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ROTTWEILER HEIMATBLÄTTER Herausgegeben von Winfried Hecht für den Rottweiler Geschichts- und Altertumsverein e.V. Druck: Druckzentrum Südwest GmbH Redaktion: Andreas Pfannes, Rottweil 80. Jahrgang 2019 Nr. 4 Generalkonsul Dr. Dr. Fritz Gebhard Schellhorn, 1940 oder 1943. Vorlage: Tudora Schellhorn Die Jahre des Nationalsozialismus beschäfti- gen nicht nur die an Geschichte Interessierten sowohl vor lokalem Hintergrund, wie im größe- ren Rahmen bis in die Gegenwart. Dabei kom- men ins Blickfeld des Betrachters immer noch neue, bisher wenig oder überhaupt nicht beach- tete Einzelheiten, Zusammenhänge oder Per- sönlichkeiten. Eher seltener fallen dabei Bezü- ge des Geschehens vor Ort zur damaligen na- tionalen Entwicklung ins Auge oder Menschen, die aus dem überschaubaren, heimatlichen Rahmen kamen und dann für die größere, all- gemeine Geschichte eine Rolle gespielt haben. Unter solche aus Rottweil stammende Persön- lichkeiten, die bislang kaum beachtet wurden und weitgehend vergessen sind, zählt General- konsul Dr. Dr. Fritz Gebhard Schellhorn. Dr. Dr. Fritz Gebhard Schellhorn ist auf dem Rottweiler Stadtfriedhof in der Grabstätte der Großfamilie Schellhorn am östlichen Ende der Mittelachse beerdigt. Auf einer Grabplatte sind die Lebensdaten von Dr. Dr. Schellhorn festge- halten: Er wurde in Rottweil am 24. September 1888 geboren und starb am 4. Mai 1982 in Tü- bingen. Sein Vater war Rechtsanwalt und Notar Benedikt Schellhorn, der im wilhelminischen Rottweil eine gewisse Rolle spielte und als Kan- didat des Zentrums den Einzug in den Deut- schen Reichstag 1903 nur knapp verpasste (vgl. W. Hecht, Rottweil 1802 - 1970. Von der Reichsstadt zur Großen Kreisstadt. Rottweil 1997 S.139). Fritz Gebhard Schellhorn war unter zehn Kin- dern das älteste und besuchte in Rottweil die Volksschule und das „Alte“ Gymnasium bei der Kapellenkirche, bis er ins Internat „Stella Matuti- na“ der Jesuiten nach Feldkirch in Vorarlberg ging. Er studierte nach dem Abitur Medizin in Tübingen, Berlin, München und Lausanne und wurde 1912 in Tübingen als Pathologe Assi- stent. Am 1. Weltkrieg musste er von Anfang bis ein paar Tage vor dem Ende des Krieges teil- nehmen und erreichte offenbar den Rang eines Hauptmanns der Medizinal-Reserve. Von sei- nen Kriegserlebnissen stark erschüttert, wand- te er sich von der Medizin ab und begann nach Kriegsende wiederum in Tübingen ein Studium der politischen Wissenschaften. Er schloss es gleichfalls mit der Promotion ab, um Anfang No- vember 1920 in den Auswärtigen Dienst zu ge- hen. Dabei wurde er in Brüssel, Reykjavik, Wien und Paris tätig. In seiner Wiener Zeit war er Vertreter des Deutschen Reichs in der Kom- mission der Donau-Anliegerstaaten. Vom März 1931 bis Juli 1933 arbeitete Dr. Dr. Schellhorn in der deutschen Botschaft in Paris als Lega- tionsrat; er sprach fließend französisch. In Paris trat Dr. Dr. Schellhorn der örtlichen Gruppe der NSDAP bei, nachdem ihn zunächst die Idee der „Volksgemeinschaft“ faszinierte, wie sie ohne Stände, ohne Klassen und ohne konfessionelle Bindungen von der Nazi-Partei propagiert wurde. Eine wenig bekannte Persönlichkeit aus der Zeit des Dritten Reichs von Winfried Hecht

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ROTTWEILER HEIMATBLÄTTERHerausgegeben von Winfried Hecht für denRottweiler Geschichts- und Altertumsverein e.V.

Druck: Druckzentrum Südwest GmbHRedaktion: Andreas Pfannes, Rottweil

80. Jahrgang 2019 Nr. 4

Generalkonsul Dr. Dr. Fritz Gebhard Schellhorn, 1940 oder 1943. Vorlage: Tudora Schellhorn

Die Jahre des Nationalsozialismus beschäfti-gen nicht nur die an Geschichte Interessiertensowohl vor lokalem Hintergrund, wie im größe-ren Rahmen bis in die Gegenwart. Dabei kom-men ins Blickfeld des Betrachters immer nochneue, bisher wenig oder überhaupt nicht beach-tete Einzelheiten, Zusammenhänge oder Per-sönlichkeiten. Eher seltener fallen dabei Bezü-ge des Geschehens vor Ort zur damaligen na-tionalen Entwicklung ins Auge oder Menschen,die aus dem überschaubaren, heimatlichenRahmen kamen und dann für die größere, all-gemeine Geschichte eine Rolle gespielt haben.Unter solche aus Rottweil stammende Persön-lichkeiten, die bislang kaum beachtet wurdenund weitgehend vergessen sind, zählt General-konsul Dr. Dr. Fritz Gebhard Schellhorn.Dr. Dr. Fritz Gebhard Schellhorn ist auf demRottweiler Stadtfriedhof in der Grabstätte derGroßfamilie Schellhorn am östlichen Ende derMittelachse beerdigt. Auf einer Grabplatte sinddie Lebensdaten von Dr. Dr. Schellhorn festge-halten: Er wurde in Rottweil am 24. September1888 geboren und starb am 4. Mai 1982 in Tü-bingen. Sein Vater war Rechtsanwalt und NotarBenedikt Schellhorn, der im wilhelminischenRottweil eine gewisse Rolle spielte und als Kan-didat des Zentrums den Einzug in den Deut-schen Reichstag 1903 nur knapp verpasste(vgl. W. Hecht, Rottweil 1802 - 1970. Von derReichsstadt zur Großen Kreisstadt. Rottweil1997 S.139).Fritz Gebhard Schellhorn war unter zehn Kin-dern das älteste und besuchte in Rottweil dieVolksschule und das „Alte“ Gymnasium bei derKapellenkirche, bis er ins Internat „Stella Matuti-na“ der Jesuiten nach Feldkirch in Vorarlbergging. Er studierte nach dem Abitur Medizin inTübingen, Berlin, München und Lausanne undwurde 1912 in Tübingen als Pathologe Assi-stent. Am 1. Weltkrieg musste er von Anfang bisein paar Tage vor dem Ende des Krieges teil-nehmen und erreichte offenbar den Rang einesHauptmanns der Medizinal-Reserve. Von sei-nen Kriegserlebnissen stark erschüttert, wand-te er sich von der Medizin ab und begann nachKriegsende wiederum in Tübingen ein Studiumder politischen Wissenschaften. Er schloss esgleichfalls mit der Promotion ab, um Anfang No-vember 1920 in den Auswärtigen Dienst zu ge-hen. Dabei wurde er in Brüssel, Reykjavik,Wien und Paris tätig. In seiner Wiener Zeit warer Vertreter des Deutschen Reichs in der Kom-mission der Donau-Anliegerstaaten. Vom März1931 bis Juli 1933 arbeitete Dr. Dr. Schellhornin der deutschen Botschaft in Paris als Lega-tionsrat; er sprach fließend französisch.

In Paris trat Dr. Dr. Schellhorn der örtlichenGruppe der NSDAP bei, nachdem ihn zunächstdie Idee der „Volksgemeinschaft“ faszinierte,

wie sie ohne Stände, ohne Klassen und ohnekonfessionelle Bindungen von der Nazi-Parteipropagiert wurde.

Eine wenig bekannte Persönlichkeit aus der Zeit des Dritten Reichs

von Winfried Hecht

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Im Juli 1933 wurde er nach Berlin zurückgeru-fen und betätigte sich auch im SS-Reitersturm,einer Formation, der vom Internationalen Mili-tär-Gerichtshof beim Nürnberger Kriegsverbre-cher-Prozess ausdrücklich bestätigt wurde,dass sie nicht in mörderische Aktivitäten verwi-ckelt gewesen sei. Schellhorn arbeitete in Berlinin der Kultur-Abteilung des Auswärtigen Amtesund entwickelte auf jeden Fall seit dem „Röhm-Putsch“ im Sommer 1934 zunehmende und er-hebliche Zweifel am Kurs der Hitler-Regierungund lehnte ihren Gewalt-Kult ab. Statt politi-scher Aufgaben suchte er deshalb mehr undmehr kulturelle Verantwortlichkeiten. Schon imMai 1934 wurde er nach Czernowitz in der Bu-kowina in der heutigen West-Ukraine versetztund wurde dort Generalkonsul. Mit der landschaftlich reizvollen Bukowina amNordhang der Karpaten und ihren Menschenrecht unterschiedlicher Volkszugehörigkeit fühl-te sich Dr. Schellhorn rasch sehr verbunden.Czernowitz selbst ist heute eine größere Ge-bietshauptstadt der Ukraine, gelangte 1774 anÖsterreich, wurde 1918 rumänisch und gehörte1940/1941 und wieder seit 1944 zur Ukraini-schen SSR innerhalb der Sowjetunion.

„Einer der erfolgreichsten Judenretter“

In der Bukowina wurde Generalkonsul Schell-horn „einer der erfolgreichsten ,Judenretter’und der mit Abstand erfolgreichste deutsche“.Er hat dabei „unglaubliche Courage“ bewiesen,was auch der Vergleich mit den entsprechen-den Bemühungen von General Johannes Blas-kowitz zu Gunsten von Polen und Juden imWinter 1939/1940 nach dem „Polenfeldzug“zeigen kann (vgl. F.-Chr. Stahl, GeneraloberstJohannes Blaskowitz. In: G. Überschär (Hrsg.),Hitlers militärische Elite I. Von den Anfängendes Regimes bis Kriegsbeginn. Darmstadt1998 S. 22 ff.) Schellhorns Wirken kam aberauch in Czernowitz lebenden Rumänen zugute.Als die Rote Armee im Juni 1940 die Bukowinabesetzte, brachte Dr. Dr. Schellhorn die Sowjetsdazu, mehr als 10 000 Rumänen ausreisen zulassen. Man gab diesen Personenkreis alsDeutsche aus, weshalb Schellhorn den Leiterder Umsiedlungskommission in Moskau auf-suchte. Marschall Antonescu, der als autoritärerFührer bald an die Spitze des rumänischenStaates trat, hat Schellhorn dies nie vergessen.Nicht gelungen ist es damals, auch Juden ausCzernowitz mit der deutschen Staatsangehörig-keit die Ausreise nach Rumänien zu ermögli-chen. Nachdem das deutsche Konsulat in Czernowitzim Dezember 1940 nach Jassy in Bessarabienverlegt worden war, erlebte GeneralkonsulSchellhorn dort nach dem Überfall Hitlers undseiner Verbündeten auf die Sowjetunion schonam 28. Juni 1941 ein Pogrom, dem viele Tau-send Menschen zum Opfer fielen, auch wennSchellhorn mit entsprechenden Bemühungen„doch einige Menschenleben“ bewahren konn-te. In Czernowitz marschierte die 3. rumänischeArmee am 5. Juli 1941 ein. Wenige Tage späterbegann das Einsatzkommando 10 b der deut-schen Einsatzgruppe D mit Otto Ohlendorf ander Spitze zu wüten (vgl. dazu H. Sowade, OttoOhlendorf. Nonkonformist, SS-Führer und Wirt-schaftsfunktionäre. In: R. Smelser, E. Syring, R.Zitelmann (Hrsg.), Die braune Elite I, 4. Aufl.Darmstadt 1999 S.192). Schellhorn begab sichumgehend nach Czernowitz und nahm Fühlungmit dem örtlichen Kommandanten des Einsatz-kommandos auf. Er verwies auf seine Zugehö-rigkeit zur NSDAP und machte andererseitsdeutlich, Czernowitz liege auf rumänischem

Hoheitsgebiet, so dass das Vorgehen des Ein-satzkommandos zu diplomatischen Verwicklun-gen führen könne. Nach Kontakten Schellhornszu verschiedenen rumänischen Stellen teilteihm ein SS-Sturmbannführer namens Perstererwenige Tage später mit, das Kommando habeseine Exekutionen sofort nach dem Kontakt mitdem Generalkonsul eingestellt. Schon zuvorwaren bei dieser Gelegenheit 524 Menschengetötet worden. Kurze Zeit später zog das Ein-satzkommando ab. Im November 1941 wurde der Sitz des Konsu-lats von Dr. Dr. Schellhorn wieder zurück nachCzernowitz verlegt. Schon unter dem 12. Okto-ber 1941 war Schellhorn von einem dortigen ru-mänischen Bankdirektor gebeten worden, um-gehend nach Czernowitz zurückzukehren, weildort die jüdische Bevölkerung in einem Ghettozusammengezogen wurde, um deportiert undanschließend „liquidiert“ zu werden. Schellhornwar sich von Anfang an über die Schwierigkeitder Situation im Klaren, denn Berlin und Buka-rest huldigten zu diesem Zeitpunkt einem so gutwie schrankenlosen Antisemitismus. Auch derdeutsche Gesandte in Rumänien, SA-Ober-gruppenführer Manfred von Killinger als Vorge-setzter des Generalkonsuls, lag diesbezüglichtrotz mancher Vorbehalte gegen die SS absolutauf der Linie der NS-Partei. Dr. Dr. Schellhornriskierte demnach nicht nur sein Amt, sondernFreiheit, ja Leib und Leben, wenn er sich weni-ge Wochen vor der Wannsee-Konferenz hel-fend an die Seite der verfolgten Juden stellte.Und dies war ihm offensichtlich bewusst.Generalkonsul Dr. Schellhorn nutzte in dieserSituation seine auch menschlich ausgezeichne-ten Kontakte zu verschiedenen wichtigen rumä-nischen Stellen. Andererseits machte er deut-lich, es sei wirtschaftlich unverantwortlich, inder damaligen Lage angesichts der deutschenkriegswirtschaftlichen Interessen Tausende Ju-den zu deportieren, was an Argumente von Os-kar Schindler in ähnlicher Lage denken lässt.Marschall Antonescu ordnete darauf persönlichan, die „Evakuierung“ der Czernowitzer Judenvorerst zu stoppen und 20 000 Menschen ausdiesem wirtschaftlich wichtigen Personenkreisvon der beabsichtigten Maßnahme auszuneh-men; entsprechende Listen waren der Spitzedes rumänischen Staates vorzulegen.Die aufgelisteten 20 000 Juden blieben aufDauer davon verschont, deportiert und umge-bracht zu werden. Von den anderen Czernowit-zer Juden wurden bis Juni 1942 drei Transportenach Transnistrien abtransportiert. Dr. Schell-horn bemühte sich weiter, möglichst viele vonihnen vor diesem furchtbaren Schicksal zu be-wahren und hatte bei Hunderten von ihnen Er-folg. Danach entwickelte sich die Kriegslage so,dass die schlimme Bedrohung der Czernowit-

zer Juden allmählich ihren ärgsten Schreckenverlor. Diese Entwicklung der Ereignisse istübrigens durch eidesstattliche Erklärungen sohonoriger Zeugen wie des späteren TübingerRomanisten Ernst Gamillscheg und von Profes-sor Franz Babinger (München) beglaubigt.

Bis 1955 in sowjetrussischer Gefangenschaft

Als im März 1944 die Rote Armee die westlicheUkraine erreichte, wurde Dr. Schellhorn derdeutschen Botschaft in Bukarest zugewiesen.Am 2. September 1944 nahmen die Rumänendas deutsche Botschaftspersonal gefangenund lieferten auch den Generalkonsul an dieSowjets aus, zu denen Rumänien nach demSturz von Antonescu übergegangen war. Aussowjetischer Kriegsgefangenschaft wurde Dr.Fritz Gebhard Schellhorn erst 1955 entlassen.In den folgenden Jahren zeichnete er bis 1961seine Erlebnisse akribisch auf (vgl. dazu vor al-lem Dr. Dr. Fritz Gebhard Schellhorn, General-konsul a. D., Aufzeichnungen über die Ereignis-se in Czernowitz und Jassy von Mai 1934 bisAugust 1944. Typoskript mit 86 Seiten undsechs anhängenden eidesstattlichen Erklärun-gen, im Politischen Archiv des AuswärtigenAmts, Nachlass Schellhorn, Fritz. Bestellnum-mer 5, freundlicherweise zugänglich gemachtvon Dr. Hartwig Cremers, Saarbrücken). Fritz Gebhard Schellhorn verstarb am 4. Mai1982 in Tübingen und wurde in Rottweil an derSeite seiner Frau Ottilie Schellhorn geb. Binde-wald (1911-1980) beigesetzt. In der Traueran-zeige heißt es: „Ein großes Leben hat sich imFrieden Gottes vollendet“ (vgl. SchwäbischeZeitung/Schwarzwälder Volksfreund Nr. 108vom 12. Mai 1982).Der Nachlass von Dr. Dr. Schellhorn mit zahlrei-chen, sorgfältig von ihm verfassten Berichtenbefindet sich größtenteils im Archiv des Aus-wärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutsch-land. In verschiedenen wissenschaftlichen Zeit-schriften wie der Halbjahresschrift für südost-europäische Geschichte, Literatur und Politik(2011) oder den Südostforschungen (2014)wurde das Wirken von Generalkonsul Dr. Dr.Schellhorn in Czernowitz und Jassy kompetentund in den Einzelheiten belegt dargestellt (Dan-kenswerte Hinweise von Hartwig Cremers,Saarbrücken, der sich in diesem Zusammen-hang große Verdienste erworben hat und demVerfasser seinen Artikel „German Consul FritzSchellhorn’s Interventions on Behalf of Jews inCzernowitz“ zugänglich machte). Generalkon-sul Schellhorns „Geschichte“ wurde auch vonChefredakteur David Silberklang von der YadVashem Review in die Öffentlichkeit gebracht(2018).

Grabplatte von Dr. Dr. Fritz Gebhard Schellhorn auf der Familien-Grabstätte Schellhorn auf demStadtfriedhof Rottweil an der östlichen Mittelachse. Foto: Pfannes

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Die Rottweiler Bildwerke Liebe und Mutterglück

„Ein Fackelzug der Nationalsozialisten (SA. undSS.)“, schrieb die Schwarzwälder Bürgerzei-tung (SBZ) am 6. März 1933, einen Tag nachder Reichstagswahl, bei der die NSDAP in Rott-weil 27,5 Prozent der Stimmen bekommen hat-te, „bewegte sich unter polizeilichem Schutzdurch die Hauptstraßen der Stadt. Beim Markt-brunnen trug sich ein kleiner Zwischenfall zu,dem aber keine Bedeutung zukommt.“ Angenommen der Kreiskulturamtsleiter „Pg.Bühler, Rottweil“, sei mit marschiert. Er könntedie Brunnenpyramide betrachtet, lange mit an-deren Parteigenossen diskutiert und damit dieDemonstration unnötig aufgehalten haben. Vielleicht hat 1937 – übrigens im selben Jahr, indem „Entartete“ Kunst in München ausgestellt(1) und in Hannover die Oper Die Fasnacht vonRottweil (2) des „tönenden Deutschtümlers“ (3)Wilhelm Kempff uraufgeführt wird – der Aufent-halt am Straßenkreuz NS-Ortsgruppe und Rat-haus dazu veranlasst, lokale Kulturpolitik zu be-treiben, die Brunnensäule zu sanieren und vierder nationalsozialistischen Bewegung verpflich-tete Buntsandsteinplastiken aufstellen zu las-sen. (4)Neben Laster und Planeten sollen also jetztArbeiterschaft und Arbeitsdienst, Nährstandund Wehrmacht die neue Ständeordnung ver-sinnbildlichen, neben der indes die Tugendenmit der Liebe, der Mutterliebe nämlich, be-stehen bleiben.

Von ihr ließ sich auch Karl Calwer inspirieren.Sein Mitte der dreißiger Jahre geschaffenes tö-

nernes „hübsches“ (5) Mutter-Kind-Bildwerkwar ursprünglich über dem Eingang der Wohn-anlage Schafstall an der Kaiserstraße 16 ange-bracht. Der politische Zusammenhang seiner Entste-hung, etwa als „Kunst am Bau“, ist anders alsbei seinem Rottweiler Kollegen Otto Kopp (6)so wenig gesichert wie die Einschätzung desKünstlers, etwa als staatstragender Partei- undTendenzkünstler oder als Unerwünschter. InAlfred Rosenbergs Proskriptionslisten der „Ent-arteten“ wurde der Meister jedenfalls nicht auf-genommen, und sein Mutterglück hat das DritteReich überlebt.

In drei Teile zerschnitten und wieder zusam-mengesetzt, wurde es nach dem Abriss desGebäudes frei auf dem Boden stehend vor denNeubau platziert. Man kann also nahe herange-hen, Details wie die Narben der Zerlegung be-trachten, die Skulptur im Raum erleben undsich Gedanken machen, welche Ideen sie wohlverkörpert. Möglicherweise hat der KünstlerGoethes Aufruf für den Verein der deutschenBildhauer (1817) berücksichtigt, es sei „Haupt-zweck aller Plastik, die Würde des Menscheninnerhalb der menschlichen Gestalt“ (7) darzu-stellen, Humanität somit buchstäblich in Steinzu meißeln. (8)

Nur kulturpolitische Zwischenspiele?

Kulturpolitisch waren die Machthaber freilichschon früh aktiv geworden. Während in Rottweilam 22. Mai 1933 bald nach dem „Zwischenfall“am Marktbrunnen die propagandistische „natio-nale Bewegung“ für den Besuch des Schlage-ter-Films „Blutendes Deutschland“ warb (9),landeten bereits seit dem 10. Mai (und bis 21.Juni) überall im Reich unerwünschte Bücher aufzahllosen Scheiterhaufen. Trauriger Höhepunkt war der 20. März 1939, alsNationalsozialisten 1004 Gemälde, 3829 Zeich-nungen, Aquarelle und Grafiken unwillkomme-ner Künstler im Hof der Berliner Hauptfeuerwa-

che verbrannten – und „ein halbes Jahr späterbrennt Europa“. (10) Während Autodafés und Bildersturm bewusstvor aller Augen stattfanden, lief die „LuzernerAktion“ weniger öffentlich ab. Am 30. Juni 1939wurden in der Galerie Fischer 125 „Fremdkör-per“ („russifizierte oder bolschewisierte“ Kunst-werke) „abgestoßen“. Die Versteigerung spültezwar gewinnbringend Devisen in die national-sozialistische Staatskasse, war aber geradezueine Rettungsaktion, die der Mit- und Nachweltviele Spitzenwerke der Verfemten erhalten hat.Gelegentlich widersprachen aber prominenteParteigrößen kunstfeindlichen Unternehmun-gen: Anfangs soll sich Joseph Goebbels gegendie Diffamierung der künstlerischen Modernegewandt und deren Vertreter insgeheim geför-dert und später die verhaltenen Formen und diereligiöse Ausdruckskraft der Bildwerke Barlachsgeschätzt haben. (11) Dann habe Reichsju-gendführer Baldur von Schirach seinen Re-spekt vor Käthe Kollwitz offen bekundet. (12)Aber wer mag Adolf Hitler schon die trotzige Be-hauptung beim Besuch der Biennale 1934 inVenedig (13) abgenommen haben, in Deutsch-land würden Künstler gefördert und nicht aus-genutzt?

Emil Sutor und seine KollegenJosef Beuys und Anselm Kiefer

Zum Goldhochzeitsjubiläum von MaximilianEgon II. Fürst zu Fürstenberg und Irma Fürstinzu Fürstenberg am 19. Juni 1939 wollte dieStadt Donaueschingen unter dem national-sozialistischen Bürgermeister Eberhard Sedel-meyer dem Fürstenpaar ein besonderes Ge-schenk machen. Den Auftrag erhielt der Offen-burger Bildhauer Emil Sutor (14), der terminge-recht eine bronzene Mutter-Kind-Skulpturschuf, die sich über der Schale des Irma- oderMutterbrunnens im Donaueschinger Karlsgar-ten erhob.

Der Gewinn der Goldmedaille für sein Flachre-lief Hürdenläufer beim Olympiade-Kunstwettbe-werb 1936 öffnete dem Künstler Türen für wei-tere staatliche Aufträge, von denen die völki-schen Stillleben Amazonen, Germanische Fa-milie, Die Gemeinde, das SA-Denkmal fürSingen am Hohentwiel mit seinen stilisiertenKriegern sichtbar martialisch ausfielen. Sie rea-lisierten damit die ebenfalls 1936 in der Ausstel-lung „Die Auslese“ aufgestellte Absicht, eineBrücke zwischen „Kunst und dem lebendigenLeben des Volkes“ zu schlagen.

Zur Bildhauerkunst unter Hakenkreuz und Totenkopfvon Hugo Siefert

Liebe in der Marktbrunnen-Säule (um 1540).Foto: Siefert

Calwers Mutterglück. Foto: Siefert

Mutter mit Kind I und II (August 1939).Foto: Privat

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Die Arbeiten entsprachen nicht nur Hitlers aufder Tafel über dem Eingang des MünchnerHauses der Deutschen Kunst angebrachtenKurzfassung der nationalsozialistischen Kultur-doktrin: Kunst ist eine erhabene und zum Fana-tismus verpflichtende Mission, sondern ersetz-ten – dem umstrittenen Kunsthistoriker HansSedlmayr folgend (15) – die kunsthistorischenund kunstästhetischen Kriterien „gut“ und„schlecht“ durch „gut“ und „böse“. Mit der Präsentation seiner nachgegossenen,der antiken Plastik nachempfundenen, die Ge-schlossenheit des voluminösen Körpers undden klaren Aufbau des Neoklassizismusdemonstrierenden Irmabrunnen-Figuren imSaal 02 der Großen Deutschen Kunstaustel-lung 1939 rückte Emil Sutor zwar nicht in dievorderste Reihe der von Arno Breker, JosefThorak oder Fritz Klimsch angeführten promi-nenten „artgerecht“ arbeitenden Bildhauer. DasMarmorbildwerk Mutter (mit ihrem Kind imSchoß) dagegen schaffte es in die Große Deut-sche Kunstausstellung 1940 und in die Ober-rheinische Kunstausstellung ein Jahr darauf.„Im Besitze des Reichsführers SS Himmler“(16), hieß es, der sich bisher nicht als besonde-rer Kunstkenner und -liebhaber hervorgetanhatte.Da Völkisches und Rassistisches (17) unmittel-bar nach dem Krieg verpönt waren, richtete sichEmil Sutor jetzt nach biblischen Motiven; erschmückte die Mannheimer Bonifatiuskircheaus, schuf für die Offenburger StadtheiligeUrsula eine Säule und schenkte mit der Reh-kitz-Skulptur Bambi der Medienwelt eine Artdeutschen Oscar.An dieser Stelle mag man sich Gedanken ma-chen über die Diskrepanz von Ruhm und Ranggerade dieses Bildhauers. Sollen die artgerech-

ten Werke in Erinnerung bleibenoder einfach vergessen bleiben?„Wer mit Pfeilen eine Wolke erlegenwill, wird vergeblich seine Pfeile ver-schießen“, notierte der wunderlichePoet und Skulptor Hans Arp, „vieleBildhauer sind solche wunderlicheSchützen“. (18)Dass auch der 1986 gestorbene Ak-tionskünstler, Bildhauer und Stuka-Flieger Josef Beuys wie Emil Sutoreine Art Germanenkult gepflegt hat,fand zuletzt Peter Riegel heraus.(19)Sein 1945 in Donaueschingen ge-borener und bei ihm von 1970 bis1972 in Düsseldorf studierenderMaler und Skulptor Anselm Kieferhat sich mit derlei künstlerisch nichtmehr auseinandersetzen müssen.Im Gegenteil: „Ich habe höchstensÄngste davor“, äußerte er 1990 ineinem Interview (20), „dass die Zu-stände vom Dritten Reich wieder-kommen.“

Ein Schäferhund, eine Gans und zwei Bären

Nicht zu den bisher betrachtetengroßen Stein- und Tonskulpturengehört der während der Zeit desNationalsozialismus zweifellos vonvielen häuslichen Kommoden her-unterblickende Schäferhund ausPorzellan.Dass fast 100 Dachauer KZ-Häftlin-ge im Bereich des SS-Ausbildungs-lagers Allach für die Herstellung sol-cher kleinen Kunsthandwerkstücke

schuften mussten, war wohl nur wenigen be-kannt. Das SS-Wirtschafts- und Verwaltungs-hauptamt, dem die Konzentrationslager und dievielen Porzellanmanufakturen unterstanden,wollte jedoch das große Bedürfnis nach Tier-plastiken als Wohnzimmerschmuck stillen undließ zudem Figuren produzieren, die andere als„erhabenheitskitschig“ (21) oder bloßen Nippesabtaten.Zwei weitere Personen kannten die großeNachfrage nach Tierplastiken. Der eine, Efka-Fabrikant und Präsident der Industrie- und Han-delskammern Rottweil und Stuttgart (1935),Fritz Kiehn, zudem Reichstagsabgeordneterder NSDAP, SS-Obersturmbannführer und Mit-glied in Heinrich Himmlers Persönlichem Stab,erwarb Bildwerke des anderen, gleichgesinn-ten, von ihm hochgeschätzten und vor allemwegen seiner afrikanischen Tierfiguren bekann-ten Bildhauers Fritz Behne. Im Bad DürrheimerKurpark und in einem kleinen, am Ende aberwegen schwindender Besucherzahlen ge-schlossenen Museum waren Werke des Künst-lers zu sehen.Geliebt wurde jedoch Fritz Behnes zehn Jahrejüngere Kollegin Renée Sintenis, ein Star imBerlin der Goldenen Zwanziger, vor allem undwieder wegen ihrer Tierskulpturen, die wirklichliebenswert und anders als der NS-Kitsch aufheroische Weise unheroisch waren. Wie dichte-te doch Joachim Ringelnatz so schön auf dieBildhauerin: Wann sieht ein Walfisch wohl je /Ein Reh – / Ach du! Renée!Ihre bekanntesten Tierfiguren sind indes dieBerliner Bären. Der eine wies am früherenWestberliner Autobahn-Kontrollpunkt Drei-linden den Weg in die geteilte Stadt, mit demanderen, sozusagen dem silbernen Gegen-stück zu Sutors Bambi, werden die besten Ak-

teure bei den Berliner Filmfestspielen ausge-zeichnet. Wegen einer gelungenen Erpel-Pla-stik ist Richard Bampi deswegen berühmt ge-worden, weil er im Freiburger Schlossgarteneiner Gans ein Denkmal setzte, die angeblichdie Bevölkerung durch ihr Schnattern auf denBombenangriff am 27. November 1944 auf-merksam gemacht hat.Wesentlichen Anteil an der Gestaltung des vomVillinger Bürgermeister Hermann Schneider(NSDAP) 1934/35 initiierten Kurgartens hatteRichard Bampi. Die Majolika-Figuren aus seinerKanderner Fayence-Manufaktur schmücktendie mit Hilfe von Arbeitsbeschaffungsprogram-men gebaute Anlage, die Teil eines künftigenKneippkurorts werden sollte. Für die DeutscheGesellschaft für Gartenkunst und Landschafts-kultur e.V. sind das Unternehmen und BampisKunstwerke ein „Zeitzeugnis für die Vereinnah-mung durch den Nationalsozialismus“. (22)Am Schluss stößt der Betrachter der Liebe inder Rottweiler Marktbrunnenpyramide unwei-gerlich auf Paragone, den Wettstreit zwischenMalern und Bildhauern in der Renaissance, inder die Mutter-Kind-Skulptur ja geschaffen wur-de. Dort war – und ist wohl noch heute – An-strengung das Argument der Bildhauer, nämlichdie unsägliche körperliche Mühe, die es kostet,um die Kunst aus dem Stein zu meißeln undWahres, Gutes und Schönes zu schaffen.

Anmerkungen:(1) Vgl. Rede Hitlers anlässlich der Einweihung des Hausesder Deutschen Kunst in München, 19. Juli 1937, in: Michaelis/Schraepler (Hg.), Ursachen und Folgen, Band 11, Seite 79f.(2) Am 27. November.(3) So Fred K. Prieberg 1982: Musik im NS-Staat, Frankfurt a.M., Seite 397.(4) Vgl. Willi Stähle 1974: Steinbildwerke der KunstsammlungLorenzkapelle Rottweil, Rottweil, Seite 222f.(5) Vgl. Augusta Hönles Leserbrief in: Schwarzwälder Bote,12. August 2015.(6) Vgl. Wolfgang Vater: Bildhauer Otto Kopp in Rottweil1936-1951, in: Rottweiler Heimatblätter (RHbl) 79. Jahrgang(2018) Nr. 5.(7) Weimarer Ausgabe 1; 49.2, Seite 58(8) Vgl. das ähnliche Standbild in der Kapelle des Bauernhofsder SWR-Fernsehserie Die Fallers, Folge 930 Intensivsta-tion, 9. April 2017.(9) Anzeige in: SBZ, 22. Mai 1933.(10) Zeit-Magazin 26, 19. Juni 1987.(11) Ralf Georg Reuth ³1995: Goebbels – Eine Biographie,München, Seite 304.(12) Reinhard Müller-Mehlis 1976: Die Kunst im Dritten Reichin München, Seite 346.(13) Süddeutsche Zeitung, 12. Oktober 2018: Essener Aus-stellung Unheimlich Real.(14) W. E. Oeftering: Der Bildhauer Emil Sutor, in: Ekkehart,Jahrbuch für das Badner Land 20. Jahrgang (1939), Seiten115 bis 123, und Günther Röhrdanz, Natürliche Anmut undbeseelter Ausdruck. Zu den Arbeiten des oberrheinischenBildhauers Emil Sutor, in: Die Kunst für alle, 59. Jahrgang,Heft 4 (April 1944), Seite 108.(15) Hans Sedlmayer lehrte 1936 bis 1945 in Wien; in seinemBuch Verlust der Mitte – die Bildende Kunst des 19. und 20.Jahrhunderts als Symptom der Zeit (1948) sah er keinenUnterschied zwischen Humanität und Entartung.(16) Siehe Röhrdanz, Natürliche Anmut und beseelter Aus-druck, Seite 108.(17) Wilhelm Pinder: »Wie das Blut, so die Kunst« und:Kunstgeschichte sei Rassengeschichte.(18) Zitiert: Welt der Literatur, 4. Februar 1965.(19) Süddeutsche Zeitung, 9. Mai 2018.(20) Neue Zürcher Zeitung, 6. Januar 1990.(21) Vgl. Gudrun Brockhaus’ Lesung in der Münchner Seidl-villa am 16. Januar 1998.(22) Veranstaltung zum Thema Kulturgarten Villingen am 28.Juli 2018.

Emil Sutors Germanische Familie. Repro: Siefert