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Info: erstellt März 2003 * mit Microsoft Word 2000 * 27.637 Wörter * Dauer 3,5 min / Seite * Seiten: 1 bis 115 C:\Dokumente und Einstellungen\Carsten Mathes\Eigene Dateien\Eigene Privat\04 Präsentationen\Bundestag\Das Reichtagsgebäude-1.doc 1 Vortrags- Datum / Zeit ___________ ___________ __________ Das Reichtagsgebäude Historisches und Aktuelles Referat von Carsten Mathes Historisches Geschichte des Reichstagsgebäudes Die Geschichte des Parlamentarismus Bilder-Geschichte des Reichstagsgebäudes Aktuelles Eröffnung des Reichtagsgebäudes Ein Gang durch das Reichtagsgebäude Der Bundestag im Reichtags Der Umbau des Reichtagsgebäudes Bauen für die Demokratie Biodiesel für das Reichtagsgebäudes Auftrag, Planung und Kosten Energieversorgungsanlage Das Reichstagsgebäude „Symbol deutscher Geschichte“ Die parlamentarischen Geschäftsführer zum RTG

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C:\Dokumente und Einstellungen\Carsten Mathes\Eigene Dateien\Eigene Privat\04 Präsentationen\Bundestag\Das Reichtagsgebäude-1.doc

1

Vortrags- Datum / Zeit ___________ ___________ __________

Das Reichtagsgebäude Historisches und Aktuelles

Referat von Carsten Mathes

Historisches

• Geschichte des Reichstagsgebäudes

• Die Geschichte des Parlamentarismus

• Bilder-Geschichte des Reichstagsgebäudes

Aktuelles

• Eröffnung des Reichtagsgebäudes

• Ein Gang durch das Reichtagsgebäude

• Der Bundestag im Reichtags

• Der Umbau des Reichtagsgebäudes

• Bauen für die Demokratie

• Biodiesel für das Reichtagsgebäudes

• Auftrag, Planung und Kosten

• Energieversorgungsanlage

• Das Reichstagsgebäude „Symbol deutscher Geschichte“

• Die parlamentarischen Geschäftsführer zum RTG

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• Geschichten aus der Kuppel und Kapitel aus dem Leben

• Das Reichtagsgebäude und seine historischen Orte

• Respekt vor den Spuren der Geschichte (Interview mit Norman Forster)

• Kunst für das Reichstagsgebäude

• Kunstkonzept beschlossen

• Ein Besuch lohnt sich

• Die fette Henne wird 45

• Freiheit und Einheit

• Bundestag würdigt Erbe der Paulskirche

• Persönliche Notizen

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Die Geschichte des Reichstagsgebäudes von Andreas Kaernbach

Die Geschichte des deutschen Nationalstaats ist zugleich eine Geschichte des

deutschen Parlamentarismus. Unter Bismarcks Ägide vollzog sich der Wandel vom

Deutschen Bund, einem Staatsverband von zuletzt 34 nahezu souveränen Staaten,

zum föderalen Nationalstaat. Wenn auch einzelne der Bundesstaaten sich noch der

Parlamentarisierung ganz oder teilweise versagten, durch das Dreiklassenwahlrecht in

Preußen zum Beispiel oder durch die altständische Verfassung in den beiden

Großherzogtümern Mecklenburg, so erlaubte nun doch der Nationalstaat erstmals

allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlen in ganz Deutschland, Wahlen zum

Reichstag. Die neu errungene politische Macht der Bürger verlangte nach

angemessener architektonischer Repräsentation. Doch bevor der Neubau eines

Reichstagsgebäudes zustande kam, musste sich das Parlament aufgrund ver-

schiedener Hindernisse, die sich bei der Suche nach einem geeigneten Grundstück

ergaben, zunächst mit provisorischen Unterbringungen zufrieden geben.

Der erste neugewählte gesamtdeutsche Reichstag trat zu seiner ersten Sitzung Ende

März 1871 in einem Gebäude in der Leipziger Strasse 75 zusammen. Dieses hatte

zuvor u.a. dem preußischen Abgeordnetenhaus als Tagungsort gedient. Der schlechte

bauliche Zustand des Gebäudes führte bereits im folgenden Monat zu einer Debatte

im Reichstag über den Neubau eines Parlamentsgebäudes. Es ist bezeichnend für das

Selbstbewusstsein der Abgeordneten, dass sie den Vorschlag der Regierung, lediglich

auf dem Grundstück des Kanzleramtes ein kleineres Parlamentsgebäude zu errichten,

ablehnten. Sie forderten ein frei stehendes Gebäude, da es sich doch, wie die

Deutsche Bauzeitung später formulierte, "um den bedeutendsten und dem Range

nach ersten Monumentalbau des deutschen Volkes" handele.

Eine Reichstagsbaukommission wurde eingesetzt, der Reichstag bezog als neues

Provisorium das Gebäude der Königlichen Porzellanmanufaktur zu Berlin in der

Leipziger Strasse 4 und entschied sich bei der Wahl eines Baugrundstückes für das

künftige Parlamentsgebäude für die Ostseite des damaligen Königsplatzes. Noch im

Jahre 1872 wurde ein erster Architektenwettbewerb ausgeschrieben. Über 100

Entwürfe, darunter solche aus England, Amerika und Frankreich, erreichten die

Reichstagsjury. Sie vergab einen ersten Preis, doch der Entwurf des Preisträgers

musste zu den Akten gelegt werden, da es nicht gelang, den Besitzer des

vorgesehenen Baugrundstückes, den Grafen Raczynski, zur Aufgabe seines dort

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gebauten Palastes zu bewegen. Erst im Jahre 1882 konnte nach einer Einigung mit

den Erben des Grafen Raczynski die Enteignung gegen Zahlung einer Entschädigung

durchgesetzt werden.

Albrecht Kurz (1858 - 1928)

Das Reichstagsgebäude.

Ohne Jahr

Chromolithographie

So wurde im Jahre 1882 der zweite Wettbewerb für das Reichstagsgebäude

ausgeschrieben. Unter nahezu 200 eingereichten Entwürfen erhielt derjenige von Paul

Wallot (1841-1912) den ersten Preis. Der aus Oppenheim stammende Architekt hatte

seine Lehrzeit in Berlin u.a. im Büro von Martin Gropius verbracht und war später

nach Frankfurt am Main übergesiedelt. Das Wallot und nicht ein Berliner Architekt

den ersten Preis erhalten hatte, führte zunächst zu einigen Intrigen und

Pressequerelen.

Auch blieb es Wallot nicht erspart, seinen preisgekrönten Entwurf mehrfach

überarbeiten zu müssen. Erst am 9. Juni 1884 konnte schließlich in einer prunkvollen

Feier - Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Fürst Bismarck nahmen an ihr teil - der

Grundstein gelegt werden. In der Folgezeit musste Wallot energisch darum kämpfen,

die Kuppel - entsprechend seinem ursprünglichen Entwurf - zentral über dem

Sitzungssaal anzubringen. Wallot betrachtete die Kuppel sowohl aus Gründen der

Lichtwirkung im Gebäude als auch für die ästhetische Gesamtwirkung des Gebäudes,

die Verteilung der Baumassen also, als unerlässlich. Was seiner Konzeption einen

besonderen Rang verlieh, war die Tatsache, dass in der damaligen Zeit ein solcher

Kuppelbau eine technische Meisterleistung darstellte, gleichsam ein Symbol

zukunftsweisender Ingenieurbaukunst. Nicht weniger energisch musste sich Wallot

gegen die Versuche Kaiser Wilhelms II., eigenwillig, aber doch dilettantisch

mitzuentwerfen, zur Wehr setzen. Freilich trug ihm diese aufrechte Haltung

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kaiserliche Ungnade ein. Diese äußerte sich in wiederholt, auch öffentlich

vorgetragener unsachlicher Kritik an der Architektur des Reichstagsgebäudes und

führte zu des Kaisers Weigerung, Wallot - trotz eines einstimmigen Jury-Urteils - die

Goldmedaille der großen Berliner Kunstausstellung zu verleihen.

Am 5. Dezember 1894 endlich konnte die Schlusssteinlegung gefeiert werden. Am

gleichen Tag fand die Reichstagseröffnung im Berliner Schloß statt. Kennzeichnend

für die bestehende Dominanz des Militärischen über das Zivile war der - freilich von

der Presse kritisierte - Umstand, dass der Reichstagspräsident von Levetzow an der

Zeremonie in der Uniform eines Landwehrmajors teilnahm. Die gleiche Atmosphäre

erhellt aus dem Schicksal der Giebel-Inschrift. Bei der Schlusssteinlegung fehlte sie

noch, da der Wortlaut, "Dem Deutschen Volke", dem Kaiser aus offensichtlicher

Distanz zum Parlamentarismus unwillkommen war. Er hätte dem Schriftzug "Der

Deutschen Einigkeit" den Vorzug gegeben. Erst im Jahre 1916, mitten im Ersten

Weltkrieg, wurde sie - entworfen von dem Jugendstilkünstler Peter Behrens - mit der

Zustimmung des Kaisers angebracht, der in politisch schwieriger Lage dem

Parlament Entgegenkommen bezeigen wollte.

Zwei Jahre später stand das Reichstagsgebäude im Mittelpunkt der revolutionären

Ereignisse in Berlin. Nach der Abdankung des Kaisers rief der Sozialdemokrat

Philipp Scheidemann am 9. November 1918 von einem Fenster des Gebäudes die

Republik aus, und im Plenarsaal tagten die Berliner Arbeiter- und Soldatenräte.

Infolge der Unruhen in Berlin wurde die im Januar 1919 gewählte verfassunggebende

Nationalversammlung nicht nach Berlin in das Reichstagsgebäude, sondern in das

Staatstheater nach Weimar einberufen und dort Anfang Februar 1919 eröffnet. Erst in

der zweiten Hälfe des Jahres 1919 kehrten die Parlamentarier in das Reichstags-

gebäude zurück.

Wie der Beginn so war auch das Ende der Weimarer Republik eng mit dem Schicksal

des Reichstagsgebäudes verknüpft. Ein vermutlich von dem holländischen Kommu-

nisten van der Lubbe gelegter Brand zerstörte den Plenarsaal des Reichstagsgebäudes

in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933. Der Brand bot den National-

sozialisten den willkommenen Vorwand, in einer offenkundig schon vorbereiteten

Aktion mitten im Wahlkampf führende kommunistische Abgeordnete zu verhaften,

die sozialdemokratische Presse vorübergehend zu verbieten und wichtige

Grundrechte außer Kraft zu setzen.

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Wenigstens blieb dem Reichstagsgebäude durch den Brand erspart, zum Ort der

Verabschiedung des "Ermächtigungsgesetzes" zu werden. Mit der Annahme dieses

Gesetzes am 23.März 1933 entmachteten sich die verbliebenen Parlamentarier selbst.

Lediglich die Sozialdemokraten stimmten gegen das Gesetz. Die Abstimmung fand in

der dem Reichstagsgebäude gegenüberliegenden Krolloper statt.

Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Gebäude nicht mehr für

parlamentarische Zwecke genutzt. In der Endphase der Kämpfe um Berlin tobte ein

besonders erbittertes Gefecht um das Reichstagsgebäude, da seiner Eroberung von

der sowjetischen Führung offenkundig große symbolische Bedeutung beigemessen

wurde. Weltweit bekannt wurde das - inszenierte - Foto der Flaggenhissung durch

Soldaten der Roten Armee auf dem Hauptgesims der Ostfassade des Reichstags-

gebäudes.

Nach dem Kriege bildete die Ruine des Gebäudes den Hintergrund für die gewaltige

Demonstration der Berliner am 9. September 1948 während der Blockade West-

berlins, als Oberbürgermeister Ernst Reuter seinen berühmten Appell:

"Ihr Völker der Welt ..... Schaut auf diese Stadt" an die freie Welt richtete.

Fotografie der Reichstagsruine

aus dem Jahr 1945

Zu Beginn der fünfziger Jahre wurden dann erste Enttrümmerungsarbeiten in der

Ruine durchgeführt. Infolge einer fragwürdigen Entscheidung wurde die beschädigte

Kuppel gesprengt, später wurde ein Teil der Fassade unter Entfernung des

historischen Stucks wiederhergestellt. Erst im Jahre 1955 beschloss der Deutsche

Bundestag definitiv den Wiederaufbau, allerdings zunächst ohne Festlegung einer

späteren Nutzung. Nach Ausschreibung eines beschränkten Wettbewerbs erhielt

schließlich Paul Baumgarten im Jahre 1961 den Auftrag zum Ausbau des

Reichstagsgebäudes. Dieser wurde bis zum Jahre 1973 vollendet. Bereits im Jahre

1971 war vom Deutschen Bundestag im Reichstagsgebäude die Ausstellung "Fragen

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an die deutsche Geschichte" eröffnet worden. Bundestagssitzungen durften seit dem

Viermächte-Abkommen von 1971 ohnehin nicht in Berlin abgehalten werden,

lediglich Fraktions- und Ausschusssitzungen fanden daher in den neu eingerichteten

Sitzungssälen statt. Gleichwohl war im Zentrum des Hauses ein vollständiger

Plenarsaal hergerichtet worden, der jederzeit den Abgeordneten eines wieder-

vereinigten Deutschlands hätte Platz bieten können.

Seine Stunde kam am 4. Oktober 1990: Das erste gesamtdeutsche Parlament trat zu

seiner ersten Sitzung im Reichstagsgebäude zusammen. Doch das Gebäude sollte

noch stärker in den Mittelpunkt des politischen Geschehens rücken, und zwar durch

den Bundestagsbeschluss vom 20. Juni 1991, Parlament und Regierung nach Berlin

zu verlegen, sowie durch den Beschluss des Ältestenrates des Deutschen

Bundestages, das Reichstagsgebäude zum Sitz des Bundestages zu erheben.

Nach einem 1992 ausgelobten internatonalen Architektenwettbewerb wurde Sir

Norman Foster mit den Umbauarbeiten beauftragt. Mit der Verhüllung des Gebäudes

durch Christo vor Beginn der Umbauarbeiten stand das Reichstagsgebäude im Jahre

1995 im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit.

Auch die Wiedererrichtung einer - wenngleich gegenüber Wallots Werk modifi-

zierten - Kuppel ist inzwischen realisiert. Der Deutsche Bundestag eröffnet im April

1999 das umgebaute Reichstagsgebäude mit einer feierlichen Sitzung. Am 23. Mai

1999 wählt die Bundesversammlung den neuen Bundespräsidenten an gleicher Stelle.

Im September 1999 verlegt der Deutsche Bundestag seinen Sitz endgültig nach

Berlin. Von diesem Zeitpunkt an finden die Plenarsitzungen des Deutschen Bundes-

tages im Reichstagsgebäude statt.

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Die Geschichte des Parlamentarismus Die parlamentarische Arbeit im Reichstagsgebäude von Hermann Schäfer

Blick in den historischen Plenarsaal im alten

Reichtagsgebäude.

Ein Zwischenfall wie vor 105 Jahren wird sich bei der feierlichen Eröffnung des

Deutschen Bundestages im umgebauten Reichstagsgebäude gewiss nicht

wiederholen: Als sich am Donnerstag, dem 6. Dezember 1894, die Parlamentarier

erstmals im neuen Plenarsaal versammelten, waren einige wenige Sozialdemokraten,

darunter ihr Senior, der damals schon fast 70-jährige Wilhelm Liebknecht, beim

dreifachen "Kaiser-Hoch" entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit im Plenarsaal

anwesend; während sich jedoch alle anderen Abgeordneten von ihren bequemen

neuen Ledersesseln erhoben, blieben sie sitzen. Der Reichstagspräsident soll damals

außer sich geraten sein und mit seinem Rücktritt gedroht haben, während

Reichskanzler Fürst von Hohenlohe die Einleitung eines Verfahrens gegen

Liebknecht wegen Majestätsbeleidigung beantragte. Der Reichstag verweigerte

jedoch die Aufhebung von dessen Immunität, und die Wogen glätteten sich

schließlich mit einer Änderung der Geschäftsordnung des Reichstages, die es dem

Reichstagspräsidenten von nun an gestattete, Abgeordnete "im Falle gröblicher

Verletzung" von einer Sitzung auszuschließen. Mit der Politik des "Burgfriedens" im

Ersten Weltkrieg und der damit verbundenen Anerkennung der Sozialdemokraten

durch Wilhelm II. – für ihn bis dahin "vaterlandslose Gesellen" – wurde das "Kaiser-

Hoch" ab der Sitzung am 4. August 1914 in ein "Hoch auf Kaiser, Volk und

Vaterland" abgeändert, das auch die Sozialdemokraten von da an stehend

mitanhörten.

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Der Plenarsaal im Reichtagsgebäude heute.

Die insgesamt 397 Abgeordneten des 1871 gegründeten Deutschen Reiches tagten

zunächst 23 Jahre in der Leipziger Straße 75 bzw. 4; am 3. März erstmals für

dreijährige, ab 1888 fünfjährige Perioden gewählt, versammelten sie sich ab dem 21.

März 1871 im Abgeordnetenhaus, der Zweiten Preußischen Kammer des Landtages,

und ab dem 16. Oktober 1871 in der eigens umgebauten Königlichen Porzellan-

manufaktur. Obwohl die dortigen Raumverhältnisse beengt waren, dauerte es elf

Jahre, bis in einem Wettbewerb 1882 die Entscheidung für einen Parlamentsneubau

nach einem Entwurf des Oppenheimer Architekten Paul Wallot fiel, zu dem am 9.

Juni 1884 in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Otto von

Bismarck der Grundstein gelegt wurde. Weder Wilhelm I. noch sein Enkel

respektierten die Volksvertretung, nur zu gern sahen sie deren Gebäude außerhalb der

Stadtgrenzen, und Wilhelm II. machte keinen Hehl daraus, dass er das Gebäude

persönlich für den "Gipfel der Geschmacklosigkeit" hielt.

Die Meinung der Abgeordneten war differenzierter, der Sozialdemokrat August

Bebel – übrigens seinerzeit "Rekordhalter" für Ordnungsrufe und Ermahnungen des

Reichstagspräsidenten – soll das Gebäude zum Beispiel für schön gehalten haben.

Die Bedingungen für die parlamentarische Arbeit wurden jedenfalls in vieler Hinsicht

besser im Vergleich zu dem alten Provisorium: Plenarsaal, Ausschussräume,

Sitzungszimmer, Wandelhallen, Bibliothek, Lesezimmer etc. waren großzügiger;

freilich waren alle Wege weiter und auch das neue Restaurant in seiner

Bewirtungsqualität und Belüftung umstritten. Die 1912 zwischen Ober- und

Dachgeschoss eingebauten 100 Arbeitszimmer für Abgeordnete reichten jedoch in

keiner Weise; in den zwanziger Jahren teilten sich darin manchmal bis zu sechs

Parlamentarier zwei Schreibtische. Allerdings wurde diese Raumnot erst offenbar, als

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die Mitglieder des Reichstages etwa ab 1907 häufiger zu den Sitzungswochen nach

Berlin kamen. Das Recht auf Zusammenkunft, Vertagung und Auflösung lag nach

Artikel 12 der Reichsverfassung von 1871 beim Kaiser, und tatsächlich tagte der

Reichstag anfangs nur zweimal jährlich jeweils etwa sechs Wochen von März bis

Juni und Oktober bis Dezember.

Feierstunde zum dritten Jahrestag der

Unterzeichnung der Verfassung des Deutschen

Reiches durch Reichspräsident Ebert am 11.

August 1922.

Wäre es nach Bismarck und dem Kaiser gegangen, wäre die Abgeordnetentätigkeit

ganz ehrenamtlich geblieben. Zunächst erhielten die Reichstagsabgeordneten nur ein

allgemeines Freifahrtsrecht für die Eisenbahn und erst ab 1906 eine

Diätenentschädigung in Höhe einer Jahrespauschale, die bezogen auf eine

sechsmonatige Session etwa dem Besoldungsniveau eines Regierungsrates oder

Professors entsprach. In der Weimarer Republik erhielten die Abgeordneten dann das

ganze Jahr hindurch 25 Prozent des Grundgehaltes eines Ministers sowie zusätzlich

ein 30stel der Monats-Pauschale pro Tag, wenn sie außerhalb der Sitzungsperioden in

Berlin sein mussten.

Die Zahl der Sitzungstage pro Session hatte sich bis zur Jahrhundertwende gegenüber

den Jahren nach 1871 etwa verdoppelt (94 statt 181 Tage) und erhöhte sich mit

Einführung der Diäten erneut. Wurden früher die laufenden Parlamentsgeschäfte von

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etwa 60 bis 80 Mitgliedern des Reichstages erledigt und waren die Abgeordneten, je

weiter sie von Berlin entfernt wohnten, umso weniger in der Lage an Sitzungen

teilzunehmen, wurde der Reichstag nunmehr zunehmend zu einer Vertretung des

ganzen Deutschland. In der Regel tagten die Abgeordneten in Sitzungswochen von

Montag bis Samstagnachmittag, Ausschüsse und Fraktionen vormittags ab 10.00 Uhr,

das Plenum ab mittags 13.00 oder 14.00 Uhr (außer montags und samstags).

Blick in das Restaurant des Reichstagsgebäudes

um 1928.

Seine "Mappe" mit Tagesordnung und allen Vorlagen, Anfragen und Berichten sowie

sonstigen Materialien erhielt jeder Abgeordnete frühmorgens zugestellt; es war meist

mehr, als er gründlich durcharbeiten konnte. Im Kaiserreich zeichnete sich denn auch

bereits in Ansätzen die Praxis der Politikberatung ab, insbesondere durch Juristen,

Nationalökonomen, Historiker etc.

Die Redezeit für einzelne Abgeordnete im Plenum wurde erst Ende Dezember 1922

auf höchstens eine Stunde beschränkt, zugleich wurden bei wichtigen Debatten

Gesamtredezeiten für die Fraktionen eingeführt. Den Rekord mit der längsten Rede

im Reichstag hält der SPD-Abgeordnete Antrick mit seiner Achtstundenrede am 13.

November 1902, die von 16.30 Uhr bis 0.30 Uhr dauerte. Bismarck belastete die

parlamentarische Atmosphäre im Kaiserreich ab 1871 durch seinen "Kulturkampf"

gegen den Katholizismus und ab 1878 durch die Sozialistengesetze. Trotz der allseits

anerkannten Würde des Hohen Hauses gab es auch mancherlei Zwischenfälle, heftige

Beifalls- und Missfallensäußerungen unter den Abgeordneten ebenso wie von der

Tribüne, im März 1908 sogar einen mehrtägigen Journalistenstreik wegen einer

"Saubengel"-Beleidigung durch einen Abgeordneten.

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Besuch in Berlin: Bundeskanzler Ludwig

Erhard am 30. April 1964 im Reichs-

tagsgebäude in Begleitung des Regierenden

Bürgermeisters Willy Brandt.

Abgestimmt wurde normalerweise durch Aufstehen von den Sitzen, noch genauer mit

weißen "Ja"-, roten "Nein"- oder blauen "Enthaltungs"-Karten und im Ernstfall durch

den "Hammelsprung". Zweifellos war Reden und Zuhören anstrengender als heute,

da die Akustik des Plenarsaals schlechter war als im vorherigen Provisorium, sodass

Abgeordnete immer wieder das Rednerpult stehend umringten, um besser verstehen

zu können. Journalisten und Zuhörer auf den Tribünen hatten noch größere

Schwierigkeiten, wenn die Abgeordneten nicht wirklich laut und in Richtung der

links und gegenüber dem Präsidium liegenden Pressetribüne sprachen. Erst Anfang

1929 wurde der Plenarsaal mit Mikrofonen, Verstärkern und Großlautsprechern

ausgestattet.

Rundfunkübertragungen gab es mit Ausnahme einzelner Feierstunden oder besonders

wichtiger Reden bis 1933 nicht. Die erste live und in voller Länge übertragene Rede

war die von Reichskanzler Heinrich Brüning am 25. Februar 1932, ab der immerhin

aufgezeichnet wurde. Der Ältestenrat des Reichstages verweigerte grundsätzlich

seine Zustimmung zu Rundfunkübertragungen und vergab somit vielleicht eine

Chance, die Arbeit des Parlaments einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln und

damit möglicherweise die Akzeptanz der Demokratie zu erhöhen. Hitler nutzte die

Möglichkeiten des Rundfunks nach der "Machtergreifung" schamlos, obwohl die

"Volksvertretung" da bereits zum Akklamationsinstrument der Diktatur verkommen

war, dem so genannten "teuersten Gesangverein" der Kroll-Oper, in der nach dem

Reichstagsbrand vom 27./28. Februar 1933 getagt wurde.

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Konstituierende Sitzung des ersten

gesamtdeutschen Parlaments am 4. Oktober 1990

im Reichstagsgebäude.

Der Reichstag des Kaiserreiches litt unter einem Mangel an parlamentarischen

Rechten, vor allem zur Kontrolle der vom Kaiser eingesetzten Regierung. Die

Weimarer Republik war geprägt von Parteienvielfalt und ideologischem

Gegeneinander und belastet durch wirtschaftliche Probleme und das Fehlen breiter

demokratischer Gesinnung. Die letzte Plenarsitzung des alten, im Januar 1912

gewählten und infolge des Weltkrieges mit Überdauer amtierenden Reichstags fand

am 24. Oktober 1918 statt, dem Monat, in dem der Kaiser – im Angesicht der

militärischen Niederlage – ein Regierungssystem mit parlamentarischer Kontrolle

zugestand. Fast ein Jahr sollte vergehen – vom Balkon des Reichstags aus hatte

Philipp Scheidemann am 9. November die Republik ausgerufen -, bis sich am 30.

September 1919 die frei gewählten Vertreter des inzwischen souverän gewordenen

Volkes wieder an ihrer traditionellen Stätte im Wallot-Bau zu Berlin versammelten.

Infolge der Novemberrevolution, in der Arbeiter- und Soldatenräte die Macht

übernommen hatten und auch im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes ihre

Versammlungen abhielten, war die Situation in Berlin bedrohlich. Die am 19. Januar

1919 gewählten 423 Mitglieder der Nationalversammlung – unter ihnen erstmals 37

Frauen – tagten ab dem 6. Februar 1919 im Nationaltheater zu Weimar. Die Situation

in Berlin blieb hier auch nach Rückkehr der Parlamentarier unruhig: Nachdem am 13.

Januar 1920 eine Demonstration vor dem Reichstag 42 Tote gefordert hatte, wurde

am 20. Mai 1920 ein erstes Bannmeilengesetz verabschiedet.

Bis zum Regierungsantritt Heinrich Brünings im März 1930 sah das Parlament, das

inzwischen fast 600 Mitglieder hatte, 14 verschiedene Kabinette, die durchschnittlich

jeweils nur acht Monate amtierten. Kein einziger Reichstag der Weimarer Republik

erlebte das Ende seiner vierjährigen Wahlperiode. Die Arbeit des Plenums wurde

noch schwieriger, als die Wahlen im September 1930 den Nationalsozialisten vor

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dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise einen großen Zuwachs an Mandaten

brachten. Eine der größten Störungen inszenierten die Parteigänger Hitlers bereits am

13. Oktober 1930 anlässlich der ersten Sitzung des neu gewählten Reichstages, als

die NSDAP-Fraktion geschlossen in Uniform in den Plenarsaal marschierte. Mit

Verschärfung der wirtschaftlichen und politischen Krise wurden die

Nationalsozialisten 1932 stärkste Fraktion. Bürgerkriegsähnliche Straßenkämpfe

zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten gefährdeten die parlamentarische

Arbeit und schwappten als Saalschlachten in den Reichstag hinein. Als der Reichstag

am 9. Dezember 1932 auf unbestimmte Zeit vertagt wurde, ahnte niemand, dass dies

die letzte Sitzung im Wallot-Bau sein würde, bis Willy Brandt am 20. Dezember

1990 als Alterspräsident die erste Sitzung des Deutschen Bundestages nach den

gesamtdeutschen Wahlen am 2. Dezember 1990 eröffnen sollte.

Am 19. April 1999 kommt der Deutsche

Bundestag zu seiner ersten Sitzung im

umgebauten Reichstagsgebäude zusammen.

In diesen 58 Jahren wurde das Reichstagsgebäude erst nach seinem Umbau, ab dem

11. November 1963, dem Tag der Schlüsselübergabe an den Bundestagspräsidenten,

wieder für parlamentarische Gremien genutzt, an diesem Tag beispielsweise für eine

Sitzung des Ältestenrates und in den folgenden Jahren während der "Berlin-Wochen"

des Bundestages für Ausschusssitzungen, Fraktionsberatungen und Presse-

konferenzen. Zwar traten die Bundesversammlungen zur Wahl des Bundes-

präsidenten 1954, 1959, 1964 und 1969 in Berlin zusammen – jedoch nicht im

Reichstagsgebäude – und seit 1958 regelmäßig begleitet von Protesten der Moskauer

und Ost-Berliner Regierungen wegen angeblicher Verletzung des Berlin-Status der

geteilten Stadt. Eine Plenarsitzung des Bundestages fand überhaupt nur einmal statt:

Den Teilnehmern ist diese Sitzung am 7. April 1965 – in der Kongresshalle –

unvergesslich, weil sie vom ohrenbetäubenden Lärm sowjetischer Tiefflieger gestört

wurde. Die Sitzung im Anschluss an den ersten Tag der Deutschen Einheit (3.

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Oktober 1990) am 4. Oktober 1990 war eine Sitzung der Mitglieder des Deutschen

Bundestages, ergänzt um 144 Abgeordnete der aufgelösten Volkskammer aus den

neuen Bundesländern.

Das Reichstagsgebäude hat in seiner wechselvollen 105-jährigen Geschichte Jahre

der schwierigen Parlamentsarbeit im kaiserlichen Obrigkeitsstaat erlebt, ebenso wie

die Parlamentarisierung der Reichsregierung und der Demokratie der Weimarer Jahre

voller Unruhen; es beherbergte jedoch nie die Diktatur des "Dritten Reiches". Der

Deutsche Bundestag bringt durch seinen Einzug in das Reichstagsgebäude die

positive Tradition der in Bonn begründeten parlamentarischen Demokratie mit.

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Bilder-Geschichte des Reichstagsgebäudes

Am 9. Juni 1884 legt Kaiser Wilhelm I. den

Grundstein für das Reichstagsgebäude. Der

repräsentative Bauentwurf stammt von dem

Frankfurter Architekten Paul Wallot. Mit

dem Bau soll dem deutschen Reichstag, der

bislang nur provisorisch untergebracht war,

endlich ein eigenes Haus geschaffen werden.

Nach einer Bauzeit von 10 Jahren findet am

5. Dezember 1894 die Schlußsteinlegung

durch Kaiser Wilhelm II. statt. Das monu-

mentale und repräsentative Parlamentsge-

bäude offenbart rasch einen gravierenden

Mangel: Es fehlen Arbeitsräume für die

einzelnen Abgeordneten.

Am 9. November 1918, nach dem Zusammenbruch des

Kaiserreiches, ruft Philipp Scheidemann von einer

Balkonbrüstung des Reichstagsgebäudes die Republik

aus.

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Am 30. Januar 1933 wird Hitler zum

Reichskanzler ernannt. Der Reichtagsbrand

am Abend des 27. Februar 1933 bedeutet das

Ende der parlamentarischen Demo-kratie in

Deutschland. Mit dem Ermächtigungsgesetz

wird der Weg zur Einparteienherrschaft

geebnet.

Die nationalsozialistische Herrschaft

führt Deutschland und Europa in die

Katastrophe des Zweiten Weltkrieges.

Als die Sow-jetflagge auf einem der

Ecktürme des Reichstagsgebäudes gehißt

wird, ist die Schlacht um Berlin zu Ende

und die Niederlage des Deutschen

Reiches besiegelt.

Aus Protest gegen die Blockade und

gegen die Spaltung Berlins durch die

Sowjetunion kam es am 9. September

1948 zur berühmten Demonstration von

350.000 Menschen vor dem

Reichstagsgebäude. Mit seinem Appell

an die "Völker der Welt", den Blick auf

Berlin zu richten, macht Ernst Reuter

den Bewohnern der Stadt Mut.

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Durch den Bau der Mauer am 13. August

1961 wurde Berlin geteilt. Die Grenze

verlief über Jahrzehnte unmittelbar entlang

des Reichstagsgebäudes.

Mit dem Zusammenbruch der SED-

Führung als Folge anhaltender

Massendemonstrationen wurde das

Ende der DDR eingeleitet.

"Mauerspechte", wie an der

Grenzmauer in der Ebert-straße

hinter dem Reichtagsgebäude

entnehmen Stücke der Mauer, die

am 9. November 1989 endgültig zu

Fall gekommen war.

Am 4. Oktober 1990, einen Tag

nach der Vereinigung, findet die

erste Sitzung des gesamtdeutschen

Bundestages im Reichstagsgebäude

statt.

Bundestagspräsidentin Rita

Süssmuth hält die

Eröffnungsansprache.

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Am 25. Februar 1994 entschied

sich der Bundestag für das Projekt

der Künstler Christo und Jeanne-

Claude, das Reichstagsgebäude zu

verhüllen. Vom 23. Juni bis zum 6.

Juli 1995 präsentierte sich der

Reichstag dem Betrachter in matt

schimmender "Verpackung".

Am 19. April 1999 wurde das nach

den Plänen von Sir Norman Foster

umgebaute Reichstagsgebäude

vom Deutschen Bundestag

übernommen. Die gläserne

Kuppel, Wahrzeichen des

Gebäudes, ist auch für Besucher

begehbar.

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Eröffnung des Reichstagsgebäudes in Berlin Thierse: Berlin wird für Freiheit und Demokratie stehen

(hib) "Berlin ist von nun an die politische Metropole Deutschlands; das umgebaute

Reichstagsgebäude ist ab heute Sitz des Deutschen Bundestages." Mit diesen Worten

umriß Bundestagspräsident Wolfgang Thierse die Bedeutung der ersten Sitzung des

Bundestages nach dem Umbau des Parlamentsgebäudes in der Hauptstadt. Berlin

werde für Freiheit und Demokratie, für eine europäische Politik stehen. "Wir wollen

keine neue Ära, keine andere Republik, sondern einen möglichst unaufgeregten,

geradezu selbstverständlichen Wechsel von Bonn nach Berlin", betonte der Präsident.

Auch nach diesem Umzug werde die Bundesrepublik der föderale, rechtsstaatliche

und soziale Bundesstaat sein, der sich in Bonn über Jahrzehnte hinweg bewährt habe.

Er forderte zu einer "kritischen Innenansicht unserer eigenen Geschichte" auf, die

nichts mit selbstgefälliger Rückschau oder gar Geschichtsrevisionismus zu tun habe,

sondern mit einer "kritischen Selbstvergewisserung, welches historische Erbe wir

gerade in diesem so umstrittenen Gebäude antreten".

Das Gebäude habe bereits im Kaiserreich stärker in Richtung auf parlamentarische

Demokratie als in Richtung auf einen restaurativen Absolutismus gezielt. Aber weil

es dem Reichstag damals nicht gelungen sei, erweiterte Parlamentsrechte

durchzusetzen, sei es geradezu folgerichtig gewesen, daß der Sozialdemokrat Philipp

Scheidemann am 9. November 1918 von einem Fenster des Reichstags die Republik

ausrief. Das Reich habe eine demokratische Verfassung erhalten, der Reichstag sei

Ort der parlamentarischen Auseinandersetzung geworden. Thierse bezeichnete es als

eines der "hartnäckigsten und dümmsten Vorurteile", daß das Reichstagsgebäude als

Symbol für den "nationalsozialistischen Ungeist, seinen Rassenwahn und seine

Kriegspolitik" stehe. Hitler habe in dem Gebäude nie als Parlamentarier gesprochen.

Nach dem Krieg und erst recht nach dem Bau der Mauer habe das Reichstagsgebäude

"wie ein Mahnmal" fast Wand an Wand mit dieser "gewaltsamen innerdeutschen

Grenze" gestanden. Es sei für ihn ein Symbol für das ungelöste Problem der

deutschen Teilung gewesen, sagte Thierse.

Der Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin symbolisiert für den Präsidenten

etwas "erfreulich Zivilisatorisches" in der deutschen Geschichte. Dieser neue

Moment verweise auf Traditionen, die in den letzten 50 Jahren erst wirklich die

deutsche politische Kultur hätten prägen können. An diesen Traditionen, nämlich

dem Antifaschismus und einem unaufgeregten, bescheidenen Verhältnis zur Nation,

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dem Streben nach sozialem Ausgleich, der guten Nachbarschaft und dem

Interessenausgleich mit den anderen Völkern und Staaten, der europäischen

Zusammenarbeit und Integration sowie der Fortentwicklung der Europäischen Union,

müsse man festhalten, so Thierse. Alle Debatten, die auf Schlußstriche unter die

deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts zielten, würden an diesem Ort ad absurdum

geführt: "Dieser Ort ist Geschichte, er läßt keinen Austritt aus ihr, er läßt keinen

Schlußstrich zu!" Totalitäre Ideologen und Demagogen dürften in Deutschland nie

wieder eine Chance bekommen. In diesem Zusammenhang dankte der Bundes-

tagspräsident dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl, der 1983 gesagt habe, es

bleibe als Mahnung festzuhalten, daß die Republik jeden Tag neu erworben werden

müsse, "weil die politische Kultur der Freiheit sich nicht von selbst versteht".

Thierse dankte dem Architekten, Sir Norman Foster, der mit dem Neubau von

Plenarsaal und Kuppel innerhalb der historischen Ursprungsarchitektur eine

gelungene Synthese geschaffen habe, seiner Vorgängerin Rita Süssmuth, dem

Vorsitzenden der Baukommission des Bundestages, Dietmar Kansy, sowie allen, die

zum Gelingen des Projektes beigetragen hätten. Der Architekt verdeutlichte in seiner

Ansprache, er habe bei der Ausschreibung des Wettbewerbs zunächst Zweifel gehabt,

ob er als Ausländer für ein so bedeutsames Gebäude die Verantwortung übertragen

bekommen würde. Im nachhinein könne er feststellen, daß der Prozeß von Anfang bis

Ende von Tatkraft, Fairneß und Offenheit aller Beteiligten geprägt gewesen sei.

Foster erinnerte zudem an die Verhüllung des Reichstagsgebäudes im Sommer 1995.

Damals sei man "Zeuge einer Transformation" geworden. Heute seien "ähnliche

Gefühle wieder in der Luft".

Kansy zitierte den früheren französischen Präsidenten Francois Mitterrand mit den

Worten "Ein Volk ist so groß wie seine Architektur". Die Verantwortlichen, so

Kansy, hätten sich darum bemüht, nicht luxuriös oder pompös, sondern würdig und

angemessen für ein Verfassungsorgan zu bauen. Der Bundestag habe nicht nur ein

Quartier gesucht in dieser Stadt, sondern mitgestalten wollen als deutsches

Parlament. Dies sei gelungen, ohne den Kostenrahmen zu überschreiten.

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Ein Gang durch das Reichstagsgebäude

Von der Westlobby aus linker Hand liegt

u.a. das Abgeordnetenrestaurant, rechter

Hand die Wandelhalle Südwest. Sie ragt

hoch über zwei Geschosse hinweg auf.

Wie eine Galerie zieht sich ein

aluminiumunterlegter gläserner Steg auf

halber Höhe durch die Halle, der zur

Besucherebene gehört.

Links von der Wandelhalle Südwest

schließt der Lichthof Süd an, rechts die

Von der Wandelhalle aus gesehen links liegt der

Südflur, der parallel zur Scheidemannstraße die

Wandelhallen West und Ost verbindet. Links

erneut der Lichthof, in dessen Mitte der

Düsseldorfer Bildhauer Ulrich Rückriem zwei

Bodenreliefs aus geschnittenen Granitplatten

geschaffen hat, die mit der Fassade des

Lichthofes harmonieren. Rechts ist der

Treppenaufgang des Südportals, dessen

Seitenwände mit großformatigen

Leinwandbildern des sächsischen Malers Georg

Baselitz ausgestattet sind. Die Motive beziehen

sich auf die Holzschnitte "Die Frau am Abgrund"

sowie "Schlafender Knabe" von Caspar David

Friedrich.

große Abgeordnetenlobby, die mit bequemen Sitzmöbeln ausgestattet ist. Unübersehbar grau

gefärbt sind die Lüftungsaggregate, die zwischen den Fenstern fast drei Meter hoch aufragen. An

der Nordseite des Raumes hängt großflächig eine Fotokunstarbeit der Düsseldorfer Künstlerin

Katharina Sieverding zur Erinnerung an die ermordeten, verfolgten und verfemten Mitglieder

des Deutschen Reichstags. Zusammen mit den in Dokumentationsbüchern exakt recherchierten

Lebensschicksalen dieser Abgeordneten bildet der Ort eine Stätte des Gedenkens und der

Besinnung.Auch die Wandelhalle selbst ist künstlerisch ausgestaltet. Von der Decke hängen 24

Acryltafeln, auf denen der jüngst verstorbene Künstler Carlfriedrich Claus seinen

"Experimentalraum Aurora" als Denklandschaft ausgeformt hat.

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Anschließend folgt der Andachtsraum mit den

von Bildhauer Günther Uecker geschaffenen

Gebotstafeln, die zusammen mit dem Altarstein

ein Kreuz bilden und dem Raum mit seinem

seitlich einfallenden Licht die sakrale

Atmosphäre geben.

Über das Treppenhaus in Südost kann man die

eine Etage höher gelegene Besucherebene

erreichen. Über eine Galerie mit Blick in die

Wandelhalle gelangt man zu einem Steg, der

vom Architekten neu in die Halle eingefügt

wurde. An den Wänden sind die alten

Sandsteinverkleidungen aus der Wallot-Zeit zu

erkennen, die zum Teil mit kyrillischen

Schriftzeichen beschrieben sind. Diese stammen

aus den Tagen der Eroberung des Hauses durch

die Rote Armee zum Ende des Zweiten

Weltkrieges und wurden als Geschichtszeugnis

konserviert.

Auf der Besucherebene sind alle Türen, die zu

Büros und Vortragssälen führen, grün, auf der

Plenarsaalebene sind sie blau. Dieses

Farbkonzept, das sich auch auf den Beschlägen

der Durchgangstüren wiederfindet, dient der

Orientierung im Hause.

Es folgt der eigentliche Besucherbereich des

Plenarsaals mit den sechs einzelnen Tribünen,

Wenn man von der Tribüne weiter nach unten

blickt, so ist die Sitzanordnung zu erkennen,

nach der sich die Abgeordneten dem Präsidenten

und Sitzungsvorstand, der Bundesregierung und

dem Bundesrat gegenübersehen. Links vom

Präsidenten bzw. der Präsidentin befinden sich

die Plätze für den Bundeskanzler und die

Bundesregierung, auf der rechten Seite die Plätze

des Bundesrates, der Vertretung der Länder. Die

beiden Stühle jeweils in der ersten Reihe, die

dem Präsidiumspodest am nächsten stehen, sind

dem Kanzler bzw. dem Bundesratspräsidenten

vorbehalten. An die Regierungs- und Bundes-

Osthalle

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die sich von dieser Ebene aus fast in die Mitte

des Plenarsaals hineinsenken und jeweils 73

Gästen Platz bieten. Hier hat man den besten

Blick auf den Plenarsaal und seiner Architektur.

Er ist lichtdurchflutet, und beim Blick nach

oben wird der Ring der zwölf Sichtbetonstützen

deutlich, der den Plenarsaal umgibt und die

Kuppel trägt. Die gläserne Deckenkonstruktion

ermöglicht aus dem Saal und von den Tribünen

eine Durchsicht auf das dritte Obergeschoß und

weiter in die Konstruktion der Kuppel.

ratsplätze schließen sich die Abgeordnetenplätze

an. Links von der Bundesregierung sitzt die

F.D.P., darauf folgt die CDU/CSU, dann

Bündnis 90/Die Grünen, während die

Abgeordneten der SPD fast die ganze rechte

Hälfte einnehmen, bevor der Kreis mit den

Plätzen für die Parlamentarier der PDS an die

Bank des Bundesrates anschließt. Die rund 800

Sessel sind lila-blau bezogen, das vom Archi-

tekten kreierte "Reichstagsblue" liefert einen

schönen Kontrast zum Grau der Aufbauten.

An der östlichen Stirnseite des Plenarsaals steht

die Bundesflagge. An diesem Platz vereidigt der

Präsident des Deutschen Bundestages den

Bundeskanzler und die Mitglieder der Bundes-

regierung nach deren Ernennung durch den

Bundespräsidenten. Darüber erhebt sich das als

Kunstwerk ausgeformte Symbol für den

Deutschen Bundestag, der Bundestagsadler, der

gelegentlich etwas spöttisch als "Fette Henne"

bezeichnet wird. Das aus Aluminiumblechen

mehrschichtig gefertigte Wappentier ist 8,50

Meter breit, 6,80 Meter hoch und wiegt 2,5

Tonnen. Die Wand hinter dem Adler nimmt

vieles der Technik auf, die sich außerdem im

ganzen Saal hinter weiteren Verkleidungen

verbirgt. 298 Einzellautsprecher sorgen für den

guten und jederzeit verständlichen Ton, über 200

Mikrofone kann gesprochen werden.

Im westlichen Besucherbereich stehen zwei Vi-

trinen, in denen wichtige Exponate zur Geschich-

te der parlamentarischen Demokratie ausgestellt

sind. Es handelt sich zum einen um die Original-

ausfertigung des Grundgesetzes vom 23. Mai

1949, der Geburtsstunde der Bundesrepublik

Deutschland.

In der anderen Vitrine befindet sich ein

Gastgeschenk des spanischen Königspaares

Juan Carlos und seiner Gemahlin Sofia, die am

16. Juli 1997 die Baustelle des Deutschen

Bundestages besichtigte und, im Hinblick auf

das zusammenwachsende Europa, dem

deutschen Parlament in zwei Schatullen die

Urkunden der spanischen Verfassung von 1812

und 1978 übergeben haben.

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Besprechungsräume und der Sitzungsraum des Ältestenrates. Die Türen sind hier burgunderrot, und

sowohl von der Mitte der West- wie der Ostseite sind eindrucksvolle Durchblicke möglich, zum

einen nach unten in den Plenarsaal und die Wandelhallen, zum anderen nach oben in die Kuppel.

Der Blick fällt dann auf die

Bronzeplastik "Architektonische

Skulptur" von Otto Freundlich. Dieser

Künstler wurde von den

Nationalsozialisten als Vertreter der

sogenannten "entarteten" Kunst verfolgt

und im Konzentrationslager Lublin-

Maidanek 1943 ermordet. Der Deutsche

Bundestag ehrt ihn mit dieser Leihgabe.

Im zweiten Obergeschoß befindet sich der Präsidialbereich, der

über eine der beiden Treppenhäuser West erreicht werden kann.

Hier, auf dieser Etage liegen die Büros für den Präsidenten und

seine engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für den

Direktor beim Deutschen Bundestag, der die Verwaltung leitet,

für die Abteilungsleiter sowie für die Leiter des Protokolls und

des Pressezentrums. Hinzu kommen einige Protokollsäle,

Besprechungsräume und der Sitzungsraum des Ältestenrates.

Die Türen sind hier burgunderrot, und sowohl von der Mitte der

West- wie der Ostseite sind eindrucksvolle Durchblicke

möglich, zum einen nach unten in den Plenarsaal und die

Wandelhallen, zum anderen nach oben in die Kuppel.

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Der Bundestag im Reichstagsgebäude von Carl-Christian Kaiser

Das Reichstagsgebäude macht es kurz. Ein paar Schritte nur sind nötig, die große

Freitreppe hinauf, dann durch die mächtigen Säulen des Portals – und schon ist von

der hohen Empfangshalle aus durch Glaswände auch das Herzstück des Deutschen

Bundestages in seinem neuen Berliner Gebäude zu sehen: der Plenarsaal.

In keinem anderen Plenargebäude des Parlaments, allenfalls mit Ausnahme des

vorübergehenden Quartiers im Bonner "Wasserwerk", ist dieser Weg so kurz und der

erste Blick auf das Plenum so rasch möglich gewesen. Der allererste Plenarsaal in

Bonn verbarg sich hinter seinen Eingangstüren. Ähnlich im "Wasserwerk". Und der

Blick auf den dritten und letzten Bonner Sitzungssaal öffnete sich trotz der gläsernen

Durchsichtigkeit des ganzen neuen Parlamentstrakts erst, nachdem die weitläufige

Lobby durchschritten war.

Anders also im historischen Berliner Reichstag. Mehr noch als in allen

vorhergehenden Gebäuden beherrscht der Plenarsaal den so gründlich umgestalteten

mächtigen Bau, nicht zuletzt durch seine bis zum Fuß der schon berühmten

Glaskuppel hinaufreichende Höhe. Fast alle Stockwerke sind um ihn herum

gruppiert; aus vielen Blickwinkeln kann er eingesehen werden.

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Über die große Freitreppe und durch die

mächtigen Säulen des Portals hindurch gelangt

der Besucher in die Empfangshalle des

Reichstagsgebäudes.

Um so deutlicher wird, dass sich hier das Zentrum der parlamentarischen Demokratie

befindet. Wie in einem Brennglas bündeln sich ja im Plenum des Bundestages

entscheidende Merkmale der parlamentarischen Ordnung und Arbeit. Das gilt für den

Wettstreit der Meinungen vor aller Augen und Ohren ebenso wie für die öffentliche

Beschlussfassung, für das Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition nicht

minder wie für die Auseinandersetzung nach bestimmten Spielregeln. Das Plenum ist

die für alle parlamentarischen Aufgaben ausschlaggebende Instanz. Wird die

Souveränität des Bundestages als höchstes demokratisches Organ nur von den

Verfassungsbestimmungen begrenzt, ist er keinerlei Aufsicht oder Weisungen

unterworfen, sondern regelt er seine Angelegenheiten selbst, so drückt sich dies in

erster Linie in seinem Plenum aus. Über seine Zusammenkünfte, die Art und Weise

seiner Beratungen und die Erledigung seiner Aufgaben befindet er aus eigenem

Recht.

Die Beratung und Beschlussfassung über die Gesetzentwürfe in einem genau

festgelegten Verfahren ist das Wichtigste und das tägliche Brot. Alle

Gesetzesvorlagen gehen an den Bundestag. Nicht weniger herausragend ist die

Bestellung des Regierungschefs. Die Wahl des Bundeskanzlers – und ebenso dessen

Sturz durch die Wahl eines Nachfolgers – ist allein Sache des Parlaments.

Schließlich, als dritte Hauptaufgabe, die Kontrolle der Regierung: Dafür verfügt der

Bundestag über ein breit gefächertes Instrumentarium, das von Anfragen in

verschiedener Form, zu denen die Regierung Rede und Antwort stehen muss, bis zu

Untersuchungsausschüssen reicht. Vor allem aber: Ohne Zustimmung des Parlaments

kann auch das alljährliche Haushaltsgesetz, das in Zahlen gefasste

Regierungsprogramm mit allen Einnahmen und Ausgaben des Staates, nicht

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verwirklicht werden. Das Recht, über den Staatsetat zu entscheiden, ist das wichtigste

Kontrollinstrument des Bundestages, und stets sind die Haushaltsdebatten, in denen

es immer auch um die Grundzüge der Regierungspolitik geht, einer der Höhepunkte

des Parlamentsjahres.

Das Ostfoyer des Reichstagsgebäudes - Zugang

für Parlamentarier, Minister, Staatsgäste.

Aber mit den Rollen als Gesetzgeber, Wahlorgan für den Kanzler, Regierungs-

kontrolleur und mit anderen Aufgaben hat es keineswegs sein Bewenden. Vielmehr

soll im Bundestag jenseits aller Einzelthemen, Fachfragen, Detailprobleme und

Tagesarbeit immer wieder auch zur Sprache kommen, was die Wähler allgemein

bewegt, die Nation beschäftigt oder sogar die ganze Welt in Atem hält. Nicht selten

werden die Debatten darüber zu großen Stunden, in denen das Parlament alle

Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dann wird am deutlichsten, was seine vornehmste

Rolle ausmacht: das "Forum der Nation" zu sein, auf dem sich die Menschen mit

ihren Problemen und Wünschen, Sorgen und Fragen wiederfinden.

Um so sinnfälliger, dass im Reichstagsgebäude der Plenarsaal noch mehr als an allen

früheren Beratungsorten des Bundestages den zentralen Platz einnimmt und sofort ins

Auge fällt. Die ganze erste Etage des Reichstags, die Plenarebene, ist den

Abgeordneten, ihren Mitarbeitern und dem Parlamentspersonal vorbehalten. Zur

besseren Orientierung ist sie, wie alle anderen Stockwerke, mit einer bestimmten

Farbe gekennzeichnet: Blau an allen Türen und anderen markanten Punkten.

Gegenüber dem hellen Grau und Silber, dem Sandstein, Stahl und vielem Glas und

den wuchtigen, quaderhaften Formen, die das alte Gebäude weiter prägen, heben sich

die Farben wirkungsvoll ab.

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Der Deutsche Bundestag im Reichstagsgebäude.

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Ist das große Westportal hauptsächlich für die Besucher des Bundestages bestimmt,

so dient das Ostportal an der gegenüberliegenden Seite des Reichstagsgebäudes, wo

es auch genügend Vorfahrtsmöglichkeiten gibt, vor allem den Abgeordneten. Sie

erreichen von dort aus die über dem Erdgeschoss mit seinen technischen

Installationen liegende Plenarebene und den Plenarsaal. Wie ein Kranz umgeben ihn

Räume und Einrichtungen, die für die Arbeit zumal an Debattentagen nötig oder

nützlich sind: Wandelhallen für die oft wichtigen Gespräche am Rande, eine

Präsenzbibliothek zum Nachschlagen von Daten und Fakten während der Debatten,

Ruhe- und Aufenthaltsräume, auch für die Mitglieder der Regierung, ein Lobby- und

Clubraum, ein größeres Restaurant sowie eine Cafeteria und ein kleines Bistro.

Ebenso gibt es einen Andachtsraum, in dem sich Abgeordnete zu den morgendlichen

Gottesdiensten versammeln können; nur durch einen schmalen seitlichen Spalt

einfallendes Licht verleiht ihm eine besondere Atmosphäre.

In den Wandelhallen, die um den Plenarsaal

herum angeordnet sind, treffen sich die

Parlamentarier für wichtige Gespräche am Rande

von Plenarsitzungen.

Einen ganz eigenen Akzent geben dem Raum auch die an die Wände gelehnten

Gebots- und Nageltafeln von Günther Uecker – eines der vielen Kunstwerke, die im

ganzen Haus zu finden sind. Auf allen Ebenen gibt es, von renommierten in- und

ausländischen Künstlern, Gemälde, Bilder, Plastiken, Installationen und andere

Arbeiten in zahlreichen Ausdrucksformen. Die meisten sind eigens für den Bundestag

geschaffen worden. Andere sind aus dem Besitz der Künstler angekauft worden oder

als Leihgaben zu sehen.

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Besonders ins Auge fallen in der Eingangshalle am großen Westportal das hohe

Rechteck aus den leicht verfremdeten Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold von Gerhard

Richter und gegenüber die Leuchtkästen mit politischen und geschichtlichen Motiven

von Sigmar Polke, die sich durch eine spezielle Technik ständig zu verschieben

scheinen. Die Maler Georg Baselitz, Gotthard Graubner, Bernhard Heisig, Anselm

Kiefer, Markus Lüpertz, Wolfgang Mattheuer, Emil Schumacher und viele andere

sind ebenso vertreten wie Joseph Beuys mit einer Installation oder Ulrich Rückriem

mit zwei Bodenreliefs. Von Katharina Sieverding stammt eine große Fotoarbeit, die

zusammen mit Dokumentationsbüchern an die vielen von den Nazis ermordeten und

verfolgten Mitglieder des alten Deutschen Reichstags erinnert. Die Beispiele aus der

gegenwärtigen deutschen und internationalen Kunstszene tragen noch viele andere

Namen.

Öffentlichkeit gehört zu den Lebensprinzipien einer parlamentarischen Demokratie.

Ohne dieses Prinzip wäre das Parlament als "Forum der Nation" nicht denkbar.

Deshalb bestimmt das Grundgesetz: "Der Bundestag verhandelt öffentlich." Zwar

kann der Ausschluss der Öffentlichkeit von einem Zehntel der Abgeordneten oder

von der Bundesregierung beantragt werden. Aber zu einem entsprechenden Beschluss

ist die Zweidrittelmehrheit nötig. Die hohe Hürde zeigt, wie sehr Verhandlungen

hinter verschlossenen Türen als absolute Ausnahme verstanden werden. Tatsächlich

ist bisher noch nie verlangt worden, dass das Plenum im Geheimen beraten solle.

Seit alle wichtigen Debatten von Fernsehen und Rundfunk direkt übertragen werden,

hat das Prinzip der Öffentlichkeit noch ein viel größeres Gewicht als in früheren

Jahren. Aber die Öffentlichkeit, das sind vor allem auch und in unmittelbarem Sinne

die Besucher der Parlamentssitzungen. Für sie ist, mit der Kennfarbe Grün, im

Reichstagsgebäude gleich die nächste Etage über der Plenarebene für die

Abgeordneten bestimmt. Auch hier geht es direkt in den Plenarsaal, nämlich auf

sechs Tribünen für Besucher, Gäste und die Presse. Über den Abgeordnetensitzen

sind sie so weit in den Plenarsaal hineingezogen, dass alles wie zum Anfassen

erscheint: Demokratie direkt, wie auf Tuchfühlung. Fast sieht es so aus, als säßen

auch die Zuschauer mitten im Plenum.

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Der Clubraum.

Auch in Berlin fällt der Blick zuerst auf den an der gläsernen Stirnwand des

Plenarsaals angebrachten großen Bundestagsadler. Links und rechts neben dem Adler

zeigen auf Lichtstreifen rote Ziffern den gerade behandelten Tagesordnungspunkt

und die Uhrzeit an, während ein grünes "F" signalisiert, dass die Sitzung vom

Fernsehen direkt übertragen oder aufgenommen wird. Von den Besuchern aus

gesehen steht unterhalb des Adlers links die Bundesflagge und rechts die

Europafahne. Zu seinen Füßen befinden sich die etwas herausgehobenen Plätze des

Sitzungspräsidenten und der beiden Schriftführer aus den Bundestagsfraktionen

sowie der Parlamentsbeamten, die den Präsidenten bzw. die Präsidentin bei der

Leitung der Sitzung unterstützen. Vor diesen Plätzen steht das Rednerpult, und davor

haben die Stenographen, die jedes Wort festhalten, ihre schmale Bank.

Blick in die Abgeordneten-Lobby auf der Plenar-

ebene.

Wiederum von den Besuchertribünen aus gesehen, sind links vom

Sitzungspräsidenten die Plätze für den Bundeskanzler, die Minister sowie ihre

Mitarbeiter und rechts die Plätze des Bundesrates, der Vertretung der Länder,

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angeordnet. Die beiden Stühle, die dem Präsidentenpodest am nächsten stehen, sind

dem Kanzler bzw. dem Bundesratspräsidenten vorbehalten.

Gegenüber der flachen, nach innen gekrümmten Ellipse, die das Präsidentenpodest,

die Regierungs- und die Bundesratsbank bilden, erstreckt sich in Form eines

Dreiviertelkreises das weite Rund der Sitze für die insgesamt 669 Abgeordneten.

Abermals von den Besuchern aus gesehen, beginnen die Sitze links mit den Plätzen

für die Parlamentarier der F.D.P. Darauf folgt die CDU/CSU, dann das Bündnis

90/Die Grünen. Den größten Teil der rechten Hälfte nehmen die Abgeordneten der

SPD ein, bevor der Dreiviertelkreis mit den Sitzen der PDS abschließt.

Das Bistro.

So also der Ort, an dem debattiert und entschieden wird, das Zentrum des

Bundestages und der parlamentarischen Demokratie. Auf der Besucherebene, zu der

auch in der Größe variable Vortragssäle sowie Arbeitsräume für die Presse gehören,

ist man ihm am nächsten. Hier geht es um Rede und Gegenrede, Argument und

Gegenargument, um die Darstellung von Problemen und die Debatte über ihre

Lösung, um die Begründung der verschiedenen Standpunkte und die Rechtfertigung

von Entscheidungen, um Streit und Wettbewerb zwischen den einzelnen Fraktionen

und zumal zwischen dem Regierungslager und der Opposition. Einerseits dient dies

alles der öffentlich wirksamen Kritik und Kontrolle, andererseits der öffentlichen

Erläuterung und Durchsetzung der Regierungspolitik – und damit insgesamt der

Information sowie der Urteils- und Willensbildung der Bürger.

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Die Cafeteria.

Auch in der "Laufbahn" der Abgeordneten spielt das Plenum eine bedeutende Rolle.

Von der Häufigkeit, mit der ein Abgeordneter am Rednerpult steht, lässt sich zwar

nicht ohne weiteres auf größeren Fleiß als bei anderen Parlamentsmitgliedern

schließen, wohl aber auf den Rang und den Einfluss in seiner Fraktion und das

Gewicht, das ihm dort für die Repräsentation nach außen zugemessen wird. Dabei

handelt es sich sowohl um Abgeordnete, die an der Spitze der Fraktion stehen, als

auch um Parlamentarier, die auf bestimmten Gebieten besonders sachverständig sind.

Und nicht wenige Abgeordnete haben durch eine große Rede im Plenum mit einem

Schlag viel Reputation innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen erworben.

Über dem Besuchergeschoss liegt, Kennfarbe Burgunderrot, die Präsidialebene –

Arbeits- und Repräsentationsbereich in einem. Der Bundestagspräsident ist der

höchste Repräsentant des Parlaments, und zusammen mit seinen gegenwärtig fünf

Stellvertretern aus allen Bundestagsfraktionen bildet er das Präsidium als oberstes

Gremium des Parlaments. Sein hoher Rang wird schon dadurch hervorgehoben, dass

er nach dem Staatsoberhaupt, dem Bundespräsidenten, in der protokollarischen

Reihenfolge den zweiten Platz einnimmt, noch vor dem Bundeskanzler oder den

Präsidenten anderer Verfassungsorgane.

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Der Plenarsaal, das Zentrum der Parlamen-

tarischen Demokratie, ist von unterschiedlichen

Seiten einsehbar.

Diese Reihenfolge steht für den Vorrang der gesetzgebenden vor der ausführenden

Gewalt, der Legislative vor der Exekutive, des Bundestages vor der Regierung, und

sie drückt sich auch in anderen Einzelheiten aus. So ist der Parlamentspräsident der

Adressat aller Gesetzentwürfe und anderer Vorlagen der Bundesregierung und des

Bundesrates und natürlich auch aller Eingaben aus den Reihen des Bundestages

selbst. Er besitzt auch das Hausrecht und die Polizeigewalt im Bundestag und trifft

gemeinsam mit seinen Stellvertretern die wesentlichen Personalentscheidungen bei

der Verwaltung des Parlaments.

Der Bundestagspräsident ist der höchste

Repräsentant des Parlaments. Er eröffnet, leitet

und schließt die Zusammenkünfte des Plenums.

Am deutlichsten freilich wird seine Stellung und die seiner Stellvertreter während der

Bundestagssitzungen. Der Präsident eröffnet, leitet und schließt die Zusammenkünfte

des Plenums. Weil die Sitzungsleitung nach einem vorher vereinbarten Rhythmus,

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meistens nach zwei Stunden, zu wechseln pflegt, fällt diese Aufgabe auch seinen

Stellvertreterinnen bzw. Stellvertretern zu. Der Vorsitz ist, bei aller häufigen Routine,

kein leichtes Geschäft. Immer steht er unter dem Gebot, die Beratungen gerecht und

unparteiisch zu leiten. Eine Vorstellung davon gibt jener Paragraph in der

Geschäftsordnung des Bundestages, in dem es heißt: "Der Präsident bestimmt die

Reihenfolge der Redner. Dabei soll ihn die Sorge für sachgemäße Erledigung und

zweckmäßige Gestaltung der Beratung, die Rücksicht auf die verschiedenen

Parteirichtungen, auf Rede und Gegenrede und auf die Stärke der Fraktionen leiten;

insbesondere soll nach der Rede eines Mitglieds oder Beauftragten der Bundes-

regierung eine abweichende Meinung zu Wort kommen."

Als beherrschender Grundsatz gilt, dass bei den Debatten zwischen den

verschiedenen politischen Gruppierungen, besonders wenn sie miteinander

rivalisieren, Chancengleichheit bestehen soll. In der Praxis bezieht sich dies vor allem

auf das Verhältnis zwischen der Regierung bzw. den Mehrheitsfraktionen und der

Opposition. Die öffentliche Kritik und Kontrolle ist in erster Linie Aufgabe der

Opposition. Den Mehrheitsfraktionen kommt vor allem die Aufgabe zu, die

Regierungspolitik mit ihrer Majorität im Bundestag durchzusetzen und zu

verteidigen. Sie üben ihre Kontrolle eher informell und intern aus.

Von der Kuppel kann man direkt in den

Plenarsaal hinunterschauen.

Aber kritische Diskussionen über die Regierungspolitik und im Einzelnen

abweichende Meinungen gibt es durchaus auch bei ihnen. Als Folge muss die

Regierung von vornherein auch darauf achten, für ihre Vorlagen in den eigenen

parlamentarischen Reihen Zustimmung und Mehrheiten zu finden. Sie kann nicht

gegen das Parlament regieren. Ihre Bundestagsmehrheit ist kein bloßer

"Erfüllungsgehilfe". Erst recht nicht sind es die Oppositionsfraktionen. So übt im

Endeffekt auch das Parlament als Ganzes seine Kontrollaufgaben aus.

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Der Sitzungspräsident soll auch die Ordnung im Hause wahren. Dazu gehört, dass er,

wenn nötig, Auseinandersetzungen und Verhaltensweisen als unparlamentarisch

zurückweisen und notfalls Abgeordnete zur Ordnung rufen kann. Nach dreimaligem

Ordnungsruf während einer Rede muss er ihm das Wort entziehen. Bei gröblichen

Verletzungen der Ordnung kann er Parlamentarier des Saales verweisen, im äußersten

Fall für längere Zeit. Wird die Debatte durch Unruhe gestört, kann sie der Präsident

bzw. die Präsidentin auf unbestimmte Zeit unterbrechen oder die Sitzung aufheben.

Die Sitzverteilung im 14. Deutschen

Bundestag (669 Abgeordnete).

Bei der Regelung der Parlamentsangelegenheiten steht dem Bundestagspräsidium der

Ältestenrat zur Seite. Dort führt der Präsident in einem Kreis den Vorsitz, dem außer

ihm und seinen Stellvertretern 23 nach den Stärkeverhältnissen der Fraktionen

bestimmte Abgeordnete angehören. Dabei handelt es sich freilich nicht um die

ältesten Mitglieder des Hauses, weder nach der Dauer der Zugehörigkeit zum

Bundestag noch nach Lebensjahren. Aber erfahrene Parlamentarier sind sie durch die

Bank. Ihre wichtigste Aufgabe besteht darin, den Arbeitsplan des Bundestages und

die Tagesordnung für die Plenarsitzungen aufzustellen. Wann welches Thema in

welchem Umfang behandelt werden soll, ist nicht ohne Bedeutung. Hin und wieder

sind die Meinungsverschiedenheiten so groß, dass in dem sonst auf Kooperation,

Kompromiss, Kollegialität und einstimmige Beschlüsse angelegten Ältestenrat

dennoch keine Einigung zustande kommt und das Plenum selbst als letzte Instanz

entscheiden muss.

Eine andere Aufgabe des Ältestenrats besteht darin, Streitfragen zu erörtern und

möglichst zu schlichten, die mit der Würde und den Rechten des Hauses oder mit der

Auslegung von Geschäftsordnungsbestimmungen zu tun haben. Alles in allem ist er,

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ohne dass er dem Bundestagsplenum als letzte Instanz etwas völlig vorwegnehmen

könnte, eine Art Lenkungsinstrument, das der Vollversammlung des Parlaments viele

zeitraubende formelle Entscheidungen erspart, und ein wichtiges Verbindungsglied

sowohl zwischen den Fraktionen als auch zwischen ihnen und dem Präsidium.

Im Plenarsaal findet der Wettstreit der Mein-

ungen vor den Augen und Ohren der Öffent-

lichkeit statt.

Vertritt der Bundestagspräsident nach außen das ganze Parlament und regelt er nach

innen zusammen mit seinen Stellvertretern und dem Ältestenrat die Bundestags-

angelegenheiten, so spiegelt sich dies auch auf der Präsidialebene des

Parlamentsgebäudes wider. Repräsentations- und Arbeitsräume mischen sich. Der

Repräsentation dienen sowohl ein großer und ein kleiner Empfangssaal als auch ein

Speisesaal mit eigener Küche. Der andere Teil der Etage besteht hingegen außer den

Räumen des Präsidenten, zu denen auch ein kleiner Ruheraum und ein Bad gehören,

aus einem Sitzungssaal des Ältestenrats, aus Besprechungszimmern sowie den Büros

der engsten Mitarbeiter des Präsidenten und der Verwaltungsspitze des Parlaments.

Plätze im Plenum: Hier sitzen die Bundes-

tagsabgeordneten während der Plenarsitzungen.

Im Übrigen: Kein Zufall wohl, dass der Präsident aus seinem Arbeitszimmer auf das

in einiger Entfernung gegenüberliegende neue Kanzleramt blicken kann. Zwar stehen

im Bundestag – anders als zu den Anfängen des Parlamentarismus im Kaiserreich, als

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das Parlament insgesamt als Widerpart der Regierung begriffen wurde – das

Regierungslager auf der einen und die Opposition auf der anderen Seite. Aber die

grundsätzliche Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive ist davon nicht

berührt. So wirkt in Berlin das geographische Gegenüber von Parlament und

Präsidialbüro hier und Kanzleramt dort auch wie ein Symbol.

Präsidium und Ältestenrat regeln zusammen die

Geschäfte des Bundestages.

Auch die Abgeordneten und weitere Gremien im Plenargebäude unterzubringen,

wäre unmöglich. Sie werden ihre Büros und Beratungsräume in unmittelbar

benachbarten neuen Bauten haben. Bis diese Bauten fertig sind, wird ohnehin noch

viel Improvisation nötig sein, auch im Reichstag. Wohl aber haben dort die

Fraktionen ihren festen Platz, auf der vierten Ebene mit der Kennfarbe Grau. Ihre

Versammlungssäle, Vorstandszimmer und Vorräume gruppieren sich um eine

ausgedehnte Presselobby, die auch für ganz große Empfänge und anderes genutzt

werden kann. Teil der Fraktionsräume sind auch die vier Ecktürme des Reichstags,

die eine besondere Beratungsatmosphäre schaffen.

Blick von der Fraktionsebene auf die Kuppel.

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Dass die Fraktionen im Reichstagsgebäude angesiedelt sind, macht viel Sinn. Als

Zusammenschlüsse aller Abgeordneten einer Partei – oder verwandter Parteien – sind

sie im parlamentarischen Getriebe wichtige, oft ausschlaggebende Schaltstellen.

Nicht nur, dass sie zum Beispiel über die Einbringung von Gesetzentwürfen oder die

jeweilige politische Marschroute für die Plenardebatten entscheiden. Vielmehr sind

sie oft auch so etwas wie "Parlamente im Parlament". Auch innerhalb der einzelnen

Parteien gibt es ja unterschiedliche Richtungen und Meinungen. Zwar stimmen die

Mitglieder einer Fraktion in der politischen Grundhaltung überein, jedoch keineswegs

von vornherein auch in allen Einzelfragen.

Sitzung des Ältestenrates.

Deshalb kommt es, wie im Plenum zwischen den Parteien, auch innerhalb der

Fraktionen immer wieder zu lebhaften und manchmal sehr kontroversen

Auseinandersetzungen, bevor die verschiedenen Standpunkte geklärt und möglichst

auf einen Nenner gebracht sind. Zumindest im Stadium der Diskussion und

Willensbildung sind die Fraktionen keine geschlossenen Heerhaufen. Auch lassen

sich gelegentlich Minderheiten von der Generallinie nicht überzeugen. Und wie im

Plenum können ebenso die Debatten in den Fraktionen zur großen Stunde einzelner

Abgeordneter werden. Schon manche Parlamentskarriere hat auch auf diese Weise

begonnen.

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In Fraktionssitzungen werden oft die

entscheidenden Weichen gestellt.

Die Fraktionsebene ist der letzte Arbeitsbereich im Reichstagsgebäude. Von unten bis

oben, vom Erdgeschoss mit seinen Funktionsräumen, technischen Einrichtungen und

Diensten, auch mit den Arzträumen, über die Plenarebene, dann den Besucherbereich

und darauf der Präsidialebene bis zu der Etage für die Fraktionen ist alles

zweckmäßig aufgeteilt, auch mit möglichst kurzen und direkten Wegen – und immer

auf das Zentrum angelegt: auf den Plenarsaal in der Mitte des Gebäudes. Der neue

Sitz des Bundestages ist ein klar gegliedertes Arbeitsgehäuse.

Über dem Fraktionsbereich als oberstem Stockwerk liegt dann schon die

Dachterrasse samt einem Restaurant für die Besucher – und jene Glaskuppel, die

sofort zum Wahrzeichen des Bundestages im umgestalteten Reichstagsgebäude, wenn

nicht überhaupt zum Symbol der Hauptstadt Berlin geworden ist. Tags glänzt sie,

nachts leuchtet sie über der Stadt.

Das in der Kuppel befindliche Lichtumlenk-

element mit seinen 360 Spiegeln versorgt den

Plenarsaal mit Tageslicht.

In ihrer technischen Funktion bringt die Kuppel, zumal durch das trichterförmige

Lichtumlenkelement in der Mitte mit seinen 360 Spiegeln, zusätzliches Tageslicht in

den Plenarsaal. Umgekehrt transportiert der bis ins Plenum reichende Trichter die

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Abluft des Saales nach oben ins Freie. Die Kuppel ist nicht geschlossen, sondern am

unteren und oberen Rand offen, ein leichtes und luftiges Rund, wie eine schwebende

Raumhülle. Vor allem aber bietet sie jene einzigartige Attraktion, die alle anzieht: Sie

kann begangen werden. Die beiden an ihrer Innenseite in Spiralen sanft ansteigenden

oder abfallenden Rampen führen zu einer Aussichtsplattform hinauf und wieder

hinunter, von der aus, wie auch von der Dachterrasse, der Blick über ganz Berlin

geht, ein großes Panorama.

Auch auf diese Weise wird eingelöst, was im

Giebel des Hauptportals steht: "Dem Deutschen

Volke".

Das Gefühl der Beschwingtheit und Weite, das die Kuppel vermittelt, ist schon oft

beschrieben worden, ebenso wie die Möglichkeit, dem Parlament buchstäblich aufs

Dach zu steigen. Ihre lichte Konstruktion und ihre Zugänglichkeit für jedermann

nehmen ihr jeden herrschaftlichen Charakter, wie er sonst Kuppelbauten

kennzeichnet. Ob nun direkt durch die weit in den Plenarsaal hineinreichenden

Tribünen oder indirekt durch die gläserne Haube über dem Plenum – wohl kein

anderes Parlament öffnet sich Besuchern so sehr wie der Deutsche Bundestag im

historischen Reichstagsgebäude. Auch auf diese Weise wird eingelöst, was im Giebel

des Hauptportals steht: "Dem Deutschen Volke".

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Der Umbau des Reichstagsgebäudes - Ansprüche Altes erhalten - Modernes gestalten

Am 16. Juni 1994 stellte Sir Norman Foster seinen überarbeiteten Entwurf des

Reichstagsprojektes vor, der darauf basiert:

dem Wesen des Parlaments gerecht zu werden, die Geschichte des Reichstagsge-

bäudes zu respektieren und ein zukunftweisendes Energiekonzept zu realisieren.

Das ehemalige Reichstagsgebäudes wurde zu einem modernen Arbeitsparlament

umgestaltet, das allen Anforderungen an neuester Kommunikations-, Büro- und

Arbeitsplatztechnik entspricht. Gleichzeitig wurden unter Wahrung der ursprüng-

lichen Bausubstanz Gebäudestrukturen von Paul Wallot freigelegt und damit auf die

Innenausbauten der sechziger Jahre in Absprache mit dem Denkmalschutz verzichtet.

Ein Wahrzeichen für das "Herz der Republik"

Das Gebäude hat wieder eine Glaskuppel erhalten, jedoch nicht in der ur-

sprünglichen, historischen Form, sondern in der Architektur des ausgehenden 20.

Jahrhunderts.

Die neue Glaskuppel des Reichstages (Modell)

Die Kuppel erfüllt drei Funktionen:

Eine Besucherplattform lädt zu einem Rundblick über Berlin ein, zugleich sorgt ein

licht- und lüftungstechnisches Kegelelement in der Glas- und Stahlkonstruktion der

Kuppel für natürliche Belichtung und Belüftung. Schließlich hat die von innen

beleuchtete transparente Kuppel der Bundeshauptstadt Berlin zu einem neuen

Wahrzeichen verholfen. Die modern gestaltete Kuppel setzt ein sichtbares Zeichen,

dass das Reichstagsgebäude sich zum Sitz des Deutschen Bundestages entwickelt hat

- und damit zum Herzen der Republik.

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"Bauen für die Demokratie" Exklusiv-Interview mit Sir Norman Foster,

dem Architekten des Reichstagsumbaus

Beim Umbau des Reichstagsgebäudes für den Deutschen Bundestag

wird von einem Energiekonzept mit ökologischer Signalwirkung gesprochen. Welche

Bereiche dieses innovativen Konzeptes sind für Sie die wichtigsten?

Die Idee, den neuen Bundestag als Beispiel für ein nachhaltiges Energiekonzept zu

gestalten, war einer der Vorschläge aus unseren vier Wettbewerbsbeiträgen. Unsere

ökologische Variante verbindet mehrere Komponenten zu einem Energiesparsystem "

sie gehören alle zusammen. Zunächst schlagen wir vor, auf keinerlei fossile

Brennstoffe wie Öl oder Kohle zurückzugreifen. Abgesehen davon, daß wir früher

oder später das Ende unserer schnell schwindenden Vorräte erleben werden, bedroht

uns das gefährliche Begleitprodukt ihrer Umwandlung in Energie mit der zunehm-

enden Emission von Treibhausgasen und einer globalen Erwärmung. Die erste

strategische Entscheidung war daher, eine stets erneuerbare Energiequelle einzu-

setzen, d.h. ein landwirtschaftliches Produkt, wie zum Beispiel Raps- oder Sonnen-

blumenöl. Dabei ist zu bedenken, daß das Wachstum solcher Pflanzen Sauerstoff

erzeugt und Kohlendioxid, eines der umweltschädlichsten Gase, verbraucht. In der

Vergangenheit verursachte der Reichstag im Jahr einen Ausstoß von etwa 7.000

Tonnen CO2 " das neue Konzept mit Rapsöl ist so viel sauberer, daß es eine Reduk-

tion um 94% auf nur 440 Tonnen CO2 pro Jahr erzielt. In unserem System wird das

Öl zur Elektrizitätserzeugung in einem Gemeinschaftsgenerator verbrannt. Dieses

ökologische Kraftwerk versorgt nicht nur den Reichstag, sondern auch eine größere

Zahl von Gebäuden der Gegend mit Strom. Die Abwärme dieses Prozesses wird in

Kühlung umgewandelt, so daß Kühlwasser im Gebäude als Teil der Klimatisierung

zirkuliert. Dazu kommen natürliche Beleuchtung und Belüftung als weitere Posten

der Energieeinsparung. In den Sommermonaten wird die gesamte überschüssige

Wärme unterirdisch in 330 m Tiefe als Heißwasser gespeichert, das im nächsten

Winter als Wärmequelle genutzt werden kann. Die außergewöhnliche Dach-

konstruktion des neuen Bundestages ist ein deutliches Zeichen des neuen Energie-

konzepts. Der spiegelbesetzte Kegel transportiert Licht weit in die Tiefe des

Gebäudes. In Windtunneln ist die Aerodynamik erforscht worden, die jetzt wie ein

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natürlicher Schornstein funktioniert und Luft aus dem Gebäude als Teil des natür-

lichen Belüftungssystems abzieht.

Wird es aus Ihrer Sicht schon bald eine Architektur geben, die aufgrund der

ökologischen Erfordernisse gänzlich anders sein wird?

Ja, ohne jeden Zweifel. Nebenbei hatte die wirklich volkstümliche Architektur in den

alten Zeiten ihre Wurzeln immer auch in einer Reaktion auf die Umwelt über

Gebäudeformen, Baustoffe und die Technologie.

Ihr Büro ist weltweit tätig und erfolgreich. In diesem Jahr wird u. a. Ihr neuer

Flughafen von Hongkong fertiggestellt. Haben Sie sich schon einmal mit dem

Einfügen neuer Architektur in einen bedeutenden Altbau wie das Reichstagsgebäude

befassen können?

Ja, schon mehrmals. Sehen Sie sich nur unseren Umbau der historischen Royal

Academy im Londoner Picadilly an. Wir haben ihn vor einigen Jahren durchgeführt.

In jüngerer Vergangenheit haben wir damit begonnen, im Herzen des British

Museum in London, das ja aus dem 19. Jahrhundert stammt, einen neuen Hof zu

errichten, den New Great Court. Wir haben auch die Ausschreibung zur

Umkonstruktion des Treasury Building am Parliament Square aus der Zeit der

Jahrhundertwende gewonnen. Dazu kommt noch der neue Flügel der Joslyn Gallery

in Omaha, Nebraska, wo wir einen Anbau zu einem Gebäude geschaffen haben, das

im Original "Egyptian Prairie Style" errichtet wurde " einer Art Jugendstil aus den

zwanziger Jahren.

Welche sind Ihre wichtigsten Prämissen beim Planen?

Hatte der Begriff "Bauen für die Demokratie" Einfluß auf Ihren Entwurf für den

Deutschen Bundestag?

Ja. Der Ausdruck der neuen Demokratie eines wiedervereinten Deutschland war

besonders wichtig. Auch die im Stoff, im Material des Gebäudes enthaltene

Geschichte bloßzulegen, war wichtig. Einen weiteren Aspekt stellt die Schaffung von

bedeutenden öffentlichen Räumen dar, und hinter den Kulissen war der Arbeitsablauf

des Bundestages zu berücksichtigen.

1992, beim Wettbewerb für den Umbau des Reichstagsgebäudes, hatten Sie mit einer

anderen Entwurfsidee Erfolg. Wie sehen Sie heute Ihr damals vorgeschlagenes

riesiges Dach?

Für die erste Etappe des Wettbewerbs, in der ja ein immenser Raumbedarf bestand,

wesentlich mehr an Quadratmetern als das vorhandene Gebäude bieten konnte, war

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das absolut geeignet. Im zweiten Stadium, als der Raum dramatisch auf einen

Bruchteil des ursprünglichen Bedarfs reduziert wurde, war es verständlicherweise

nicht mehr angemessen. Also zurück ans Zeichenbrett! Aber übersehen Sie nicht, daß

alle Vorbedingungen, der Ausdruck der Demokratie, die Transparenz, der öffentliche

Raum, Geschichte und Ökologie, die im gegenwärtigen Schema enthalten sind, aus

dem ursprünglichen Wettbewerbsbeitrag der ersten Ausschreibung herrühren.

Die Kuppel des Reichstagsgebäudes ist schon sehr gut erlebbar. Übertrifft sie noch

Ihre Erwartungen?

Ja. Obwohl sie doch im Aussehen den Darstellungen unglaublich nahe kommt, die

wir in Fotomontagen und Modellen entwickelt hatten.

Welcher Bereich des Entwurfs für den Deutschen Bundestag hat Ihnen und Ihren

Mitarbeitern die größte Freude bereitet?

Der radikale Ausdruck einer neuen Demokratie in all ihren unterschiedlichen

Aspekten.

Biodiesel für den Reichstag Wenn im April 1999 der Deutsche Bundestag mit einer Feierstunde den Plenarsaal

einweiht, wird Pflanzenöl dafür verantwortlich sein, daß es auch empfindlichen

Naturen nicht zu kalt wird. Sollte es die Sonne mit dem neuen Staatsoberhaupt

dagegen zu gut meinen, wird Erdkälte aus 60 Metern Tiefe ein gutes Klima im neuen

Bundestag schaffen. Fast könnte man den Prachtbau des Frankfurter Architekten Paul

Wallot nach dem in einigen Monaten abgeschlossenen Umbau durch Sir Norman

Foster das repräsentativste Öko-Haus der Bundesrepublik Deutschland nennen.

Intelligent, ressourcenschonend und einzigartig ist das Energie- und Heizkonzept des

künftigen Parlamentssitzes in Berlin. Und faszinierend dazu. Dem britischen Star-

Architekten Sir Norman Foster ist in seinem Konzept für die Umgestaltung des

Reichstagsgebäudes das Kunststück gelungen, die Anforderungen an eine moderne

und zugleich den historischen Charakter des Gebäudes respektierende Architektur mit

hohen ökologischen Zielsetzungen zu verschmelzen. Wichtigste Vorgabe innerhalb

des Projektes: Energie erst gar nicht verbrauchen. An zweiter Stelle folgt der

effiziente Energieeinsatz. Für Claudia Lemhoefer, Sprecherin der für die Bauleitung

zuständigen Bundesbaugesellschaft Berlin, ist das Energiekonzept für die

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Bundesbauten im Spreebogen "energetisch zukunftsweisend, umweltpolitisch

verantwortungsvoll und ökologisch vorbildlich".

Lemhoefer: "In der Einsparung liegt die effektivste Strategie, um den Einsatz fossiler

Energien und damit die CO2-Emissionen zu reduzieren.“

Integriertes Konzept Ein Ziel, das durch ein integriertes Konzept des Ingenieur-Büros Kuehn Bauer

Partner (München/Berlin) und der Geothermie Neubrandenburg GmbH und durch die

innovativen Lösungen des Planungsstabes derart überzeugend erreicht wurde, daß es

als beispielhaft gelten kann. Die Kombination von Solartechnik und mechanischen

Belüftungssystemen, einen hohen Anteil natürlichen Lichtes, der Nutzung des

Bodens als natürlichem Kälte- und Wärmespeicher, der Kraft-Wärme-Kopplung,

effizienter Blockheizkrafttechnik und des Rückgriffs auf nachwachsende

Energiequellen machen es möglich, den jährlichen CO2-Ausstoß des Reichs-

tagsgebäudes von rund 7.000 auf 1.000 Tonnen zu reduzieren " ohne Einbußen an

Komfort und Ästhetik. Im Gegenteil.

Funktionen der Kuppel Die 23 Meter hohe und 40 Meter breite Glaskuppel des Reichstagsgebäudes ist nicht

nur prägendes architektonisches und ästhetisches Element des neuen Bundestages.

Norman Foster hat die begehbare und öffentlich zugängliche Kuppel auch in das

einzigartige Energiekonzept integriert und sie darin zu einem wichtigen Element

gemacht. Zunächst ist das Schaufenster des Parlaments, von dem sich zugleich ein

überwältigender Blick auf das Berliner Stadtbild bietet, die wesentliche Lichtquelle

des Bundestages. Tageslicht fällt nicht einfach wie bei einem Fenster in den zehn

Meter unter der Kuppel liegenden Plenarsaal, der mit 1.200 Quadratmetern etwa

doppelt so groß ist wie der von Wallot gebaute und 1894 eingeweihte Plenarsaal des

Reichstages. An dem trichterförmigen, sich nach oben öffnenden Konus, der in der

Kuppel hängt, sind 30 Spiegelreihen mit jeweils zwölf Spiegeln befestigt, um

diffuses, nicht blendendes Tageslicht in den Plenarsaal umzuleiten. Bei besonders

starkem Sonnenschein kann ein Teil der insgesamt 360 Spiegel mit einer jeweiligen

Fläche von 4,20 mal 0,60 Meter durch einen mitfahrenden, computergesteuerten

Sonnenschutz abgedeckt werden. Damit wird gleichzeitig eine zu große Aufheizung

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verhindert und die für die Kühlung notwendige Energiemenge vermindert.

Um den Schattenspender richtig zu positionieren, kann sich der steuernde Computer

auf 24 Meßstellen stützen, die auch den Einstrahlwinkel des Sonnenlichts

berücksichtigen. Dieses Lichtsystem trägt dazu bei, den Energieverbrauch für die

elektrische Beleuchtung des Bundestages zu reduzieren. Zusätzlich energiesparend

wirken Dimmer, um auch bei Tag nur so viel Licht wie nötig zu nutzen.

Natürliche Be- und Entlüftung Zugleich dient die Kuppel aber auch der natürlichen und damit energiesparenden

Entlüftung des Bauwerks. Eine Idee, bei der Kuehn Bauer und Partner auf die

Vorarbeiten des Ingenieurs David Grove zurückgreifen konnten, der schon vor über

100 Jahren den thermischen Auftrieb für die Entlüftung des Reichstages ausgenutzt

hatte. Um das thermische Verhalten des Gebäudes zu untersuchen, hatte Grove

Langzeit-Heizversuche im Reichstag unternommen. Wie damals wird auch in

Zukunft das Parlamentsgebäude belüftet, wobei die Kuppel als höchster Platz des

Gebäudes, in dem sich die Luft sammeln kann, wieder die zentrale Rolle spielt.

Lemhoefer: "Die verbrauchte Luft wird über eine Abluftdüse nach oben geleitet und

entweicht durch eine zehn Meter breite zentrale Öffnung.î Diese liegt unscheinbar

wie ein Großteil der Haustechnik innerhalb des Konus, so daß die Entlüftung die

Besucher der Kuppel nicht stört oder belästigt. Doch selbst die Entlüftung dient noch

der Energieeinsparung. Im Konus versteckt ist eine Wärmerückgewinnungsanlage,

die der Abluft noch nutzbare Energie entzieht und für die Beheizung des Gebäudes

wieder nutzbar macht. Für die Versorgung des Gebäudes mit Frischluft hat Foster die

bereits von Wallot eingebauten Belüftungsschächte im gesamten Haus wieder

freigelegt. Gleichzeitig sind die neuen Fenster des Reichstagsgebäudes grundsätzlich

zur direkten Belüftung zu öffnen, trotz der Sicherheitsauflagen.

Lemhoefer: "Die Konstruktion der Fenster gleicht einer Doppelfassade: Hinter den

äußeren Fenstern liegt ein durchlüfteter Zwischenraum mit Sonnenschutz. Die

inneren Fenster lassen sich öffnen, so daß sich jeder Raum mit Frischluft versorgen

läßt.î Sensoren messen Luftqualität und Raumtemperatur und steuern die

Lüftungsklappen und die unterstützende mechanische Lüftung. Bei

Luftverschlechterung und bei extremen Temperaturen im Sommer und Winter wird

die Fensterlüftung durch mechanische Lüftung, ergänzt durch Wärmerückgewinnung,

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ersetzt.

Bio-Blockheizkraftwerke Nahezu einzigartig in der Bundesrepublik ist das Herzstück des beispielhaften

Energiekonzepts. Zwei ausschließlich mit Biodiesel (verestertes Pflanzenöl, PME)

betriebene Blockheizkraftwerke im Reichstagsgebäude und im benachbarten

Alsenblock liefern nicht nur Strom und Wärme für das Plenargebäude und die

naheliegenden Parlamentsneubauten Marie-Elisabeth-Lüders-Haus (Wissenschaft-

licher Dienst, Bundestagsbibliothek), Paul-Löbe-Haus (1.200 Räume für Abge-

ordnete und Sitzungssäle) und Jakob-Kaiser-Haus (2.000 Räume für Abgeordnete,

Fraktionen und Bundestagsverwaltung). Durch das Vorkommen von Solewasser

unter dem Reichstagsgebäude kann die überschüssige Abwärme, die während der

Verbrennung entsteht, gespeichert und später genutzt werden. Von der eingesetzten

Energie geht deshalb nur wenig verloren.

Wärme- und Kältespeicher Ein Teil der Abwärme der Motoren wird im Sommer durch Absorptionskältemaschi-

nen genutzt und zur Kühlung der Gebäude eingesetzt. Der übrige Teil wird durch

Solewasser aufgenommen und gespeichert. Dazu wird das salzhaltige Wasser aus

einem Erdreservoir in etwa 300 Meter Tiefe unter dem Gebäude hochgepumpt, in den

Blockheizkraftwerken aufgewärmt und über einen zweiten Brunnen wieder in die

Erde geleitet. Dort kann das 70 Grad heiße Wasser bis zum Winter lagern und dann

zur Beheizung der Bundestagsbauten dienen. Ein zweites Wasservorkommen in 60

Meter Tiefe dient als Kältespeicher. Hier wird die Kühle des Winters aufgefangen

und für den Sommer gespeichert, um die Gebäude vor allem bei extremen

Temperaturen kühl und frisch zu halten.

Hervorragende CO2-Bilanz Daß die CO2-Bilanz der Bundesbauten im Spreebogen so hervorragend ausfällt, liegt

neben der intelligenten Konzeption auch daran, daß die beiden Blockheizkraftwerke

ausschließlich Pflanzenöl verbrennen. Während bei der Verbrennung von Gas und

Erdöl Kohlendioxid freigesetzt wird, das vor Tausenden von Jahren gebunden wurde,

binden die nachwachsenden Rohstoffe das in die Atmosphäre freigesetzte CO2.

Lemhoefer: "Deshalb belastet die Verbrennung von Pflanzenöl, im Gegensatz zu

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Erdöl oder Erdgas, die Umwelt nicht mit zusätzlichem CO2.î Dabei nutzt der

Bundestag vor allem Pflanzenöl aus nachwachsenden Rohstoffen. Die Verbrennung

in Blockheizkraftwerken ist zudem durch direkte Ausnutzung der Abwärme erheblich

effizienter als im Großkraftwerk. Die Bilanz der Blockheizkraftwerke und der über

300 Quadratmeter großen Solarstromanlage auf dem Dach des Reichstagsgebäudes

ist entsprechend außergewöhnlich. 82 Prozent des Strombedarfs im Reichstag und

den benachbarten Parlaments- bauten können durch die überschaubaren Anlagen

gedeckt werden. Nur in Spitzenzeiten muß Strom zusätzlich aus dem Netz bezogen

werden. Die Abwärme der Blockheizkraftwerke deckt durch Kraft-Wärme-Kopplung

zugleich 90 Prozent des Wärme- und Kältebedarfs. Der Anteil regenerativer

Energiequellen für die Strom-, Wärme- und Kälteerzeugung liegt bei über 80 Prozent.

Werte, die im wesentlichen auch für das Bundeskanzleramt mit seinem Biodiesel-

Kraftwerk und seiner Anbindung an die Langzeitwärme-Speicher gelten. Die

Solespeicher im Märkischen Sand unter dem Reichstagsgebäude sind so groß, daß

auch noch die Regierungszentrale an das Energiesystem angeschlossen werden kann.

Doch welcher Staatschef, der zu Gesprächen ins Kanzleramt kommt, wird wohl

ahnen, daß die gemütliche Wärme aus natürlichem Pflanzenöl stammt?

Auftrag und Kosten (Stand: 29.07.1998)

Planung und Auftrag Der Beschluss, dass das Reichstagsgebäude Sitz des Deutschen Bundestages werden

sollte, war vorwiegend eine politische Entscheidung. Vorausgegangen war auf die

Einladung der damaligen Bundestagspräsidentin eine Diskussionsrunde mit mehr als

300 Historikern, Architekten, Politikern und Publizisten aus dem In- und Ausland. In

der Fachwelt herrschte weitgehend Übereinstimmung, dass unter Würdigung seiner

historischen wie auch künftigen Bedeutung als "Herz der Republik" eine

Einfachsanierung des Gebäudes nicht vertretbar sei. Eine solche "Pinselsanierung"

hätte schon 200 Millionen DM gekostet. Empfohlen und durchgeführt wurde ein

"Realisierungswettbewerb", zu dem 80 namhafte Architekten Entwürfe einreichten.

Drei Wettbewerbsteilnehmer kamen in die engere Wahl. Der Auftrag zum Umbau

ging schließlich an den britischen Architekten Sir Norman Foster.

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Kosten Sir Norman Foster erhielt für Planung und Ausführung die strikte Auflage, dass die

gesamten Kosten für das Bauvorhaben, einschließlich Kuppelbau, aller Nebenkosten

und Honorare 600 Millionen DM nicht übersteigen dürften. Im Frühjahr 1999 wurde

das fertiggestellte Gebäude dem Deutschen Bundestag übergeben. In diesen vier

Jahren sollten die Umbaukosten also jährlich zwei DM für jede Bürgerin und jeden

Bürger betragen. Für das gesamte Projekt galten selbstverständlich die Richtlinien für

die Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführ-

ung von Bundesverwaltungen, auf deren Einhaltung der Bundesrechnungshof im

Auftrag des Deutschen Bundestages achtet.

Die Kuppel Im Stadtbild unverkennbar: Die neue Kuppel des künftigen Parlamentssitzes

Nach dem Entwurf von Sir Norman Foster und in Kooperation mit Fachingenieuren

hat der moderne Dachaufbau des Parlamentssitzes seine endgültige Gestalt ange-

nommen. Die rund 23 m hohe und 40 m breite Kuppel aus Stahl und Glas dient der

natürlichen Belichtung und Belüftung und ist begehbar. Die Arbeitsgemeinschaft

Reichstagskuppel, bestehend aus den Unternehmen Waagner-Biró AG, Wien,

Waagner-Biró GmbH, München, Götz GmbH - München/Wien/Dillingen - hatte sich

erfolgreich bei der europaweiten Ausschreibung durchgesetzt und die Kuppel bis auf

wenige Restarbeiten fertiggestellt.

Unter den vielen Möglichkeiten, dem Reichstagsgebäude wieder einen signifikanten

Dachaufbau zu geben, hatte sich der Ältestenrat des Deutschen Bundestages im

Frühjahr 1995 für die moderne Version einer Kuppel entschieden. Sie ist von der

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Dachterrasse aus über eine Rampe öffentlich zugänglich und versorgt und den

Plenarsaal mit modernster Belichtungs- und Beleuchtungstechnik.

Besucher haben seit der Aufnahme der parlamentarischen Arbeit im Reichstags-

gebäude im Jahre 1999 Gelegenheit, den Parlamentssitz über das Westportal zu

betreten. Von hier aus bringen sie zwei Fahrstühle zur Dachterrasse, von der aus sie

das 24 m hoch gelegene Restaurant erreichen. Wer einen noch attraktiveren

Rundblick über Berlin auf 40 m Höhe genießen will, der gelangt zu Fuß über eine

Rampe zur 200 qm großen Aussichtsplattform im oberen Teil der Kuppel.

Die Kuppel - ein komplexes Gebilde aus Stahl, Glas und Technik 1997 diente ein Montagegerüst zum innenseitigen Einbau der beiden gegenläufigen

Rampen. Die in der Werkstatt vorgefertigten Rampenelemente wurden auf dem Dach

des Reichstagsgebäudes zusammengeschweißt und eingebaut. Danach folgten die

Stahlrippen und die Aussteifung durch 17 Horizontalträger. Nachdem die Aus-

sichtsplattform mit der Rampe und der Hauptkonstruktion verbunden war, konnte die

Konstruktion freigesetzt und das Hilfsgerüst demontiert werden.

High-tech in der Kuppel sorgt für natürliche Belichtung und Belüftung des

Plenarsaals Im Kuppelinneren befindet sich ein trichterförmiges Lichtumlenkelement (Konus)

mit Spiegeln, das diffuses Tageslicht in den zehn Meter tiefer gelegenen Plenarsaal

führt. Die Lichtumlenkung erfolgt über 30 Spiegelreihen mit jeweils 12 Spiegeln, so

dass insgesamt 360 Einzelspiegel (4,20 x 0,60 m) das Sonnenlicht reflektieren.

Zur Vermeidung direkter Sonneneinstrahlung können die jeweils der Sonne

zugewandten Spiegel bei Bedarf durch ein mitfahrendes Sonnenschutzelement

abgeschattet werden. Das Element besteht aus einem umlaufenden Stahlrahmen

sowie Aluminiumlamellen. Die computergestützte Steuerung für die Ausrichtung des

Sonnenschutzelements ist so konzipiert, dass die jeweiligen Einstrahlwinkel

entsprechend der unterschiedlichen Jahreszeiten berücksichtigt werden. 24

Messstellen überprüfen die Positionierung des Verschattungselements in Abhän-

gigkeit zum Sonnenstand.

Zusätzlich sorgt das Lichtumlenkelement durch Ausnutzung des thermischen

Auftriebs für die Abluftführung aus dem Plenarsaal. Die verbrauchte Luft wird über

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eine Abluftdüse nach oben geleitet und entweicht durch eine 10 m breite zentrale

Öffnung am Kuppelscheitel. Sämtliche funktionalen und technischen Einrichtungen

sind in den Konus integriert, so dass die gesamte Haustechnik, z. B. für die

Entlüftung und Entrauchung des Plenarsaals, für den Besucher nicht wahrnehmbar

ist.

Die Rampe Das Verbindungselement zwischen Dachterrasse und Aussichtsplattform stellen zwei

spiralförmige gegenläufige Rampen dar, die auf je 230 m Länge die Kuppel

erschließen. Sie beginnen um 180 Grad voneinander versetzt und werden bei einer

konstanten Steigung von 8 Grad an der Innenseite der Kuppel hochgezogen. Die

Kombination von sich ständig ändernder Krümmung, unregelmäßigem

Rampenquerschnitt und Verformungen durch Eigengewicht stellt an die Konstruktion

höchste Ansprüche.

Die Stahlkonstruktion Die Kuppel besteht aus 24 Hauptstahlrippen, die auf einem unteren Ringträger

aufgelagert sind und oben durch einen weiteren gefasst werden. Die Stahlrippen

haben einen Dreiecksquerschnitt, der im unteren Bereich konstant ist und sich bis

zum oberen Ringträger verjüngt. Die Horizontalaussteifung wird durch insgesamt 17

Stahlringe gebildet, die im gleichmäßigen Abstand an der Außenseite der

Hauptstahlrippe aufgesetzt werden. Die Horizontalprofile sind wesentlicher

Bestandteil der Fassade und dienen der Auflagerung der Verglasung sowie der

Aussichtsplattform.

Die Hauptfassade Die Verglasung der Kuppel (ca. 3000 qm) besteht aus 17 übereinander liegenden

Reihen von Glasscheiben (24 mm) mit jeweils 24 Scheiben (5,10 x 1,70 m). Die

einzelnen Reihen sind schuppenartig übereinander angeordnet. Die sich daraus

ergebenen Zwischenräume sind ebenfalls verglast. Zur besseren Durchlüftung der

Kuppel bleiben die unteren vier Reihen unverglast.

Eckdaten der Bauteile

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Kuppelhöhe: 23,5 m ab Dachterrasse, Gesamthöhe ab Straßenniveau: 47 m

(bei Architekt Wallot: 75 m einschließlich Laterne)

Kuppeldurchmesser: 40 m

Höhe Dachterrasse (Kuppelfußpunkt): 24 m über Gelände

Höhe Aussichtsplattform: 40,7 m (bei Architekt Wallot: 59 m)

Höhe Scheitel: 47 m

Stahlkonstruktion: 800 t

Verglasung: 3000 qm

An der Realisierung Beteiligte Architekt: Sir Norman Foster and Partners, Berlin/London

Statik: Leonhardt, Andrä und Partner, Berlin/Stuttgart

Fachplanung: Planungsgemeinschaft Technik GbR, Berlin

Ausführung: ARGE Reichstagskuppel - Waagner-Biró AG - Waagner-Biró GmbH,

Wien/München, Götz GmbH, Dillingen

Die Kuppel in neuem Licht (aus: Blickpunkt Bundestag - Forum der Demokratie

2/98; Juli 1998)

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Die Energieversorgungsanlage Wissenschaftliche Begleitung der Betriebsphase der mit Rapsölmethylester (RME)

befeuerten Energieversorgungsanlage des Deutschen Bundestages in Berlin

Im neuen Deutschen Bundestag im ehemaligen Reichstagsgebäude in Berlin (Abb. 1)

- im April offiziell dem Parlament übergeben - wurde ein sehr innovatives und

umweltfreundliches Energieversorgungskonzept realisiert. Wärme, Kälte und Strom

wird hier auf der Basis von mit Biodiesel (RME) befeuerten Motor-Heizkraftwerk-

Anlagen (MHKW) bereitgestellt. Außerdem sind - für einen möglichst

energieeffizienten Betrieb - im oberflächennahen Erdreich angelegte Wärme- und

Kältespeicher in das System integriert.

Das Reichstagsgebäude in Berlin

Bundesbaugesellschaft Berlin

mbH)

Das Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) hat in

Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Luftreinhaltung der Universität Stuttgart

(ALS) - vertreten durch das Institut für Verfahrenstechnik und Dampfkesselwesen

(IVD) und das Institut für Kunststoffprüfung und Kunststoffkunde (IKP) - und dem

Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren in Stuttgart sowie mit

finanzieller Förderung des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und

Forsten (BML) die Aufgabe übernommen, die ersten Betriebsjahre dieses

Energieversorgungssystems wissenschaftlich zu begleiten und bezüglich technischer,

ökologischer und ökonomischer Kriterien auszuwerten.

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Die Energieversorgungsanlage des Deutschen Bundestages in Berlin

Das Berliner Reichstagsgebäude als Sitz des Deutschen Bundestages und der

Bundesregierung sowie weitere, derzeit im Bau befindliche Parlamentsbauten im

Spreebogen werden zukünftig im Energieverbund - dem sogenannten Technik-

Verbund Parlamentsbauten - mit Strom, Wärme und Kälte versorgt.

Herzstück des Technik-Verbundes Parlamentsbauten sind zwei Motor-Heizkraftwerk-

Anlagen (MHKW), die mit Rapsölmethylester (RME, Biodiesel) befeuert und in

Verbindung mit einem Wärme- und einem Kälte-Erdspeicher betrieben werden

sollen. Insgesamt werden Deckungsgrade der MHKW-Anlage am

Gesamtenergiebedarf von mehr als 80 % angestrebt. Die MHKW-Anlage wird im

Endausbau eine elektrische Gesamtleistung von 3 200 kW aufweisen und an zwei

Standorten (Reichstagsgebäude und Paul-Löbe-Haus) mit jeweils vier Modulen

gleicher Leistung installiert werden. Die für den Reichstag vorgesehenen MHKW-

Module wurden bereits im Herbst 1998 installiert. Sie bestehen im wesentlichen aus

stationären Dieselmotoren, die für den Betrieb mit RME zugelassen wurden. Die

Abgasreinigung wird durch Rußfilter und SCR-Katalysatoren mit nachgeschalteten

Oxidations-Kata-lysatoren realisiert.

Die MHKW-Module werden stromgeführt betrieben. Der nicht durch die MHKW-

Anlage deckbare Strombedarf wird durch das Netz der BEWAG gedeckt, das zu-

gleich als Ausfallreserve dient.

Da die Wärmeerzeugung prozeßbedingt fest an die Stromproduktion gekoppelt ist,

kann - bezüglich der Deckung des aktuellen Wärmebedarfs - ein Wärmeüberschuß

bzw. ein -defizit vorliegen. Zur Zwischenspeicherung überschüssig anfallender

Wärme ist deshalb ein Aquifer-(d. h. Grundwasser-)Speicher in ca. 300 m Tiefe vor-

handen, in den die Wärme bei einer Temperatur von maximal 70 °C zwischen-

gespeichert und - im Bedarfsfalle - mit Temperaturen zwischen 65 und 20 °C zurück

gewonnen werden kann. Läßt die Temperatur der eingespeicherten Wärme eine

direkte Nutzung für Heizungszwecke nicht zu, wird sie mit Hilfe von drei auf

Wärmepumpenbetrieb umschaltbaren Absorptionskältemaschinen (d. h. unter Einsatz

von Wärme) auf ein höheres, für Heizungszwecke nutzbares Temperaturniveau

gebracht. Zusätzlich ist die Anlage mit Spitzenheizkesseln für einen RME-/Heizöl-

oder Erdgasbetrieb ausgestattet, die ein ggf. immer noch gegebenes Wärmedefizit

abdecken können und als Ausfallreserve (back-up-System) dienen.

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Der Grundlastkältebedarf kann zum einen mit Absorptionskältemaschinen gedeckt

werden; im Reichstagsgebäude wurde hierzu bereits eine derartige Anlage mit einer

Kälteleistung von 850 kW installiert. Zum anderen wird zukünftig eine weitere

Kälteerzeugungsanlage zum Einsatz kommen, die auf der Basis direkter

Verdunstungskühlung (Direct Evaporating Cooling, DEC) arbeitet und für deren

Betrieb ebenfalls Wärme benötigt wird. Zur Deckung des Spitzenkältebedarfs werden

zusätzlich Kompressionskältemaschinen installiert. Um den Betrieb dieser

Erzeugungsaggregate zudem vom Kältebedarf zu entkoppeln und damit einen

möglichst energieeffizienten Betrieb zu ermöglichen, wird Kälte bei Temperaturen

zwischen 5 und 10 °C in einer grundwasserführenden bodennahen Erdschicht in etwa

30 bis 60 Metern Tiefe während des Winters gespeichert, die dann im Sommer für die

Gebäudekühlung in der Grundlast verwendet werden kann.

Hintergrund und Ziele der wissenschaftlichen Begleitung

Die Energieversorgungsanlage im neuen Deutschen Bundestag weist damit eine

Vielzahl innovativer Aspekte auf; dies gilt insbesondere hinsichtlich der Tatsache,

daß erstmals RME in einer Anlage dieser Leistungsklasse und Komplexität eingesetzt

werden soll. Deshalb ist es sinnvoll, den Anlagenbetrieb hinsichtlich

betriebstechnischer, ökologischer und ökonomischer Kriterien wissenschaftlich zu

begleiten und die Erfahrungen, die insbesondere mit dem Betrieb der RME-be-

feuerten Anlagen gemacht werden, zu dokumentieren und auszuwerten. Deshalb

werden vom IER und der ALS innerhalb eines 2-jährigen Monitoringzeitraums im

wesentlichen folgende Aspekte untersucht (Abb. 2):

Die betriebstechnischen Auswirkungen des RME-Einsatzes werden durch die Er-

fassung, Analyse, Klassifizierung und Bewertung des Betriebsverhaltens und der

technischen Zuverlässigkeit der Anlage und ihrer Komponenten analysiert; u. a.

werden Verschleißmessungen an einem Motor der MHKW-Anlage im

Reichstagsgebäude durchgeführt.

Die Umwelteffekte von RME- im Vergleich zum Dieseleinsatz werden anhand einer

Vielzahl unterschiedlicher Abgaskomponenten, die vor Ort im Rahmen mehrere

Meßkampagnen gemessen werden, teilweise unter Berücksichtigung der vor- und ggf.

nachgelagerten Ketten erhoben. Zusätz-lich werden die Auswirkungen des RME-

Einsatzes auf die Energiebilanz der Anlage und ihrer Komponenten (Energieflüsse,

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Nutzungsgrade, Verlustquellen) durch die Erfassung, Bilanzierung und vergleichende

Bewertung der energetischen Daten der Anlage und ihrer Komponenten erfaßt.

Die ökonomischen Vor- und Nachteile des Einsatzes von RME im Vergleich zu

fossilen Brennstoffen in MHKW-Anlagen einerseits und im Vergleich zu einer

alternativen Bereitstellung von Wärme bzw. Kälte und elektrischer Energie

andererseits werden durch die Erfassung, Aufbereitung und Bewertung der Kosten

der Anlage im allgemeinen und des RME-Einsatzes im speziellen analysiert. Damit

ist es möglich, wissenschaftlich fundierte Aussagen zu den Möglichkeiten und

Grenzen des Einsatzes von RME für derartige stationäre Anlagen zur Wärme- und

Kälte- sowie Strombereitstellung zu erarbeiten. Auch können die gewonnenen

Erkenntnisse den Betriebsergebnissen alternativer Brennstoffe und konkurrierender

Anlagen gegenübergestellt und Schlußfolgerungen und Empfehlungen für die

Konzeption sowie für Bau und Betrieb ähnlicher stationärer Anlagen abgeleitet

werden.

Interessierte Anfragen und Anregungen richten Sie bitte an: Dipl.-Ing. Andreas Heinz, Tel.: 0711/78061-76, e-mail: [email protected]

Das Reichstagsgebäude: Symbol deutscher Geschichte von Wolfgang Kaiser

Wie kaum ein anderes deutsches Bauwerk spiegelt das Reichstagsgebäude die

wechselvolle Geschichte Deutschlands seit der Gründung des Kaiserreichs wider.

Auch wenn das Haus nur für die kurze Zeit der Weimarer Republik eine

Volksvertretung beherbergte, so ist doch das Bauwerk für viele das Symbol deutscher

Parlamentsgeschichte schlechthin.

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9. Juni 1884: Grundsteinlegung für das

Reichstagsgebäude.

Seit der Gründung des Kaiserreichs im Jahre 1871 gab es ein Parlament für alle

Deutschen, den Reichstag, dessen Abgeordnete aus allgemeinen (wahlberechtigt

waren bis 1919 allerdings nur Männer), gleichen, geheimen und direkten Wahlen

nach dem Mehrheitswahlrecht hervorgingen. Der Name Reichstag leitete sich ab von

der gleichnamigen Versammlung der Reichsstände des alten Reiches, die bis 1806 in

Regensburg getagt hatte.

Das Parlament des Kaiserreichs versammelte sich zuerst in einem schon vorhandenen

Gebäude, dann ab Oktober 1871 in einem als Provisorium errichteten Haus in der

Leipziger Straße. Niemand sah allerdings voraus, dass dieser Behelfsbau 23 Jahre

lang Parlamentssitz bleiben sollte. Noch im Frühjahr 1871 rief das Parlament eine

Reichstagsbaukommission ins Leben, die einen Bauplatz für einen repräsentativen

Neubau suchen sollte. Der in Aussicht genommene Ort an der Ostseite des

Königsplatzes (des heutigen Platzes der Republik) war jedoch noch mit dem Palais

des Grafen Raczynski bebaut, das aufgrund einer komplizierten rechtlichen Situation

zunächst nicht erworben werden konnte. Nicht zuletzt deshalb scheiterte ein erster

Architektenwettbewerb im Jahre 1872. Zehn Jahre später, als dieser Bauplatz dann

doch zur Verfügung stand, endete ein erneuter Wettbewerb mit der Vergabe des

ersten Preises an den Architekten Paul Wallot (1841-1912) aus Oppenheim.

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Das Reichstagsgebäude nach dem

Umbau.

Bei der feierlichen Grundsteinlegung am 9. Juni 1884, einem regnerischen Montag,

spielten die Vertreter des Parlaments eine untergeordnete Rolle. Der

Reichstagspräsident von Levetzow – in der Uniform eines Landwehrmajors der

Reserve – und die Vizepräsidenten waren zwar anwesend, durften aber die üblichen

drei Hammerschläge erst nach dem Kaiser und den Mitgliedern der kaiserlichen

Familie, nach Bismarck, nach den Generalfeldmarschällen und anderen wichtigeren

Personen ausführen. In die Vorbereitung des festlichen Aktes waren die Vertreter des

Parlaments ohnehin nicht einbezogen worden.

Als nach zehnjähriger Bauzeit am 5. Dezember 1894 der Schlussstein für das Haus

gelegt wurde, schwang zwar ein neuer Kaiser, Wilhelm II., den Hammer, am

höfischen und vor allem militärischen Charakter des Zeremoniells hatte sich aber

nichts geändert. Am Tag danach trat das Parlament zum ersten Mal in seinem neuen

Hause zusammen.

Den Mittelpunkt des neuen Baus bildete der reich geschmückte Plenarsaal für 397

Abgeordnete, dessen Wände aus akustischen Gründen ganz mit Holz getäfelt waren.

Die Intarsienarbeiten über der "Nein-Tür" und der "Ja-Tür" des Sitzungssaals zeigten

Rübezahl und den seine Widder zählenden einäugigen Riesen Polyphem aus der

griechischen Sage. Nach dieser Darstellung erhielt das parlamentarische Verfahren,

bei unklaren Abstimmungsergebnissen die Abgeordneten beim Durchschreiten der

Türen zu zählen , seinen Namen "Hammelsprung".

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Nach einer Bauzeit von zehn Jahren findet

am 5. Dezember 1894 die Schlussstein-

legung durch Kaiser Wilhelm II. statt. Die

Siegessäule stand damals noch vor dem

Reichstag.

Über dem Plenarsaal erhob sich die aus Metall und Glas gearbeitete große Kuppel,

deren höchster Punkt 75 Meter hoch aufragte. Durch die Glasdecke und die

Seitenfenster dieser Kuppel erhielt der Plenarsaal natürliches Licht.

Auch wenn das Parlament des Kaiserreiches nicht in der Lage war, die Regierung

wirksam zu kontrollieren, so bildeten sich doch im Laufe der Jahre Strukturen einer

Parlamentskultur heraus, auf denen die Weimarer Republik aufbauen konnte. Das

Reichstagsgebäude war Schauplatz des Ringens um die Parlamentarisierung des

Reiches und erlebte die wachsende Bedeutung der Fraktionen. In den Jahren des

Ersten Weltkrieges waren die "Friedensresolution" des Reichstags vom Juli 1917 und

die Verfassungsänderung vom Oktober 1918, wonach der Reichskanzler das

Vertrauen des Parlaments benötigte, markante Stationen dieser schrittweisen

Parlamentarisierung. Während des Krieges erst gab Kaiser Wilhelm II. seinen

Widerstand gegen die von Anfang an geplante Inschrift "Dem Deutschen Volke" auf,

sodass sie Ende 1916 angebracht werden konnte.

Am Ausgang des verlorenen Weltkrieges stand das Reichstagsgebäude dann erneut

im Mittelpunkt des politischen Geschehens: Vor einer unübersehbaren Menge

streikender Arbeiter rief am 9. November 1918 der sozialdemokratische

Fraktionsvorsitzende Philipp Scheidemann, auf einem Balkon an der Westfront des

Hauses stehend, die Republik aus und besiegelte damit das Ende der Monarchie.

Seine Worte sind nur aus seinen Erinnerungen überliefert: "Das Alte und Morsche,

die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche

Republik!"

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Das erste Parlament der Republik, die verfassungsgebende Nationalversammlung,

trat nicht im Reichstagsgebäude, sondern in Weimar, der Stadt der deutschen Klassik,

zusammen. Nach der Verabschiedung der Verfassung, im Herbst 1919, kehrte das

Parlament, in dem seit Januar auch weibliche Abgeordnete saßen, wieder nach Berlin

ins Reichstagsgebäude zurück.

November 1918: Während der ersten Tage

der Revolution tagt der Sicherheitsausschuss

des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates im

Lesesaal des Reichstags.

In der Arbeit des Parlaments der Weimarer Republik spiegelten sich die

Aufbruchstimmung, die neue Rolle der Parteien und Bewegungen, sehr bald aber

auch die außenpolitischen Folgen der Niederlage und die schwierigen politischen und

wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Jahre wider.

Durch das neue Verhältniswahlrecht war die Zahl der Volksvertreter nicht mehr auf

397 festgeschrieben, sondern hing direkt von der Wahlbeteiligung ab, sodass sich am

Ende der Weimarer Republik über 600 Abgeordnete im Plenarsaal drängten. Doch

auch schon im Kaiserreich hatte sich das gesamte Gebäude als zu klein erwiesen; vor

allem bot es zu wenig Büros und Arbeitszimmer für den wachsenden Bedarf der

Abgeordneten und Fraktionen. In einer zeitgenössischen Publikation über den

Reichstag findet sich eine beredte Klage eines fiktiven Abgeordneten über die

Zustände im Haus: "Was nützten ihm die herrlichen Malereien an den Wänden, die

feingeschnitzten Holzpaneele, die einzig schöne Aussicht auf den Königsplatz (...),

wenn er keinen leeren Stuhl fand und keinen freien Arbeitstisch zum ruhigen Lesen

und Schreiben?"

1927 und 1929 wurden zwei Wettbewerbe für Erweiterungsbauten auf einem

nördlich gelegenen Grundstück ausgeschrieben. Obwohl sich bedeutende Architekten

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daran beteiligten, kamen keine befriedigenden Ergebnisse zustande. Die sich

verschärfende Finanznot gegen Ende der Weimarer Republik verhinderte schließlich

jegliche Baumaßnahme.

Der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933

bedeutete das Ende der parlamentarischen

Demokratie in Deutschland.

Das Ende der Nutzung des Reichstagsgebäudes war gleichzeitig auch das Ende der

parlamentarischen Demokratie. In der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933, vier

Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, wurde der Plenarsaal durch

Brandstiftung zerstört. Die Frage nach der Täterschaft mag zwar bis heute strittig sein

– fest steht jedoch, dass die Nationalsozialisten die einzigen Nutznießer des Brandes

waren. Sie beschuldigten Kommunisten und Sozialdemokraten der Urheberschaft und

nahmen den Brand als Anlass, in derselben Nacht mit massivem Terror gegen die

Opposition vorzugehen. Am Tag nach dem Brand unterschrieb Reichspräsident

Hindenburg die so genannte Reichstagsbrandverordnung "zum Schutz von Volk und

Staat". Paragraph 1 dieser Verordnung setzte die Grundrechte "bis auf weiteres"

außer Kraft, Paragraph 5 führte die Todesstrafe für das politische Delikt "Hochverrat"

ein.

Der Reichstag kam nie wieder im Reichstagsgebäude zusammen, sondern traf sich

von nun an in der Kroll-Oper auf der anderen Seite des Platzes. Dort nahm der neue

Reichstag gegen die Stimmen der SPD am 23. März 1933 das so genannte

Ermächtigungsgesetz an, offiziell "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und

Reich" genannt. Damit entmachtete das Parlament sich selbst und gab Hitler

diktatorische Vollmachten. Innerhalb weniger Monate wurde auf der Basis dieses

Gesetzes das gesamte politische System der Republik "gleichgeschaltet", im Juli

1933 waren alle Parteien außer der NSDAP verboten.Von nun an saßen in der Kroll-

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Oper nur noch nationalsozialistische "Abgeordnete", deren Hauptaufgabe es war, für

große Hitlerreden eine pompöse Kulisse zu bilden, wie etwa am 1. September 1939,

als Hitler den Beginn des Krieges verkündete.

Die Kuppel des Reichstagsgebäudes wurde zwar nach dem Brand wieder instand

gesetzt, sodass das Haus äußerlich unversehrt wirkte, aber der Plenarsaal wurde, da

nicht mehr benötigt, nicht wiederhergestellt. Das Gebäude selbst diente der

Verwaltung und wurde unter anderem auch für Propaganda-Ausstellungen benutzt.

Das Reichstagsgebäude im Mai 1945: nur

noch eine Ruine.

1937 wurde Albert Speer als "Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt Berlin"

mit dem Umbau Berlins nach den Wünschen und Plänen Adolf Hitlers beauftragt. Im

Rahmen riesiger Baumaßnahmen, mit denen aus Berlin die "Welthauptstadt

Germania" werden sollte, war im Spreebogen eine gigantische Kuppelhalle geplant,

neben der das Reichstagsgebäude verschwindend klein gewirkt hätte. Auch für die

Umgestaltung des Hauses wurden bereits erste Pläne ausgearbeitet. Die Vorbereitung

des Krieges setzte dann allerdings andere Prioritäten. Im Krieg selbst waren in den

Kellern des Reichstagsgebäudes Teile der gynäkologischen Abteilung der Charité

untergebracht, sodass einige Berliner das Licht der Welt im Untergeschoss des

Reichstagsgebäudes erblickten.

In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges lag das Reichstagsgebäude im Zentrum

der Kampfhandlungen. Das Haus besaß für die Sowjets eine besondere Bedeutung, da

sie es – zu Unrecht – als Symbol der Naziherrschaft betrachteten. Am 2. Mai 1945

eroberten sowjetische Truppen nach heftigen Kämpfen das Haus, das dabei schwer

beschädigt wurde. Das millionenfach verbreitete Foto der sowjetischen Soldaten, die

auf dem Dach die rote Fahne hissten, symbolisierte für die Sowjets die Vollendung

ihres Sieges über Nazi-Deutschland.

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In den Jahren nach dem Krieg stand das Haus als Ruine in einer von Trümmern und

der zunehmenden Spaltung Berlins geprägten Stadtlandschaft. Die Grünflächen um

das Haus wurden bepflanzt und dienten der Versorgung der hungernden

Bevölkerung. Die Ruine bildete die Kulisse für eine Reihe von großen politischen

Demonstrationen, deren wohl bedeutendste sich am 9. September 1948 gegen die

Blockade Berlins richtete. Ernst Reuters Rede "Völker der Welt! Schaut auf diese

Stadt!" wurde in ihrer Emotionalität zum Sinnbild des Behauptungswillens der von

den Versorgungswegen abgeschnittenen Bevölkerung.

Zu Beginn der fünfziger Jahre wurde die Ruine enttrümmert, die Reste der Kuppel

wurden aus Sicherheitsgründen entfernt. Die Diskussion um das weitere Schicksal

des Baus – Abriss oder Wiederaufbau – war eng verknüpft mit der Frage nach der

zukünftigen Funktion des Hauses in einem geteilten Land.

1955 beschloss der Bundestag, das Gebäude wiederherstellen zu lassen, auch wenn

die Art der Nutzung des Gebäudes noch nicht feststand. Nach einem zulassungs-

beschränkten Architektenwettbewerb arbeitete Paul Baumgarten (1900-1984) die

Pläne für den Wiederaufbau des Hauses aus. Die Fassade wurde, dem Geschmack

dieser Jahre entsprechend, von allem "überflüssigen" Schmuck und Stuck befreit. Auf

die Kuppel verzichtete man und kürzte die vier Ecktürme um ein Geschoss. Im

Inneren ließ Baumgarten die noch vorhandene Originalsubstanz zum großen Teil mit

Platten verkleiden, schuf mehr Platz durch neue Zwischengeschosse und vergrößerte

den Plenarsaal, dessen Rundumverglasung Transparenz vermitteln sollte.

Während der Bauarbeiten schnitt die Errichtung der Mauer am 13. August 1961 das

Reichstagsgebäude endgültig von seiner alten Umgebung ab und ließ seine Randlage

deutlich werden. Wie überall, so stand auch zwischen dem Haus und dem

Brandenburger Tor die Mauer nicht direkt auf der Grenzlinie, sondern knapp

dahinter. Die exakte Grenze, die den alten Verwaltungsgrenzen entsprach, verlief

mitten durch die Säulen, die am Ostflügel dem Gebäude vorgebaut waren.

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Durch den Bau der Mauer am 13. August

1961 wurde Berlin geteilt. Die Grenze

verlief über Jahrzehnte unmittelbar entlang

des Reichstagsgebäudes.

Als das Haus zu Beginn der siebziger Jahre fertig gestellt war, hatte die

Entspannungspolitik zwar viele Erleichterungen für die geteilte Stadt gebracht,

zugleich aber die Präsenz des Bundes genauer geregelt: Plenarsitzungen des

Bundestages in Berlin waren seit dem Viermächteabkommen nicht mehr möglich. Es

fanden aber regelmäßig Sitzungen einzelner Fraktionen und Ausschüsse im Hause

statt. Zum hundertsten Jahrestag der Reichsgründung zog in den Westflügel die

später erweiterte Ausstellung "Fragen an die deutsche Geschichte" ein, die bis zu

ihrer Schließung im Herbst 1994 von mehr als zwölf Millionen Besuchern aus dem

In- und Ausland aufgesucht wurde.

Als Ende 1989 die Mauer geöffnet und Anfang 1990 auch hinter dem

Reichstagsgebäude abgerissen wurde, rückte das frühere Parlamentsgebäude nicht

nur geografisch wieder ins Zentrum, sondern gewann auch erneut eine gewichtige

politische Funktion. In der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 fand auf dem Platz der

Republik der Festakt zur deutschen Einheit statt; am 3. Oktober tagte ein erstes

gesamtdeutsches Parlament aus Bundestag und Volkskammer im Plenarsaal.

Am 20. Juni 1991 beschloss der Bundestag, seinen Sitz nach Berlin zu verlegen. Bald

wurde klar, dass das Reichstagsgebäude Mittelpunkt eines neu entstehenden

Parlaments- und Regierungsviertels werden sollte.

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Der Platz der Republik in der Nacht vom 2.

zum 3. Oktober 1990: Tausende erleben den

Festakt zur deutschen Einheit.

Nach einem Realisierungswettbewerb entschied sich der Ältestenrat des Bundestags

für den überarbeiteten Entwurf des britischen Architekten Lord Norman Foster.

Bevor der Rück- und Umbau des Gebäudes begann, gab der Bundestag grünes Licht

für die seit vielen Jahren von Christo und Jeanne-Claude geplante Verhüllung des

Reichstags. Die friedliche, entspannte Atmosphäre dieser Aktion im Sommer 1995

zog Millionen von Besuchern in ihren Bann und brachte dem Haus internationale

Beachtung. Zugleich wurde deutlich, dass ein neues Kapitel der Geschichte des

Reichstags beginnen konnte.

Seit April 1999 hat nun der Deutsche Bundestag das Gebäude bezogen, dessen innere

und äußere Gestalt sich grundlegend geändert hat. Nach wie vor bildet der Plenarsaal

das Zentrum des Hauses: fast doppelt so groß wie der wallotsche Sitzungssaal, von

Licht durchflutet und von der großartigen Kuppel bekrönt. So umstritten sie einmal

war, so sehr ist sie inzwischen zum Wahrzeichen des Hauses und zum

Anziehungspunkt für Besucher geworden.

Fosters Umbau hat nicht nur ein modernes Parlamentsgebäude geschaffen, sondern

zugleich durch die Integration der noch vorhandenen Bausubstanz dem

Reichstagsgebäude einen Teil seiner historischen Identität zurückgegeben.

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Die Parlamentarischen Geschäftsführer zum Reichstagsgebäude "Unschlagbare Atmosphäre"

Gut ein Jahr ist das Reichstagsgebäude jetzt Tagungsort des Bundestages. "Wir

wollen keine neue Ära, keine andere Republik, sondern einen möglichst

unaufgeregten, geradezu selbstverständlichen Wechsel von Bonn nach Berlin", gab

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Eröffnung des Reichstagsgebäudes

am 19. April 1999 als Richtung vor. Haben sich die Erwartungen erfüllt? Wie arbeitet

es sich im neuen Hohen Haus an der Spree? Und: Beeinflusst der historische Ort die

Politik? Bevor der Bundestag in die Sommerpause ging, sprach Blickpunkt

Bundestag darüber mit den Parlamentarischen Geschäftsführern der fünf

Bundestagsfraktionen, die als Manager ihrer Fraktionen entscheidend die

Parlamentsarbeit bestimmen und erleben.

Luftaufnahme der Baustelle Parlamentsviertel:

Wenn alles fertig ist, haben die Abgeordneten

ihre Büros direkt neben dem Reichstagsgebäude.

Ob ursprünglich Umzugsgegner oder Berlin-Befürworter – nach einem Jahr äußern

sich alle Geschäftsführer begeistert, zumindest positiv über das Reichstagsgebäude.

Natürlich gibt es nach wie vor Kritik an Kinderkrankheiten und Unzulänglichkeiten

im vom britischen Stararchitekten Lord Norman Foster umgebauten Reichstag – aber

auf das Gebäude selbst mit seiner längst zum Symbol für Offenheit und Transparenz

gewordenen Kuppel lassen die Parlamentarischen Geschäftsführer kaum etwas

kommen. Nahezu gleichlautend schwärmen sie vom neuen Standort, der ein Ort

deutscher Geschichte ist, aus der es "keinen Austritt gibt". Und zeigen sich überzeugt,

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dass sie als Sprachrohr und Interessenvertreter ihrer Fraktionen auch für die

überwältigende Mehrheit der 669 Bundestagsabgeordneten sprechen.

"Es macht Spaß, im Reichstagsgebäude zu arbeiten", freut sich Jörg van Essen,

Parlamentarischer Geschäftsführer der F.D.P.-Fraktion. Und ist geradezu stolz, wenn

er von seinem Sitz im Halbrund des Plenarsaales den Kopf nach oben wendet und die

zahlreichen Touristen in der Spirale der Glaskuppel sieht. "Es tut dem Parlament gut,

wenn ihm die Bürger im wahrsten Sinne aufs Dach steigen und den Abgeordneten

von oben auf die Finger gucken", meint er und spricht von einer exzellenten

architektonischen Gestaltung, über die er auch von Kollegen "viel Begeisterung"

höre. Nur eines stört van Essen: Der Blick aus dem Reichstagsgebäude auf den

"Klotz Bundeskanzleramt", das sich "gigantisch und protzig in bewussten Gegensatz

zum Parlament" setze.

Von einer "unschlagbaren Atmosphäre" im Plenarsaal spricht auch Wilhelm Schmidt,

Parlamentarischer Geschäftsführer der größten Regierungsfraktion SPD, auch wenn

er durchaus wehmutsvoll an den "schönen Blick aus dem Bonner Plenarsaal in den

Park hinein" zurückdenkt und auch sonst an dem Gesamtkomplex noch einiges zu

kritisieren hat. Ein "gelungenes Werk, in dem ich mich äußerst wohl fühle und

meiner Arbeit hervorragend nachgehen kann", lobt der Parlamentarische

Geschäftsführer des CSU-Landesgruppe Peter Ramsauer. Und sein CDU-Kollege

Hans-Peter Repnik schwärmt von den "dichten Kontakten", die sich täglich zwischen

Kuppel-Besuchern und Abgeordneten ergeben. Dass das Reichstagsgebäude mitten

im Zentrum Berlins stehe und zu einer "internationalen Attraktion" geworden sei,

unterscheide sich wohltuend von der "ausgelagerten Campus-Atmosphäre in Bonn".

Ähnlich urteilt die Parlamentarische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen,

Katrin Göring-Eckardt. Sie hebt die zentrale Lage des Reichstagsgebäudes hervor,

die ihn zu einer "Stätte der Kommunikation" mache. Etwas Wasser in den Wein

schüttet Roland Claus, Parlamentarischer Geschäftsführer der PDS. "Hervorragend

als Plenum geeignet, eingeschränkt tauglich als Arbeitsstätte der Fraktionen", lautet

sein Urteil über das Haus.

So sehr die Geschäftsführer vom Reichstagsgebäude allgemein angetan sind, so

kritisch werden sie, wenn es um konkrete Detailfragen geht. Zwar sind die meisten

der ursprünglich aufgelisteten 6.000 Anfangsmängel beseitigt, doch Ärgerlichkeiten

gibt es nach wie vor. Vieles im Hohen Haus sei nicht "Abgeordnetenfreundlich",

lautet die Klage. SPD-Geschäftsführer Wilhelm Schmidt spricht für seine Kollegen

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mit, wenn er sagt: "Der Architekt hat sich zu wenig Gedanken darüber gemacht, wie

Abgeordnete in der Praxis arbeiten. Es gibt kaum Arbeitsgelegenheiten im ganzen

Hause; es kann sich niemand mal kurz zurückziehen und telefonieren, faxen oder

schreiben. Wenn ein Kollege irgendetwas zwischendurch erledigen muss – was ja

sehr häufig vorkommt – muss er in sein Büro hinüberwechseln, was bei den langen

Wegen in Berlin unsinnig arbeitsaufwendig ist."

Fehlende Telefone, von denen man ungestört reden kann, flimmernde

Wandverkleidungen, die die Augen tränen lassen, nicht funktionierende Jalousien in

den Fraktionsbüros, Fahrstühle, die immer mal wieder stecken bleiben, eine

Klimaanlage, die nicht richtig läuft und eine Mikrofonanlage, mit der viele Redner

nicht zurecht kommen und die bei einem "Hammelsprung" auf der Rückseite des

Plenarsaales nicht zu hören ist – das sind weitere Klagepunkte der Parlamentarischen

Geschäftsführer. Keine leichtfertigen Meckereien, wie sie betonen, sondern Mängel,

die bei einem Bau dieser Wichtigkeit und dieser Umbaukosten (rund 600 Millionen

Mark) nicht hätten passieren dürfen. Wilhelm Schmidt: "Sicherlich gibt es überall

Anlaufschwierigkeiten, aber bei einem Prestige-Komplex wie diesem Haus mit

seinem hohen und teuren technischen Standard sind sie ein bisschen zu viel." Dem

stimmt Jörg van Essen zu. Er findet es noch immer "unmöglich", dass seine F.D.P.-

Fraktion schon nach kurzer Zeit ihren Fraktionssaal in einem der Türme des

Reichstagsgebäudes wieder aufgeben musste, weil er wegen schlechter Akustik für

die praktische Arbeit schlicht nicht zu gebrauchen war. Genauso erging es der PDS.

Ihr Geschäftsführer Claus: "Dass Fraktionsräume absolut unpraktikabel sind, hätte

nicht passieren dürfen."

Viele Mängel, das räumen die Parlamentarischen Geschäftsführer ein, werden ihre

Ärgerlichkeiten verlieren, wenn im nächsten Jahr die weiteren Parlamentsbauten in

unmittelbarer Nähe bezogen sein werden. Vor allem die räumlichen Engpässe, die es

jetzt noch gibt, sollen dann der Vergangenheit angehören. Sind erst einmal die

Abgeordneten in Steinwurf-Nähe zum Plenarbereich, hoffen die Geschäftsführer auch

auf eine noch dichtere Kommunikation untereinander. Hans-Peter Repnik: "Jetzt ist

das Gebäude ja noch ein Solitär. Aber wenn der Gesamtkomplex in Betrieb ist, wird

es hier sicherlich viel Leben geben."

Auch bei Abgeordneten geht die Liebe (zum Reichstagsgebäude) durch den Magen.

Gab es am Anfang heftige Klagen über die kulinarische Qualität im Hohen Haus, die

sich kurzzeitig sogar zu einem Buletten-Krieg ausweiteten, ist inzwischen

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Entspannung angesagt. "Das Essen im Restaurant und in der Cafeteria ist

zufriedenstellend", lautet das Urteil der Parlamentarischen Geschäftsführer, die

allerdings gestehen, aus Zeitmangel selbst nur selten den Weg an die

parlamentarischen Futterstellen zu finden. Einen bleibenden Mangel hat Roland

Claus (PDS) erspürt: Nirgends gebe es die (Ost-)Zigaretten "F 6".

Und wie steht es mit der Kunst, die im ersten Jahr so viel Staub aufgewirbelt hat?

Inzwischen haben sich die Wogen geglättet, nur der Erdtrog von Hans Haacke sorgt

noch für Aufregung. Viele Abgeordnete weigern sich, Erde aus ihren Wahlkreisen

mitzubringen, um im Trog Vielfalt sprießen zu lassen. Von ihrer Arbeit aber lassen

sich die Parlamentarier nicht mehr ablenken. "Die Erregung war künstlich und

vordergründig", sagt Wilhelm Schmidt. Sein F.D.P.-Kollege van Essen verteidigt das

Kunstkonzept im Reichstagsgebäude: "Ich finde die Entscheidung der

Kunstkommission, alle bedeutenden lebenden deutschen Künstler an der

Ausgestaltung teil haben zu lassen, hervorragend. Wo andere Parlamente alte Kunst

zeigen, erweisen wir uns als außerordentlich lebendige Volksvertretung."

Bleibt die Frage nach der Geschichte. Drückt die historische Last, die noch immer im

Gemäuer des Reichstagsgebäudes spürbar und etwa über die kyrillischen Graffiti an

einigen Wänden sichtbar ist? Den meisten Geschäftsführern ist stets präsent, dass

"das Reichstagsgebäude ein historisches Gebäude ist, das ein anderes Erleben zur

Folge hat" (van Essen). Aber nicht als störend, sondern eher verpflichtend wird dies

gesehen. Katrin Göring-Eckardt: "Die eigene Geschichte wird bewusster". In der

alltäglichen Arbeit überwiegen indes die jahrzehntelangen Erfahrungen rheinischer

Gelassenheit. Ganz im Sinne der Eröffnungsrede von Thierse: Keine neue Ära, keine

andere Republik. Sönke Petersen

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Geschichten aus der Kuppel und Kapitel aus dem Leben von Kathrin Gerlof

Besucher des Reichtagsgebäudes beim Abstieg

aus der Kuppel.

Tag für Tags steigen rund 8.000 Menschen dem Reichstag aufs Dach, um sich von

oben die Welt zu beschauen – ein wahres Volksvergnügen ist das, und genau so war

es gewollt.

"Sie sollten wirklich im Sommer nach Heidelberg kommen, junge Frau, was meinen

Sie, wie schön es dann dort ist. Also ich gehe bei jedem Berlin-Besuch auch in den

Reichstag, das gehört einfach dazu. Und die Kuppel selbstverständlich auch. Aber

man müsste ein Förderband bauen für unsereinen. Ich bin 76. Das schaff ich nicht

mehr, da hoch. Mich fotografieren? Da nehmen Sie mal lieber meinen Mann. Karl-

Heinz! Komm doch mal her, die junge Frau hier will ein Foto, sie schreibt einen Text

über die Kuppel.

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1951: Tümmerbeseitigung vor dem

Reichstag.

Oh ich bin gern in Berlin. Wir besuchen hier politische Seminare über die Geschichte

Deutschlands. Mein Mann – da kommt er ja – ist ein ganz treuer Staatsbeamter

gewesen. Und sein Freund da auch. Und jetzt sind wir im Bund der

Ruhestandsbeamten. Karl-Heinz, gib mir die Jacke, ohne Jacke siehst du besser aus

für das Foto.

Ja, diese Kuppel gefällt mir wirklich gut, junge Frau. Das können Sie schreiben. Nur

eben ein Förderband fehlt. So, da stehen die beiden nun. Ach, ein Polaroid

bekommen wir auch? Sehen Sie, das macht doch was her, Karl-Heinz und sein

Freund Manfred – einer von der Justiz und einer von der Polizei. So, junge Frau, jetzt

gehen wir noch in den Dom. Was wir hier gern für Musik hören würden? Ach wissen

Sie, Operette vielleicht. Die Fledermaus? Nein, die nun doch nicht. Die Inschrift am

Portal? Ja natürlich kennt man die. Ist ja schon vom weiten zu sehen. Und vergessen

Sie nicht: Heidelberg im Sommer lohnt sich." (Manfred Schroth und Karl-Heinz

Kühne)

Im Jahre 1894 – 23 Jahre waren seit dem Beschluss, in Berlin ein Haus für das

Parlament zu bauen, vergangen – fand die Schlusssteinlegung statt. Das Architrav

über dem Westportal allerdings hatte noch keine Inschrift. Und das, obwohl sich

Kaiser, Parlament und Reichstagsarchitekt Paul Wallot einig waren, dass da "etwas"

hin musste. Wilhelm II. hätte gern "Der Deutschen Einigkeit" dort stehen gehabt und

wäre damit ein halbes Jahrhundert später und dann für viele Jahrzehnte auf der Höhe

der Zeit gewesen. Die Reichstagsausschmückungskommission hingegen favorisierte

"Dem Deutschen Reiche" und der Architekt selbst bestand auf "Dem Deutschen

Volke". Aber das war des Kaisers Sache nicht. Bis zum Jahre 1915, da ihm sein

Unterstaatssekretär Wahnschaffe zur Kenntnis geben ließ, er, der Kaiser, verlöre mit

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jedem weiteren Kriegstag die Unterstützung des Volkes und es schiene

begrüßenswert, etwas gegen diesen Treueverlust zu unternehmen. Wahnschaffes

Rezept: Die Inschrift am Reichstag anbringen. Der Kaiser ließ ausrichten, einem

Beschluss des Parlamentes in diese Richtung würde er sich nicht mehr widersetzen

unter einer Bedingung: Die sechzig Zentimeter großen Lettern sollten aus zwei in den

Freiheitskriegen von 1813 erbeuteten Kanonen gegossen werden. Und so hatte seine

Exzellenz vorerst denn doch das letzte Wort.

Manfred Schroth und Karl-Heinz Kühne.

Er konnte damals nicht wissen und hätte es sicher nicht gut geheißen, dass eines

Tages der Eingang über das Westportal ins Hohe Haus jener sein würde, durch den

Tag für Tag das Volk kommt, um sich hoch oben in der neuen Kuppel des Lord

Norman Foster zu verlustieren. Er konnte nicht ahnen und hätte es nicht begrüßt, dass

sich in nur einem Jahr drei Millionen Menschen anschauen, wo ihr Parlament

arbeitet. Dass sie ihm mal kurz aufs Dach steigen, um von oben in alle vier

Himmelsrichtungen zu blicken und auf ganz unspektakuläre, aber sehr definitorische

Weise in die Realität umzusetzen, was die Inschrift im Architrav über dem

Westportal verheißt: Dem Deutschen Volke.

Sogar in den Wochen der Sommerpause werden es nicht weniger Menschen, die rein

wollen in die Kuppel. Auch nicht an einem etwas grauen Julitag, da der Wind heftig

in die Kleider fährt, wenn man den Fahrstuhl verlässt, der einen rauf bringt ins

gläserne Halbrund. Auch nicht, wenn der Himmel und hin und wieder ein Regenguss

verhindern, dass der Aufstieg über die Doppelhelix, die sich an der Innenwand der

Kuppel entlangschlängelt, zum perfekten Vergnügen wird. Weit kann man schauen,

auch ohne Blau am Horizont, aber bei Sonne stellt sich dann eben noch dieses

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erhabene Gefühl zu allen angenehmen Verwirrungen ein, die einen befallen, wenn

man das architektonische Wunder des britischen Meisters beläuft und erobert. An so

einem grauen Julitag, an dem der Siebenschläfer Schuld haben mag, kommen und

gehen sie, wie an allen anderen Tagen des Jahres. Weihnachten mag Ruhe sein. Das

wird man sehen.

Janessa Schwab (rechts) und Freundin.

"Wir sind das erste Mal in Berlin und kommen aus München. Welche Worte mir als

erstes hier oben einfallen? Offen, extravagant, innovativ, modern. Ich finde es gut,

dass hier alles offen ist. Die Leute wollen sehen, wo die Abgeordneten arbeiten. Das

mag vielleicht ein wenig komisch klingen, aber man hat so mehr Kontakt zu den

Parteien. Wir machen im nächsten Jahr Abitur. Berlin ist ja wirklich ziemlich groß.

Also im Gegensatz zu München – riesig. Einfach riesig. Hier Musik zu hören ist

eigentlich keine schlechte Idee. Klassisch kommt sicher gut. Oder Soul. Ja, vielleicht

sogar Soul." (Janessa Schwab)

Nachdem der Kaiser widerstrebend aber doch sein Plazet gegeben hatte, sollte alles

schnell gehen. Den Auftrag für den Guss der siebzehn Buchstaben erhielt die

Bronzegießerei Loevy. Aus einem Spandauer Depot wurde ihr die Geschützbronze

noch im Herbst des Jahres 1916 geliefert. Gleichzeitig tobte ein erbitterter Krieg

zwischen den Gelehrten, für welche Schrift man sich nun entscheiden möge.

Anhänger der Fraktura kämpften gegen Verfechter der Antiqua. Vergebliche

Liebesmüh, denn längst war der Auftrag für die Schrift an den Architekten Peter

Behrens, einen der Wegbereiter der Moderne in Deutschland, vergeben worden.

Behrens bediente sich der Schrift, die er für den Katalog des Deutschen Hauses auf

der Weltausstellung des Jahres 1904 in St. Louis entwickelt hatte, formte sie aus und

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lieferte die Vorlagen an die Brüder Albert und Siegfried Loevy, die zu arbeiten

begannen. 25 Jahre später wird deren Bronzegießerei "arisiert" sein, 28 Jahre später

der Sohn des Albert Loevy mit dem 49. Osttransport nach Auschwitz gebracht.

Das Schicksal der Brüder Albert und Siegfried ist unbekannt.

Wer heute die Doppelhelix hinauf- und wieder hinabgestiegen ist, verweilt meist

noch einige Zeit in der Kuppel, um Bilder anzuschauen, die im Kreis um den

verspiegelten Kegel in der Mitte des Raumes angeordnet sind. Man wirft einen Blick

ins Dachrestaurant oder schaut an diesem Julitag zu, wie das Restaurant "Käfer"

kleine Imbissstände aufbaut, an denen, so war zu hören, SlowFood, zelebriert werden

soll. Vielleicht gar keine schlechte Idee, denn Zeit ist da oben – unter Glas und über

Stein – ganz anders bemessen. Langsam schieben sich Frauen, Männer, Kinder an der

runden Bildergalerie entlang, die historische Momentaufnahmen auf einen Zeitstrahl

montiert, viele Kostbarkeiten dabei, so die Fotos von Erich Salomon, der einst, bevor

auch er in Auschwitz umkam, die bis dato starre Protokollfotografie revolutionierte,

indem er das Protokoll strich und den Menschen ins Blickfeld rückte.

"Vielleicht kommt er ja", sagt ein Zehnjähriger zu einem kleinen Mädchen, das auf

Knien unter die Doppelhelix kriecht, um einen Blick nach draußen zu werfen. "Wer

denn?", fragt sie. "Na der mit den dunklen Haaren, der Schröder." "Ach, den

Kanzlerchef meinst Du", sagt das Mädchen und lächelt. "Der hat doch jetzt Urlaub."

Joana und Ursula Schümer.

"Ein Foto", sagt die Frau zu ihrer Tochter. "Das ist doch witzig, lass uns das machen.

Wir geraten immer in solche Situationen. Ich komme gerade aus Spanien und

besuche meine Tochter und mein Enkelkind hier. Oh ja, diese Inschrift über dem

Portal, die kennt doch jeder. Wenn ich hier ein Konzert hören könnte? Also, das

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können Sie jetzt auffassen, wie Sie wollen, aber ich würde da gern Wagner hören."

"Zucchero", sagt die Tochter. "Das ist doch ein guter Kontrast – Wagner und

Zucchero." (Joana und Ursula Schümer)

In den Vorweihnachtstagen des Jahres 1916 wurde die Aufschrift ohne große

öffentliche Resonanz am Architrav des Westportals angebracht. Nur die "Spandauer

Zeitung" nahm in einer Bildzeile von dem Ereignis Notiz, aber von nun an blieben

die Worte, wo sie waren, überstanden den Reichstagsbrand und auch den Beschuss

durch sowjetische Artillerie im Jahre 1945. Zwei Buchstaben fielen diesen Stunden,

da erbittert um jeden Quadratzentimeter des Gebäudes gekämpft wurde, zum Opfer.

"DEM .EUTSCHEN .OLKE" war im Mai 1945 an der Reichstagsruine zu lesen und

vorerst stand Dringenderes an, als ein bronzenes D und ein bronzenes V.

Wer die Kuppel betritt, wirft zuallererst einen Blick nach oben, schätzt den Weg ab

und die eigenen Kräfte ein. Die praktischen Frauen tragen festes Schuhwerk und sind

gerüstet für den Aufstieg, den sich kaum jemand entgehen lassen will. Manche

Männer testen das Licht erst mit, dann ohne Sonnenbrille, nehmen ihren Frauen die

Handtaschen ab, die sie sich umhängen, machen noch schnell ein Beweisfoto, für das

sie Frau und Kinder so postieren, dass der Effekt garantiert ist, später die Familie vor

den Spiegeln und in den Spiegeln auf dem Bild zu haben.

David Schwalm.

"Ich finde die Kuppel schön, aber die früher war schöner. Ich mag einfach Glas nicht

so. Deshalb. Aber drinnen ist es wirklich schön. Ich bin in der siebten Klasse.

Besonders viel wusste ich nicht über die Geschichte. Jetzt weiß ich mehr, nachdem

ich mir das angeschaut habe hier. Musik – da würde ich wahrscheinlich Rock hören

wollen. Klingt bestimmt gut hier." (David Schwalm)

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1951 fanden sich vor dem Reichstag Trümmermänner ein. Es gibt ein Foto, wo

zwanzig von ihnen unter dem Schriftzug "DEM .EUTSCHEN .OLKE" stehen und

zuversichtlich in die Kamera schauen. Die Polizei schickte sie an jenem Tag allesamt

wieder nach Hause. Arbeiten am Gemäuer war noch zu gefährlich – Einsturzgefahr

allenorten. Aber schönes Wetter war.

An diesem Julitag im Jahre 2000 geschieht es doch hin und wieder, dass die Sonne

kommt. Dann schauen für einen Moment alle zum Himmel. "Hey, die Sonne", sagen

die Optimisten. "Aber da hinten ist der Himmel schwarz", monieren die Pessimisten.

Dann wenden sie sich wieder den Bildern zu, die im Kreis angeordnet sind. "Erwin",

ruft ein älterer Mann, "jetzt biste am Ende, lauf nicht noch mal um die Fotos, wir

wollten doch auf den Gendarmenmarkt."

"Wir sind aus Gütersloh. Meine Frau war ja schon öfter hier im Reichstag. Ich bin

das erste Mal da. Also schön ist die Kuppel, aber das schreiben Sie mal nicht, das ist

ein zu triviales Wort. Lichtdurchflutet passt besser. Die Kuppel macht den Blick frei.

Sie ist imposant, wirklich. Findest Du nicht auch?"

Uta und Jens Kemper.

"Doch, imposant ist schon das richtige Wort. Ich bin mit meinem Mann durch das

Westportal gekommen. Wissen Sie, wenn man vom Westen her kommt, finde ich,

denkt man immer zuerst an Einheit. Vom Brandenburger Tor aus wird man mehr an

die Zeit der Trennung erinnert. Die Inschrift? Nun, hier werden die Entscheidungen

getroffen, die dem Volk dienen sollen. So ist das sicher gemeint. Wenn ich hier

Musik hören könnte – das sollte dann die ,Ode an die Freude' sein. Ein schöner

Gedanke. Das mit der Musik." (Uta und Jens Kemper)

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So seltsam es scheinen mag, niemand weiß heute mehr genau, wann die Inschrift über

dem Westportal wieder vervollständigt wurde. Es muss zwischen 1957 und 1959

geschehen sein, kurz bevor der Bau der Mauer den Reichstag endgültig und für lange

an den Rand der Stadt verdammte und von der Mitte Berlins separierte. Geschichte

das alles. Heute gehen die Menschen mit großer Selbstverständlichkeit ins Hohe

Haus, unter der Inschrift hindurch, rauf in die Kuppel, die den Blick frei macht und

Lust darauf, zu schauen und zu hören, wie es mal war.

"Juhu", trillert eine Frau und blickt nach oben, wo ihre Freundin steht und winkt.

"Bring was mit, wenn Du wieder runter kommst."

Das Reichstagsgebäude und seine historischen Orte Jahresringe der Geschichte

Kurz nach der Eroberung auf dem Dach des

Reichstages: Sowjetische Soldaten halten die

Rote Fahne (Luftaufnahme).

Das Reichstagsgebäude, ein Ort, an dem Politik gemacht wird, über die später in

Geschichtsbüchern nachgelesen werden kann, ist auch ein Ort, an dem die

Jahresringe der Geschichte ablesbar sind. Der Verlauf der deutschen Geschichte,

außerhalb der Plenardebatten des Parlaments, schlug sich an diesem Handlungsort in

besonderer Weise nieder, ist ablesbar geblieben und kann nachvollzogen werden.

Erinnert sei zunächst an die Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann. Der

Verlauf des 1. Weltkrieges mit seinen Materialschlachten, die hohe Zahl der

Menschenopfer, die katastrophale Ernährungssituation ließen in breiten Kreisen der

deutschen Bevölkerung das Vertrauen in die kaiserliche Regierung schwinden, sie

verlor die Unterstützung und damit die Legitimität ihres Handelns. Die Situation

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spitzte sich im November 1918 zu. Aus einer Revolte der Matrosen in Kiel

entwickelte sich die Revolution, die ihren wesentlichen Schauplatz in Berlin hatte.

9. November 1918: Philipp Scheidemann,

Vorsitzender der sozialdemokratischen

Reichstagsfraktion, ruft die Republik aus.

Der Westbalkon Die Massen bewegten sich am 9. November 1918 in Berlin zwischen dem Schloss,

dem Sitz des Kaisers, der Wilhelmstraße, dem Sitz der Reichsregierung und dem

Reichstag hin und her. Eine Entscheidung reifte heran und musste getroffen werden.

Die Macht lag auf der Straße. Die Mehrheit wollte unter den Bedingungen des

Kaiserreiches nicht mehr leben, und von den Regierenden ging keine Lösung der

Probleme mehr aus; sie waren handlungsunfähig geworden. In der Luft lagen zwei

Lösungsmöglichkeiten, einerseits eine ungezügelte Übernahme der Macht durch

einen Militärputsch und anderseits ein Aufstand durch die äußerste Linke nach

sowjetrussischem Vorbild. Zwischen den Extremen war zu wählen.

Philipp Scheidemann, einer der beiden Vorsitzenden der SPD und Mitglied des Rates

der Volksbeauftragten, wagte am Nachmittag des 9. November 1918 den ent-

scheidenden Schritt. Er sprach spontan zu der vor dem Reichstagsgebäude versam-

melten Menge vom Westbalkon (zweites Fenster nördlich des Portikus) und rief die

Republik aus.

Seine Rede ist in verschiedenen Versionen, die inhaltlich gleichlautend sind, über-

liefert. Er selbst hat sie 1930 in seinen Memoiren nach der Erinnerung veröffentlicht.

Er sagte u.a.: "Arbeiter und Soldaten! Furchtbar waren die vier Kriegsjahre.

Grauenhaft waren die Opfer, die das Volk an Gut und Blut hat bringen müssen. Der

unglückselige Krieg ist zu Ende. Das Morden ist vorbei. Die Folgen des Kriegs, Not

und Elend werden noch viele Jahre lang auf uns lasten... Seid einig, treu und

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pflichtbewusst! Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es

lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik!"

Es war ein gewagter Schritt, der nicht sofort die Zustimmung der politisch

Handelnden fand, aber der Weg zur parlamentarischen Demokratie war damit gelegt.

Die politische Führung in Deutschland hatte sich auf die Parteien verlagert, die

kaiserliche Macht war gebrochen und der Weg der Extreme verworfen.

Als Handlungsort der Geschichte wurde das Gebäude durch den Brand am 27.

Februar 1933 in aller Welt bekannt. Das Bild des brennenden Reichstags ging um die

Welt. Die an die Macht gekommene Regierung Hitler nutzte mit der "Verordnung

zum Schutz von Volk und Staat" vom 28. Februar diesen Brand und beseitigte die

Grundlage des Rechtsstaates. Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933

wurde die parlamentarische Staatsform beseitigt und die Diktatur der Nazis

ausgeformt.

Teil des alten Rohrleitungsganges, der bei den

Umbauarbeiten gefunden wurde.

Der unterirdische Gang Die Spuren des Brandes wurden erst in den 60er Jahren beseitigt. Bei den

Umbaumaßnahmen in den 90er Jahren wurde der Rohrleitungsgang, der einst unter

der Straße hinter dem Reichstag zum Palais des Reichstagspräsidenten (heute Sitz der

Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft) führte, gefunden. Er wurde als

archäologischer Fund gesichert. Der Legende nach sollen SA-Angehörige durch

diesen Gang in das Reichstagsgebäude eingedrungen sein, um das Haus in Brand zu

setzen. Bewiesen werden konnte es nicht. Ein Teil des Heizungsgangs ist bei den

Bauarbeiten herausgesägt worden und wurde in der Fußgänger-Unterführung im

Berliner Parlamentsviertel, auf dem Weg vom Reichstagsgebäude zum Jakob-Kaiser-

Haus, aufgestellt. Er soll an diesen Brand erinnern und zugleich an Marinus van der

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Lubbe, der als Brandstifter vom Reichsgericht in Leipzig durch ein nachträglich

erlassenes Gesetz zum Tode verurteilt wurde.

Spuren der Geschichte: kyrillische Schriftzeichen

im Reichstagsgebäude.

Die Graffiti der sowjetischen Soldaten Der Reichstag als international bekanntes Bauwerk stand in der Zeit der NS-

Herrschaft weitestgehend ungenutzt. Das markante Gebäude stellte in der

Schlussphase des Zweiten Weltkriegs ein geographisches Ziel, einen Endpunkt des

Krieges dar und wurde deshalb vor allem von der sowjetischen Propaganda genutzt.

Zunächst zeigten die Plakate und Bilder das Brandenburger Tor als

Ziel, dann aber in der Schlussphase des Krieges das Reichstagsgebäude. Es war zwar

in der NS-Zeit bedeutungslos geworden, hatte aber einen hohen Symbolwert und war

durch seine Größe und seine Lage hervorgehoben. Die Schlacht um Berlin begann am

21. April 1945, der Kampf um den Reichstag am 30. April 1945. Erst am 2. Mai 1945

wurde das Gebäude endgültig erobert. In den Tagen danach wollte sich jeder, der

dazu Gelegenheit fand, gerade in diesem Gebäude verewigen, seinen Namenszug

oder eine Botschaft hinterlassen als Ausdruck des Sieges. Auch dies eine Spur der

Geschichte, die zum Teil erhalten werden konnte.

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Der sowjetische Marschall Shukow schrieb in seinen Erinnerungen: "... Jeder Schritt,

Boden, jeder Stein zeugten besser als alle Worte davon, dass es im Vorgelände der

Reichskanzlei und des Reichstages wie in den Gebäuden selbst einen Kampf auf

Leben und Tod gegeben hatte. Den Mauern des riesigen Gebäudes hatte die mittlere

Artillerie nichts anhaben können, sodass schwere Kaliber hatten aufgefahren werden

müssen. Dabei konnte der Gegner von der Kuppel und den anderen massiven

Aufbauten aus das ganze Vorfeld bestreichen."

Schlichte Kreuze erinnern an die Menschen, die

an der Berliner Grenze beim Fluchtversuch aus

der DDR getötet wurden (Aufnahme von 1986).

Die Rote Fahne auf dem Reichstag So wurde das Gebäude Zeichen für den Beginn und das Ende der NS-Herrschaft,

ohne in dieser Zeit selbst eine große Rolle gespielt zu haben. Wichtig wurde das

Hissen der Roten Fahne. Der sachliche Hintergrund war folgender: In den Kämpfen

um die Stadt hatten die sowjetischen Soldaten ein relativ wirkungsvolles Zeichen für

die Markierung der von ihnen eroberten Ziele angewandt. Jedes Ziel hatte eine

bestimmte Nummer, war es erreicht, hatte eine Rote Fahne dies zu signalisieren, um

in der unübersichtlichen, zerstörten Stadt Orientierung darüber zu erhalten, welchen

Teil der Stadt man bereits erobert hatte.

So war es auch beim Reichstag, allerdings hier mit der besonderen Betonung des

geographischen Endpunktes. Mehrere Gruppen trugen eine derartige Fahne, um

sicher zu stellen, dass eine das Gebäude auch wirklich erreichte.

Nach der Eroberung des Gebäudes wurde die Rote Fahne auf dem östlichen

Hauptgesims des Gebäudes angebracht, von zwei sowietischen Soldaten gehalten und

aus der Luft fotografiert. Dieses Foto ging um die Welt, zeigte es doch das Ende des

Krieges in Europa an. Die Fahne auf dem Reichstag war mehr Symbol als

tatsächliches Geschehen. Tatsächlich wurde schließlich eine Rote Fahne auf dem

Südostturm des Reichstages angebracht. Die Wochenschau-Aufnahmen, die in vielen

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Dokumentarfilmen gezeigt werden, sind in den folgenden Tagen nachgestellt worden.

Sie sind aber wegen ihres Zeitgeistes von hohem Wert.

Im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus bleibt ein Teil

der Mauer als mahnendes Zeichen erhalten.

Die Mauer Das Gebäude des Reichstages lag nach dem Ende des Krieges an der Grenze

zwischen Ost und West in der Stadt, am Scheidepunkt der Welt. Es stellte durch die

Lage an dieser markanten Stelle der Stadt wiederum ein Symbol dar; ein Symbol der

Spaltung Deutschlands, der Zerrissenheit der politischen Verhältnisse und der

anhaltenden Perspektivlosigkeit; ein Zustand, der nur langsam verändert werden

konnte. Der Wiederaufbau der Ruine in den fünfziger und sechziger Jahren zeigte die

langsame Veränderung der Situation.

Mehr und mehr, zuerst unmerklich, aber dann 1948 und vor allem nach dem 13.

August 1961 immer deutlicher, stand der Bau aufgrund seines Standorts unmittelbar

an der Grenze im Mittelpunkt aller Auseinandersetzungen. Die Grenze zwischen den

beiden Berliner Verwaltungsbezirken Mitte und Tiergarten war Teil des sensibelsten

Ortes der Welt geworden. Zwei hochgerüstete Militärblöcke standen sich

misstrauisch beobachtend gegenüber. Jede Bewegung wurde kontrolliert, jeder Fehler

des Einen konnte Fehlreaktionen des Anderen auslösen, und das hätte Krieg bedeutet.

Hinter dem Reichstagsgebäude stand die Mauer, und als diese Grenze im November

1989 fiel, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch an dieser Stelle dieses

hässliche Bauwerk verschwand.

An mehreren Stellen wird konkret an die Mauer erinnert. Auf ihrer Westseite war aus

privater Initiative ein Gedenkhain entstanden, der an die jungen Menschen erinnern

soll, die an der Grenze in Berlin auf dem Weg in die Freiheit ihr Leben verloren

hatten. Schlichte Kreuze halten ihre Namen für die Nachwelt fest. Zwischen

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Brandenburger Tor und Reichstagsgebäude bis zur Spree ist der Mauerverlauf

außerdem mit einer Steinmarkierung auf der Straße und auf dem Ebertplatz

gekennzeichnet.

Ferner bleibt ein Stück der Mauer in den neuen Bundestagsbauten erhalten. Die Reihe

der Neubauten für Parlament und Regierung überquert als "Band des Bundes" die

Spree, die hier bis 1990 die Grenze bildete. Die Architektur symbolisiert so das

Zusammenwachsen der einst geteilten Stadt als Ausdruck der Überwindung der

Spaltung. Dabei wird im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, das östlich der Spree im

Entstehen ist, auch die ehemalige Grenzanlage überbaut. An der Originalstelle wird

in diesem Neubau als mahnendes Zeichen ein Teil der "Hinterlandsicherungsmauer"

einbezogen und so eine weitere Spur der Geschichte bewahrt.

Das vom Bundestag genutzte Reichstagsgebäude zeigt sich den Abgeordneten und

den Besuchern als Symbol der deutschen Geschichte und des Parlamentarismus, aber

durch die ablesbaren Spuren auch als "Zeitzeuge" der Geschichte. Laurenz Demps

Respekt vor den Spuren der Geschichte Blickpunkt Bundestag-Interview mit dem Londoner Architekten des

Reichstagsumbaus, Lord Norman Foster Das Gespräch führte Falk Jaeger.

Blickpunkt Bundestag: Lord Norman, was bedeutet es für einen

britischen Architekten, vom Deutschen Bundestag mit dem Bau

des Herzstücks des deutschen Parlamentarismus beauftragt zu

werden?

Lord Norman Foster: Es ist eine hohe Ehre, es ist ein

unglaubliches Privileg, eine außergewöhnliche Gelegenheit und

eine große Herausforderung.

Wäre so etwas auch in England möglich?

Nein, es wäre unmöglich. Obwohl ich glaube, dass sich in Großbritannien in letzter

Zeit einiges geändert hat. Es gab einmal eine Zeit, in der es undenkbar gewesen wäre,

dass ein Ausländer mit einer solchen nationalen Bauaufgabe betraut worden wäre. In

Deutschland und in anderen europäischen Ländern hat es diese Tradition gegeben,

dass Wettbewerbe für ausländische Architekten offen waren. Diese Haltung ist sehr

spät nach Großbritannien gekommen. Heute gibt es Beispiele wie die Schweizer

Architekten, die die Tate Gallery umbauen, es gibt spanische und deutsche

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Architekten, die bei uns erfolgreich sind, zum Beispiel Günter Behnisch, der einen

bedeutenden Wettbewerb in Bristol gewann. Großbritannien macht also in dieser

Beziehung einen interessanten Wandel durch.

Hat man das Beispiel Deutschland vor Augen, wo ja Architekten aus aller Herren

Länder ihre Visitenkarten abgeben?

Zwangsläufig hat man von Deutschland gelernt, denn diesen Weg zu verfolgen heißt,

den von Deutschland vorgezeichneten Weg gehen. Es ist jedenfalls sehr

ungewöhnlich, wenn nicht einmalig, einen solchen Parlamentswettbewerb

auszuschreiben, der allen deutschen Architekten offen steht, einschließlich 14

eingeladenen Teams aus dem Ausland, und diesen in zwei Stufen völlig

unvoreingenommen durchzuführen. Doch inzwischen ist man auch in Großbritannien

weiter, und Bauten für beide Kammern und für Regionalparlamente werden ebenfalls

international ausgeschrieben – hier hat das Vorbild Berlin Schule gemacht.

Darüber hinaus gibt es in Deutschland ein soziales ökologisches Gewissen jenseits

der Arbeit der grünen Parteien und man diskutiert alle Fragen der Umweltverträg-

lichkeit von Architektur auf einem hohen Niveau.

Wie sind Sie mit dem enormen symbolischen Gehalt des historischen Reichstags-

gebäudes umgegangen?

Wenn man dem Gebäude vollkommen unvoreingenommen gegenübertritt und ohne

Abstriche all seine historischen Schichten, all die Spuren der Vergangenheit freilegt,

wird man der Versuchung widerstehen, Geschichte zu erfinden, Capriccios oder

falsche Historismen hinzuzufügen. Viel eher wird man eine neue historische Schicht

aufbringen, diesen jüngsten Eingriff, der das neue, aus der Wiedervereinigung

erwachsene Parlament repräsentiert.

Dieser Umstand wurde übrigens auf höchst interessante Weise von Christo

hervorgehoben. Mit dem Auspacken begann auch der Abriss der Zutaten aus den

sechziger Jahren und der nachfolgende Neu-Ausbau. Und in diesem Stadium konnte

übrigens noch niemand ahnen, was hinter den Wandverkleidungen der sechziger

Jahre zum Vorschein kommen würde.

Was bedeutet es für Sie, ein historisches Gebäude umzubauen, welchen Wert messen

Sie der Baugeschichte, dem Denkmalschutz zu?

Der Respekt vor den Spuren der Geschichte, vor jeder Lebensphase eines Gebäudes,

entspricht der Wertschätzung der Stadt und der Integration eines Neubaus in eine

Stadt, die bereits aus verschiedenen Stilen, verschiedenen Baualtern, Spuren

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verschiedener Epochen der Vergangenheit mit jeweils einer eigenen Identität geprägt

ist. In diesem Sinne ist der Reichstag wie eine Stadt im Kleinen. Deshalb sehe ich

keinen Unterschied zwischen dem Bauen in einem historischen Gebäude und der

Arbeit an einem neuen Gebäude in einer historischen Stadt. Die Elemente, die wir

hier sehen, die wir gestaltet haben, respektieren die Vergangenheit, aber sie sind

kompromisslos modern. Die Vorstellung, dass man beim Entwerfen in einem

historischen Gebäude historistische, postmoderne Formen beisteuern müsse, ist mir

fremd.

"Die Kuppel: Sie unterscheidet sich von

jeglichen anderen Gebäuden irgendwo auf der

Welt und gehört einfach zum Reichstag."

1961-1972 hat Paul Baumgarten schon einmal den Reichstag ausgebaut – in einer

Architektursprache, die von der Ihren nicht weit entfernt ist. Die Berliner Architekten

lieben ihren Baumgarten. Gab es denn keine Chance, wenigstens Teile seiner Arbeit

zu erhalten?

Über diese Angelegenheit wurde ein Werturteil nicht nur von einer isolierten Gruppe

gefällt. Wir haben sehr mühsame, ernsthafte Anstrengungen unternommen, Teile der

alten Ausstattung zu erhalten. Aber wenn man die Bedingungen betrachtet, unter

denen das hätte geschehen können, was hätte man tun müssen? Wenn man

beispielsweise beschlossen hätte, einen Raum oder einen Teilraum zu erhalten, hätte

man ihn komplett demontieren müssen, um den Asbest ausbauen zu können, der sich

hinter den Verkleidungen befand. Dann jedoch, wenn Sie einen Baumgarten der

sechziger Jahre nach Bauaufnahmen rekonstruieren, ist es dann noch ein Baumgarten

der sechziger Jahre?

Sie sind nicht gerade als ein Architekt bekannt, der kodierte Architektur im Sinne von

Historismus oder Postmoderne bauen würde. Haben Sie symbolische Bezüge bei

Ihrer Arbeit am Reichstag bewusst vermieden? Was ist zum Beispiel mit der Kuppel

und ihrer Bedeutung?

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Die Silhouette des Gebäudes kann etwas anderes gar nicht sein als ein Symbol des

Reichstags. Sie kann aber auch als dreidimensionales Objekt beschrieben werden, als

plastische Form, als Skulptur, man kann ihr schlechterdings nicht entrinnen. Sie

unterscheidet sich von jeglichen anderen Gebäuden irgendwo auf der Welt und gehört

einfach zum Reichstag.

Aber der symbolträchtige Bau steht auch für die Ökologie und für die Philosophie des

Gebäudes, für die Beziehung zwischen Volk und Volksvertretern, für die

Transparenz des Gebäudes zum Nutzen jener, die als Abgeordnete hierher kommen

und das Haus in Beziehung zur Stadt und zur weiteren Umgebung erleben können.

Der Symbolgehalt der Kuppel kann auch nicht getrennt werden von der

Entwurfsidee, dass in ihr Tageslicht tief in das Herz des Gebäudes hineingezogen

wird, dass sie den Blick von oben in den Plenarsaal ermöglicht, dass sie umgekehrt

wie ein Leuchtturm wirkt und Signale aussendet vom Prozess der Demokratie.

Ebenso wenig kann er getrennt werden vom natürlichen Belüftungssystem des

Gebäudes und dessen aerodynamischer Wirkungsweise. All diese Dinge verkörpert

die Architektur, Dinge, die wir quantifizieren können, und solche, die man nicht

quantifizieren kann.

Sie möchten nicht gerne als Technokrat oder High-Tech-Architekt bezeichnet

werden. Auf welche Weise haben Ihre Bauten auch eine poetische Dimension?

Ich habe über die poetische Dimension bereits gesprochen. Wie will man auch in

anderen Worten den Strom aus Sonnenlicht beschreiben, der sich in den Plenarsaal

ergießt? Wenn man einen Trichter aus 360 Spiegeln formt, gewinnt die Poesie bei der

Abwägung die Oberhand. Ich kann nur immer wieder betonen, dass Architektur aus

Dingen besteht, die man messen kann, und aus solchen, die sich nicht messen lassen,

die nach anderen Gesichtspunkten ausgewählt, nach ästhetischen Kriterien beurteilt

werden. Ansonsten hätten wir nur eine gedeckte Box mit einer leeren Geste oben

drauf, die keine Beziehungen zu anderen Werten besitzt. Es geht also um die

humanen Werte der Architektur.

Im neuen Bundestag dominiert ganz eindeutig die wenig aufregende "Naturfarbe"

Grau in allen Tönungen von beige bis mattsilbern. Welche Bedeutung messen Sie der

Farbe bei?

Das Bauwerk ist in allen Belangen radikal – es lässt sich kaum etwas Radikaleres

denken als ein öffentliches Gebäude dieser Größenordnung, das durch vollständig

erneuerbare Energien versorgt wird, das ein solch ungezwungenes Verhältnis zur

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Öffentlichkeit hat, das an der Spitze der technischen Entwicklung steht und

gleichzeitig tief in der Geschichte verwurzelt ist. Doch wir mussten einräumen, dass

wir in Bezug auf die Farbe zu wenig radikal vorgegangen sind. Wir fragten uns

plötzlich, warum wir die Farben nicht mutiger eingesetzt haben. Wir sprachen über

historische Schichten in der Architektur. Warum konnten wir nicht dafür Farbe

einsetzen? Ich denke an die historische Schicht der Wandpaneele, hinter denen ja die

fortschrittliche Technik steckt, die Akustikdienste, die Sicherheitstechnik, hier wäre

doch die Gelegenheit für Farbe gewesen. Wir haben Farben eingesetzt, bei den Türen,

der Rest war grau und silber, es gab nicht den Knalleffekt eines schreienden Gelbs,

eines Giftgrüns oder eines kräftigen Rots. Wir waren also herausgefordert. Und wenn

Sie heute aufs Dach gehen und Sie sehen die Dachterrasse und Sie sehen das

Restaurant mit den roten Wänden – ich finde das fantastisch. Und ich sehe es und

sage: "Junge Junge, noch nie haben wir Farbe in dieser Weise eingesetzt." Farbe ist

eine neue Dimension, doch ich würde nicht weitergehen und intellektualisieren und

sagen, Gelb ist Symbol für dies, Rot ist symbolisch für jenes und hat die

unterschwellige Bedeutung einer Partei, oder eine andere Farbe ist die einer anderen

Partei, nein, so ist es nun doch nicht.

Lord Norman, wir danken für das Gespräch.

Kunst für das Reichstagsgebäude von Andreas Kaernbach

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Ein 21 Meter hohes Rechteck aus

farbemaillierten Glasflächen in den

Nationalfarben Schwarz, Rot und Gold hat

Gerhard Richter für die Eingangshalle des

Westportals geschaffen.

Seit das Reichstagsgebäude am 19. April 1999 als Plenargebäude des Deutschen

Bundestages seiner Bestimmung übergeben wurde, kann der Besucher des Deutschen

Bundestages nicht nur dessen von Lord Foster entworfene Architektur bewundern,

sondern auch eine Reihe von Kunstwerken, die in- und ausländische Künstler und

Künstlerinnen für das Parlamentsgebäude geschaffen haben. Für diese Kunst-am-

Bau-Werke stand ein bestimmter Prozentsatz der Bausumme zur Verfügung. Bei der

Entwicklung des Kunstkonzeptes, das alle drei Parlamentsbauten,

Reichstagsgebäude, Paul-Löbe-/Marie-Elisabeth-Lüders-Haus sowie das Jakob-

Kaiser-Haus, übergreift, ließ sich der Kunstbeirat des Deutschen Bundestages von

Kunstsachverständigen in Abstimmung mit den Architekten und der

Bundesbaugesellschaft Berlin mbH beraten.

Entsprechend diesem Kunstkonzept fanden für die Ausgestaltung des

Reichstagsgebäudes, das durch seinen besonderen historischen und politischen Rang

ausgezeichnet ist, Werke international anerkannter Künstlerpersönlichkeiten

Berücksichtigung, darunter, als Reverenz an den ehemaligen Vier-Mächte-Status von

Berlin, Werke von Künstlern aus den USA, Frankreich und Russland. Großbritannien

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ist durch den Architekten Foster vertreten. Zu Entwürfen aufgefordert wurden

insbesondere Künstler, die bereit waren, sich mit diesem Ort und seiner Geschichte

produktiv auseinander zu setzen. Im Bereich des Jakob-Kaiser-Hauses und des Paul-

Löbe-/Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses hingegen sind als Ergebnis der

Kunstwettbewerbe und der Vergabeverfahren überwiegend jüngere Künstlerinnen

und Künstler beauftragt worden.

In der Westeingangshalle des Reichstagsgebäudes wird der Besucher von Arbeiten

von Sigmar Polke und Gerhard Richter empfangen. Beide Künstler standen vor der

schwierigen Aufgabe, jeweils über 30 Meter hohe Wände auszugestalten. Gerhard

Richter hat ein Farbkunstwerk von 21 Meter Höhe und 3 Meter Breite in den Farben

Schwarz-Rot-Gold entworfen. Die Farben werden auf die Rückseite großer

Glastafeln aufgetragen und erinnern – nicht ohne Hintersinn – an die Farben der

deutschen Bundesflagge. Aber sowohl das hochrechteckige Format als auch die

spiegelnden Glasflächen machen deutlich, dass es sich nicht um die Abbildung einer

Flagge handelt, sondern um ein autonomes Farbkunstwerk. So ist es Gerhard Richter

gelungen, mit sparsamen künstlerischen Mitteln eine zurückhaltende und gerade

dadurch überzeugende künstlerische Gestaltung zu finden. Die großen homogenen

Farbfelder sind harmonisch auf die Ausmaße der Wandfläche abgestimmt und bieten

so in der riesigen Halle dem Auge des Betrachters einen optischen Ruhepunkt und

zugleich geistigen Raum für vielfältige Assoziationen und Reflexionen.

Christian Boltanski schuf für das Untergeschoss

am Osteingang 1999 das "Archiv der Deutschen

Abgeordneten": 5.000 Metallkästen, beschriftet

mit den Namen aller Reichs- und

Bundestagsabgeordneten, die zwischen 1919 und

1999 demokratisch gewählt wurden.

Sigmar Polke hingegen installiert an der gegenüberliegenden Wand der

Westeingangshalle Leuchtkästen mit heiter-ironischen Bildzitaten aus Politik und

Geschichte, so u.a. mit einer Darstellung des "Hammelsprungs" oder mit einer

verfremdeten Ansicht der Germania des Niederwalddenkmals. Seine Arbeit

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verdichtet historisch-politische Aussagen auf mehreren Leuchtkästen an der großen

Wandfläche in zweifacher Hinsicht: Einmal nehmen die Leuchtfelder einen relativ

kleinen Raum ein. Zum Anderen wird in ihnen durch eine in der Wirkung der

Holographie vergleichbare Technik – die der Vorliebe Sigmar Polkes zum

Experimentieren mit ungewohnten Maltechniken entspricht – die optische Täuschung

hervorgerufen, dass sich die einzelnen Bildmotive bewegen und übereinander

verschieben, vergleichbar den historischen Erinnerungen, die sich bei Menschen im

Laufe eines Lebens oder im Laufe von Generationen gedanklich überlagern. Auf

diese Weise bezieht Polke auch formal eine Gegenposition zu der ruhigen, eher

statisch wirkenden Arbeit von Gerhard Richter.

Für die Südeingangshalle wiederum greift Georg Baselitz in großformatigen

Leinwandgemälden Motive des Malers der Romantik Caspar David Friedrich auf.

Auch in diesen Bildern hat er, wie er es seit Ende der sechziger Jahre zu tun pflegt,

seine Motive auf den Kopf gestellt, um die formale Gestaltung der Komposition in

den Vordergrund zu stellen. Als Vorlage haben ihm Holzschnitte nach Caspar David

Friedrichs Motiven "Die Frau am Abgrund", "Melancholie" und "Der schlafende

Knabe am Grabe" gedient, die er in einer leichten und transparenten Malweise seiner

künstlerischen Ausdrucksweise anverwandelt hat. Das jeweilige Motiv wiederholt

sich vielfach in einer bordürenartigen Einfassung der Mittelfigur. Diese wird

magentafarben hinterfangen und dadurch schwerpunktartig hervorgehoben. Die

gleichsam im Wesenlosen schwebenden Mittelfiguren ebenso wie die nur in Grau-

und Schwarztönen gehaltenen Rahmenfiguren erwecken im Betrachter eine

melancholische Gestimmtheit.

"Tisch mit Aggregat" von Joseph Beuys,

entstanden 1958/85, befindet sich vor dem

Abgeordnetenrestaurant.

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Carlfriedrich Claus, ein in der ehemaligen DDR in die innere Emigration gedrängter

Künstler, ist mit seinem "Aurora-Experimentalraum" vertreten. Der Künstler hatte

noch kurz vor seinem Tod die Installation seiner Arbeiten bestimmen können. Er

verstand sich selbst als überzeugten Kommunisten. Aber im Gegensatz zum

dogmatischen Schulmarxismus beharrte er so entschieden auf einem mystisch

verstandenen utopischen Charakter der Ideologie, dass er sich die Gegnerschaft des

SED-Regimes zuzog. Mit dem Aurora-Raum, der das Morgendämmern der Utopie

verkünden soll, will er seiner Sehnsucht "nach der Aufhebung des Entfremdetseins

von sich selbst, von der Welt und von den anderen Menschen" Ausdruck verleihen.

Carlfriedrich Claus hat seine vom Mystizismus, von der Kabbala und von

marxistischer Philiosophie geprägten Gedankengänge auf Pergament oder Glastafeln

sowohl auf deren Front- als auch auf deren Rückfläche notiert. Diese Schriftzüge

verengen, überschneiden sich fortlaufend zu Schriftgestalten, eigenen ästhetischen

Gestaltungen also, denen sowohl Schrift- als auch Bildcharakter eigen ist. Auf

Bildtafeln übertragen, ragen diese symbolhaften Zeichen, erwachsen aus

träumerischem Grübeln und poetischem Philosophieren, in den Raum. So hat

Carlfriedrich Claus einen ganz eigenen und sich jeder kunsthistorischen Einordnung

entziehenden Weg zwischen Poesie, Philosophie, Mystik und Schriftkunst gefunden.

"1840" von Markus Lüpertz spielt auf William

Turners Rheinreise in jenem Jahr an. Es ist

bündig in die Stirnwand des

Abgeordnetenrestaurants eingelassen.

Die umfassendste künstlerische Gestaltung im Reichstagsgebäude hat der

Düsseldorfer Künstler Günther Uecker vorgenommen. Ihm war die schwierige

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Aufgabe gestellt, ein zeitgemäßes sakrales Interieur für den Andachtsraum zu

entwerfen. Wenige Künstler dürften für diese Aufgabe so prädestiniert sein wie

Günther Uecker, der sich schon in einer Reihe bedeutender Arbeiten mit Fragen der

Gefährdung, der Hoffnung und der Rettung des Menschen beschäftigt hat. Ihm ist es

gelungen, auf der Grundlage theologischer Überlieferungen mit sparsamen

bildnerischen und architektonischen Ausdrucksmitteln einen Raum zu gestalten, der

zu Meditation und innerer Einkehr anregt. Durch den Einbau einer zur Seite hin

offenen Zwischenwand vor den Fenstern führt Uecker das Licht indirekt in den

Raum, der auf diese Weise die mystische Aura einer frühmittelalterlichen Krypta

gewinnt. Er erhält seine Akzentuierung durch kraftvolle skulpturale Elemente, wie

den Altar aus sandgestrahltem Granit, durch eigens entworfene Stühle und Bänke

sowie durch sieben hohe Holzbildtafeln, die in leichter Schräge an die Wände gelehnt

sind. Auf diesen Tafeln hat Uecker mit Nägeln, Farbe, Sand und Steinen eine

bildnerische Gestaltung vorgenommen. Die Tafeln visualisieren die Wüsten im

Heiligen Land als dem Geburtsort jüdisch-christlicher Spiritualität. Tod und

Auferstehung werden zu eindrucksvollen suggestiven Bildern verdichtet.

Den Sitzungsraum für eines der wichtigsten parlamentarischen Gremien, den

Ältestenrat, hat der Stuttgarter Künstler Georg Karl Pfahler gestaltet. Farbige

Rechtecke scheinen, mit einer geschickten optischen Täuschung inszeniert, von den

Wänden herabzufallen, ja geradezu über die Holzpaneele des Architekten

hinwegzutanzen. Souverän reagiert der Künstler auf die vorgegebenen starkfarbigen

Holzpaneele und setzt ihnen ein durchdachtes eigenes Farbkonzept entgegen, das

vom Gegen- und Miteinanderspielen der Farben, ihrer Überlagerung und

Weiterentwicklung lebt und auf diese Weise eine eigene Farbräumlichkeit schafft.

Durch Pfahlers spezifisch süddeutschen Akzent ist das Reichstagsgebäude um einen

heiter-festlichen Raum reicher geworden.

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Der "Aurora-Experimentalraum" von

Carlfriedrich Claus soll das Morgendämmern der

Utopie verkünden.

Im Gegensatz zu der umfassenden Weltschau von Carlfriedrich Claus wendet sich die

amerikanische Künstlerin Jenny Holzer – in bewusster Beschränkung – der

Geschichte des Reichstagsgebäudes zu. Sie lässt in der Nordeingangshalle auf einer

Stele digitale Leuchtschriftbänder mit Reden von Reichstags- und

Bundestagsabgeordneten ablaufen. In der Kuppel schließlich informiert eine

Ausstellung über die Geschichte des Parlamentarismus, soweit sie sich im

Reichstagsgebäude abgespielt hat. In der Ausstellung werden bisher wenig bekannte

Fotos des berühmten Bildchronisten der Weimarer Republik, Erich Salomon, zu

sehen sein, die – nicht gestellt – einen Eindruck von der alltäglichen parlamen-

tarischen Arbeit im Reichstag der zwanziger Jahre vermitteln.

Weitere Künstler, darunter Katharina Sieverding mit der Gedenkstätte für die

verfolgten Reichstagsabgeordneten, zeigen mit ihren Kunstwerken im

Reichstagsgebäude einen lebendigen Querschnitt durch die aktuelle deutsche und

internationale Kunstszene. Entsprechende Werke schufen u.a. Christian Boltanski,

Ulrich Rückriem, Bernhard Heisig, Grisha Bruskin, Markus Lüpertz, Anselm Kiefer,

Gotthard Graubner, Jürgen Böttcher-Strawalde, Lutz Dammbeck, Emil Schumacher,

Rupprecht Geiger und Hanne Darboven. Von weiteren Künstlern erfolgten Ankäufe.

Erst nach der Sommerpause wird das Kunstprojekt von Hans Haacke für den

nördlichen Innenhof realisiert werden. Über die Frage der Realisierung dieses

Projektes hatte es eine spannende und kontroverse Debatte im Plenum gegeben

(Bericht Blickpunkt 4/2000).

Ein solch umfassendes und durchdachtes Kunstkonzept, wie es nunmehr im

Reichstagsgebäude besichtigt werden kann, stellt ein beeindruckendes Bekenntnis des

Parlamentes zur Kunst dar. Beide Bereiche, die Kunst und die Politik, nehmen auf

diese Weise die Chance wahr zu einem geistig inspirierenden Dialog.

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Zum Üben für zukünftige Kanzler: "Kleines

Kanzleramt" der Berliner Künstlerin Christine

Gersch auf dem Dach der Bundestagskita.

In Sichtweite des Reichstagsgebäudes liegt die Kindertagesstätte des Deutschen

Bundestages. Sie wurde vom Wiener Architekten Gustav Peichl gestaltet und ruft –

unmittelbar an der Spree gelegen – Assoziationen an ein elegant-verspieltes Schiff

wach. Spielen können sollen auch die Kinder in diesem Gebäude, und so wurde von

der Berliner Künstlerin Christine Gersch zusammen mit dem Architekten ein

besonders kindertümliches Kunstprojekt entwickelt. Auf dem begrünten Dach, von

dem aus das künftige Kanzleramt zu sehen ist, können die Kleinen durch eine Art

Kasperletheater klettern, das wie das am Horizont sichtbare Kanzleramt gestaltet ist.

Sie brauchen nicht am Zaun des echten Kanzleramtes zu rütteln, sie können gleich

selber Kanzler spielen – und der Kanzler kann ihnen dabei vom Kanzleramt aus

amüsiert zusehen. Ferner erweisen sich auf dem Dach der Kindertagesstätte vier

farbenfrohe Skulpturen, die Kobolde darstellen, als wahre Schutzgötter. Sie

akzentuieren nicht nur ästhetisch den Dachgarten, sondern hindern zugleich die

Kinder, gefährliche Dachschrägen hinaufzuklettern. So hat die Künstlerin mit leichter

Hand Politik und Kunst, Kinderspiel und Lebensernst vereint.

Kunstkonzept Reichstagsgebäude beschlossen Der Verwirklichung des alle drei Baukomplexe umfassenden Gesamtkonzeptes liegt

der Gedanke zugrunde, daß die Ausstattung dieser drei Baukomplexe des Deutschen

Bundestages in Berlin mit Kunstwerken sich nach der jeweiligen historischen oder

politischen Bedeutung der Bauten richten muß. Ein besonderes Augenmerk gilt der

Gestaltung des Reichstagsgebäudes, das aufgrund seiner wechselvollen und an

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Bezügen zum Schicksal der Deutschen so reichen Geschichte sowie durch den für die

parlamentarische Arbeit zentralen Plenarsaal den bedeutendsten Komplex darstellt.

Für dieses Bauwerk erhalten daher überwiegend deutsche Künstlerinnen und Künstler

von internationalem Ruf, nicht zuletzt aus den neuen Bundesländern, Gestaltungs-

aufträge, insbesondere solche, die sich bevorzugt mit Themen deutscher Politik und

Gesellschaft auseinandergesetzt oder diese sogar wesentlich mitbestimmt und geprägt

haben. Zugleich sind Künstlerinnen und Künstler aus den Ländern der ehemaligen

Vier Alliierten mit Aufträgen bedacht worden, weil die Anwesenheit dieser vier

Mächte in Berlin für die Geschicke der Stadt und des unmittelbar an der Mauer

liegenden Reichstagsgebäudes eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Die aktuellen standortbezogenen Kunstwerke werden ihre sinnvolle Ergänzung

finden durch vorhandene Kunstwerke aus der Kunstsammlung des Deutschen

Bundestages und eine Einheit "Geschichte parlamentarischer Arbeit im

Reichstagsgebäude in künstlerischen und zeitgenössischen Dokumenten".

Diesem Konzept folgend, sind bisher Gespräche mit folgenden Künstlerinnen und

Künstlern aufgenommen worden:

Georg Baselitz Christian Boltanski Grischa Bruskin

Hanne Darboven Rupprecht Geiger Anselm Kiefer

Gotthard Graubner Hans Haacke Bernhard Heisig

Jenny Holzer Markus Lüpertz Georg Karl Pfahler

Sigmar Polke Gerhard Richter Ulrich Rückriem

Emil Schumacher Rosemarie Trockel Günther Uecker

Das Kunstkonzept für das Reichstagsgebäude ist Bestandteil des Gesamtkonzepts der

Bauvorhaben des Deutschen Bundestags im Spreebogen. Für das Paul-Löbe- und das

Marie-Elisabeth-Lüders-Haus wählte der Kunstbeirat beschränkte Wettbewerbe bzw.

Kolloquien als Form der Vergabe. Hingegen liegt die Herausforderung, der sich die

Künstlerinnen und Künstler im Reichstagsgebäude stellen müssen, in der

Einbeziehung des bereits vorhandenen historischen Baubestandes, der

Einflußnahmen auf die Architektur Grenzen setzt. Daher bot es sich an,

Künstlerpersönlichkeiten direkt zu beauftragen, Werke für ausgewiesene Orte des

Parlamentssitzes zu konzipieren.

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Modell: Gestaltung des Andachtsraums im

Reichstagsgebäude von Günther Uecker

Auf Empfehlung der Sachverständigen wurde beschlossen, daß im Reichstags-

gebäude vornehmlich deutsche Künstlerinnen und Künstler vertreten sein sollen, die

mit ihren Werken nachhaltig das zeitgenössische internationale Kunstgeschehen

geprägt haben. Zugleich sollen Kunstschaffende aus den Ländern der ehemaligen

Vier Alliierten an der künstlerischen Ausgestaltung des Parlamentssitzes mitwirken.

Architekt Sir Norman Foster repräsentiert dabei Großbritannien. Ebenso sind

Frankreich durch Christian Boltanski vertreten (historische Installation), die USA

durch Jenny Holzer (Stele mit digitaler Leuchtschrift) und die ehemalige Sowjetunion

durch Grischa Bruskin (Reihung allegorischer Bildtafeln).

Ankäufe Darüber hinaus wird ein Teil der Kunst-am-Bau-Mittel für Ankäufe verwendet. So

sollen auf Wunsch des Kunstbeirats Arbeiten der folgenden Künstlern erworben

werden:

Gerhard Altenbourg Jürgen Böttcher-Strawalde Christo und Jeanne Claude

Carlfriedrich Claus Lutz Dammbeck Hermann Glöckner

Wolfgang Mattheuer Walter Stöhrer

Von Gerhard Altenbourg , einem der bedeutendsten oppositionellen Künstlern in der

DDR, soll ein Landschaftschaftsaquarell aus dem Jahr 1953 angekauft werden.

Von Jürgen Böttcher-Strawalde , der in Dresden eine Gruppe oppositioneller Maler

um sich scharte, zu denen der Maler A.R. Penck gehörte, und der als Filmemacher

und Performer die traditionellen Abgrenzungen der Kunstgattungen überwand, sollen

drei Gouachen angekauft werden.

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Eine 1986 farbig angelegte Zeichnung von Christo und Jeanne Claude zur

spektakulären Verhüllung des Reichstagsgebäudes soll angekauft werden. Das

Projekt wurde in zwei Jahrzehnten von den Künstlern vorangetrieben und konnte

schließlich, nicht zuletzt durch das Engagement der damaligen Bundestags-

präsidentin, Prof. Dr. Rita Süssmuth, realisiert werden.

Carlfriedrich Claus , mit dem kurz vor seinem Tod Gespräche über einen Ankauf im

Reichstagsgebäude geführt wurden, wird mit einer Neu-Installation des "Experi-

mentalraums Aurora" von 1993 vertreten sein. In seiner historisch-politischen

Auseinandersetzung beharrte Claus auf den Utopien des Kommunismus und galt als

Gegner der offiziellen DDR-Kultur.

Von Lutz Dammbeck , der als Maler, Filmemacher und Multimediaspezialist in der

DDR u.a. mit seinem Herakles-Projekt einen oppositionellen historisch-kritischen

Standpunkt einnahm, sollen Blätter aus den Herakles-Notizen angekauft werden.

Von Hermann Glöckner , dem wichtigsten konstruktivistisch-konkreten Künstler in

der DDR, der sein Konzept gegen den staatlich verordneten sozialistischen Realismus

durchgehalten hatte, wurden drei charakteristische Arbeiten der Jahre 1969, 1974 und

1980 angekauft.

Von Wolfgang Mattheuer , dem neben Bernhard Heisig führenden Vertreter der

Leipziger Schule in der Malerei der DDR, wurden zwei Gemälde angekauft: "Der

eine und die Andere" und "Panik II", beide aus dem Jahre 1989.

Von Walter Stöhrer , einem wichtigen deutschen Vertreter der gestisch expressiven

Malerei wurde eine in Mischtechnik übermalte Radierung von 1995 angekauft

Dauerleihgabe Auch Joseph Beuys wird im Reichstagsgebäude vertreten sein. Als Dauerleihgabe

stellt das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) die Arbeit "Tisch mit Aggregat" zur

Verfügung. Diese Figuration, mit der sich Beuys zwischen 1958 und 1986 beschäftigt

hat, besteht aus einem aus Bronze gegossenen Tisch, einem Aggregat, zwei Kugeln

und einem Verbindungskabel. Zentrales Motiv ist der Fluß natürlicher und technisch

erzeugter Energie, also jenes Spannungsreservoir, aus dem das Leben sich speist und

die Zivilisation erst möglich wurde.

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Als weitere Dauerleihgabe wird eine architektonische Bronzeskulptur von Otto

Freundlich an repräsentativem Ort ausgestellt. Die Arbeit "Sculpture Architecturale"

datiert von 1934/35 und ist das fünfte Exemplar von sechs Abgüssen. Otto Freundlich

gehört zur "Pioniergeneration der Abstrakten". Die Abbildung seiner Skulptur "Der

neue Mensch" auf dem Plakat zur Ausstellung "Entartete Kunst" von 1937 sowie

seine Deportation und Ermordung im Konzentrationslager Lublin-Maidanek stehen

stellvertretend für die Leiden von Juden und Avangarde-Künstlern unter der

Herrschaft der Nationalsozialisten. Die Skulptur von Otto Freundlich im Deutschen

Bundestag setzt auch für viele andere verfolgte und bis heute ungenügend gewürdigte

Künstler ein Zeichen der Wiedergutmachung.

Aus dem Bestand des Deutschen Bundestags Die aktuellen standortbezogenen Kunstwerke werden ihre Ergänzung finden durch

vorhandene Werke aus der Kunstsammlung des Deutschen Bundestags. Zudem wird

die historische Dimension des Gebäudes anhand der Ausstellung "Geschichte

parlamentarischer Arbeit im Reichstag in künstlerischen und zeitgenössischen

Dokumenten" im Kuppelinnenraum (Handlauf am Plenarsaaloberlicht) für die

Öffentlichkeit erläutert.

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Das Mahnmal zum Gedenken an die Reichstagsabgeordneten, die von den

Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden, soll wieder im Reichstagsgebäude

aufgestellt werden. Die Künstlerin Katharina Sieverding hatte Anfang der 90er Jahre

für die heutige Abgeordnetenlobby im Plenarsaalbereich eine großformatige,

fünfteilige Fotoarbeit geschaffen, die sowohl Zerstörung als auch Wiedergeburt

thematisiert.

Zum Verfahren Die Bundesbaugesellschaft Berlin mbH führt für den Deutschen Bundestag vier

große Baumaßnahmen im Bereich des Berliner Spreebogens durch: den Umbau des

Reichstagsgebäudes durch das Architekturbüro Sir Norman Foster & Partners, den

Neubau des Jakob-Kaiser-Hauses durch fünf Architektenteams - die Architekten Cie,

Busmann und Haberer, von Gerkan, Marg & Partner, Schweger & Partner und

Thomas van den Valentyn - sowie die Neubauten Paul-Löbe-/Marie-Elisabeth-

Lüders-Haus durch Auslobung des Architekten Stephan Braunfels. Die

Kunstwettbewerbe wurden von der Bundesbaugesellschaft Berlin ausgelobt, mit der

Durchführung hat die Gesellschaft das Büro für Kunst und Kultur (ivdt) beauftragt.

Über die Kunst-am Bau-Projekte für die Bundestagsneubauten hat der Kunstbeirat

unter dem Vorsitz der Bundestagspräsidentin, Prof. Dr. Rita Süssmuth entschieden.

Dieses Gremium war in der 13. Wahlperiode entsprechend der Fraktionsstärke mit

folgenden Abgeordneten besetzt: für die CDU/CSU-Fraktion Renate Blank, Anke

Eymer, Volker Kauder und Wolfgang Börnsen, für die SPD-Fraktion Peter Conradi,

Thomas Krüger und Gisela Schröter, für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Franziska

Eichstädt-Bohlig sowie für die F.D.P.-Fraktion Ina Albowitz. Die Gruppe der PDS

hatte keinen Vertreter benannt.

Für das Reichstagsgebäude sind als Kunstsachverständige Frau Dr. Karin Stempel

aus Mühlheim a.d. Ruhr und Herr Prof. Götz Adriani aus Tübingen tätig. Ferner

stehen dem Kunstbeirat für das Pau-Löbe-/Marie-Elisabeth-Lüders-Haus Herr Prof.

Dr. Armin Zweite aus Düsseldorf und Herr Dr. Klaus Werner aus Leipzig als

Kunstsachverständige zur Seite. Beraten wurde das Preisgericht für den

Kunstwettbewerb Paul-Löbe-/ Marie-Elisabeth-Lüders-Haus durch Claudia

Busching, Deutscher Künstlerbund Berlin und Hans-Wilhelm Sotropp, Vorsitzender

des Bundesvorstands BBK, Bonn. Frau Dr. Evelyn Weiss aus Köln und Herr Prof.

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Dr. Manfred Schneckenburger aus Münster arbeiten als Kunstsachverständige für das

Jakob-Kaiser-Haus.

Die unterschiedlichen Kunstkonzepte der drei Baumaßnahmen richten sich nach

deren jeweiliger historischer und parlamentarischer Bedeutung sowie

architektonischer Ausrichtung. Daher werden im Reichstagsgebäude, dem historisch-

politisch bedeutsamen Parlamentssitz, deutsche Künstlerinnen und Künstler von

internationalem Ruf sowie Künstler aus den Ländern der ehemaligen Vier Alliierten

Gestaltungsaufträge erhalten. Für das Paul-Löbe-/Marie-Elisabeth-Lüders-Haus und

das Jakob-Kaiser-Haus wurden beschränkte Wettbewerbe bzw. Vergabekolloquien

unter Einbeziehung auch jüngerer Künstlerinnen und Künstler durchgeführt.

Entsprechend den rechtlichen Vorgaben für Kunst-am-Bau-Projekte bei öffentlichen

Gebäuden stehen 8 Millionen DM für das Reichstagsgebäude zur Verfügung, 10

Millionen für das Jakob-Kaiser-Haus und weitere 10 Millionen für das Paul-Löbe-/

Marie-Elisabeth-Lüders-Haus.

Ein Besuch lohnt sich Der Deutsche Bundestag für Bürgerinnen und Bürger

Die Dachterrasse und die Kuppel des Reichstagsgebäudes können über den

Westeingang (Freitreppe) ohne Anmeldung besucht werden. Öffnungszeiten täglich

von 8.00 bis 24.00 Uhr (letzter Einlass ist um 22.00 Uhr). Für Behinderte besteht ein

Zugang zur Dachterrasse und zu den Tribünen unterhalb der Freitreppe an der

Westseite des Gebäudes. Der Weg dahin ist ausgeschildert.

Zur Teilnahme an einer Plenarsitzung können sich Besuchergruppen (Mindestalter 15

Jahre) bei einem Mitglied des Deutschen Bundestages anmelden. Andere Gruppen

können sich frühestens drei Wochen vor dem gewünschten Termin beim

Besucherdienst schriftlich anmelden und erhalten Zugang, sofern noch Plätze

vorhanden sind. Einzelbesucher können teilnehmen soweit Plätze vorhanden sind.

An Informationsvorträgen auf der Tribüne des Plenarsaales können Besuchergruppen

und Einzelbesucher nach vorheriger schriftlicher oder telefonischer Anmeldung beim

Besucherdienst des Deutschen Bundestages teilnehmen, Beginn jeweils zur vollen

Stunde, Montag bis Freitag zwischen 9.00 und 17.00 Uhr, am Samstag und Sonntag

zwischen 10.00 und 16.00 Uhr. Unangemeldete Besucher können teilnehmen, wenn

Plätze frei sind.

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Führungen durch den Plenarbereich, die Besucherebene, Dachterrasse und Kuppel

finden an sitzungsfreien Tagen um 10.30, 15.30 und 19.30 Uhr statt (max. 25 Pers.).

Anmeldung dringend erforderlich.

An Samstagen, Sonntagen und Feiertagen bietet der Besucherdienst Architektur- und

Kunstführungen durch das Reichstagsgebäude an, Beginn 11.30 Uhr (max. 25 Pers.).

Anmeldung dringend erforderlich.

Anmeldung: Deutscher Bundestag, Besucherdienst, Platz der Republik 1, 11011

Berlin, Telefon 030-227-32152

Informationsmaterial über die Arbeit des Deutschen Bundestages liegt im Bereich des

Westeingangs und auf der Ebene der Besuchertribünen aus und kann auch

fernmündlich beim Referat Öffentlichkeitsarbeit unter:

Telefon 030-22 72 74 53 oder per

Telefax 030-22 72 65 06 sowie über

Internet: www.bundestag.de angefordert werden.

Die "fette Henne" wird 45 Bonner Bundesadler auch Modell für Wappenvogel im Reichstag

Sein bekanntestes Werk haben die Menschen auf Fotos, im

Fernsehen und in der Zeitung schon so oft gesehen, daß sie

es gar nicht mehr als das Werk eines Künstlers

identifizieren. Hoch oben an der Stirnwand des Plenarsaals

des Deutschen Bundestages prangt der Bundestagsadler von Ludwig Gies. In seinem

Schatten haben sich berühmte Parlamentarier der Bundesrepublik Deutschland

spannende Rededuelle geliefert: Herbert Wehner und Konrad Adenauer, Willy

Brandt und Rainer Barzel, Helmut Schmidt und Helmut Kohl.

Aus Gips schuf Gies 1953 den Bundesadler, an den sich Generationen von

Abgeordneten und Fernsehzuschauern gewöhnt haben und der nicht nur im

Volksmund wegen seiner gedrungenen Form liebevoll-spöttisch "fette Henne"

genannt wird. Heute fällt es schwer, sich von dem gewohnten Bild zu lösen. Nach

Abriß des alten Plenarsaales schuf Günter Behnisch, Architekt des neuen

Bundestagsplenarsaals in Bonn, eine überarbeitete Version des Giesíschen Adlers, die

sich optisch nur unwesentlich vom Original unterscheidet.

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Ende Mai beschloß der Ältestenrat des Bundestages auf Empfehlung der Bau-

kommission, daß das Bonner Symbol aus Gründen der Kontinuität und des Wieder-

erkennens auch den Plenarsaal im Berliner Reichstag " ab 1999 Heimat des Deut-

schen Bundestages " zieren soll. Der Architekt des Reichstagsumbaus Sir Norman

Foster erhielt den Auftrag, den alten Plenaradler etwas "straffer" zu gestalten. Die

Parlamentarier folgten damit einer Empfehlung des Architekten, der vorgeschlagen

hatte, am bisherigen Adler-Modell festzuhalten. Im Juni soll Foster dem Bundestag

einen Entwurf vorlegen. Erstmals muß dabei auch der Rücken des Wappenvogels

gestaltet werden, denn der Adler wird im Reichstag vor einer Glaswand der Ostseite

des Gebäudes schweben.

Daß der Bundesadler des alten Plenarsaales später seine bekannteste Arbeit werden

sollte, ahnte Gies sicher nicht. Denn eines seiner künstlerisch größten Werke schuf er

schon 1921. Es war das große, sich krümmende Holzkruzifix für den Lübecker Dom,

das die Nazis als entartet diffamierten und der 1944 in Berlin verbrannte. Gies zählt

mit seinen Plastiken, Plaketten und Bildern zu den wichtigsten Expressionisten in

Deutschland. Doch sein künstlerisches Schaffen galt den Nazis als "undeutsch".

Seine modernen Arbeiten mit großer Ausdruckskraft, die abstrahierten und den

Menschen auch im Leid zeigten, wurden im Dritten Reich der Lächerlichkeit

preisgegeben. Sie gehörten wie andere große Werke deutscher Kultur zu den

verspotteten Werken der Münchener Ausstellung "Entartete Kunst" 1937. Im

gleichen Jahr verlor Gies sein Lehramt an der Berliner Akademie der Bildenden

Künste und wurde aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen.

Zu Giesí wichtigen Plastiken und Bildern gehören neben dem Lübecker Kruzifix der

Silber- und Goldkranz in der Schinkelschen Wache Unter den Linden (1927), sein

Lamm aus Porzellan für die Berliner Porzellan-Manufaktur (1928), die

Rheinlandschaft mit Schleppkahn für den Duisburger Hauptbahnhof (1935), die

später übermalt wurde, sein eindrucksvoller, leidender Christuskopf in Lindenholz

(1936), der Adler in der alten Reichskanzlei, den Hitler als zu wenig nordisch-

heraldisch entfernen ließ, der Adler in der ehemaligen Reichsbank von Berlin, seine

Geigerin von 1947, das Grabmal für Hans Böckler auf dem Kölner Melatenfriedhof

(1951), der Harfenspieler für das Kölner WDR-Funkhaus (1952), der Erlkönig (1952)

und das Engelfenster für die Kolumba-Kapelle in Köln (1954). Giesí künstlerische

Vielfalt zeigt sich auch in seinen Baukeramiken für das Düsseldorfer Phönixhaus und

die Gutehoffnungshütte in Oberhausen, in den Stuckreliefs für das Haus der

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Metallgewerkschaft in Berlin, der geschnitzten Orgelwand für die Aula der Bonner

Universität und den sieben Meter hohen Genien im Atrium des Essener Folkwang-

Museums.

In diesen Werken wird auch der thematische Dreiklang Giesí deutlich. Dem Sakralen

widmete sich Gies ebenso wie dem Alltag der arbeitenden Menschen und den

feierlich-anrührenden Motiven, die sich in seinen Medaillen und Kränzen

widerspiegeln. Eine seiner Medaillen, die Heine-Gedächtnis-Medaille der Stadt

Düsseldorf in Gold, sollte 1960 zu hohen politischen Ehren kommen. Sie wurde

keinem geringeren als Bundespräsident Theodor Heuss bei der Verleihung der

Ehrenbürgerrechte überreicht. Drei Jahre zuvor hatte übrigens Heuss selbst Ludwig

Gies mit einer hohen Auszeichnung bedacht: mit dem Großen Verdienstkreuz der

Bundesrepublik Deutschland.

Freiheit und Einheit Das Erbe von 1848/49 in unserer parlamentarischen Demokratie von Bundes-

tagspräsidentin Rita Süssmuth

Die auf Freiheit und Einheit gerichteten Bestrebungen von 1848/49

waren die entscheidende Weichenstellung auf Deutschlands Weg in

die Moderne. Sie waren Teil einer europäischen Bewegung. Das Parlament in der

Frankfurter Paulskirche trat am 18. Mai 1848 zusammen zu einem Zeitpunkt, als die

Freiheitsbewegungen in vielen Staaten Europas bereits vor dem Scheitern standen.

150 Jahre später erinnern sich der Bund, die Länder und die Kommunen der

damaligen Ereignisse auf vielen unterschiedlichen Veranstaltungen. Dadurch wird

wieder bewußt: Auch unsere Demokratie bedarf der historisch geleiteten geistigen

Orientierung und der inneren Verbundenheit mit der eigenen Freiheitstradition. Das

gilt um so mehr, als sich bislang eher das damalige Scheitern der Revolution im

kollektiven Bewußtsein verankert hatte, nicht aber der Freiheitskampf vieler

Menschen, ihre Aufbrüche, ihre Visionen, ihr politisches Engagement. Es war

deswegen wichtig, daß die Abgeordnetinnen und Abgeordneten des Deutschen

Bundestages in diesem Jahr zum erstenmal die Freiheitsbewegung von 1848/49 im

Parlament gewürdigt und ihre Auswirkungen für unsere Gegenwart diskutiert haben.

Inzwischen haben Hunderttausende bei uns in den letzten Monaten die

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Ausstellungen, Vorträge und Veranstaltungen zu den Ereignissen von 1848/49

besucht. Auch das macht deutlich, welche Bedeutung in unserer Umbruchszeit die

Suche nach politischer Orientierung erneut gewonnen hat, wie sehr die

Vergewisserung nach dem "woher" gesucht wird, um Fragen nach dem "wohin" zu

beantworten.

Historische Jubiläen sind nicht nur Anlässe der Erinnerung, sondern zugleich

Prüfsteine des eigenen Selbstverständnisses. Das gilt gerade im Hinblick auf

mangelnde Wertschätzung und aktive Verteidigung unserer Freiheit. Der Bezug auf

die Ereignisse von 1848/49 ruft wieder jene wichtige Freiheitstradition in unser

politisches Gedächtnis, die oft verschüttet war. Die deutsche Geschichte im 19. und

20. Jahrhundert ist ja weniger von politischen Kontinuitäten, sondern mehr durch

Brüche gekennzeichnet. Lange dominierende obrigkeitsstaatliche Mentalitäten sind

bis heute zu spüren. In Deutschland verfügen wir deshalb nur über eine schwach

ausgebildete Freiheitstradition im Bewußtsein der Bürger. 1848/49 stand bislang

nicht für politischen Umbruch, für den Beginn der parlamentarischen Demokratie in

Deutschland wie beispielsweise 1789 für die Franzosen oder später die

Freiheitskämpfe bei Polen und Ungarn. Aber auch wir verfügen über historische

Wurzeln einer Freiheitstradition, bei der es in unserer Hand liegt, ob wir sie

verkümmern lassen oder ob wir sie nutzen im Sinne einer die Bürger verbindenden

demokratischen Identität und der Sicherung freiheitlichen Bewußtseins. Dabei geht es

nicht um eine nachträgliche Harmonisierung der Geschichte. Gerade demokratische

Identität, die die Legitimität freiheitlicher Ordnungen sichern hilft, bedarf einer

Aneignung, die die Widersprüchlichkeit der historischen Entwicklungen bewußt

aufnimmt. Erst aus der prüfenden Urteilsbildung heraus erwächst die Bindung an die

eigene Freiheitstradition. Ohne diesen "Vernunftgebrauch" kann die freiheitliche

Demokratie auch nicht jene "Gewohnheiten des Herzens" ausbilden, die die zivilen

Haltungen in unserem freiheitlichen Gemeinwesen dauerhaft sichern helfen.

Die Erinnerung an Ursprung und Verlauf der deutschen Freiheitsbewegung mit ihren

Forderungen nach Menschenrechten, Verfassung und Parlament bietet die Chance

einer politischen Standortbestimmung, die über das politische Tagesgeschäft hinaus

die Grundlagen unseres Gemeinwesens bewußt macht. Wer Schaden von unserer

Demokratie abwenden und sie vor ihren Gegnern und Feinden, aber auch vor

Gleichgültigkeit und Distanz verteidigen will, der weiß, daß die Werte und Normen

einer freiheitlichen, parlamentarischen Demokratie immer wieder neu der geistigen

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Verankerung bedürfen. Das geschieht nicht von selbst. Wenn unsere

parlamentarische Demokratie nicht Energien für die Ausbildung geistiger

Orientierung verwendet, dann leistet sie einer gedanklichen Auszehrung Vorschub,

die nicht nur in Krisenzeiten schwerwiegende Folgen haben kann. Denn bereits jetzt

muß es uns Sorgen machen, daß eine immer größer werdende Zahl von Menschen die

Leistungsfähigkeit der Demokratie, ja ihren Wert selbst bezweifelt. Je größer die

Probleme sind, desto höher werden die Erwartungen an die Lösung der

Arbeitslosigkeit, der Kriminalitätsbekämpfung, der inneren und sozialen Sicherheit.

Aber in welcher anderen Staatsform könnten die Probleme menschenwürdiger und

gewaltfreier gelöst werden als in der Demokratie.? In keiner! Eine parlamentarische

Demokratie ist jedoch keine Schönwetterdemokratie, ihre Prinzipien sind nicht

formbar nach Opportunitäten oder der jeweiligen Wirtschaftslage, sondern gelten

grundsätzlich. Nur dadurch verbürgen sie Freiheit auch in rauhen Zeiten, können sie

die Sorge für soziale Gerechtigkeit " der gerechten Verteilung von Chancen,

Belastungen und Entlastungen " als Pflicht der Stärkeren für die Schwächeren

bewahren. Deswegen erfordert es gerade heute besonderer Anstrengungen, die

geistigen Grundlagen unserer Demokratie deutlicher bewußt zu machen.

Das Zusammentreffen von demokratischem Aufbruch in allen Teilen der

Bevölkerung und das erste nationale Parlament in der Frankfurter Paulskirche

1848/49 " das war die Geburtsstunde unserer heutigen parlamentarischen

Demokratie. Es war der Kampf um "Freiheit und Einheit", der viele, viele Menschen

in Deutschland (und in ganz Europa) begeisterte. Allerdings mußte nach dem

Scheitern der Frankfurter Paulskirchenversammlung in den Jahrzehnten danach erst

mühsam Stück für Stück jener Weg freiheitlicher Demokratie in einem föderal

geeinten Deutschland freigelegt werden, den die "48er" damals gewiesen hatten. Die

monarchische Obrigkeit im 19. Jahrhundert verunglimpfte den Kampf um die Freiheit

und den Versuch der Überwindung deutscher Kleinstaaterei als "tolles Jahr", dem

man Ordnung und Sicherheit einerseits, einen sich militarisierenden Nationalismus

andererseits entgegensetzte. Die für uns heute so selbstverständlichen konsti-

tutionellen Bindungen und politischen Teilhabemöglichkeiten waren Ergebnis

mühseliger Lernprozesse und langwieriger Machtkämpfe. Die Erlangung deutscher

Einheit und freiheitlicher Demokratie wurden lange Zeit für viele Deutsche zu zwei

unterschiedlichen Zielen " das Deutsche Reich wurde 1870/71 mit Eisen und Schwert

zusammengeschweißt, und die erste freie Demokratie fand erst später, nach dem 1.

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Weltkrieg, mit der Weimarer Republik ihre Gestalt. In der nationalsozialistischen

Diktatur wurden Freiheit und Einheit schnell wieder verspielt. Deutschland blieb,

nach dem 2. Weltkrieg, 40 Jahre geteilt und nur im Westen konnte sich eine

parlamentarische Demokratie entwickeln. Als die Menschen in der DDR 1989 auf die

Straße gingen und die SED-Diktatur in machtvollen, friedlichen Demonstrationen

stürzten, knüpften sie unbewußt wieder an die Forderungen von 1848/49 an. Es zeigte

sich, wie geschichtsmächtig die Ideen von Freiheit, Demokratie und Einheit auch 150

Jahre später waren. Heute leben wir in einer geeinten Republik, die sich zum

erstenmal unvoreingenommen der eigenen Freiheitstraditionen erinnern un versichern

kann. Der Deutsche Bundestag und die Bürgergesellschaft unseres Landes haben in

besonderer Weise im Geschehen von 1848/49 ihre Wurzeln. Beide ruhen auf den

großen Anstrengungen der Menschen damals um Bürgerrechte, Gewaltfreiheit,

Gewaltenteilung und Einheit sowie der friedlichen Revolution von 1989. Deswegen

kommt auch beiden die Aufgabe zu, immer wieder Anstöße zu geben für eine

Erinnerungskultur der Freiheit. Diese bewahrt den mutigen, oft bis zum Einsatz des

eigenen Lebens gehenden Kampf von Bürgerinnen und Bürgern für Menschenrechte

und parlamentarische Demokratie, macht sie jeder Generation neu zugänglich. So

kann sich " und das ist eine wichtige Zukunftsperspektive " eine für Ost- und

Westdeutsche gemeinsame demokratische Kultur entwickeln, die sich auch in den

jetzigen und künftigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen als

tragfähig erweist. Denn nur mündige Bürger stehen in Krisenzeiten zu

Menschenwürde und Menschenrechten, entwickeln Mut zur Veränderung, engagieren

sich verantwortungsbewußt für das Gemeinwohl.

Revolutionäre Erhebungen sind nie einheitlich. Damals mischten sich in ihr das

Streben nach nationaler Eigenständigkeit, freiheitlicher Verfassung und Volksver-

tretung mit sozialen Fragen und Emanzipationsbestrebungen des vierten Standes und

der Frauen. Hungersnöte, wirtschaftliche Krisen und Forderungen nach Sicherung

von Lohn und Brot vor dem Hintergrund des beginnenden Industriezeitalters trugen

zum Ausbruch ebenso bei wie ein politisch erstarkendes Bürgertum, beeinflußt durch

die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution. Liberale Bürgerliche

oder Intellektuelle, Arbeiter oder Handwerker, Bauern oder auch Frauen " jede

Gruppe hatte aufgrund ihrer jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen und

wirtschaftlichen Stellung unterschiedliche Motive und Ziele für die Teilnahme am

Geschehen.

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Aber es gab neben allen Ambivalenzen immer auch gemeinsame Ziele, an die das

heutige Nachdenken über Traditionslinien mit anknüpft. Denn die unterschiedlichen

Gruppen waren verbunden im Bewußtsein, sich für eine neue, freie und gerechte

politische Ordnung einzusetzen. Aber das galt nicht für alle, wenn man z. B. sieht,

daß beispielsweise im Paulskirchenparlament nur Männer saßen, weil Frauen

ausgegrenzt wurden. Dort war das liberale Bürgertum vertreten, während die

Arbeiter- und Handwerkerschichten ihre Diskussionen auf den öffentlichen Plätzen

führten und auf den Barrikaden zu finden waren.

Ziel der 1848er war die Begründung der Souveränität des Volkes, der (allerdings

unterschiedlich interpretierten) Bürgerschaft. Politische Teilhabe sollte nicht länger

auf die Fürsten beschränkt sein. Bei vielen, egal, ob sie Arbeiter, Bauern,

Handwerker, Professoren oder Staatsdiener waren, erwachte ein Interesse an den

politischen Angelegenheiten. Trotz aller wirtschaftlichen, sozialen und bildungs-

mäßigen Gegensätze war es eine erste, pluralistische Form praktisch gelebter

Demokratie, die sich damals in wichtigen Regionen Deutschlands bildete. Straßen

und Plätze wurden zu öffentlichen Versammlungsorten, viele neue Zeitungen " über

1.700 " dokumentierten das gewachsene politische Interesse und in den zahlreichen

politischen Vereinen (über 2.500) waren rund 15 % der männlichen Bevölkerung

organisiert, die so aktiv an der politischen Willensbildung teilnahmen. Aber auch

viele Frauen engagierten sich in Vereinen, bei Demonstrationen, bei sozialen

Diensten, verbreiteten die demokratischen Ideen und begannen trotz aller beste-

henden Rechtlosigkeit und Abhängigkeiten, für ihre eigene Emanzipation zu

kämpfen.

Dieses politische Engagement damals dokumentiert eine Lebendigkeit in Sachen

Freiheit und Demokratie, von der ich mir wünsche, daß wir sie auch heute in breiten

Teilen der Bevölkerung hätten. Für die Gestaltung einer aktiven Gesellschaft mit

einer zivilen Bürgerkultur ist sie unverzichtbar. Ein solcher Aufbruchswille heute

inmitten von gewaltigen technischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen

würde auch in unserer parlamentarischen Demokratie notwendige Energien und eine

solche Kreativität freisetzen, die nicht auf Besitzstandswahrung setzt, sondern neue

Lösungen ausprobiert. 1848 ließen sich die Menschen von der Politik begeistern.

Diese Freude an politischer Teilnahme wünsche ich mir heute wieder. Sie könnte

mancher Unzufriedenheit mit der Politik, mit unserer Demokratie insgesamt,

entgegenwirken. Denn wie anders als durch aktive Beteiligung lernt man realistisch

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die Möglichkeiten und Grenzen von Politik einschätzenß Wie anders aber auch kann

man Politik, die einem unzureichend scheint, ändern als durch demokratisches

Engagement, das darauf zielt, es besser zu machenß Die politischen

Gestaltungsaufgaben, die Rolle der Politik gegenüber dem Kapital, der Rechts-,

Wirtschafts- und Sozialordnung sind ja nicht geringer, sondern bedeutsamer und

zukunftsentscheidender geworden.

Die frei gewählte deutsche Nationalversammlung von 1848 war möglich geworden

aufgrund des Einsatzes vieler Menschen aus unterschiedlichen Schichten. Blutige

Kämpfe mit vielen Opfern " rund 200.000 Menschen " gingen dem Frankfurter Pauls-

kirchenparlament voraus und folgten ihm. Die erste deutsche Nationalversammlung

setzte auf die Macht des Wortes, des Arguments, der Gewaltfreiheit. Der freiheitliche

Parlamentarismus wurde vom Adel bekämpft, später mit militärischer Gewalt

zerschlagen. Dennoch blieben und bleiben wichtige Leistungen. So nötigt die in den

Ausschüssen und in der Vollversammlung geleistete parlamentarische Arbeit auch

heute noch großen Respekt ab, weil die Abgeordneten ohne lange Vorerfahrung in

kürzester Zeit ein funktionierendes Rede- und Arbeitsparlament etablieren konnten.

Die oft leidenschaftlich geführten Debatten nahmen die großen Probleme der Zeit

auf, das Parlament war ein wirkliches Forum der Nation, in der das Wort etwas galt

und der Andersdenkende respektiert wurde. Geschaffen wurde eine Verfassung mit

einer Verankerung der Bürger- und Menschenrechte, die in vielen Teilen heute unser

Grundgesetz bestimmt. Allerdings fehlten die Frauen, es fehlte auch die heute in Art.

20 des Grundgesetzes verankerte Sozialstaatlichkeit.

Heute sehen wir neben der Größe aber auch die Grenzen der Nationalversammlung

deutlicher. Dazu gehören sicher die Einseitigkeiten bei der Wahl (wahlberechtigt

waren nur Männer und Besitzende), Defizite in der sozialen Zusammensetzung,

manche nationalistische Ausrichtung, die Wankelmütigkeit bei den Entscheidungs-

findungen, und nicht zuletzt, daß die Mehrheit der Abgeordneten den Ausgleich mit

der Obrigkeit in einem monarchischen Konstitutionalismus suchte anstatt in der

vollen republikanischen Volkssouveränität. Daß Bürgerbewegung und Parlament bei

aller Unterschiedlichkeit der Formen politischen Engagements zusammengehörten,

war zudem ein von vielen nicht begriffener Zusammenhang. Dies führte dazu, daß

das eine gegen das andere ausgespielt werden konnte.

Mancher wirkt auch heute daran mit, diesen Fehler unter den Rahmenbedingungen

der Bundesrepublik zu wiederholen. Deswegen gilt es deutlich zu sagen: Unsere

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repräsentative Demokratie mit ihren parlamentarischen Einrichtungen und die aktive

Beteiligung von Bürgern in den unterschiedlichen Formen direkter Demokratie

stehen sich nicht diametral gegenüber. Mißtrauen in das "Volk" ist genauso wenig

angebracht wie Mißtrauen gegenüber dem Parlament. Vielmehr ergänzen sich beide

Seiten in den vielfältigen Bahnen politischer Willensbildung, in Kritik und

Gegenkritik, in den verschiedenen Wegen der Prüfung alternativer Lösungen.

Entscheidend ist der gemeinsame Wille zum gemeinwohlorientierten Engagement.

Dazu ist es notwendig, daß sich weder der Deutsche Bundestag in seiner Arbeit vom

Volk entfernt noch sich die Bürger des Einsatzes für die Einrichtungen der

Demokratie enthalten. Der Preis wäre sonst, wie damals, die Gefahr des Scheiterns.

Der Fehlschlag der Revolution 1848/49 bedeutete nicht das Ende der demokratischen

Ideen; diese blieben bis in unsere Gegenwart hinein lebendig. Das gilt auch für

wichtige Arbeitsergebnisse des Paulskirchenparlaments, wenn diese auch noch von

den Grundsätzen heutiger ziviler, gesamtbürgerschaftlicher Demokratien entfernt

waren. Drei Bereiche sind hier zu nennnen:

1. Der Verfassungsentwurf, der als Einigungswerk für das ganze Deutschland

gedacht war, wurde in der späteren Verfassungsarbeit immer wieder zu Rate gezogen,

in der Reichsgründung, den Beratungen zur Weimarer Verfassung und auch im

Parlamentarischen Rat.

2. Auf den Katalog der unveräußerlichen individuellen und politischen Grundrechte,

erstmalig in der Verfassung verankert, haben sich die beratenden Gremien zur

Weimarer Verfassung ebenso gestützt wie der Parlamentarische Rat. Bis in konkrete

Formulierungen hinein haben die damals formulierten Grundrechte Eingang in unser

Grundgesetz gefunden. Dazu gehören (neben der Abschaffung von Adels- und

Standesprivilegien) vor allem die Unverletzlichkeit der Person, Glaubens- und

Gewissensfreiheit, die Meinungsfreiheit, Pressefreiheit mitsamt der Abschaffung der

Zensur, Versammlungs- und Vereinsfreiheit sowie eine bürgerlich-öffentliche

Gerichtsbarkeit. Allerdings hat das Grundgesetz aufgrund der bitteren Erfahrungen

mit der brutalen, menschenverachtenden Barbarei der nationalsozialistischen Diktatur

im Art. 1 den Geltungsbereich der Grundrechte nicht nur auf Deutsche bezogen,

sondern auf alle Menschen ausgedehnt.

3. Auch die Geschäftsordnung der Paulskirchenversammlung, die die Regeln des

parlamentarischen Umgangs miteinander festlegte, hat nicht nur unsere verfahrens-

mäßigen Regularien im Deutschen Bundestag beeinflußt, sondern auch unsere Debat-

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tenkultur, die den Andersdenkenden als Gegner, niemals als Feind behandelt: in Rede

und Gegenrede, im Zuhörenkönnen und Ernstnehmen des Redenden, im Setzen auf

argumentative Auseinandersetzung, in der Achtung vor dem Wort des anderen, im

Respekt vor anderen Erfahrungen, im friedlichen Austragen von Konflikten aufgrund

unterschiedlicher Sichtweisen und parteipolitischer Einschätzungen unter Wahrung

der Gemeinsamkeiten aller Demokraten.

Die Macht und die Durchsetzungskraft des Wortes, auf die wir gerade heute setzen,

bedarf aber " auch das gehört zu den wichtigen, gegenwärtig oft übersehenen Erfahr-

ungen von 1848/49 " der Garantien des Rechtsstaates und parlamentarisch kontrol-

lierter Staatsgewalt. Damals waren die Parlamentarier in der Paulskirche ohne Stütz-

ung durch von allen Staaten anerkannte exekutive und militärische Macht, sie

konnten nur auf ihre Überzeugungen und die Kraft des Wortes setzen. Die

Gegenrevolution, die den Einsatz für Freiheit und republikanische Ordnung blutig mit

Gewalt niederschlug, bedeutete deswegen auch das Ende des ersten gesamtdeutschen

Parlaments. Deswegen dürfen wir es nicht gering achten, daß wir heute eine auf die

Demokratie verpflichtete Bundeswehr haben, in der im Gegensatz zu damals die

"Staatsbürger in Uniform" unsere Freiheit und unsere parlamentarischen

Einrichtungen sichern helfen.

All das zeigt, wie sehr wir in unserer parlamentarischen Demokratie das politische

Erbe des Paulskirchenparlaments aufgenommen haben. Es gilt, dieses in der Arbeit

nicht nur des Parlaments fruchtbar zu machen, sondern auch im alltäglichen Umgang

in unserer Demokratie. Doch unser Blick sollte, stärker noch als 1848/49, über das

Nationale hinausgehen. Denn heute ist es unsere Aufgabe, sich auch für ein Europa

einzusetzen, in dem eine jetzt möglich gewordene freiheitliche Kultur, ein

demokratisches Europa, die gemeinsame Grundlage der Einheit ist. Es wäre ein

tatsächliches "Europa der Bürger", in dem die Vielfalt der Kulturen sich in dem

Bewußtsein der Zugehörigkeit neu entfalten kann. Ein zweiter "Völkerfrühling",

grenzüberschreitend und die Nationen einigend " das ist die Perspektive für unsere

gemeinsame Zukunft. Eine friedliche Gemeinschaft gleichberechtigter, freier Völker

Europas wird all denjenigen Kräften eine Absage erteilen, die übersteigerten

Nationalwahn, Rassismus, Ausländerhaß und Gewalt auf ihre Fahnen geschrieben

haben.

Die Saat von Paulskirche und Bürgerbewegung ist aufgegangen, der mutige Einsatz

hat sich gelohnt, Freiheit und Einheit sind Wirklichkeit geworden. 1848/49 ist zwar

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eine gescheiterte, aber keine vergebliche Revolution. Die Wahrung dieses Erbes

bedeutet für alle Bürger die dauerhafte Verpflichtung, Freiheitsbewußtsein und

Identifikation mit unserer Demokratie, ihren Werten und institutionellen

Einrichtungen zu stärken. Wer die Freiheitsvernichtung und Zivilisationsbrüche im

Deutschland des 20. Jahrhunderts im Auge behält, wer die Verführung durch den

Rechts- und Linksextremismus gerade auch in der Gegenwart beachtet, der weiß, wie

notwendig es ist, freiheitliches Bewußtsein zu stärken, die Normen der Zivilität und

des fairen Umgangs miteinander zu festigen. Das gilt auch in Hinblick auf die

Einrichtungen unserer parlamentarischen Demokratie. Gegenüber denjenigen, die in

unserem Land schnell dabei sind, das Parlament zu mißachten und die Arbeit der

Abgeordneten geringzuschätzen, kann nicht genug betont werden, wie sehr das

Parlament mit seinen geregelten Verfahren, seinen Willensbildungsprozessen, seiner

Debattenkultur und seinen Entscheidungen Ausdruck gelebter, praktizierter Freiheit

ist. Doch es bedarf zugleich der Bürger, die das Politische als ihre eigene Ange-

legenheit betrachten, die Gemeinsinn entwickeln und sich im tätigen Engagement

verantwortlich für die Belange aller fühlen. Um heute von den Leistungen der

parlamentarischen Demokratie verstärkt zu überzeugen, brauchen wir ein Höchstmaß

an klarer und verständlicher Sprache, an Toleranz und Übersichtlichkeit. Wir

brauchen nicht mehr Gesetze, sondern mehr Konzentration auf das Wesentliche.

Glaubwürdigkeit stärken wir indem im Parlament die Suche nach Lösungen, das

Ringen um den "besten Weg" in Rede und Gegenrede sichtbar und erlebbar wird. Zur

politischen Willensbildung brauchen wir die Klärung und Abstimmung in den

Fraktionen, aber es lohnt sich, in zunächst offener Debatte die Willensbildung

öffentlich zu machen. Bindung an die einzelne Fraktion und Loyalität sind notwendig

und unverzichtbar, aber Demokratie braucht auch die Sichtbarkeit der individuellen

politischen Überzeugungen, das Wissen darum, wofür Frauen und Männer im

Parlament eintreten, streiten, und ihren Einfluß, ihre politische Macht geltend

machen. Dabei hat die authentische, aus politischer Leidenschaft gehaltene

parlamentarische Rede nichts an Bedeutung verloren, im Gegenteil. Die Demokratie

mit ihren parlamentarischen Einrichtungen lebt vom Dissens und Konsens, vom

Respekt vor dem anderen, von Freiheit, Gleichheit und der Suche nach Gerechtigkeit.

Unsere freiheitliche, parlamentarische Demokratie ist eine kostbare Angelegenheit.

Im Alltag wird dies nicht immer gesehen, und wer sich an sie gewöhnt hat oder in sie

hineingeboren wurde, unterschätzt leicht, wieviel tagtägliche Sorge, wieviel

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Anstrengung und dauerhaften Einsatz sie verlangt. Bürgerinnen und Bürgern von

1848/49 war dieses in außerordentlich hohem Maß bewußt. Vielleicht ist dieses das

Wichtigste, an das uns ihr Erbe mahnt.Freiheit und Einheit

Bundestag würdigte Erbe der Paulskirche (bn) Als "Grundlage unserer heutigen Demokratie" hat Bundestagspräsidentin Rita

Süssmuth (CDU/CSU) die Freiheitsbewegung gewürdigt, die 1848 zur Paulskirchen-

Versammlung in Frankfurt führte. Damals seien die Grundrechte formuliert worden,

die auch ins Grundgesetz eingegangen seien, der freiheitlichsten Verfassung in der

deutschen Geschichte, hob die Bundestagspräsidentin bei einer Aussprache des

Deutschen Bundestages am 27. Mai zur Erinnerung an den Zusammentritt der

verfassunggebenden Nationalversammlung vor 150 Jahren hervor.

Süssmuth zeigte sich überzeugt, daß "wir in unserem Parlament einen neuen

Aufbruch brauchen." Wichtig seien Konzentration der Arbeit, mehr offene Debatten,

mehr Transparenz und die Macht der Sprache.

Bundestagsvizepräsident Hans-Ulrich Klose (SPD) bezeichnete es nach der

friedlichen Wiedervereinigung als Chance, "auf nationaler und europäischer Ebene zu

einem guten Ende zu führen", was vor 150 Jahren begonnen habe und gescheitert sei.

Jeder müsse Politik als eigene Aufgabe begreifen; so könne sich die Demokratie

immer erneuern und gegen ihre Verächter behaupten.

"Eine Demokratie muß wehrhaft sein, sonst ist sie zum Scheitern verurteilt", stellte

Bundestagsvizepräsidentin Michaela Geiger (CDU/CSU) als Konsequenz aus dem

Mißerfolg der Paulskirche fest. Es dürfe keine Zusammenarbeit mit extremen

Rechten und extremen Linken geben.

Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) wies darauf hin, daß den Bürgerrechtlern in

der DDR 1989/1990 das Vermächtnis von 1848/49 bewußt war.

"Als immer noch aktuelle Idee" bezeichnete Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.) die Frie-

densordnung, die die Paulskirchen-Versammlung vor Augen hatte. Beste Garanten

für den Frieden seien Demokratie und Menschenrechte.

Uwe-Jens Heuer (PDS) warb für eine "starke Volksbewegung" gegen

Massenarbeitslosigkeit und für den sozialen und demokratischen Rechtsstaat des

Grundgesetzes.

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Persönliche Notizen