprechend ausrüsten lassen.

2. Hitler hat im September 1938 im polnisch-tschechischen Streit um die tschechische, aber weitgehend deutsch besiedelte und von Polen beanspruchte Stadt Oderberg ( südöstlich von Oberschlesien ) gegen das Votum des deutschen Auswärtigen Amts entschieden, dass Polen Oderberg annektieren darf. Seine Begründung gegenüber dem AA: „Wir können nicht um jede deutsche Stadt mit Polen streiten“. Wenn Hitler Krieg mit Polen hätte haben wollen, um den Weg nach Osten freizubekommen, hätte er hier nicht nachgegeben.

3. Am 14. März 1939 hat der Ministerpräsident der gerade selbständig gewordenen Karpato-Ukraine Herr Woloschin sein Land unter die Schutzherrschaft des Deutschen Reiches stellen lassen wollen. Adolf Hitler hatte den dementsprechenden Antrag abgelehnt. Wenn Hitler Anfang 1939 noch immer die Absicht verfolgt hätte, die Ukraine einmal als „Lebensraum im Osten“ zu erobern, hätte er die Schutzherrschaft über diesen Teil der Ukraine übernommen und damit seinen „Fuß in der Tür“ der Ukraine geschoben.

4. Im August 1939 im „Zollinspektorenstreit“ zwischen dem Freistaat Danzig und Polen stand es dicht vor einem Krieg. Hitler drängte den Senatspräsidenten von Danzig, für Entspannung zu sorgen und „die Angelegenheit nicht noch mehr zu vergiften“. Hätte Hitler so kurz vor dem dann später tatsächlich ausgebrochenen Krieg den Konflikt mit Polen haben wollen, hätte er den Danziger Zollinspektorenstreit nur schmoren lassen müssen. Polen hätte den Krieg dann wohl selbst, wie angedroht, begonnen. Wenn Hitler unbedingt Krieg mit Polen hätte haben wollen, um „Lebensraum im Osten“ zu gewinnen, hätten er hier die Chance dazu sicherlich genutzt.

5. Hitler hatte im August 1939, nachdem er den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion in der Tasche hatte, den schon angesetzten Angriffsbeginn der Wehrmacht 3x verschieben lassen; jedes Mal mit der Begründung vor der Wehrmachtsführung: „Ich brauche noch Zeit zum Verhandeln“. Wenn Hitler unbedingt seinen Krieg um den „Lebensraum im Osten“ hätte haben wollen, hätte er die Wehrmacht zum Angriff antreten lassen, nachdem sie bereits voll aufmarschiert war und nachdem

ihm Stalin die „Rückenfreiheit“ vertraglich zugesichert hatte.

6. Hitler hatte 1939 kein Konzept für die Eroberung eines „Lebensraums im Osten“. Er wusste - das geht aus Gesprächsaufzeichnungen hervor - während des Polenfeldzugs noch nicht, was er nach einem Sieg mit Polen anfangen sollte. Hätte Hitler 1939 Polen als „Lebensraum im Osten“ vorgesehen, dann hätte er auch ein Konzept für das besiegte Polen parat gehabt.

7. Nach dem siegreichen Polenfeldzug bot Hitler der englischen und der französischen Regierung Frieden an. Zum Angebot gehörte die Räumung Polens durch die Wehrmacht, bis auf Danzig und den „Korridor“. Hätte Hitler Polen als „Lebensraum im Osten“ haben wollen, hätte er kein solches Angebot gemacht.

8. 1940 ließ Hitler in vertraglicher Absprache mit Stalin die vor ca. 200 Jahren in der Ukraine angesiedelten deutschen Bauern in den Warthegau , also an den Rand des Deutschen Reichs, umsiedeln. Wenn er zu der Zeit noch immer deutsche Bauern in der Ukraine hätte ansiedeln wollen - wie in „Mein Kampf“ geschrieben - hätte er nicht das Gegenteil getan und die deutschen Bauern aus der Ukraine „heim ins Reich“ geholt.

9. Nach dem erfolgreichen Frankreichfeldzug ließ Hitler die Panzer- und die Munitionsproduktion um ein Drittel zurückfahren. Wenn er zu der Zeit an eine Fortsetzung des Krieges gegen die Sowjetunion gedacht hätte, um „Lebensraum im Osten“ zu erobern, hätte er diese Reduzierung der Rüstung sicherlich nicht angeordnet.

10. Nach dem erfolgreichen Frankreichfeldzug ließ Hitler 35 deutsche Heeresdivisionen auflösen oder kadern. Wenn er zu der Zeit an eine Fortsetzung des Krieges gegen die Sowjetunion gedacht hätte, hätte er das sicher nicht veranlaßt.

Das sind 10 Sachverhalte, die dagegen sprechen, dass Hitler 1939 und 1940 die Absicht hatte, „Lebensraum in Osten“ zu erobern, auch wenn die eingangs erwähnten 3 Sachverhalte - Mein Kampf, Reden und Angriff auf die Sowjetunion - dafür sprechen, dass er den „Germanenzug nach Osten“ 1939 und 1940 immer noch im Kopfe trug. Ein Wissenschaftler bewertet alle Sachverhalte, die er kennt, und nicht nur die drei, die seine Thesen

stützen. So ist zu schließen, daß die Gründe für den deutschen Feldzug gegen Polenund damit auch für den Beginn des Zweiten Weltkriegs doch eher der konkreten Lage im Herbst 1939 mit den drei ungelösten deutsch-polnischen Problemen als einem hitlerschen Gesamtkonzept entsprungen sind. Damit rückt die Frage wieder in den Vordergrund, wer die deutsch-polnischen Probleme 1918 konstruiert hat, und wer sie 1938 und 1939 mit Absicht zugespitzt hat. Einen Vater des Zweiten Weltkriegs darf man nicht alleine in dem Einen sehen, der ihn eröffnet, sprich veranlaßt hat; Väter sind auch alle jene, die zuvor die Ursachen dieses Krieges mit geschaffen haben.

Der Krieg gegen die Sowjetunion in einem anderen Licht

Die Lebensraum-Hypothese steht auch auf schwachen Füßen, soweit sie Hitlers Entschluss zum Angriff auf die Sowjetunion erklären soll.

Dass aus dem Polenkrieg dann doch ein Weltkrieg wurde, verdanken wir in erster Linie England. Als Deutschland England 1939/40 mehrmals vorgeschlagen hatte, den Krieg mit einem Frieden zu beenden, bei dem Deutschland Polen freigeben und nur das ohnehin deutsche Danzig und den weitgehend deutsch bewohnten Korridor behalten wollte, hat England auf der Fortsetzung des Kriegs bestanden. Da der Krieg im Westen dann weder mit einem Friedensschluß noch mit einem Sieg über England beendet werden konnte, gewann das weitere Verhalten der Sowjetunion wieder die Bedeutung, die es 1939 kurz vor Kriegsausbruch schon einmal hatte. Es war die Frage, ob die Sowjetunion auch in Zukunft auf deutscher Seite bleiben oder sich neutral verhalten oder sich wieder auf Englands Seite schlagen würde. Hitler stand nach dem gewonnenen Frankreich-Feldzug und nach der Weigerung der Briten, einen Frieden einzugehen, vor der Wahl, zu versuchen, die Sowjetunion enger an Deutschland anzubinden oder sie als potenziellen Feind in Deutschlands Rücken auszuschalten.

Hitlers Absicht, die Sowjetunion anzugreifen, entstand dann in einer ganz konkreten Lage. Im Juni 1940 annektierten die Sowjets Bessarabien und die Nordbukowina. Damit näherten sie sich bedrohlich den rumänischen Erdölquellen, aus denen Deutschland zu einem großen Teil versorgt wurde. Zu der Zeit lagen den 6 deutschen Reservedivisionen an der Grenze

zwischen Polen und der Sowjetunion bereits 170 russische Heeresdivisionen gegenüber. Hitler reagierte. Im Juli 1940 gab er erstmals Weisung an die Oberkommandos des Heeres und der Wehrmacht, die Möglichkeit eines Angriffs gegen die Sowjetunion zu untersuchen. (Zeitgleich gab Stalin in Moskau die gleiche Weisung für einen Angriff gegen Deutschland.) Als die deutsche Reichsregierung im September 1940 den Versuch machte, die Sowjetunion in den kurz zuvor gegründeten Dreibund zwischen Deutschland, Japan und Italien einzubeziehen, wurde der sowjetische Außenminister Molotow zu Besuch nach Deutschland eingeladen. Der aber erklärte in Berlin zur Überraschung der deutschen Seite, dass das „Geheime Zusatzabkommen“ vom August 1939 über die Aufteilung der Interessengebiete in Osteuropa ausgedient habe, und dass die Interessengrenzen neu ausgehandelt werden müssten. Dazu forderte er folgende Staaten und Gewässer für die Sowjetunion: Finnland, die Donau, Rumänien, Ungarn, Bulgarien, die Türkei mit dem Schwarzmeer-Ausgang, Iran, Griechenland, Jugoslawien, die Ostseeausgänge und Spitzbergen. Da die Sowjets inzwischen alle Staaten, die 1939 ihrer Interessensphäre zugesprochen worden waren, annektiert hatten, musste die deutsche Seite davon ausgehen, dass die Sowjetunion nun ebenfalls beabsichtigte, diese hier genannten Staaten zu unterwerfen. Das hätte Deutschland seiner Rohstofflieferanten, seiner Handelspartner in Süd-Osteuropa und seiner Bewegungsfreiheit in der Ostsee beraubt, und den Kommunismus bis zu den Grenzen Italiens und Deutschlands vorgelassen.

Hitler, der mit dem geplanten neuerlichen Pakt mit Stalin eigentlich Großbritannien zu einem schon mehrfach angebotenen Frieden bringen wollte, sah sich plötzlich der Gefahr einer britisch-russischen Zange ausgesetzt. Seine Befürchtungen in dieser Richtung wuchsen vom Spätherbst 1940 mit dem Eintreffen immer neuer Nachrichten vom weiteren Aufmarsch der Roten Armee, den er selbst in einem Gespräch mit dem rumänischen Staatschef Antonescu als "den größten Aufmarsch der Geschichte" bezeichnete. Erst angesichts dieser neuen Gefahr beschloss Hitler den Angriff gegen die Sowjetunion. Der später so brutal geführte Krieg in der Sowjetunion, entsprang dieser Situation vom November 1940. Von seiner Entstehung her gesehen, hatte der Krieg gegen die Sowjetunion zunächst nichts mit Hitlers Lebensraum-Vorstellung oder mit einem „Großen Plan“ zu tun.

Kein Hitler-„Master-Plan“

Der Kriegsbeginn 1939 gegen Polen hatte sich an den drei ganz konkreten deutsch-polnischen Problemen Danzig, Korridor und Schutz der deutschen Minderheit entzündet. Dem Kriegsbeginn lag, wie die oben aufgezählten 10 Punkte zeigen, kein großer Hitler-„Stufen-Plan“ zugrunde. Er hatte mit einem lang geplanten Eroberungs- und Vernichtungskrieg nicht das Mindeste zu tun. Bei der Kriegseröffnung ließ sich Hitler erkennbar von pragmatischen und nicht von ideologischen Gedanken leiten.

Dass sich der Krieg gegen die Sowjetunion ab1941 dann zu einem Krieg um Lebensraum entwickelt hat, hat - wie dargestellt - ebenfalls nichts mit der Vorgeschichte und den Gründen für die Kriegseröffnung von 1941 zu tun. Er entsprang der oben beschriebenen politisch-strategischen Entwicklung ab November 1940. Dass dieser Krieg sich dann zum Eroberungs- und Vernichtungskrieg entwickelt hat, lag an Hitlers wieder erwachten Lebensraum-Vorstellungen und an seiner ideologisch fundierten Unerbittlichkeit, die der sowjetischen entsprach, und an seinem Rassenwahn.

Mit der Erkenntnis, dass auch der Beginn des Krieges gegen Russland zunächst nicht einer Absicht Hitlers zur Eroberung neuen Lebensraums entsprang, sondern zuerst ganz andere Gründe hatte, wankt die These, dass schon der Beginn des Krieges gegen Polen 1939 Teil eines hitlerschen Gesamtkonzepts gewesen sei, ein weiteres Mal. Hitlers Generalplan, in den die Kriegseröffnung gegen Polen so perfekt hineinpasst, hat es zu Hitlers Zeiten offensichtlich nicht gegeben. Es gibt ihn nur als Hypothese einer „Mehrheitsmeinung" .

Zusammenfassung

Den Zweiten Weltkrieg kann man nicht vom Ergebnis her begreifen, sondern nur von seiner Vorgeschichte. Der Kriegsbeginn von 1939 ist ohne die Person des Diktators Hitler nicht zu begreifen. Hitler und die Bereitschaft der Deutschen, ihm in den Krieg zu folgen, sind ohne den Vertrag von Versailles unverständlich. Die allgemeine Empörung des deutschen Volkes über Versailles ist ohne die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs nicht zu verstehen. Und auch diese kann nur der begreifen, der

das Konkurrenzgebaren der Staaten in Europa des 19. Jahrhunderts kennt. So muß man schon einen langen Anlauf nehmen, um den Kriegsausbruch von 1939 zu erklären.

Der Erste Weltkrieg war von einem Streit zwischen Österreich-Ungarn und den Serben ausgegangen, ausgelöst von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Ferdinand in Sarajewo 1914. Bündnisse und gemeinsame Interessen der Russen, Franzosen und Engländer mit den Serben auf der einen Seite und der Deutschen, Österreicher, Ungarn und Türken den auf der anderen Seite lassen den Mord am Erzherzog binnen fünf Wochen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs eskalieren. Der Krieg zieht sich vier Jahre hin und bringt England und Frankreich 1916 an den Rand der Niederlage. Russland wird sogar besiegt und scheidet 1917 aus dem Kriege aus. Danach greifen die USA mit frischen Truppen und einer leistungsfähigen Industrie im Hintergrund auf Seiten der Briten und Franzosen ein und bringen nun umgekehrt Deutschland und Österreich-Ungarn an den Rand der Nieder-lage. Doch vor dem völligen Zusammenbruch der deutschen und österreichisch-ungarischen Fronten vermittelt der amerikanische Präsident Wilson mit einem 14-Punkte-Vorschlag einen Waffenstillstand mit für Deutschland harten, aber akzeptablen Bedingungen.

Es kommt zum Waffenstillstand und der Konferenz von Versailles, die in fataler Weise Geschichte schreiben wird. Die Konferenz leitet nun nicht mehr Wilson, dessen 14-Punkte-Vorschlag die deutsche und österreichisch-ungarische Seite verleitet hatte, ihre Truppen von den Fronten abzuziehen und in der Heimat aufzulösen. Die Konferenz leitet der französische Ministerpräsident Clemenceau. Dieser erkennt die 14 –Wilson-Punkte soweit sie Deutschlands Nachkriegsrechte sichern sollten, nicht mehr an, und er läßt die deutsche Konferenzdelegation nicht zu den Verhandlungen zu. So verhandeln Briten, Franzosen, Amerikaner, Belgier, Polen und weitere 22 Siegerstaaten geschlossen unter sich. Sie beschließen die Abtrennung deutscher Gebiete und die Geld- und Sachreparationen, die Deutschland an sie abtreten, zahlen oder leisten soll. Sie legen die nach Versailles genannte Nachkriegsordnung für Europa zu den alleinigen Lasten der Besiegten fest.

Am 7. Mai 1919 werden die von den 27 Siegerstaaten festgelegten Bedingungen erstmals der deutschen Delegation eröffnet. Clemenceau

überreicht sie mit den Worten: „Die Stunde der Abrechnung ist da.“ Die Bitte der deutschen Delegation, den „Vertrag“, den sie nun unterschreiben soll, vorher zu verhandeln, wird abgelehnt. Um dem Ausmaß ihrer Forderungen den Anschein von Berechtigung zu geben, versteigen sich die Sieger dazu, Deutschland und seinen Verbündeten die Alleinschuld am Ersten Weltkriegs zuzuschreiben. Der Vertrag verlangt von Deutschland eine große Zahl von Land- und Bevölkerungsabtretungen: Elsaß-Lothringen an Frankreich, die Provinzen Posen, fast ganz Westpreußen und das oberschlesische Industriegebiet an Polen, das Memelgebiet an den Völkerbund, das Hultschiner Ländchen an die Tschechoslowakei, Nordschleswig an Dänemark, das Gebiet um die zwei Städte Eupen und Malmedy an Belgien und Danzig mit dem Umland als Freistaat an den Völkerbund. Der Vertrag stellt das Saargebiet für 15 Jahre unter Frankreichs Herrschaft. Er verbietet außerdem den Anschluß Rest-Österreichs an Deutschland, den die neue Wiener Nationalversammlung gleich nach dem Krieg gefordert hatte. Mehr als die Landverluste schmerzen die erzwungenen Bevölkerungsabtretungen. Die Ausgliederung von 7 Millionen Menschen aus dem Deutschen Reich und die Grenzen neuer Staaten trennen Millionen von Familien. Mit dem Vertrag verliert Deutschland seine Kolonien, zumeist an England. Die Streitkräfte werden auf 100.000 Mann im Heer und 15.000 in der Marine reduziert. Das Deutsche Reich muß den größten Teil der Handelsflotte und der Goldreserven an die Sieger übergeben, dazu einen Großteil seiner jährlichen Eisenerz- und Kohleförderung, Unmengen von Nutzvieh und Landwirtschaftsmaschinen, 150.000 Eisenbahnwaggons und viele tausend Lokomotiven und Lastkraftwagen. Das gesamte private Auslandsvermögen. und unzählige Industriepatente werden konfisziert. Die Geldzahlungen sind exorbitant und über 70 Jahre zu bezahlen. Deutschland wird sie, wie sich später zeigt, nie in voller Höhe zahlen können.

Im Deutschen Reich ist man bestürzt und tief enttäuscht. Man weiß noch zu gut wie man nach dem Krieg von 1870-71 selbst mit Frankreich umgegangen war. Frankreich, das den Krieg von 1870 verursacht und verloren hatte, musste damals zwar das überwiegend deutschsprachige Elsaß-Lothringen abtreten und 4 Milliarden Mark bezahlen, doch es behielt seine Armee, seine Flotte, die Kolonien und die Goldreserven. Die Parteien im Deutschen Reichstag lehnen das Diktat der Siegermächte deshalb zunächst geschlossen ab. Reichspräsident Ebert ( SPD ) sagt zu

den Bedingungen:

„Das deutsche Volk trug alle Lasten im Vertrauen auf die durch die Note vom 5. November von den Alliierten gegebene Zusage, daß der Friede ein Friede des Rechts auf der Grundlage der 14 Punkte Wilsons sein würde. Aus solchem aufgezwungenen Frieden müsste neuer Haß zwischen den Völkern und im Verlauf der Geschichte neues Morden erwachsen.“

Die Lasten, die der Versailler Vertrag den Deutschen auferlegt, sind so außerordentlich und das spätere Entgegenkommen der Sieger ist so gering, daß daran - neben anderen Gründen - die junge Demokratie in Deutschland scheitert. Die Zwangsabgaben an Kohle, Düngemitteln, Nahrungsmitteln, Maschinen und Devisen führen zur Verelendung weiter Schichten der Bevölkerung und machen sie so unmittelbar betroffen, daß jede Partei und jeder Politiker, die Lösung oder Linderung versprechen, mit einem Hoffnungsbonus und mit Wahlerfolgen rechnen können. Die NSDAP wird später davon profitieren. Selbst die KPD erklärt im August 1930 :

„Wir erklären feierlich, daß wir im Falle unserer Machtergreifung alle sich aus dem Versailler Frieden ergebenden Verpflichtungen für null und nichtig erklären werden.“

Mit den drei äußerst populären Versprechen, die von Deutschland abgetrennten Deutschen „heim ins Reich“ zu holen, die „Fesseln von Versailles zu sprengen“ und die Arbeitslosig-keit zu überwinden, schaffen die Nationalsozialisten 1933 ihren Wahlsieg und ihre so genannte Machtergreifung.

In den Jahren bis 1939 wird zuerst 1935 das Saarland wieder an Deutschland angeschlossen. 1936 läßt Hitler im Rheinland wieder deutsche Truppen stationieren. 1938 folgt der von den Österreichern mehrheitlich gewünschte Anschluß an Deutschland. Im selben Jahr setzt Hitler – hier erstmals mit der offenen Drohung von Gewalt - den Anschluß von 3 Millionen Sudetendeutschen und der Sudetenlande an das Deutsche Reich durch. Alle diese Korrekturen des Versailler Vertrags erfolgen zum deutlichen Missfallen der Siegermächte. Doch jeder Krug geht nur so lang´ zu Wasser bis er bricht. Im März 1939 zerfällt die Tschechoslowakei in drei getrennte Staaten. Einem davon, der Rest-Tschechei, zwingt Hitler ein

Protektorat auf. Er läßt das Land von deutschem Militär und Polizei besetzen. Die Tschechen sind zwar bis 1918 über 900 Jahre Angehörige des Deutschen Reichs gewesen, aber sie sind keine Deutschen, die „heim ins Reich“ zu holen waren. Hitler hat hier zum ersten Mal ein fremdes Volk unterworfen und damit den bisher geraden Weg seiner legitimen deutschen Außenpolitik verlassen. Nun hat alle Welt einen einsehbaren Grund, ihm weitere Expansions- und Kriegsabsichten zu unterstellen.

Nun zum deutsch-polnischen Verhältnis. 1918 bleiben eine Anzahl polnischer Gebietsforderungen an Deutschland unerfüllt. So verlangen die Polen in Versailles zusätzlich ganz Oberschlesien, Ostpommern, Ostpreußen sowie das Memelland für sich. Die Forderungen nach Ostpreußen verstummt in den polnischen Zeitungen nicht einmal bis 1939. Alle polnischen Regierungen verlangen von den deutschen die Anerkennung ihrer Gebietsgewinne von 1918 bis 1921, doch keine Reichsregierung geht auf dies Verlangen ein. Alle Regierungen vor Adolf Hitler halten die Grenzfragen gegenüber Polen offen. Erst Hitler wird diese Anerkennung später als Gegenleistung für die Rückkehr Danzigs offerieren. Ab 1934 kommt es zu einer deutsch-polnischen Normalisierung und zum Abschluß eines Deutsch-Polnischen Freundschaftsvertrags. Als im Oktober 1938 die Sudetenlande Deutschland angeschlossen werden, erbittet die polnische Regierung Hitlers Einverständnis, daß Polen das kleine tschechische Industriegebiet von Teschen annektieren darf. Hitler läßt den Polen freie Hand. Er hofft dafür auf ein Entgegenkommen bei den noch offenen polnisch-deutschen Differenzen: der Angliederung Danzigs an Deutschland, den exterritorialen Transitwegen nach Ostpreußen und der Einhaltung der Menschenrechte der deutschen Minderheit in Polen.

Nach Hitlers Teschen-Einverständnis versucht die Reichsregierung die deutsch-polnischen Probleme in sechs Anläufen auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Des erste deutsche Vorschlags vom Oktober 1938 ist das Angebot, für die Zustimmung zu den drei deutschen Wünschen Danzig, Transitwege und Garantie der Menschenrechte für die deutsche Minderheit die polnischen Gebietserwerbungen in Schlesien, Westpreußen und Posen als endgültig anzuerkennen. Um diese Anerkennung hatte Polen stets gebeten. Man verhandelt im November 1938 und im Januar 1939, doch außer der polnischen Bekundung, nach Lösungen zu suchen, bewegt sich nichts. Bei den Januar-Gesprächen erweitert Hitler seinen Kompromissvorschlag mit der Formel: „Danzig

kommt zur deutschen Gemeinschaft und bleibt wirtschaftlich bei Polen.“ Da Danzig Völkerbundsmandat ist und nicht polnisch, ist diese Formel in der Tat ein Kompromiß. Im März 1938 zerfällt die Tschechoslowakei, und Polen will auch davon profitieren. Hitler weiß das, doch er macht die Rest-Tschechei zum Protektorat, schließt ein Bündnis mit der neu entstandenen Slowakei und läßt die Polen unberücksichtigt. Die Welt ist über Hitlers Tschechei-Protektorat empört, und Polen ist erzürnt, daß es leer ausgegangen ist. In diese Zeit fällt Hitlers vierter Versuch, mit Polen über Danzig zu verhandeln. Polen aber nutzt die Empörung der Engländer über Hitler, wird in London wegen eines Beistandspaktes vorstellig, der ihm auch zugesichert wird, ruft 330.000 Reservisten zu den Waffen und läßt Kampfverbände in Richtung Danzig aufmarschieren. Hitler, der bisher auf eine Verständigungslösung mit den Polen hingearbeitet hat, ist von diesen kriegerischen Drohgebärden Polens überrascht. Er kündigt den Freundschaftsvertrag von 1934, den er nun von den Polen als gebrochen ansieht, und gibt dem Oberkommando der Wehrmacht am 3. April 1939 die Weisung, einen Angriff gegen Polen vorzubereiten, und zwar so, daß er ab dem 1. September begonnen werden kann.