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Quarks & Co Wie viel Neandertaler steckt in uns? Eine Sensation gelang Leipziger Wissenschaftlern: Aus 42.000 Jahre alten Neandertaler-Knochen rekonstruierten sie das Genom des ausgestorbenen Frühmenschen. Dabei stellten sie fest: Neandertaler und moderner Mensch hatten Sex miteinander und haben gemeinsame Nachkommen gezeugt! War der Neandertaler also gar nicht der wilde, primitive Vorfahre des Menschen, für den er so lange gehalten wurde? Quarks & Co geht den neuesten Spuren der Forschung nach. Der Neandertaler in uns 4 Erbgut des Urzeitbewohners entschlüsselt Seit dem Fund der ersten Neandertaler-Fossilien 1856 rätseln Forscher, wie diese Urzeitmenschen lebten, warum sie ausstarben und wie ähnlich sie uns waren. Jetzt ist es gelungen, das Erbgut des Neandertalers zu entschlüsseln. Das Ergebnis hat die Wissenschaft überrascht: Die Neandertaler sind gar nicht völlig verschwunden! Etwas von ihnen lebt weiter, und zwar in uns. Der neue Stammbaum des Menschen 4 Woher die gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Neandertaler kamen Wie sind Neandertaler und Mensch miteinander verwandt? In der Vergangenheit wurde der Neandertaler mal als Vorfahr des Homo sapiens gehandelt, mal als entfernter Cousin. Erst die genetischen Untersuchungen der letzten Zeit haben seinen Platz im Stammbaum der Menschen zurechtgerückt. Was Knochen verraten 4 Auf Spurensuche beim Neandertaler Es scheint nicht viel, was vom Neandertaler geblieben ist. Knochen von 300 Individuen, wurden bisher bei Grabungen entdeckt. Häufig sind es nur ein paar Skeletteile. Aber darin steckt mehr Information als es auf den ersten Blick scheint: Mithilfe der Knochen erforschen Wissenschaftler die Lebenswelt der Neandertaler – und finden Hinweise auf sein soziales Verhalten, seinen Speiseplan und vieles mehr. Wilder Kerl mit menschlichen Zügen 4 Das Bild des Neandertalers im Wandel der Zeit Als 1856 in der Nähe von Düsseldorf die Spur des Neandertalers entdeckt wird, hat man nichts als ein paar Knochen. Doch schon bald rätselt die Menschheit, wie er ausge- sehen haben könnte. Mit unterschiedlichem Ergebnis. Im Laufe der vergangenen 150 Jahre hatte der Neandertaler schon so manches Gesicht. Der Werkzeugkasten der Neandertaler 4 Spezialisierte Arbeitsgeräte wurden nach Standardverfahren hergestellt Sie gaben einer ganzen Epoche der menschlichen Entwicklung ihren Namen. Werkzeuge aus der „Steinzeit“ finden sich an praktisch allen Siedlungsplätzen der Urmenschen und sie verraten viel über das Leben damals. Die Neandertaler brachten die Kunst der Werkzeugproduktion vor rund 300.000 Jahren auf eine neue Stufe. Und sie waren wahr- scheinlich geschickte Jäger. Konnte der Neandertaler sprechen? 4 Mensch und Sprache sind untrennbar Neben dem aufrechten Gang ist die Sprache das auffälligste Merkmal, das den Menschen von seinen nächsten Verwandten im Tierreich unterscheidet. Sprechen ist die wich- tigste Kommunikationsform der Gattung Homo - galt das auch schon für den Neandertaler? Viele Forscher sind fest davon überzeugt. Das Gehirn des Neandertalers... 4 und warum Größe nicht alles ist Das größte menschliche Gehirn, das je gefunden wurde, gehörte einem Neandertaler. Auch im Durchschnitt war sein Gehirn größer als das des modernen Menschen. Manche Wissenschaftler vermuten deshalb, dass er ähnlich intelligent gewesen sein muss. Doch eine Studie aus Leipzig liefert Hinweise, dass der heutige Mensch dem Neandertaler kognitiv überlegen ist. Der kleine Unterschied 4 Was macht den Mensch zum Menschen? Der Neandertaler war uns heutigen Menschen bereits ziemlich ähnlich. Sein Erbgut gleicht unserem zu 99,7 Prozent. Doch was ist mit dem kleinen Rest? Liegt hier das Geheimnis verborgen, was uns Menschen so besonders macht? Die Suche nach dem kleinen Unterschied in der Erbsubstanz ist eine Suche nach der Antwort auf die Frage: Was macht den Mensch zum Menschen? Autoren: Johanna Bayer, Carsten Binsack, Dirk Gilson, Christiane Meister, Daniel Münter, Eva Schultes Redaktion: Monika Grebe Quarks & Co | Wie viel Neandertaler steckt in uns? | Sendung vom 07.12.10 http://www.quarks.de Quarks & Co Quarks & Co

Quark s Co - wdr.de · Quarks & Co Wie viel Neandertaler steckt in uns? ... Liegt hier das Geheimnis verborgen, was uns Menschen so besonders macht? ... Der Quarks-Film über den

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Quarks & Co Wie viel Neandertaler steckt in uns?

Eine Sensation gelang Leipziger Wissenschaftlern: Aus 42.000 Jahre alten Neandertaler-Knochen rekonstruierten sie das Genom desausgestorbenen Frühmenschen. Dabei stellten sie fest: Neandertaler und moderner Mensch hatten Sex miteinander und habengemeinsame Nachkommen gezeugt! War der Neandertaler also gar nicht der wilde, primitive Vorfahre des Menschen, für den er solange gehalten wurde? Quarks & Co geht den neuesten Spuren der Forschung nach.

Der Neandertaler in uns 4 Erbgut des Urzeitbewohners entschlüsselt

Seit dem Fund der ersten Neandertaler-Fossilien 1856 rätseln Forscher, wie diese Urzeitmenschen lebten, warum sie ausstarben und wie ähnlich sie uns waren. Jetzt ist es

gelungen, das Erbgut des Neandertalers zu entschlüsseln. Das Ergebnis hat die Wissenschaft überrascht: Die Neandertaler sind gar nicht völlig verschwunden! Etwas von ihnen

lebt weiter, und zwar in uns.

Der neue Stammbaum des Menschen 4 Woher die gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Neandertaler kamen

Wie sind Neandertaler und Mensch miteinander verwandt? In der Vergangenheit wurde der Neandertaler mal als Vorfahr des Homo sapiens gehandelt, mal als entfernter

Cousin. Erst die genetischen Untersuchungen der letzten Zeit haben seinen Platz im Stammbaum der Menschen zurechtgerückt.

Was Knochen verraten 4 Auf Spurensuche beim Neandertaler

Es scheint nicht viel, was vom Neandertaler geblieben ist. Knochen von 300 Individuen, wurden bisher bei Grabungen entdeckt. Häufig sind es nur ein paar Skeletteile. Aber

darin steckt mehr Information als es auf den ersten Blick scheint: Mithilfe der Knochen erforschen Wissenschaftler die Lebenswelt der Neandertaler – und finden Hinweise auf

sein soziales Verhalten, seinen Speiseplan und vieles mehr.

Wilder Kerl mit menschlichen Zügen 4 Das Bild des Neandertalers im Wandel der Zeit

Als 1856 in der Nähe von Düsseldorf die Spur des Neandertalers entdeckt wird, hat man nichts als ein paar Knochen. Doch schon bald rätselt die Menschheit, wie er ausge-

sehen haben könnte. Mit unterschiedlichem Ergebnis. Im Laufe der vergangenen 150 Jahre hatte der Neandertaler schon so manches Gesicht.

Der Werkzeugkasten der Neandertaler 4 Spezialisierte Arbeitsgeräte wurden nach Standardverfahren hergestellt

Sie gaben einer ganzen Epoche der menschlichen Entwicklung ihren Namen. Werkzeuge aus der „Steinzeit“ finden sich an praktisch allen Siedlungsplätzen der Urmenschen

und sie verraten viel über das Leben damals. Die Neandertaler brachten die Kunst der Werkzeugproduktion vor rund 300.000 Jahren auf eine neue Stufe. Und sie waren wahr-

scheinlich geschickte Jäger.

Konnte der Neandertaler sprechen? 4 Mensch und Sprache sind untrennbar

Neben dem aufrechten Gang ist die Sprache das auffälligste Merkmal, das den Menschen von seinen nächsten Verwandten im Tierreich unterscheidet. Sprechen ist die wich-

tigste Kommunikationsform der Gattung Homo - galt das auch schon für den Neandertaler? Viele Forscher sind fest davon überzeugt.

Das Gehirn des Neandertalers... 4 und warum Größe nicht alles ist

Das größte menschliche Gehirn, das je gefunden wurde, gehörte einem Neandertaler. Auch im Durchschnitt war sein Gehirn größer als das des modernen Menschen. Manche

Wissenschaftler vermuten deshalb, dass er ähnlich intelligent gewesen sein muss. Doch eine Studie aus Leipzig liefert Hinweise, dass der heutige Mensch dem Neandertaler

kognitiv überlegen ist.

Der kleine Unterschied 4 Was macht den Mensch zum Menschen?

Der Neandertaler war uns heutigen Menschen bereits ziemlich ähnlich. Sein Erbgut gleicht unserem zu 99,7 Prozent. Doch was ist mit dem kleinen Rest? Liegt hier das

Geheimnis verborgen, was uns Menschen so besonders macht? Die Suche nach dem kleinen Unterschied in der Erbsubstanz ist eine Suche nach der Antwort auf die Frage:

Was macht den Mensch zum Menschen?

Autoren: Johanna Bayer, Carsten Binsack, Dirk Gilson, Christiane Meister, Daniel Münter, Eva Schultes

Redaktion: Monika Grebe

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Der Neandertaler in uns Erbgut des Urzeitbewohners entschlüsselt

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Viele Jahrtausende lebte der Neandertaler bereits schon in Europa und dem mittleren Osten, als

dort auch der moderne Mensch, unser Vorfahr, auftauchte. Was ist dann passiert? Haben sie sich

bekämpft oder vermischt? Warum starb der Neandertaler schließlich aus, während der moderne

Mensch die ganze Erde eroberte? Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthro -

pologie in Leipzig suchen nach Antworten im Erbgut des Frühzeitmenschen. Es ist ihnen gelun-

gen, das gesamte Genom des Neandertalers zu entschlüsseln. Und es zeigt: Moderne Menschen

und Neandertaler haben sich damals vermischt und miteinander Kinder gezeugt. Wir alle tragen

also Neandertaler-Gene in uns.

Suche nach den richtigen Knochen

Das komplette Erbgut einer ausgestorbenen Art zu analysieren galt noch vor wenigen Jahren als

unmögliches Unterfangen. In mehreren Schritten muss der Träger der Erbinformation, die DNA, aus

den alten Knochen gewonnen werden. Doch häufig ist dort gar nichts mehr zu finden. Zu Lebzeiten

befindet sich die DNA in jeder Zelle des Körpers. Nach dem Tod aber zerfällt sie in immer kleine-

re Stücke, verändert sich und kann schließlich ganz verloren gehen. „Die größte Herausforderung

war, geeignete Knochen zu finden“, berichtet Evolutionsgenetiker Johannes Krause. Bei der Suche

nach dem Gencode des Neandertalers war er von Anfang an mit dabei, inzwischen ist er Professor

an der Universität Tübingen. „Wir haben Hunderte von Neandertalerknochen untersucht und haben

nur ein paar Dutzend gefunden, die überhaupt Neandertaler-DNA erhalten haben.“ Als Glücksfall

erwies sich der Fund in einer kroatischen Höhle. Die hier entdeckten Neandertalerknochen waren

besonders gut geeignet für die genetische Untersuchung. Die etwa 40.000 Jahre alten Knochen

von drei weiblichen Neandertalern enthielten relativ wenig fremde DNA. Die Kontamination mit

fremder DNA ist nämlich das andere Problem, mit dem Wissenschaftler bei der Untersuchung von

so alter Erbsubstanz zu kämpfen haben. Nur etwa fünf Prozent der DNA, die sich in einem alten

Knochen findet, gehörte wirklich einmal einem Neandertaler. Der Rest, also 95 Prozent, stammt

von heutigen Menschen, die den Knochen angefasst haben, oder von Mikroorganismen, die sich

während der Jahrtausende dort ansiedelten.

400 Milligramm statt 20 Kilo

„Es ging im ganzen Projekt ständig hoch und runter“, erinnert sich Johannes Krause. „Wir hatten

nur einige wenige Knochen und wir haben damals berechnet, wir bräuchten zwanzig Kilogramm.

Das war natürlich absolut utopisch. Es ist schwierig, einen Kurator aus einem Museum zu über-

zeugen, dass er einem einen ganzen Schädel gibt, den man dann mit einem Mörser zerkleinern

kann. Wir mussten also die einzelnen Schritte, wie man die DNA aufbereiten kann, verbessern.“

Vieles an ihnen ist uns noch ein Rätsel.

Warum sind sie ausgestorben?

In diesen uralten Knochen können noch

Reste von Neandertalererbgut stecken

Zum ersten Mal wird das Erbgut einer

schon lange ausgestorbenen Menschen -

form entschlüsselt

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Und das gelingt dem Team aus Mikrobiologen, Genetikern, Biochemikern und Informatikern tat-

sächlich. Sie verbessern die Verfahren, wie sie das in winzige Schnipsel zerfallene Genom sinnvoll

zusammenfügen können. Computerprogramme helfen, die Daten zu verwalten. Zudem gibt es

enorme technische Fortschritte. Neue Maschinen können inzwischen Millionen von DNA-Sequenzen

in kürzester Zeit entziffern. Johannes Krause erklärt, was das bedeutet: „Für das erste menschliche

Genom haben wir damals 13 Jahre gebraucht, heute brauchen wir dafür eine Woche, und das hat

damals 1,5 Milliarden Euro gekostet, heute nur 5000 Euro. Die Technologie hat sich immens ver-

ändert.“ Nach vielen Jahren Arbeit am Neandertaler-Erbgut ist die Sensation geschafft: Das erste

Genom eines ausgestorbenen Frühmenschen ist entschlüsselt. Und statt der errechneten 20 Kilo -

gramm haben die Forscher nur 400 Milligramm Knochenmaterial verbraucht.

Der Neandertaler in uns

Eine Frage interessierte die Forscher besonders: Haben moderne Menschen und Neandertaler

gemeinsame Nachkommen gezeugt? Bisherige Untersuchungen hatten dafür bislang nie Anzei chen

erbracht und eigentlich waren viele Wissenschaftler der Meinung, dass es keine Vermi schung

gegeben hat. Die Entschlüsselung des kompletten Neandertaler-Erbguts eröffnet aber nun völlig

neue Möglichkeiten. Die Forscher vergleichen das Genom des Neandertalers mit dem von heute

lebenden Menschen aus verschiedenen Erdteilen: aus Europa, Asien und Afrika. Sie wollen fest-

stellen, wie nah sie mit dem Neandertaler verwandt sind. Das Ergebnis ist eine Überraschung:

Europäer und Asiaten sind mit dem Neandertaler näher verwandt als die Afrikaner. Bis zu vier

Prozent der Gene der Nichtafrikaner stammen vom Neandertaler. Die einzige Erklärung dafür: Die

Vor fahren von Europäern und Asiaten hatten Sex mit den Neandertalern und sie haben Nach -

kommen gezeugt.

Schauplatz Mittlerer Osten

Die Leipziger Wissenschaftler vermuten, dass diese Vermischung schon sehr früh passiert ist, und

zwar im Mittleren Osten. Man weiß, dass hier bereits vor 100.000 Jahren moderne Menschen

gelebt haben und auch von Neandertalern gibt es Funde. Möglicherweise sind sich dort die bei-

den Menschenformen näher gekommen. Später dann bevölkerten unsere Vorfahren ganz Europa

und Asien, die Gene des Neandertalers trugen sie fortan mit sich. In unserem Erbgut sind sie heute

noch nachzuweisen. Ein bisschen vom Neandertaler steckt also immer noch in uns.

Autorin: Eva Schultes

Moderne Menschen und Neandertaler

haben gemeinsame Nachkommen

gezeugt

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Zusatzinfos (Fachausdrücke, Erklärungen):

DNA

Die Desoxyribonucleinsäure (kurz DNS oder in der englischen Abkürzung DNA) speichert die Erb in -

formation einer Zelle. Da jeder Mensch eine „Einzelanfertigung“ ist, ist auch seine DNA einzigartig.

Sie lässt sich im Labor mit Hilfe der DNA-Analyse sichtbar machen.

Genom

Das Genom (= Erbgut) ist die Gesamtheit der vererbbaren Informationen einer Zelle. Sie sind in der

Regel in der Desoxyribonukleinsäure (DNA) gespeichert. Das Genom enthält alle Informationen, die

zur Entwicklung und zur Ausprägung der spezifischen Eigenschaften eines Lebewesens notwendig

sind.

Der neue Stammbaum des MenschenWoher die gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Neandertaler kamen

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Die anthropologische Sensation des Jahres 2010 war sicherlich die Veröffentlichung des

Neandertalererbgutes. Vor allem, dass sich Spuren seiner Gene auch beim Menschen finden, hät-

ten viele Experten nicht für möglich gehalten. Doch auch die Information, dass nur wenige

Prozent des gesamten Erbgutes vermischt wurden und alle modernen Europäer und Asiaten die

gleichen Anteile tragen, verrät viel über die Wanderungsbewegungen der Vormenschen und ihre

Verwandtschaftsverhältnisse. Der Streit darüber, wann und wo Neandertaler und Mensch sich

begegneten scheint jedenfalls entschieden. Ein neuer Stammbaum des Menschen wurde

geschrieben.

Folgen Sie den Spuren der Menschheit aus der Wiege Afrika bis zum Aussterben des Neander ta -

lers. Der Quarks-Film – jetzt auf www.quarks.de anschauen.

Autor: Daniel Münter

Was Knochen verraten Auf Spurensuche beim Neandertaler

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Es scheint nicht viel, was von über 100.000 Jahren Neandertaler geblieben ist. Knochen von etwa

300 Individuen haben Forscher und auch Laien bisher ausgegraben. Von vielen hat man nur ein-

zelne Skeletteile gefunden. Schon früh haben Wissenschaftler begonnen, mit Hilfe der Funde die

Lebenswelt der Neandertaler nachzustellen. Doch die Forschung hat ihren Preis. Für viele

Experimente muss Original-Knochenmaterial verwendet werden. Das ist kostbar und selten. Dank

moderner Technik genügen mit der Zeit immer kleinere Proben, um in das Leben der Neandertaler

einzudringen. Sehen Sie selbst, was Forscher anhand von Knochen über das soziale Verhalten, den

Speiseplan und vieles mehr herausfinden. Der Quarks-Film über den Alltag der Neandertaler – jetzt

auf www.quarks.de anschauen.

Autoren: Carsten Binsack und Christiane Meister

Wilder Kerl mit menschlichen ZügenDas Bild des Neandertalers im Wandel der Zeit

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Mitte des 19. Jahrhunderts zogen Fortschritt und Industrialisierung durch Europa. Kalk war zu die-

ser Zeit ein wertvolles Gut – sehr begehrt als Zuschlagstoff für die Roheisen-Produktion. Auch im

Neandertal, rund zehn Kilometer östlich von Düsseldorf, wurde in den Steinbrüchen Kalk abgebaut.

Hierbei legten im Jahr 1856 zwei Arbeiter mit Spitzhacke und Spaten in einer Höhle, der soge-

nannten Kleinen Feldhofer Grotte, einige Knochen frei. Der Lehrer und Hobbynaturforscher Johann

Carl Fuhlrott untersuchte diesen Fund zusammen mit dem Bonner Anatom und Urgeschichts profes -

sor Hermann Schaaffhausen. Die beiden Forscher waren sich sehr bald einig, dass die Knochen

von einer bisher unbekannten Menschenform stammten. Das sah man in der übrigen Fachwelt

allerdings nicht so eindeutig. Vorstellungen und Ideen, die sich mit Evolution und menschlicher

Abstammung beschäftigten, hatten damals mit Widerständen zu kämpfen. Auch Charles Darwin

hatte drei Jahre später die Wissenschaftswelt in Aufruhr versetzt, als er 1859 sein Aufsehen erre-

gendes Buch über die Evolutionstheorie und die Entstehung der Arten veröffentlichte. Schließlich

wurde die neu gefundene Menschenform nach heftigen Diskussionen nach dem Ort der Ent -

deckung „Homo sapiens neanderthalensis“ genannt. Doch wie hatten diese Menschen ausge -

sehen? Von Anfang an rätselte die Fachwelt.

Der Neandertaler bekommt ein Gesicht

Die erste wissenschaftliche Zeichnung, die das Aussehen des Neandertalers zeigte, ließ Hermann

Schaaffhausen 1876 anfertigen. Vorlage für dieses Bild war der erste Fund aus dem Neandertal

– bestehend aus lediglich 16 Knochen: fünf Rippen, eine Beckenhälfte, ein Schlüsselbein, ein

Schulterblattfragment sowie mehrere Arm- und Beinknochen. Vom Kopf gab es damals nur die

Schädeldecke. Dennoch ließ Schaaffhausen ein Bild des Kopfes zeichnen. Es zeigt den Neander -

taler mit deutlichem Überbiss, langhaarig und kurzbärtig. Auf einem Kongress in Budapest

wurde dieses Neandertaler-Bild das erste Mal der Fachwelt vorgestellt. Es sollte der Anders -

artig keit des Neandertalers gegenüber dem modernen Menschen gerecht werden, ohne ihn

dabei zu verrohen. Rund zehn Jahre später ließ Schaaffhausen die Darstellung allerdings über-

arbeiten. Denn in der Zwischenzeit war ein weiterer Neandertaler in Belgien entdeckt worden.

Dieser Fund gab eindeutige Hinweise, dass die Neandertaler klar vom modernen Menschen

abzu grenzen waren. Diese neuen Erkenntnisse wollte Hermann Schaaffhauen vermutlich be rück -

sichtigen. Als er ein zusammenfassendes Buch über den ersten Neandertaler-Fund veröffent-

lichte, blickte der Neander taler nun grimmiger und wirkte insgesamt zotteliger und wilder. Die

Überaugenwülste waren jetzt deutlicher ausgeprägt. Das Neandertaler-Bild wurde rauer und

grenzte sich stärker vom Menschen ab.

Der Fund aus dem Neandertal – 1856

wühlt ein Knochenhaufen die Fachwelt

auf.

Rechte: Neanderthal Museum, Mettmann

Das erste Bild des

Neandertalers von 1876

Rechte: WDR/INTERFOTO

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Das Bild vom wilden Mann

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand eine Zeichnung, die bei weitem den größten Einfluss auf

das Bild des Neandertalers hatte. Grundlage für diese neue Erscheinung, war ein fast vollständi-

ges Skelett, das der französische Wissenschaftler Marcellin Boule 1908 in La Chapelle-aux-Saints

entdeckt hatte. Für Boule war der Neandertaler allgemein eine primitive, nicht vollständig aufrecht

gehende, ausgestorbene Menschenform, die nicht in den Stammbaum des modernen Menschen

gehörte. Ein folgenschweres Fehlurteil. Denn was er nicht wusste: Die gefundenen Knochen

stammten von einem kranken, alten Neandertaler und waren verformt. Doch dieses Fehlurteil ver-

breitet sich. Eine Neandertaler-Zeichnung des tschechischen Malers Frantisek Kupka basiert auf die-

sen falschen Annahmen von Boule: Sie stellt den Neandertaler als gebeugt gehenden Wilden dar.

Ein mordlüsternder Raubaffe. In der rechten Hand die unvermeidliche Holzkeule – für die es keine

Belege gibt. Ein falsches Neandertaler-Bild, das sich über Jahrzehnte festsetzt.

Der Neandertaler wird menschlich

Auch wenn es vereinzelt schon in den 1940er-Jahren Darstellungen gibt, die den Neandertaler

menschlicher erscheinen lassen und obwohl es mittlerweile auch eine Fülle neuer Neandertaler-

Untersuchungen gibt: Bis in die 1980er-Jahre hält sich meist das Bild vom Neandertaler als fernem

animalischen Wesen. Erst seit den 1990er-Jahren wird ein Wandel im Neandertaler-Bild immer

deutlicher erkennbar. Es wird dem modernen Menschen immer ähnlicher. Eine Flut neuer Unter -

suchungsergebnisse verringert die Unterschiede zwischen Neandertalern und anatomisch moder-

nen Menschen so sehr, dass Neandertalern ihre menschenähnliche Existenz heute nicht mehr abge-

sprochen werden kann. Und mit Techniken aus der Gerichtsmedizin lassen sich heute auch die

Weichteile und die Haut recht genau rekonstruieren. Denn die Robustheit der Knochen und vor

allem die an den Knochen sichtbaren Ansatzstellen der Muskeln geben einige Hinweise auf die

Ausprägung des ehemaligen Aussehens. Und das war vermutlich gar nicht so anders als unser

eigenes.

Autor: Carsten Binsack

Das Bild vom Keule schwingenden

Wilden ist im 20. Jahrhundert weit

verbreitet

Rechte: WDR/INTERFOTO

Mit Techniken aus der Gerichts -

medizin lassen sich heute Gesichter

rekonstruieren.

Rechte: Neanderthal Museum,

Mettmann

Der Werkzeugkasten der NeandertalerSpezialisierte Arbeitsgeräte wurden nach Standardverfahren hergestellt

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Die Herstellung und Verwendung von Werkzeugen ist eine Fähigkeit, die der Mensch im Laufe sei-

ner Entwicklungsgeschichte immer weiter verfeinert und ausgebaut hat. Schon vor rund 2,5 Millio -

nen Jahren nutzten die ersten Vertreter der Gattung Homo in Afrika simple Geröllwerkzeuge –

Steine, die durch einfaches Abschlagen eine scharfe Kante erhielten. Vor etwa 1,5 Millionen Jahren

tauchten dann die ersten Faustkeile auf und verbreiteten sich mit dem Homo erectus von Afrika

aus nach Europa und Asien. Faustkeile und andere Werkzeuge dieser Zeit zeichnen sich schon

durch eine sorgfältige, oft beidseitige Bearbeitung eines Rohlings aus. Doch der Neandertaler ent-

wickelte die Technik der Steinbearbeitung noch weiter und schuf eine anspruchsvolle Methode,

um ein ganzes Arsenal an effektiven Werkzeugen herzustellen.

Faustkeile und Schaber

Vor rund 300.000 begann der Neandertaler, eine ganz eigene Methode der Steinbearbeitung zu

entwickeln. Archäologen sprechen von einer sogenannten Abschlagtechnik, bei der sorgsam von

Steinknollen abgeschlagene Steinscherben und -splitter als Schneiden dienten und sogar zu ande-

ren Werkzeugformen weiterverarbeitet wurden. Zum „Werkzeugkasten“ der Neandertaler zählten

neben den klassischen Faustkeilen auch verschiedene Varianten von Spitzen, Schabern und

Kratzern.

Das Besondere an der sogenannten Levallois-Technik der Neandertaler war die Möglichkeit, mit

Hilfe einer überaus sorgsamen Vorbearbeitung des Rohlings einen oder mehrere flache, scharfe Stein -

klingen von nahezu exakt vorbestimmter Größe und Form zu gewinnen. Dieses Verfahren erfor -

derte nicht nur ausgereiftes technisches Können und präzises Vorgehen, sondern auch eine genaue

Planung. Der Neandertaler muss schon vor dem ersten Schlag genau gewusst haben, welches

Werkzeug er herstellen wollte.

Werkzeuge mit Schaft und Kleber

Obwohl sich heute fast nur Werkzeuge aus Stein an den Siedlungsplätzen der Neandertaler finden,

so haben sie doch mit hoher Wahrscheinlichkeit auch mit anderen Materialen gearbeitet. Wenn

Archäologen heute die Klingen der Steinwerkzeuge unter dem Mikroskop untersuchen, finden sie

häufig Gebrauchsspuren, die auf eine Bearbeitung von Holz schließen lassen. Außerdem legen etli-

che der von den Neandertalern verwendeten Steinabschläge durch ihre Form und die Gebrauchs -

spuren nahe, dass sie an hölzernen Griffen oder Schäften befestigt waren.

Den eindringlichsten Beleg für die Herstellung von zusammengesetzten Werkzeugen entdeckten

Archäologen 1963 in Königsaue, Sachsen-Anhalt. Sie fanden zwei Harzklumpen, auf denen sowohl

der Abdruck eines Steinwerkzeuges als auch eines hölzernen Schaftes zu erkennen sind. Die

Typische Faustkeile des Homo erectus

Rechte: akg-images

In der Levallois-Technik wird das

Werkzeug in mehreren definierten

Schritten hergestellt

Rechte: Creative Commons (José-Manuel

Benito Álvarez)

Eine typische Levallois-Spitze und eine

Levallois-Abschlag

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eigentliche Sensation folgte aber erst im Jahr 1996: Eine chemische Analyse ergab, dass es sich

bei dem Harzklumpen um Birkenpech handelt. Bis dahin kannte man diesen „Steinzeitkleber“ nur

aus der wesentlich späteren Jungsteinzeit. Birkenpech entsteht nicht spontan auf natürlichem

Wege, sondern muss im anspruchsvollen Verfahren der trockenen Destillation hergestellt werden.

Auch dieser Fund belegt die technische Intelligenz der Neandertaler.

Speere und Lanzen

Über die Jagdwaffen und -strategien der Neandertaler wurde im Laufe der Forschungsgeschichte

viel spekuliert. Zwar finden sich an den Siedlungsplätzen meist große Mengen an Tierknochen, von

denen viele Schnittmarken von Steinwerkzeugen tragen. Es ließ sich jedoch lange nicht aus-

schließen, dass die Neandertaler nur die Kadaver bereits verendeter Tiere ausgeschlachtet haben.

Vor allem britische und amerikanische Archäologen vertraten in den 1980er- und 90er-Jahren die

Auffassung, dass der Neandertaler große Tiere wie Rinder, Pferde, Flusspferde und Elefanten nur

als Aas verzehrte und allenfalls Jagd auf Kleintiere wie Kaninchen machte.

Auch in diesem Fall änderte ein einzelner Fund die Sichtweise auf das Leben der Urmenschen.

Zwischen 1995 und 1998 wurden in einem Braunkohletagebau bei Schöningen in Niedersachsen

acht hölzerne Wurfspeere zusammen mit einer großen Anzahl von Wildpferdknochen gefunden.

Das Alter der Jagdspeere wurde auf rund 300.000 bis 400.000 Jahre datiert. Damit ist belegt, dass

schon der Vorfahr des Neandertalers, der Homo erectus, Jagd auf große Tiere machte. Es ist plau-

sibel anzunehmen, dass auch der Neandertaler selbst ein geschickter Jäger war.

War der moderne Mensch überlegen?

Mit der Ankunft des anatomisch modernen Menschen in Mitteleuropa, also etwa vor 40.000

Jahren, ändert sich auch die Art der Werkzeuge und Waffen. Etliche Archäologen sehen in diesem

Technologiewandel einen Grund dafür, dass sich die Vertreter der Gattung Homo sapiens eine

gegen den Neandertaler durchsetzen konnten. Sie spezialisierten sich nämlich auf die Herstellung

von Steinklingen. So schlugen sie aus einem Rohling Schicht für Schicht von außen nach innen

zahlreiche schmale Klingen ab und konnten so fast den gesamten Stein nutzen. Diese Methode ist

zwar effektiver, weil pro Stein mehr Klingenlänge entsteht, die Werkzeuge wurden dadurch aber

nicht prinzipiell besser.

Auch bei den Jagdwaffen lässt sich keine grundsätzliche Überlegenheit des modernen Menschen

erkennen. Zwar nutzte er in wesentlich größerem Maße auch Knochen und Elfenbein, zum Beispiel

für Geschoßspitzen. Effektive Distanzwaffen wie Speerschleuder oder Pfeil und Bogen tauchen

Ein Klumpen Birkenpech

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jedoch erst lange nach dem Aussterben der Neandertaler auf. So gibt es bis heute keine eindeu-

tigen Belege, dass zu der Zeit, in der Homo sapiens und Homo neandertalensis nebeneinander

lebten, die eine Art der anderen technologisch überlegen war.

Autor: Daniel Münter

Zusatzinfos (Fachausdrücke, Erklärungen):

Homo erectus

Der Homo erectus ist ein Vorfahr des Neandertalers und des modernen Menschen, Homo sapiens.

Er war vermutlich die erste Vormenschenart, die das Feuer benutzte und wie ein moderner Mensch

laufen konnte. Im Laufe der Jahrtausende dehnte Homo erectus seinen Lebensraum von Afrika

immer weiter aus. Dabei stieß er auch immer weiter Richtung Norden vor. Über die arabische Halb -

insel gelangte er vor 1,5 Millionen Jahren bis ins heutige China und Indonesien. Vor etwa 800.000

Jahren wandert er über den Nahen Osten auch nach Europa ein.

Levallois

Benannt wurde die Levalloistechnik von französischen Archäologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts

nach Funden in einem Vorort von Paris, Levallois-Perret.

Homo sapiens

Der Homo sapiens ist die Hominidenart, zu der alle heute auf der Erde lebenden Menschen gehö-

ren. Die ältesten Knochen, die eindeutig dem Homo sapiens zugeordnet werden konnten, wurden

in Äthiopien gefunden und sind rund 160.000 Jahre alt.

Konnte der Neandertaler sprechen?Mensch und Sprache sind untrennbar

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Mensch und Sprache sind untrennbar

Neben dem aufrechten Gang ist die Sprache das auffälligste Merkmal, das den Menschen von sei-

nen nächsten Verwandten im Tierreich unterscheidet. Sprechen ist die wichtigste Kommunika tions -

form der Gattung Homo – galt das auch schon für den Neandertaler? Viele Forscher sind fest davon

überzeugt, schon allein deshalb, weil das Überleben im eiszeitlichen Europa gar nicht anders mög-

lich gewesen wäre. Jagen von großen Tieren, Herstellen von Werk zeugen, Kleidung oder Behau -

sungen – ohne differenzierte und reibungslose Verständigung ist das alles nicht vorstellbar. Doch

nur ein einziger Fund belegt diese Annahme: das Zungenbein von Kebara. Der unscheinbare klei-

ne Knochen wurde 1983 in einer Höhle in Israel gefunden. Dort entdeckten Forscher ein Neander -

taler-Grab mit dem Skelett eines Mannes. Die Knochen sind etwa 60.000 Jahre alt, Brustkorb,

Wirbelsäule, Arme und Hände sind erhalten – und eben die kleine, hufeisen förmige Struktur, die

etwas über die Sprachfähigkeit der Neandertaler verrät.

Ein unscheinbarer kleiner Knochen

Das Zungenbein sitzt beim modernen Menschen knapp unter dem Kinn über dem Kehlkopf, auf der

Höhe des dritten Halswirbels. An dem dünnen Knochen setzen viele Bänder und Muskeln an, die

der Zunge ihre enorme Beweglichkeit verleihen – und die braucht sie vor allem zum Sprechen.

Tatsächlich ist die Zunge das wichtigste Artikulationsorgan, und das Zungenbein von Kebara, sagen

Paläoanthropologen, ist von dem eines modernen Menschen praktisch nicht zu unterscheiden.

Daher ist es unter Wissenschaftlern mittlerweile unbestritten, dass der Neandertaler über eine

Lautsprache verfügt haben muss. Wie hoch entwickelt diese war und wie der Stimm- und Sprech -

trakt des Neandertalers ausgesehen haben mag, darüber geben die Funde keine weiteren

Informationen. Kehlkopf, Luftröhre und Gaumen, die eine Rolle für Stimme und Artikulation spie-

len, bestehen aus Knorpel und Weichteilen und sind nicht erhalten.

Breiter und kompakter als beim Homo sapiens

Robert Franciscus, Anthropologe an der Universität von Iowa, hat untersucht, wie der Atem- und

Stimmtrakt des Neandertalers von Kebara ausgesehen haben könnte. In seinem Projekt vermaß er

Hals und Rachen von Probanden im Computertomografen. Die Resultate verwendete er, um aus

Neandertaler-Funden zu rekonstruieren, wie der Atem- und Stimmtrakt der Neandertaler ausgese-

hen haben könnte. Da ihm von den Neandertalern nur Reste von Knochen zur Verfügung standen

– es gibt kein einziges vollständiges Neandertaler-Skelett – beruht sein Ergebnis stark auf den

Daten der modernen Menschen. Denn nur an der Form ihrer Weichteile in Rachen und Kehle lässt

sich erahnen, wie es beim Neandertaler gewesen sein könnte. Das Ergebnis der Studie ist eini-

Der Fund von Kebara in Israel – in die-

ser Grabstätte enteckte man auch das

einzige Zungenbein, das von den Nean -

dertalern bislang gefunden wurde

Das Zungenbein ist ein kleiner, huf eisen -

fömiger Knochen über dem Kehl kopf. Es

ist nicht mit der Wirbel säule verbunden,

sondern hängt nur an Bän dern und

Muskeln. Ohne diese Kon struk tion hat

die Zunge nicht die Beweg lichkeit, die

sie zum Sprechen braucht

Robert Franciscus mit den Modellen

der beiden Atemtrakte in der Hand. Der

Anthropologe an der Universität von

Iowa beschäftigt sich vor allem mit der

Anatomie der frühen Menschen

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germaßen erstaunlich: Luftröhre, Kehle und Stimmtrakt waren bei dem Neandertaler, den

Franciscus als Hauptfund verwendet hat, ebenso geformt wie bei modernen Menschen.

Allerdings gibt es doch einen Unterschied, denn das in Iowa verwendete Skelett gehörte einem

Mann. Und der dazugehörige Stimmtrakt ist laut Fraunciscus kürzer, breiter und gestauchter als

üblicherweise bei modernen Männern: „Irgendwie mehr so, wie man es heute bei einer Frau

erwarten würde“, so Franciscus.

Schrille Schreie auf freiem Feld?

Wie nun die Stimme dieses Neandertalers geklungen haben könnte, wollte ein Team des briti-

schen Fernsehsenders BBC wissen – es hatte Franciscus in den USA interviewt und ein unge-

wöhnliches Experiment unternommen: Die Sprachtrainerin Patsy Rodenburg sollte die Stimme des

Neanderthales mit Hilfe eines Schauspielers simulieren. Patsy Rodenburg arbeitet am britischen

Staatstheater in London und der Londoner Schauspielschule „Guildhall School of Music & Drama“.

Die Stimmtrainerin wählte bewusst einen Schauspieler mit „Neanderthal-Statur" aus – stark, kom-

pakt gebaut und mit großem Kopf. Sie ließ ihn die Muskeln anspannen, mit voller Kraft laut schreien

und dabei die Stimme nach oben modulieren. Schließlich hatte der Anthropologe Franciscus ja ver-

mutet, dass die Stimme des Neandertalers eher hoch war. Das ist auch für moderne Männer nicht

so ungewöhnlich und kann großartige Tenorstimmen ergeben – in Patsy Rodenburgs Versuch kam

eine hoher, schriller, gepresst klingender und extrem lauter Schrei heraus: „Bestimmt gut für die

Verständigung im Freien“, spekulierte die Sprachtrainerin.

Die Anatomie stimmt

Ob die Stimme des Neandertalers wirklich so geklungen hat, will Forscher Franciscus nicht bestä-

tigen: Er fand das Experiment des BBC-Teams spaßig, hält es aber für Spekulation: „Wie die Stimme

wirklich geklungen haben könnte, können wir gar nicht beurteilen“, so Franciscus. „Fest steht mei-

ner Meinung nach nur, dass der Neandertaler die anatomischen Voraussetzungen für das Sprechen

hatte“. Ganz abgeschlossen ist die Diskussion über die Sprache der Neandertaler damit nicht,

zumal einige Wissenschaftler noch auf die Rolle der Gene hinweisen. Seit einigen Jahren kennt

man die Mutation eines bestimmten Gens, die so genannte FOXP2-Variante, die offensichtlich

wichtig für die Sprachfähigkeit und auch das Verstehen gesprochener Sprache ist. Analysen haben

ergeben, dass diese bestimmte Mutation erstmals vor etwa 40.000 Jahren aufgetreten sein soll –

das passt zum Zeitpunkt der Ausbreitung des Homo sapiens über den ganzen Globus. Für einige

Forscher ist damit klar, dass nur der moderne Mensch eine wirklich ausgeformte, leistungsfähige

Sprache hatte. Denn wenn auch das FOXP-Gen bei vielen Tieren und auch Menschenaffen nach-

weisbar ist, verfügen ausnahmslos moderne Menschen über die spezielle Mutation dieses Gens.

Diese spezielle Variante des FOXP2-

Gens ist eine recht späte Mutation

und wird auch das Sprach-Gen genannt

– nur der moderne Mensch verfügt

über sie

Rechte: James Stroud

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Für immer verklungen

Ungefähr als die Genmutation zum ersten Mal aufgetreten sein soll, erschien auch der Cro-Magnon-

Mensch in Europa – und die Neandertaler waren innerhalb von rund 10.000 Jahren ausgestorben.

Zufall? Vermischung mit der zahlenmäßig überlegenen Gruppe der Einwanderer? Oder Resultat

einer Unterlegenheit, die vor allem auf einer nur primitiven europäischen Sprache beruhte, im

Gegensatz zum eloquenten Homo sapiens aus Afrika? Das mögen die meisten Neandertaler-

Experten nicht glauben, denn es steht für sie außer Frage, dass sich die Neandertaler in ihren kog-

nitiven und sprachlichen Fähigkeiten nicht wesentlich vom modernen Menschen unterschieden.

Das beweist nicht nur das Zungenbein von Kebara. Auch Befunde aus Schädeluntersuchungen und

Werkzeuge, die eine ausgefeilte Technik und viele Kenntnisse voraussetzen, zeigen das. Über die

Natur ihrer Sprache wird sich bis auf weiteres aber nicht viel mehr sagen lassen – die Stimme der

Neandertaler ist für immer verklungen.

Autorin: Johanna Bayer

Der moderne Homo sapiens, hier

gezeichnet als mutiger Mammut-Jäger,

trat vor etwa 40.000 Jahren in Europa

auf – und innerhalb der nächsten

12.000 Jahren gab es keine Neander -

taler mehr. Liegt es an der Sprache?

Das Gehirn des Neandertalers ...und wie es sich vom Gehirn des modernen Menschen unterscheidet

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Auf den ersten Blick kann man die Verwandtschaft erahnen. Die Schädel von Neandertaler und

modernem Menschen haben eine ähnliche Form und sind fast gleich groß. Tatsächlich gehörte der

größte menschliche Schädel, der je gefunden wurde, einem Neandertaler. Im Durchschnitt ist sein

Kopf sogar etwas größer gewesen als der des modernen Menschen. Einige Wissenschaftler gehen

deshalb davon aus, dass der Urmensch ähnlich intelligent gewesen sein muss wie der Homo

sapiens. Doch die Intelligenz eines Individuums wird nicht allein durch die Größe des Gehirns

bestimmt. Wichtig ist auch, wie es sich entwickelt hat und wann sich welche Verknüpfungen

zwischen den Nervenzellen gebildet haben.

70 auf einen Streich

Ein Forscherteam vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig wollte die

Hirnentwicklung des Neandertalers genauer untersuchen und sie mit dem Wachstum des moder-

nen Menschen vergleichen. Weil kein Neandertalergehirn die vielen Jahrtausende seit seinem

Aussterben überstanden hat, waren die Schädel wichtigstes Untersuchungsobjekt. Ihre Innenfläche

zeigt auch heute noch, welche Form sein Gehirn früher gehabt haben muss.

Fast 70 Schädel von Homo sapiens und Neandertaler haben die Wissenschaftler aus aller Welt

gesammelt. Weil sie vor allem interessiert hat, wie sich das Gehirn während des Wachstums ver-

ändert, wollten sie nicht nur die Schädel von Erwachsenen untersuchen, sondern auch die von

Kindern und Neugeborenen.

Puzzlearbeit

Doch das stellte sie vor ein Problem: Manche Schädel sind nicht vollständig erhalten, andere sind

zerbrochen. Vor allem die zarten Knochen eines Neandertaler-Neugeborenen sind mittlerweile in

viele Einzelstücke geteilt. Um mit ihnen arbeiten zu können, haben die Wissenschaftler die

Schädelteile Schicht für Schicht in einem Computertomographen aufgenommen. Am Computer

konnten sie die einzelnen Schädelteile zusammensetzen und fehlende Stellen rekonstruieren. Allein

für den Schädel des Neugeborenen brauchten sie zwei Monate. Nach und nach erhielten sie eine

Reihe virtueller Schädel. Von ihnen nahmen die Forscher ebenfalls am Computer Abdrücke des

Schädelinnenraums.

Fast gleich groß – die Schädel von

Neandertaler (links) und modernem

Menschen.

Schädel liefern die letzten Hinweise,

wie das Gehirn der Neanderteile ausge-

sehen haben könnte

Vom Schädel eines Neandertalerbabys

sind nur einzelne Stücke erhalten

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Unterschiedliches Wachstum

So konnten die Wissenschaftler die Gehirnformen von Neandertaler und modernem Menschen zu

verschiedenen Wachstumsphasen miteinander vergleichen. Das Ergebnis: Direkt nach der Geburt

haben beide Menschenformen einen länglichen Kopf ähnlicher Größe. Doch in den ersten

Lebensmonaten entwickeln sie sich völlig unterschiedlich. Das Gehirn des heutigen Menschen ver-

ändert sich stark. Dadurch bekommt er eine kugelige Kopfform. Der Neandertaler behält den läng-

lichen Schädel, der einfach nur größer wird. So erreichen beide auf völlig unterschiedlichen

Entwicklungswegen eine ähnliche Gehirngröße. Das Wachstum unterscheidet sich vor allem in den

ersten ein bis zwei Lebensjahren. In dieser Zeit entwickeln sich die Grundlagen für geistige, kom-

munikative und emotionale Fähigkeiten. Da sich das Gehirn des modernen Menschen in dieser

Phase besonders stark verändert, glauben die Forscher, dass er dem Neandertaler in diesen Eigen -

schaften überlegen sein könnte.

Autorin: Christiane Meister

Zusatzinfos (Fachausdrücke, Erklärungen):

Computertomograph

Bei der Computertomographie (CT) werden viele Röntgenaufnahmen aus unterschiedlichen Rich tun -

gen angefertigt. Ein Computer rechnet sie zu einer dreidimensionalen Darstellung des Körperinne -

ren, in diesem Fall des Gehirns, zusammen.

Mit Schädelabdrücken untersuchen

Forscher die Gehirnentwicklung bei

einem Neandertaler-Baby

Der kleine Unterschied Was macht den Menschen so besonders?

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Der Neandertaler ist unser nächster Verwandter. Kein anderes Wesen war uns so ähnlich wie er.

Vor etwa 350.000 Jahren trennten sich unsere Wege in der Evolution. In dieser Zeit hat sich der

moderne Mensch entwickelt. Welche Veränderungen dabei eine Rolle spielten, ist immer noch ein

Rätsel. Die Untersuchung des Neandertalererbguts könnte helfen, die Besonderheiten der mensch-

lichen Natur zu ergründen. Neandertaler und Mensch haben eine zu 99,9 Prozent identische DNA.

Doch was sind die Unterschiede, die gerade mal 0,1 Prozent ausmachen und trotzdem so viel

bewirken? Um diese Frage zu beantworten, vergleichen Wissenschaftler das Erbgut von Neander -

taler und modernem Menschen.

Zwanzig Kandidaten

Die Forscher vergleichen das Genom des Neandertalers mit dem des Schimpansen und dem des

Menschen. Sie suchen nach Abschnitten, in denen sich Neandertaler und Schimpanse gleichen, der

Mensch aber eigene Merkmale entwickelt hat. Auf diese Weise wurden bereits mehrere

Besonderheiten im menschlichen Erbgut entdeckt, zwanzig davon erscheinen besonders interessant.

Unter diesen zwanzig Kandidaten sind zum Beispiel Erbanlagen, die beim Stoffwechsel eine Rolle

spielen, andere beeinflussen Skelett und Körperbau. Sie sollen nun näher unter die Lupe genom-

men werden. Die Wissenschaftler möchten genau wissen, welche Veränderungen sie im Menschen

bewirkt und welche Vorteile sie ihm möglicherweise verschafft haben.

Typisch menschlich

Auffällig ist, dass gleich vier der beim Menschen anders ausgestatteten Erbanlagen die Ent wicklung

des Gehirns und damit kognitive und sozialen Fähigkeiten betreffen. Defekte dieser Gene haben

schwerwiegende Folgen. Die Betroffenen leiden unter Intelligenz-Defiziten oder Wahrneh mungs -

störungen, sind Autisten oder schizophren. Die Vermutung liegt nahe, dass hier eine Besonderheit

des modernen Menschen verborgen liegt: die soziale Intelligenz – die Fähigkeit, die eigenen

Gefühle und auch die seiner Mitmenschen wahrzunehmen und zu verstehen. Vielleicht hat diese

typisch menschliche Fähigkeit ja am Ende den Ausschlag gegeben im Kampf ums Überleben. Aber

noch fehlen viele Informationen über die genaue Wirkungsweise dieser Erbanlagen. Die Suche der

Wissen schaftler geht weiter.

Autorin: Eva Schultes

In modernem Outfit würde ein Neander -

taler auf der Straße kaum auffallen

Die Forscher suchen nach den kleinen

Unterschieden im Erbgut

Sind es Erbanlagen für unsere Gehirn -

entwicklung, die den Menschen ein -

zigartig machen?

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Zusatzinfos (Fachausdrücke, Erklärungen):

Erbsubstanz, DNA

Die Desoxyribonucleinsäure (kurz DNS  oder in der englischen Abkürzung DNA) speichert die

Erbinformation einer Zelle. Da jeder Mensch eine „Einzelanfertigung“ ist, ist auch seine DNA einzig-

artig. Sie lässt sich im Labor mit Hilfe der DNA-Analyse sichtbar machen.

Genom

Das Genom (= Erbgut) ist die Gesamtheit der vererbbaren Informationen einer Zelle. Sie sind in der

Regel in der Desoxyribonukleinsäure (DNA) gespeichert. Das Genom enthält alle Informationen, die

zur Entwicklung und zur Ausprägung der spezifischen Eigenschaften eines Lebewesens notwendig

sind.

Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Neandertaler und modernem Menschen

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Worin unterscheiden sie sich und inwiefern sind sie sich ähnlich?

Kopf

Die Schädel von Neandertalern und modernem Menschen sind etwa gleich groß, das Hirnvolumen

fast identisch. Trotzdem gibt es markante Unterschiede. Die Schädelform des Neandertalers ist

länglich, während sie beim modernen Menschen kugelförmig ist. Auffällig sind zudem die stark

ausgeprägten Überaugenwülste beim Neandertaler. Seine Augenhöhlen sind größer und die Nase

ist breiter als beim Homo sapiens.

Brustkorb und Wirbelsäule

Im Verhältnis zu seiner Körpergröße zwischen 1,55 und 1,66 Metern hat der Neandertaler breite

Schultern. Der tonnenförmige Brustkorb deutet darauf hin, dass Neandertaler große Lungen hat-

ten. Insgesamt hat der Neandertaler einen stärkeren Knochenbau als der Homo sapiens. Dadurch

wirkt er kompakt und stämmig. Heutzutage ist ein vergleichbarer Körperbau typisch für Menschen

aus kalten Regionen.

Neandertaler moderner Mensch

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Becken

Die Hüfte der Neandertaler war breiter als die des modernen Menschen. Sein Schambein war län-

ger und dünner. Das Hüftgelenk ist stärker zur Seite ausgerichtet als beim Homo sapiens. Und die

Muskelansatzstellen sind stärker ausgeprägt als bei einem gut trainierten modernen Menschen. Im

Vergleich hatten Neandertalerfrauen kleinere Geburtskanäle als moderne Frauen. Deshalb war die

Geburt eines Neandertalerkindes besonders schmerzhaft.

Arme und Hände

Die Armknochen des Neandertalers waren kräftig entwickelt. Vergleicht man die Proportionen mit

einem modernen Menschen, fallen die Unterarme im Vergleich zu den Oberarmen deutlich kürzer

aus. Die Hände beider Menschenformen ähneln sich – allerdings sind sie beim Neandertaler etwas

kürzer und robuster.

Beine und Füße

Der Neandertaler hatte dickere Beinknochen als der Homo sapiens. Seine Oberschenkelknochen

waren nach vorn gebogen. Die Unterschenkel des Neandertalers sind im Vergleich zum modernen

Menschen deutlich kürzer. Die Form des Kniebereichs weist auf eine beachtliche Belastbarkeit hin.

Auch die Füße konnten aufgrund ihrer vergrößerten Gelenke extrem beansprucht werden.

Werkzeuge

Der Neandertaler hatte bereits vor rund 300.000 Jahren eine ausgefeilte Methode zur Herstellung

von Steinwerkzeugen. Er setzte eine Abschlagtechnik ein, um Schneiden, Schaber und Kratzer

herzu stellen. Der anatomisch moderne Mensch trieb diese Technologie weiter und entwickelte die

sehr effektive Klingenindustrie. Dabei werden aus einem einzigen Rohling viele lange, schmale

Klingen oder Lamellen geschlagen.

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Waffen

Vom Neandertaler sind nur wenige Stein-, Knochen- oder Geweihspitzen erhalten, die eine

Verwendung von Lanzen und Speeren belegen. Es gibt aber Funde von reinen Holzspeeren, die

mehr als 270.000 Jahre alt sind. Damit machte der Neandertaler auch Jagd auf große Säugetiere,

wie Pferde oder Rinder. Der moderne Mensch dagegen setzte schon früh Speere ein, auf die eine

harte Spitze aufgesetzt war.

Schmuck

Die Verwendung von Schmuck und Kunstgegenständen ist einer der großen Unterschiede von

Neandertaler und Mensch. An den Siedlungsplätzen des Homo neandertalensis fehlen sie fast völ-

lig. Eine Ausnahme: Im Jahr 2010 wurden in Spanien im Rahmen von Neandertaler-Ausgrabungen

durchbohrte Muscheln gefunden, die natürliche Farbpigmente enthalten. Beim Menschen

schmückte sich schon vor 100.000 Jahre mit durchbohrten Perlen, Muscheln, Tierzähnen und

Knochen.

Lesetipps

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Die Neandertaler: Genies der Eiszeit

Autor: Dirk Husemann

Verlagsangaben: Campus Verlag, 2005

ISBN: 3593376423

Sonstiges: 263 Seiten

Der Archäologe Dirk Husemann spannt einen weiten Bogen um die Geschichte des Neander talers.

Anschaulich beschreibt Husemann in seinem Buch, wie der Neandertaler zu seinem Image vom

Keulen schwingenden Steinzeittrampel gekommen ist, das sich im Laufe der Zeit zum kulturfähi-

gen Steinzeitmenschen wandelt.

Der Neandertaler. Auf den Spuren des ersten Europäers.

Autor: Martin Kuckenburg

Verlagsangaben: Klett-Cotta; Auflage: 1., Aufl. (August 2005)

ISBN-10: 3608941371

ISBN-13: 978-3608941371

Sonstiges: 339 Seiten, EUR 24,90

Gut lesbares Buch des Publizisten Martin Kuckenburg. Es liefert einen umfassenden Überblick über

das Wissen zum Neandertaler, auch wenn wegen des Erscheinungsjahres die jüngsten Ent wick -

lungen nicht enthalten sind. Kuckenberg stellt dafür sehr anschaulich die historische Ent wicklung

der Neandertalerforschung dar.

Der Neandertaler

Autoren: Michael Bolus, Ralf W. Schmitz

Verlagsangaben: Thorbecke Verlag, Ostfildern, 2006, 3-7995-9088-9

Sonstiges: 186 Seiten, 19,95 Euro

150 Jahre nach dem ersten Neandertalerfund in der Nähe von Düsseldorf haben die Autoren einen

Überblicksband rund um den Urmenschen verfasst. In verständlicher Sprache ordnen sie den

Neandertaler in die Menschheitsgeschichte ein und geben einen Überblick über die aktuelle

Forschung. Dabei geht es um das Aussehen des Neandertalers, seinen Speiseplan, seine Herkunft,

das Rätsel um sein Aussterben und vieles mehr.

Linktipps

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Studie zur Erbgut-Entschlüsselung

http://www.eva.mpg.de/neandertal/press/presskit-neandertal/pdf/Science_Green.pdf

Die Originalveröffentlichung der Forschergruppe um Svante Pääbo im science-Magazin mit Link zu

weiteren Materialien, allerdings eher geeignet für Fachleute, weniger für die interessierten Laien.

(englisch)

Zusammenfassung der Studie zur Erbgut-Entschlüsselung

http://www.mpg.de/bilderBerichteDokumente/dokumentation/pressemitteilungen/2010/pressemit-

teilung201004292/

Dies ist die offizielle Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts mit den wesentlichen Ergebnisse

der Studie, auch für Laien verständlich.

Neanderprojekt

http://www.eva.mpg.de/neandertal/index.html

Die Webseite des Neanderprojekts. Hier gibt es verschiedene Links zu weiterführender Literatur.

Neanderthaler – Rückblick auf 150 Jahre Rezeptionsgeschichte.

http://www.neanderthal.de/en/contact/staff/staff/index.html?tx_reddownloads%5Bfile%5D=598&

tx_redemployees%5Bred_employee%5D=1&tx_redemployees%5Btt_content%5D=1106&cHash=8c25

76be3d

Prof. Dr. Gerd-Christian Weniger und Dr. Bärbel Auffermann leiten das Neanderthal Museum in

Mettmann. Ihr Aufsatz über den Wandel im Bild des Neandertalers erschien anlässlich der

großen Neandertaler-Ausstellung 2006 im Rheinischen LandesMuseum Bonn im umfangreichen

Katalog-Handbuch zur Ausstellung.

Impressum:

Herausgegeben

vom Westdeutschen Rundfunk Köln

Verantwortlich:

Quarks & Co

Claudia Heiss

Redaktion:

Monika Grebe

Gestaltung:

Designbureau Kremer & Mahler

Bildrechte:

Alle: © WDR

© WDR 2010

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