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Psychosomatik in der Geburtshilfe Martin Langer* Abt. fur Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, AKH, Universitätsklinik fur Frauenheilkunde, Wien, Österreich 1 Zum Einstieg Während Schwangerschaft und Geburt erleben Frauen ihren Körper und dessen Veränderungen und die begleitenden Gefuhle besonders intensiv, wie in kaum einer anderen Phase des Lebens. Durch den Charakter der Schwangerschaft als Entwicklungskrise verändern sich auch viele bedeutende Lebens- bereiche der Schwangeren in grundlegender Weise. Auf der individuellen Ebene sind dies v. a. ihr Körperbild und ihre Identität als Frau, des Weiteren mussen wichtige soziale Beziehungen neu aufgebaut oder umstrukturiert werden: jene zum werdenden Kind, zum Partner, zu Verwandten und Freunden. Meist kommt es auch zu einer Reaktivierung der Beziehung zur eigenen Mutter mit der Möglichkeit, diese neu zu gestalten. Um all diese Veränderungen in relativ kurzer Zeit verarbeiten und in das Selbstbild integrieren zu können, muss die Schwangere eine Fulle von Anpassungsprozessen leisten. Selbst eine geplante und gewunschte Schwangerschaft, bei stabiler Partnerschaft und gunstigen äußeren Bedingungen, ist nicht nur eine Zeit freudiger Erwartung und guter Hoffnung, sondern auch eine Zeit von Ängsten und Unsicherheit. Dies gilt umso mehr und manchmal in krisenhaft verschärfter Weise dann, wenn es in einem Lebensbereich ungelöste Konikte oder schwangerschaftsbedingte Erkrankungen gibt. Ein generelles Wissen um diese psychosomatischen Zusammenhänge und eine grundsätzliche Aner- kennung ihrer Bedeutung gibt es seit langer Zeit. Die Psychosomatik als Disziplin versucht, dieses allgemeine Verständnis in klare Begriffe zu fassen, um es klinisch anwenden und wissenschaftlich erforschen zu können. Psychosomatik hat in der Schwangerenbetreuung und Geburtshilfe 2 wesentliche Aufgaben: Beschreibung der psychischen Abläufe bei normaler Schwangerschaft und Geburt, Formulieren von Grundsätzen fur eine im psychosomatischen Sinn umfassende Schwangerenbetreuung und Geburts- leitung, Richtlinien fur die Geburtsvorbereitung (Psychosomatik der Geburtshilfe). Beschreibung von psychischen Störungen bei Schwangeren sowie von seelischen Reaktionen auf somatisch komplizierte Verläufe oder medizinische Interventionen und spezielle psychotherapeutische Betreuung hierfur (Psychosomatik in der Geburtshilfe). Diese Dichotomie entspricht auch der klassischen Denition der Psychosomatik (Lipowski 1977) als einer Grundhaltung (ad 1) einerseits und einer speziellen Krankheitslehre (ad 2) andererseits. Die Grundhaltung geht von einem gesamtheitlichen Verständnis von Gesundheit und Krankheit aus, das bei jeder Erkrankung oder physiologischen Veränderung biologische, psychische und soziokulturelle Anteile und deren Interaktionen mitberucksichtigt (biopsychosoziales Modell). Daraus leitet sich ein Verständnis fur Schwangerschaft und Geburt als Reifungs- und Entwicklungskrise ab sowie entspre- chende Richtlinien fur die Betreuung von Schwangerschaft und Geburt und das Umgehen mit Komplika- tionen. *E-Mail: [email protected] Die Geburtshilfe DOI 10.1007/978-3-662-44369-9_49-1 # Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 Seite 1 von 24

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Psychosomatik in der Geburtshilfe

Martin Langer*Abt. f€ur Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, AKH, Universitätsklinik f€ur Frauenheilkunde, Wien, Österreich

1 Zum Einstieg

Während Schwangerschaft und Geburt erleben Frauen ihren Körper und dessen Veränderungen und diebegleitenden Gef€uhle besonders intensiv, wie in kaum einer anderen Phase des Lebens. Durch denCharakter der Schwangerschaft als Entwicklungskrise verändern sich auch viele bedeutende Lebens-bereiche der Schwangeren in grundlegender Weise. Auf der individuellen Ebene sind dies v. a. ihrKörperbild und ihre Identität als Frau, des Weiteren m€ussen wichtige soziale Beziehungen neu aufgebautoder umstrukturiert werden: jene zumwerdenden Kind, zum Partner, zu Verwandten und Freunden. Meistkommt es auch zu einer Reaktivierung der Beziehung zur eigenen Mutter mit der Möglichkeit, diese neuzu gestalten.

Um all diese Veränderungen in relativ kurzer Zeit verarbeiten und in das Selbstbild integrieren zukönnen, muss die Schwangere eine F€ulle von Anpassungsprozessen leisten. Selbst eine geplante undgew€unschte Schwangerschaft, bei stabiler Partnerschaft und g€unstigen äußeren Bedingungen, ist nichtnur eine Zeit freudiger Erwartung und „guter Hoffnung“, sondern auch eine Zeit von Ängsten undUnsicherheit. Dies gilt umso mehr und manchmal in krisenhaft verschärfter Weise dann, wenn es ineinem Lebensbereich ungelöste Konflikte oder schwangerschaftsbedingte Erkrankungen gibt.

Ein generelles Wissen um diese psychosomatischen Zusammenhänge und eine grundsätzliche Aner-kennung ihrer Bedeutung gibt es seit langer Zeit. Die Psychosomatik als Disziplin versucht, diesesallgemeine Verständnis in klare Begriffe zu fassen, um es klinisch anwenden und wissenschaftlicherforschen zu können.

Psychosomatik hat in der Schwangerenbetreuung und Geburtshilfe 2 wesentliche Aufgaben:

– Beschreibung der psychischen Abläufe bei normaler Schwangerschaft und Geburt, Formulieren vonGrundsätzen f€ur eine im psychosomatischen Sinn umfassende Schwangerenbetreuung und Geburts-leitung, Richtlinien f€ur die Geburtsvorbereitung (Psychosomatik der Geburtshilfe).

– Beschreibung von psychischen Störungen bei Schwangeren sowie von seelischen Reaktionen aufsomatisch komplizierte Verläufe oder medizinische Interventionen und spezielle psychotherapeutischeBetreuung hierf€ur (Psychosomatik in der Geburtshilfe).

Diese Dichotomie entspricht auch der klassischen Definition der Psychosomatik (Lipowski 1977) alseiner Grundhaltung (ad 1) einerseits und einer speziellen Krankheitslehre (ad 2) andererseits.

Die Grundhaltung geht von einem gesamtheitlichen Verständnis von Gesundheit und Krankheit aus,das bei jeder Erkrankung oder physiologischen Veränderung biologische, psychische und soziokulturelleAnteile und deren Interaktionen mitber€ucksichtigt („biopsychosoziales Modell“). Daraus leitet sich einVerständnis f€ur Schwangerschaft und Geburt als Reifungs- und Entwicklungskrise ab sowie entspre-chende Richtlinien f€ur die Betreuung von Schwangerschaft und Geburt und das Umgehen mit Komplika-tionen.

*E-Mail: [email protected]

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Die psychosomatische Krankheitslehre beschreibt typische Symptome und Krankheitsbilder in derSchwangerschaft und die Wechselwirkungen zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen sowiepsychosozialen Risikofaktoren und den Determinanten von Gesundheit und Krankheit.

Weitere Themen, die Anteile des vielfältigen Arbeitsgebiet der Psychosomatik darstellen, sind: sozio-kulturelle Aspekte der Geburtshilfe, die Arzt-Patientin-Beziehung einschließlich der Gef€uhle des Perso-nals, die spezifischen Therapieangebote, die interdisziplinäre Zusammenarbeit, besonders bei Patienten-gruppen mit hohem Risiko, und die Organisationsformen psychosomatischer Arbeit.

Zusammen mit Grundhaltung und Krankheitslehre entsteht das mehrdimensionale, vernetzte Denkender Psychosomatik, das der oft komplexen Problematik in der Geburtshilfe angemessen ist und demGeburtshelfer ein tieferes Verständnis und bessere Arbeitszufriedenheit ermöglicht. Auch die Inhaltedieses Kapitels können geflechtartig vernetzt gelesen und verstanden werden, denn erst so ergibt sich dasganze Bild, entsprechend dem Postulat von Bräutigam (1975): „Psychosomatik lässt sich nicht eindi-mensional, sondern nur in mehreren Schritten der Annäherung definieren.“

2 Schwangerschaft als Entwicklungskrise

Der weibliche Lebensablauf wird – deutlicher als der männliche – durch 3 körperliche Abläufe gegliedert:

– Menarche und Pubertät,– Schwangerschaft und Geburt sowie– die Menopause.

In diesen Phasen, speziell in der Schwangerschaft, ändern sich in tiefgreifender und unumkehrbarerWeise zentrale Lebensbereiche wie Körperbild und Selbstwert, weibliche Identität, Partnerschaft undSexualität, Beziehung zu den eigenen Eltern, aber auch berufliche und finanzielle Situation und dasVerhältnis zu Freunden und Bekannten.

Diese Lebensabschnitte bieten im g€unstigen (Normal-)Fall eine Gelegenheit, neue Bereiche des eige-nen Wesens zu entdecken und an dieser Herausforderung als Person zu reifen. Selbst bei psychischgesunden und stabilen Frauen stellen die massiven Veränderungen immer auch eine Belastung dar, die mitdem Bed€urfnis nach Regression und nach St€utzung durch den Partner und andere Personen einhergeht.Bei vorbestehenden Problemen in einem wichtigen Lebensbereich können die Anforderungen derSchwangerschaft krisenhafte Erscheinungen bis hin zu schweren psychischen Störungen auslösen. Vonmanchen Autoren wurden diese Phasen daher auch „normative Krisen“ genannt.

Bei der Erörterung der Veränderungen kann man sich sowohl an den betroffenen Bereichen als auch amtypischen, phasenhaften Zeitablauf orientieren (Davies-Osterkamp 1991).

Die Schwangerschaftsveränderungen betreffen vorerst den Körper der Frau; sie sind die massivstenund schnellsten Veränderungen, denen sich eine gesunde junge Erwachsene je gegen€ubersieht. Derwachsende Bauch kann als Zeichen weiblicher Kraft und Potenz erlebt werden, und viele Schwangereempfinden Stolz auf die Fähigkeiten des eigenen Körpers. Andererseits können die Veränderungen wegenihrer Eigendynamik, ihres unbeeinflussbaren Ablaufs, der unaufhaltsam zu der oft angstbesetzten Geburthinf€uhrt, als bedrohlich erlebt werden.

Der auf der individuellen psychischen Ebene wichtigste Vorgang ist die Veränderung des Selbstbildesals Frau und der Übergang zur Elternschaft („transition to parenthood“). Dies bedeutet den Wechsel vonder Identität als Tochter zur Identität als Mutter, in dessen Verlauf die Beziehung zur eigenenMutter – auch mit ihren konflikthaften Anteilen – aktualisiert wird.

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Die Partnerschaft erfährt ebenfalls wichtige Umstrukturierungen: Aus der Zweier- wird eine Dreier-beziehung (dyadische – triadische Beziehung), die Geschlechtsrollen und die Arbeitsteilung werdenhäufig in ein traditionelleres Muster zur€uckgedrängt, was wiederum zu Frustrationen f€ur die Schwangeref€uhren und zu Partnerschaftskonflikten Anlass geben kann.

Das Konzept der Schwangerschaft als Entwicklungskrise stellt einen wesentlichen Beitrag der Psy-chosomatik dar. Seine Beachtung hilft dabei, viele Verhaltensweisen der Patientinnen verstehen undzwischen physiologischen Reaktionen und Störungen im psychopathologischen Sinn unterscheiden zukönnen.

Die Verlaufsphasen werden meist in Hinblick auf die Beziehung zum werdenden Kind definiert; die€ubliche Einteilung in Schwangerschaftsdrittel entspricht durchaus den jeweils zu lösenden Aufgaben undbietet auch praktische Vorteile. Gloger-Tippelt (1988) unterteilt das 2. Trimenon und schlägt demzufolgeein Konzept mit 4 Abschnitten vor (in Klammern angef€uhrt).

2.1 1. Trimenon: Ambivalenz (Verunsicherung)VomEintreten der Schwangerschaft an muss sich die Frau mit den daraus entstehenden Konsequenzen f€urihr Leben auseinandersetzen. Gew€unschtheit und Geplantheit der Schwangerschaft und die Reaktion desPartners spielen eine wesentliche Rolle. Das Kind wird meist noch als Teil des eigenen Körpers erlebt.

Die körperlichen Veränderungen sind anfangs nur f€ur die Schwangere selbst bemerkbar und gegen€uberder Außenwelt, ja selbst dem Partner gegen€uber noch zu verbergen. Der Umgang mit diesem sprichwört-lichen „s€ußen Geheimnis“ stellt in symbolischer Form die Polarität zwischen der Intimität und demsozialen Kontext einer Schwangerschaft dar und äußert sich pragmatisch durch das Problem „Wem undwann von der Schwangerschaft erzählen?“.

Manche Frauen erleben einen Schwangerschaftskonflikt im engeren Sinne mit der Frage, dieSchwangerschaft auszutragen oder abtreiben zu lassen. Der Schwangerschaftsabbruch stellt eine klassi-sche Schnittstelle von gesellschaftspolitischen Interessen und der Medizin dar und wird in allen Straf-rechtsordnungen geregelt; in westeuropäischen Ländern gibt es Fristen-, Indikations- oder Kombinations-lösungen. Die Psychotherapeuten, die vor einer Abruptio beraten, sollten nach der schwierig zu findendenBalance streben, die zwischen dem Respektieren der Entscheidung der Schwangeren und der Konflikt-aufarbeitung besteht.

2.2 2. Trimenon: Symbiose (Anpassung 12.–20. SSW, Konkretisierung 20.–32. SSW)Die Aufgabe dieser Phase besteht in der Integration der physischen und psychischen Begleiterscheinun-gen der Schwangerschaft in das Selbstbild und in der Wahrnehmung des Kindes als eigenständigesWesen. Nachdem die Ambivalenz aufgelöst und die Entscheidung zum Fortf€uhren der Schwangerschaftgefallen ist, fällt es der Schwangeren in einer Zeit geringer Beschwerden meist leicht, das symbiotischeZusammenleben mit dem Kind zu akzeptieren. Das erste Versp€uren der Kindesbewegungen markiert oftden Beginn der Wahrnehmung des Kindes als eigenständiges Wesen, anfangs noch innerhalb des eigenenKörperschemas, später zunehmend „ausgegliedert“. Zeichen dieser Prozesse sind der innere Dialog mitdemKind, den die Schwangere f€uhrt, sie beobachtet die Reaktionen des Kindes auf äußere Reize und setztsich evtl. mit der Namensgebung auseinander.

2.3 3. Trimenon: Ablösung (Antizipation und Vorbereitung 32.–40. SSW)Die körperlichen Beschwerden und Einschränkungen durch die Schwangerschaft nehmen wieder zu,ebenso dieÄngste vor der Geburt. Der Wunsch nach Beendigung der Schwangerschaft und die Neugierauf das Kind erleichtern die Loslösung aus der symbiotischen Beziehung. Sicherheitsbed€urfnis undWunsch nach Schutz durch den Partner sowie das Informationsbed€urfnis €uber die Geburt und das Lebenmit dem Kind steigen.

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3 Arzt-Patientin-Beziehung in der Geburtshilfe

Der Beziehung zwischen Arzt, Hebamme und Schwangerer kommt eine zentrale Bedeutung zu; sie ist derOrt, an dem die Konzepte und Vorstellungen der psychosomatischen Medizin verwirklicht werden.

Während der Schwangerschaft sind ihre Hauptinhalte die Informationsvermittlung, Planung vonRoutine- und speziellen Schwangerschaftsuntersuchungen, Erarbeiten von eigenen Vorstellungen derSchwangeren €uber die Geburt sowie Ansprechen von Gef€uhlen und Erörterung von Ängsten und derenBearbeitung. Manchmal sind auch Koordinationsaufgaben zwischen dem niedergelassenem Gynäkolo-gen, einer geburtshilflichen Abteilung oder anderen zusätzlichen Untersuchungen zu erf€ullen. Währendder Geburt steht die st€utzende Begleitung („coaching“), das Angebot von geburtserleichternden Maß-nahmen, und bei Krisen die klare Übernahme von Verantwortung bei gleichzeitiger Entängstigung imVordergrund.

Die Arzt-Patientin-Beziehung kann nicht von vornherein als unproblematisch angesehen werden, da essowohl von den Gesprächspartnern als auch vom Arbeitsgebiet her Problemquellen geben kann (Felderund Scheer 1991). So besteht häufig ein soziales Gefälle zwischen Arzt und Patientin, der Arzt hat eineweitgehende Diagnose- und Therapiemonopolstellung, während die Patientin sich ausgeliefert und ohneKontrolle erleben kann.

Bei allen Fragen der Geburtshilfe sind Sexualität und Fortpflanzung implizit und explizit angespro-chen, und die Genitalorgane werden symbolisch und tatsächlich ber€uhrt. Gef€uhle wie Scham, Angst (vorvermeintlichem Versagen), Lust, evtl. Schuld und Ekel begleiten häufig geburtshilfliche Vorgänge. DerGynäkologe muss sich dessen bei der Gestaltung jeder Gesprächs- und Untersuchungssituation bewusstsein, um die notwendige Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden und weder aufdringlich nochunbeteiligt-kalt zu agieren.

Studienbox Einige Studien haben den Einfluss des Geschlechts des Arztes auf die Arzt-Patientin-Beziehung untersucht. In älteren Untersuchungen zeigte sich eine Präferenz von Frauen f€ur Ärztin-nen. Seit der Zeit dieser Studien haben sich mehrere Rahmenbedingungen gewandelt: Es stehenmehr Gynäkologinnen zur Verf€ugung, auch die Arzt-Patientin-Beziehung hat sich verändert. NeueStudien kommen daher zu dem differenzierteren Schluss, dass f€ur das Gelingen einer therapeuti-schen Beziehung die Fähigkeit zum empathischen, respekt- und verständnisvollen Zuhören wich-tiger als das Geschlecht des Gynäkologen ist.

In der Literatur werden meist 3 idealtypische Modelle der Arzt-Patientin-Beziehung genannt: Pater-nalismus, Partnerschaft und Vertragsmodell (Kap. ▶Ethische Probleme in der Geburtshilfe):

– Der Paternalismus ist geprägt von Autorität und Verantwortung auf Seiten des Arztes und vonAbhängigkeit und Compliance auf Seiten der Patientin.

– In einer partnerschaftlichen Beziehung bestehen asymmetrische, aber wohldefinierte Rechte undPflichten auf beiden Seiten.

– Das Vertragsmodell regelt pragmatisch die oft in Teilleistungen aufgespaltene Betreuung in großenAbteilungen und Kliniken.

" Es muss betont werden, dass eine reale Arzt-Patientin-Beziehung immer eine Mischung aus allen3 Formen enthält, deren relatives Verhältnis sich je nach Ausgangsbedingungen und Situation ver-schieben kann.

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Der institutionelle Rahmen (Krankenhaus oder Privatpraxis), die Dauer der Beziehung (seit Beginn/vorder Schwangerschaft oder erst im Kreißsaal sub partu) und die medizinische Situation (physiologischeSchwangerschaft vs. Komplikation) wirken nat€urlich auf die Gestaltung der Beziehung ein. Der Geburts-helfer sollte danach streben, €uber ein flexibles, situations- und patientenangepasstes Repertoire ver-schiedener Strategien zu verf€ugen.

Praxistipp Grundsätzlich gilt: Je normaler die Situation und je unbeeinträchtigter die Patientin,desto partnerschaftlichermuss, je dringlicher und je pathologischer die Situation, desto paternalisti-scher darf das Verhältnis sein.

Es wäre ebenso falsch, eine Patientin beim ersten Besuch in der Fr€uhschwangerschaft zu einerinvasiven Pränataldiagnostik zu drängen, wie es falsch wäre, bei einer bedrohlichen fetalen Bradykardielange die eventuelle Angst vor einem Kaiserschnitt zu explorieren.

F€ur die Beziehung zwischen Hebammen und Patientinnen gelten im Wesentlichen die gleichen Über-legungen wie f€ur Ärzte. Als Angestellte einer geburtshilflichen Abteilung haben sie bei der Gestaltungihrer Beziehung zu den Gebärenden meist eine schwierige Ausgangssituation, weil sie selten einekontinuierliche Beziehung aufbauen können und die Frauen erst bei der Geburt und unter Wehenschmerzkennenlernen. Andererseits sind sie als m€utterliche Übertragungsfigur als emotionelle St€utze besonderswichtig f€ur die Gebärende. Des Weiteren hat sich in empirischen Studien gezeigt dass die ausschließlichvon Hebammen geleitete Geburt in einem Schwangerenkollektiv mit niedrigem Risiko weniger Inter-ventionen als bei Ärzten bei gleich guten Perinatalergebnissen aufweist.

In manchen Ländern werden Geburtsbegleiterinnen oder „Doulas“ propagiert. Es scheint zielf€uh-render, die traditionellen Teilnehmer im Kreißsaal auf ihre Aufgaben vorzubereiten, dann sind einunterst€utzender Partner, eine engagierte Hebamme und ein verständnisvoller Geburtshelfer ausreichendeHilfe f€ur die Gebärende.

4 Schwangeren- undGeburtsbetreuung nach psychosomatischenGrundsätzen

4.1 SchwangerschaftF€ur die Schwangerschaftsbetreuung lassen sich mehrere Grundsätze formulieren:

– der Geburtshelfer hat auf den phasenspezifischen Ablauf und die phasenspezifischen ThemenR€ucksicht zu nehmen,

– er sollte schrittweise, durch Information und Entängstigung, die Autonomie und die persönlichenRessourcen der Schwangeren fördern und herstellen, aber auch Verständnis f€ur eventuelle Kom-plikationen wecken.

Zu den phasenspezifischen Themen des 1. Trimenons, die in (nahezu) jedem Fall besprochen werdensollten, gehören: die Geplantheit und Gew€unschtheit der Schwangerschaft, die derzeitige Lebens- undPartnerschaftssituation, die Gef€uhle beim Vermuten oder Erfahren der Schwangerschaft.

" Besonders wichtig ist das Akzeptieren der Ambivalenz der Schwangerschaft und dem Kind gegen-€uber, weil die intensiven, widerspr€uchlichen und rasch wechselnden Emotionen f€ur die Schwangereselbst verwirrend sein können.

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Im Gespräch sollte Raum auch f€ur eventuelle negative Gef€uhle der Ablehnung oder Besorgnisgeschaffen werden und der Druck genommen werden, in der Zeit „freudiger Erwartung“ gl€ucklich seinzu m€ussen.

Im Falle eines Schwangerschaftskonflikts sollten – bei völliger Abstinenz von moralischemDruck – sowohl die positiven als auch die negativen Anteile exploriert werden; etwa mit der Frage:„Wie kommt es, dass Sie gerade jetzt (in dieser scheinbar so unmöglichen Situation) schwanger werden?“

Im 2. Trimenon sollte die Beziehungsaufnahme zum Kind thematisiert werden, das Erleben derKindesbewegungen, der innere und der ausgesprochene Dialog mit dem Kind als etwas Normales undWichtiges dargestellt werden, die Planung des Lebens mit dem Kind sowie soziale und berufliche Fragensollten erwähnt werden. Die Wahl der Entbindungsklinik kann dabei helfen, eigene Vorstellungen €ubertechnische Sicherheit oder familiäre Geborgenheit zu entwickeln.

Im 3. Trimenon steht die Planung der Geburt im Vordergrund, die Schwangere sollte ermuntertwerden, konkrete Erwartungen und Bed€urfnisse zu entwickeln und sich ihrer Ressourcen in anderenKrisensituationen zu erinnern. Als eine – schwierig zu erreichende – Idealvorstellung kann dienen: klareeigene Vorstellungen bei gleichzeitiger Offenheit und Neugier f€ur den unbekannten Geburtsverlauf mitevtl. unerwarteten Krisen.

Ausdr€ucklich angesprochen werden sollte der Besuch eines Geburtsvorbereitungskurses, das ge-plante Umgehen mit dem Geburtsschmerz (Möglichkeit der Periduralanäthesie erwähnen!), konkreteoder unbestimmte Ängste, die Rolle des und die Erwartungen an den Partner (zur elektiven Sectio Kap.▶Ethische Probleme in der Geburtshilfe Abschn. 4).

Bei jeder anderen geplanten Begleitperson ist zu bedenken, dass die Geburt einen körperlichenVorgang mit vielen emotionellen und sexuellen Bedeutungen darstellt. In aller Regel sind daher dieeigene Mutter oder die Schwiegermutter, aber auch Kinder mit ihren je spezifischen Beziehungen zurGebärenden als Begleitpersonen ungeeignet!

Angesichts der multinationalen und multikulturellen Zusammensetzung der Schwangeren in unserenKliniken muss darauf hingewiesen werden, dass das Gesagte weitgehend f€ur westliche bzw. mittel-europäische Kulturen zutrifft. F€ur Patientinnen aus Osteuropa oder Angehörige muslimischer und asiati-scher Kulturen muss die Situation individuell erfasst werden und die Psychodynamik unter Ber€ucksich-tigung der kulturellen Unterschiede wahrgenommen werden.

4.2 Geburtsbetreuung

4.2.1 GeburtserlebenDie Stunden der Geburt stellen ein zentrales Lebensereignis f€ur die Gebärende dar, mit intensivenKörperempfindungen und höchster emotioneller Beteiligung und Anspannung. Interessanterweise betontdie deutsche Sprache eher den Schmerz- („Wehen“), die englische („labour“) und die französische(„travaille“) eher den Arbeitsaspekt der Geburt. Die Befriedigung €uber die körperliche Leistung einergegl€uckten Geburt kann das Selbstwertgef€uhl enorm steigern, ebenso groß kann aber auch die Enttäu-schung durch ein vermeintliches Versagen sein. Von hervorragender Bedeutung f€ur die subjektiveBewertung der Geburt sind die vorbestehenden Erwartungen und Anspr€uche der Gebärenden an sichselbst. Je vollkommener und perfekter das Ideal, desto eher wird eine Abweichung als narzisstischeKränkung und Bedrohung erlebt werden (Ringler 1992).

Der körperliche Ort der Geburt sind die Geschlechtsorgane, die mit Sexualität und Lustempfindungverkn€upft sind; unmittelbar benachbart sind die Ausscheidungsorgane Blase und Mastdarm. NebenSchmerz und Anstrengung empfinden manche Frauen, die offen f€ur diese Wahrnehmungen sind, sexuellgetöntes Lusterleben bei der Geburt; dies kann jedoch allenfalls Ergebnis eines gegl€uckten Geburtsver-laufes sein, sollte aber nie als Ziel oder Leistungsanforderung dargestellt werden. Ebenso können aber

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auch Angst vor Entblößung oder Scham vor unkontrollierbaren Ausscheidungen die Geburt begleiten;diese potenziell hinderlichen Gef€uhle können durch vertrauenserweckende und unaufgeregte Betreuunggemildert oder durch unsensible verstärkt werden.

Die Begriffe Geburtserleben und Geburtsangst wurden in vielen Publikationen untersucht. Siehängen in einem vielschichtigen Geflecht mit den Erwartungen an die Geburt und dem tatsächlichenAblauf der Geburt zusammen. So wurden psychosomatische Prädiktoren oder Risikofaktoren f€ur einenraschen und unkomplizierten oder einen protrahierten Geburtsablauf gesucht, um sie dann präventivg€unstig beeinflussen zu können. Angst vor der Geburt wird von vielen Autoren als wichtigster, hemmen-der Faktor bezeichnet, wobei meist nach Spielberger in persönlichkeitsgebundene („trait“) und situations-gebundene („state“) Angst differenziert wurde. Die Geburtsangst wiederum wird von einer Reihe psycho-sozialer Variabler gesteigert; die wichtigsten unter ihnen sind niedriger Selbswert, Depressivität,unbefriedigende Partnerschaft und fehlende soziale Unterst€utzung (Saisto et al. 2001). Angst vor derGeburt ist bei Erstgebärenden und bei Frauen nach einer vorangegangenen Sectio oder Vakuumextraktionsignifikant häufiger, und diese Patientinnen w€unschen auch häufiger einen Kaiserschnitt als Entbindungs-modus (Rouhe et al. 2008).

Wie eine Frau die Geburt erlebt, hängt wesentlich davon ab, wie sehr sie sich selbst als in den ganzenProzess involviert und in Kontrolle der Entscheidungen erlebt und wie gut sie vom Personal unterst€utztwird (Waldenstrom 1999). Negativ auf das Geburtserleben wirken sich starker Schmerz, Gebrauch vonWehenmittel, Zangen/Vakuumgeburt und Notfallssectio aus.

" Zusammenfassend soll noch einmal der vernetzte Charakter dieser Wechselbeziehungen betont wer-den, in dem viele Faktoren gleichzeitig Ursache und Wirkung darstellen. Klassischerweise wurde diesdurch G. Dick-Read in dem Angst-Spannung-Schmerz-Regelkreis dargestellt, der durch die obengenannten Faktoren, v. a. die Erwartungen, die erlebte Kontrolle €uber das Geschehen, die Interventio-nen und die Unterst€utzung durch Partner und Personal erweitert werden muss.

4.2.2 Verhalten des Personals im KreißsaalDer durchschnittliche Kreißsaal von heute und das Verhältnis des Personals zur Gebärenden unterscheidetsich wesentlich von dem Zustand vor 30 Jahren. Viele Forderungen der Bewegung zur „sanften Geburt“sind mittlerweile zum Standard geworden, wie die Anwesenheit des Partners, Verzicht auf Dauer€uberwa-chung, weitgehende Mobilität der Gebärenden und erleichternde Maßnahmen wie warmes Bad, Gebär-hocker sowie Variabilität der Gebärpositionen.

Diese an sich erfreuliche Feststellung muss allerdings durch mehrere Kommentare und Einschränkun-gen präzisiert werden. Die obigen, heute selbstverständlichen Maßnahmen sind nicht freiwillig, sondernnur durch den „Druck von der Straße“, durch beständige Arbeit psychosomatisch tätiger Kollegen unddurch Angst vor sinkenden Geburtsziffern in die Schulmedizin eingef€uhrt worden (Stauber 2000). DesWeiteren muss ständig am erreichten Niveau gearbeitet werden, um mögliche R€uckfälle in schlechte, alteGewohnheiten infolge von Gedankenlosigkeit oder Alltagsroutine zu vermeiden, denn auch im Kreißsaalgilt das Sprichwort: „Common sense is not common practice!“.

Die psychosomatischen Grundsätze der Geburtsbetreuung lassen sich in eine Grundhaltung und intechnische Maßnahmen gliedern. In der Diskussion der 1970er- und 80er-Jahre wurden einzelne Techni-ken wie das CTG oder die Gebärhaltung idealisiert oder entwertet. Sie waren jedoch nicht per se dasProblem, sondern nur die Symbole einer fehlenden Zuwendung zur Gebärenden in einer ausschließlichtechnikorientierten Geburtshilfe. Bereits sehr fr€uh konnte gezeigt werden (Ringler 1985) dass €uberwachteGeburt und Eingehen auf die Patientin oder Geburtseinleitung und positives Geburtserleben (Nuutilaet al. 1999) sich nicht gegenseitig ausschließen.

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Grundhaltung, abgeleitet aus dem Verständnis der Geburt als physische und psychischeAusnahme- und Belastungssituation

– Persönlichen Respekt: Das Personal stellt sich mit Namen, Funktion und Dienstzeit/Zuständigkeit vor.

– Kommunikation: Erklären aller Vorgänge und medizinischer Interventionen.– Fördern der eigenen Ressourcen der Gebärenden; „Coaching“ (aufmunterndes Betreuen, Spon-

taneität und Humor n€utzen!).– Schutz der Intimssphäre (wenige Betreuungspersonen, kein Hereinplatzen unbeteiligter Perso-

nen, einf€uhlsame Untersuchungstechnik bei vaginaler Palpation).– Einbeziehen des Partners und Förderung seiner Möglichkeiten.– Bei Komplikationen: ruhiges Krisenmanagement, Hektik so gut wie eben möglich vermeiden;

Verantwortung €ubernehmen, d. h. notwendige Erklärungen geben, Alternativen anbieten; Mög-lichkeit zum „informed consent“ geben; Entscheidungen treffen, ohne die Patientin mit Schein-autonomie zu €uberfordern, Partner einbeziehen und nicht hinausschicken.

Unter den speziellen geburtserleichternden Maßnahmen haben sich ein warmes Bad, der Geburts-hocker, ein federnder Medizinball, Mobilität der Gebärenden mit der Aufforderung, sich die jeweilsangenehmste Position zu suchen, sowie Atem- undWehenkontrolltechnik bewährt (Kentenich 1999). F€urmanche, v. a. mehrgebärende Patientinnen, kann das sog. Roma-Rad hilfreich sein.

4.3 Partner bei der GeburtMänner waren in praktisch allen historischen Kulturen von der Geburt ausgeschlossen. In manchenGesellschaften wurde ihnen mittels der „Couvade“, einer Art männlichen Wochenbetts, ermöglicht, ihrBed€urfnis nach Regression auszuleben.

Die gesellschaftlichen Strömungen der letzten Jahrzehnte öffneten die Kreißsäle auch f€ur die Männerund f€ur deren aktive Teilnahme bei der Geburt als Unterst€utzer ihrer Partnerin. Die gemeinsame Geburtsymbolisiert f€ur viele Paare ihre Zuneigung und die gegenseitige Unterst€utzung und stellt die Kontinuitätvon Sexualität, Geburt und Beziehung zum Kind her.

Praxistipp Vor einer geplanten Teilnahme des Partners ist es sinnvoll und notwendig, die wechsel-seitigen Erwartungen, aber auch eine eventuelle Befangenheit und das Verhalten in Krisen zubesprechen. Manche Frauen scheuen sich, vor ihrem Partner zu leiden oder die Kontrolle zuverlieren, manche Männer f€urchten sich vor dem sprichwörtlichen „Umkippen“.

Die Aufgabe des Gynäkologen besteht einmal mehr im Zulassen der Ambivalenz, im Ermuntern desPaares, alle Gef€uhle zu äußern und keines zu entwerten. Auf keinen Fall sollte ein Druck in Richtunggemeinsame Geburt ausge€ubt werden, etwa mit dem Argument, dass das f€ur jeden „aufgeklärten, moder-nen Mann eben normal sei“. Bestehen bei einem der Partner ernste Bedenken, so sollte gemeinsam nachAlternativen gesucht werden, welche Form des Geburtserlebens f€ur das jeweilige Paar adäquat ist.

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4.4 WochenbettDie ersten Tage nach der Geburt sind eine Übergangszeit zwischen zwei Phasen mit ihren speziellenAnforderungen. Die liebevolle Aufmerksamkeit, die die Schwangere genossen hat, muss sie nun zumin-dest zum Teil mit dem Kind teilen (Dmoch 1999).

Der Aufbau der Mutter-Kind-Beziehung steht im Zentrum der ersten Tage nach der Geburt, diegleichermaßen wichtig und sensibel sind. Durch die Atmosphäre, die das Personal schafft, kann einegeburtshilfliche Abteilung fördernd oder hemmend in diesen Beziehungsaufbau eingreifen. Die Anwe-senheit des Kindes beim Rooming-in und v. a. der einzigartige Akt des Stillens sind f€ur viele Frauenphysisch und psychisch sehr befriedigend.

" Vorsicht vor Überforderung ist jedoch geboten. Eben weil das Bild der „Mutter mit Kind“ in praktischallen Kulturen einen ikonischen Archetypus darstellt, findet allzu leicht eine Gleichsetzung von „stil-lender Mutter“ und „guter“ Mutter statt.

Ärzte und Schwestern sollten der Wöchnerin Zeit f€ur den Beziehungsaufbau und das Erlernen desStillens geben und sie von eigenen und fremden Leistungsanspr€uchen entlasten. Jenen Frauen, die sich„nicht im Ideal einer (längerfristig) stillendenMutter wiederfinden können“ (Fervers-Schorre 1994), mussmit Respekt und Empathie andere Möglichkeiten der Kontaktaufnahme zum Kind angeboten werden.Ähnlich verhält es sich mit dem rein physischen Erholungsbed€urfnis, v. a. nach anstrengenden Geburten,das nicht durch Zwangs-Rooming-In unterlaufen werden sollte.

Die Wichtigkeit des ersten Mutter-Kind-Kontaktes nach der Geburt ist oft betont worden, und bei derKreißsaalorganisation muss unbedingt darauf geachtet werden, diese emotionell dichte Zeit des Kennen-lernens von Eltern und Kind zu sch€utzen und nicht durch unbedachte Routine zu stören. In manchen,später vielzitierten Studien (z. B. Garel et al. 1987) wurde berichtet, dass die Aufnahme des Kontaktesnach Sectio verzögert gegen€uber der Spontangeburt abliefe. Dabei ist aber zu bedenken, dass es sichdamals fast ausschließlich um sekundäre oder Notfallkaiserschnitte in Allgemeinnarkose mit häufigdeprimierten Kindern handelte. Bei der heute häufig durchgef€uhrten elektiven Sectio in Spinalanästhesieim Beisein des Partners ist die Erinnerung nicht unterbrochen und die Beziehung zum Kind derjenigennach einer Normalgeburt durchaus vergleichbar.

Jeder Wöchnerin sollte mit einer offenen Fragestellung ein Gespräch €uber ihr Geburtserlebnis ange-boten werden, etwa in der Form: „Wie f€uhlen Sie sich jetzt, wenn Sie an die Geburt zur€uckdenken?“ Hiergilt – wie am Anfang der Schwangerschaft – das Prinzip, Raum f€ur widerspr€uchliche Eindr€ucke und f€urAmbivalenz zu lassen. Bei kleineren oder größeren Komplikationen kommt es häufig zu unterschiedli-cher Bewertung zwischen Arzt und Patientin. Der Geburtshelfer mag zu Recht die Gesundheit vonMutterund Kind als Erfolg empfinden, die Wöchnerin hingegen erlebte dieselbe Geburt als persönlichesVersagen, die mit Angst und Schmerz verkn€upft und völlig anders als in ihrer Erwartungen verlief.Wurde die Geburt durch eine Intervention des Geburtshelfers – sei es Sectio, Vakuumextraktion, richtigeCTG-Interpretation – gl€ucklich beendet, kann er die Trauer der Patientin als fehlende Anerkennung seinerLeistung erleben und seinerseits gekränkt sein.

" Es wird also Ziel des Gesprächs im Wochenbett sein, das Geburtserleben in seiner Gesamtheit zuintegrieren, um unnötige Enttäuschungen €uber vermeintliches Versagen vermeiden zu können.

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5 Soziokulturelle Aspekte: Psychosomatik und „sanfte Geburt“

Schwangerschaft und Geburt sind von jeder Zeitepoche und jeder Kultur stark geprägt worden. Sie sindkeine unwandelbaren, biologischen Konstanten, sondern durch historische, kulturelle, regionale undsozioökonomische Faktoren beeinflussbare und beeinflusste Phänomene.

Am Verlauf der letzten 30 Jahre lässt sich gut ablesen, wie die jeweiligen großen gesellschaftlichenStrömungen sich in den Trends der Geburtshilfe widerspiegelten.

Der Technikeuphorie der 1970er-Jahre entsprach die programmierte, voll €uberwachte Geburt dieserZeit. Die sozialen Bewegungen, allen voran die Frauenbewegung der 1980er-Jahre, schufen das Konzeptder „sanften Geburt“ und bewirkten dessen Erfolg. Die Globalisierung der 1990er-Jahre, die mittelsInternet die Erkenntnisse der „evidence-based medicine“ zugänglich machte, zog in der Medizin einkritisches Hinterfragen alter, lokaler Gewohnheiten nach sich, die doch großteils „eminence-based“waren.

Die psychosomatische Medizin hat die obigen Veränderungen einschließlich der „sanften Geburt“kritisch begleitet. Die Anliegen der sanften Geburt €uberschneiden sich in manchen Anteilen, sind abernicht notwendigerweise identisch mit der psychosomatischen Medizin. Das Konzept der „sanften Ge-burt“, das eng mit den Leistungen von Frederick Leboyer und Ferdinand Lamaze verkn€upft ist, hat dieGeburtshilfe revolutioniert und viele falsche Entwicklungen einer allzu technikfixierten Medizin korri-giert. Es ist aber ebensowenig zeitlos wie andere Strömungen, sondern ein typisches „Kind“ der sozialenBewegungen der 1970er- und 80er-Jahre, das nun auf seinen bleibenden Gehalt €uberpr€uft werden muss.

Dabei stellten sich einige Fehlentwicklungen heraus. Schon fr€uh wurde erkannt, dass die Idealvor-stellungen der sanften Geburt manche Frauen €uberfordern können, dass sie neue Leistungsanforderungenin Richtung einer „guten Mutter“ stellen oder schlicht den Bed€urfnissen der Gebärenden widersprechen.In der Vergangenheit war das beim Verzicht auf Analgetika, bei völliger Verweigerung von Ultraschallund Pränataldiagnostik, beim obligat verordneten Rooming-in oder Stillen der Fall.

Die Diskussion dreht sich inzwischen um die Fragen einer großz€ugigen Verwendung der Periduralan-ästhesie (PDA), der Haus- bzw. Sanatoriumsgeburt, v. a. aber um die erweiterte Sectioindikation (Hannahund Hofmeyr 2000) bis hin zur rein elektiven Sectio ohne (die fr€uher g€ultigen medizinischen) Indika-tionen.

Die weltweit beobachtete Zunahme der Sectiofrequenz hat sicherlich eine Reihe von Ursachen:gesteigertes Sicherheitsbed€urfnis, vereinfachte Operationstechnik sowie gestiegene Bereitschaft zuRechtsklagen. Soziologische Faktoren sind erhöhtes Alter der Schwangeren und eine veränderte Arzt-Patientin-Beziehung. So wurde schon mehrfach der Zusammenhang zwischen hoher Sozialschicht undhoher Sectiohäufigkeit – meist kritisch – kommentiert. Fisher et al. (1995) beschreiben die Patientin mitelektiver Sectio als „klar denkend, gut informiert €uber verschiedene Geburtsarten, mit hohem Selbstwertund reifen Angstbewältigungsmechanismen, in sicheren Partnerschaften mit gebildeten Männern.“ Beidiesem Persönlichkeitsprofil fällt es schwer, an eine simple Beeinflussung durch den Geburtshelfer inRichtung Sectio zu glauben, wie es oft getan wurde. Bereits Cotzias et al. (2001) forderte Studien, die dieSicherheitsbed€urfnisse der Schwangeren ebenso wie den Interaktions- und Entscheidungsprozess zwi-schen Arzt und Patientin untersuchen m€ussten.

Nachdem die Sectio heute in vielen Situationen eine Behandlungsalternative darstellt, wurde dieAufmerksamkeit auf die jeweils unterschiedlichen somatischen und psychischen Folgen von Spontange-burten und Sectiones gelenkt. Erst allmählich fand sich in der psychosomatischen Literatur z. B. dieAnerkennung eines Geburtstraumas als „posttraumatic stress disorder“ (PTSD), etwa nach Forzeps- undVakuumextraktionen oder Notfallkaiserschnitten mit einer Inzidenz von zumindest 1,5 % (Ayers undPickering 2001). Vorangegangene Traumata stellen auch Risikofaktoren sowohl f€ur allgemeine Risiko-schwangerschaften und Post-partum-Depressionen dar (Lev-Wiesel et al. 2008).

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Patientinnen nach derartigen Geburtserlebnissen sollten in der nächsten Schwangerschaft einf€uhlsambetreut werden, und einem evtl. Wunsch nach elektiver Sectio sollte großz€ugig nachgekommen werden.Der abwertende Begriff „Tokophobia: an unreasoning dread of childbirth“ (Hofberg und Brockington2000) ist ebensowenig hilfreich wie eine Psychotherapie gegen (vermeintlich) neurotische Geburtsangst(Sjogren und Thomassen 1997), die im Licht der heutigen Sicherheitsbed€urfnisse und der rechtlichenLage nicht sinnvoll erscheint.

Interessanterweise findet sich in der Literatur sogar ein analoges Konstrukt auf Seiten der Geburtshel-fer: So soll die Bereitschaft, die Kielland-Zange anzuwenden, mit steigender persönlichkeitsgebundenerAngst des Gynäkologen abnehmen (Meager et al. 2009). Wird hier in dem Bem€uhen, die „Kunst dertraditionellen Geburtshilfe“ zu erhalten, so getan, als sei die berechtigt reservierte Haltung gegen€ubereiner besonders komplikationsträchtigen Operation nicht von n€uchterner Einschätzung der Gefahren,sondern persönlicher Schwäche abhängig?

" Auch wenn diese Diskussion noch im Gange ist, lässt sich bereits jetzt erkennen dass es keine richtigeund keine falsche Art zu gebären gibt, sondern immer nur eine der jeweiligen Zeit und dem jeweiligenEntwicklungsstand angemessene.

Diese relativierende Erkenntnis erlaubt es dem Geburtshelfer auch, eine weitgehende Pluralität imgeburtshilflichen Angebot ohne ein feststehendes Programm – sei es schulmedizinisch, sei essanft – vertreten zu können. Gemeinsam mit der Patientin und je nach ihren Bed€urfnissen kann manflexibel eine passende Form auswählen. Dmoch (1999) fordert in diesemZusammenhang, geburtshilflicheArbeit solle „bed€urfnisorientiert, persönlichkeitszentriert und nicht ideologiebezogen“ gestaltet werden.

Ein kreativerMethodeneklektizismus in dem Sinne, sich das Beste aus unterschiedlichen Konzepten zuholen, ist möglicherweise die dem Beginn des 21. Jahrhunderts angemessene Geburtsform. Im Kreißsaalkönnten dann nebeneinander stattfinden, ohne dass es widerspr€uchlich wäre: eine Geburt in der Bade-wanne mit Homöopathie, allerdings telemetrisch €uberwacht; im Nebenraum eine rein elektive Sectio, inSpinalanästhesie bei wacher Patientin, mit anwesendem Partner und mit Hautkontakt zum Kind nochwährend der Operation; daneben eine Gebärende, die bei liegender PDA Bauchtanz€ubungen zurGeburtsbeschleunigung durchf€uhrt.

6 Spezifische Symptome und Krankheitsbilder

Die theoretischen Grundlagen f€ur das Verständnis psychosomatischer Krankheitssymptome leiten sichvon verschiedenen Großkonzepten ab, die hier nicht ausf€uhrlich besprochen werden können (detaillierteDarstellungen bei von Uexk€ull 1996).

Einige relevante Begriffe sollen doch erwähnt werden. Aus der Psychoanalyse stammt das Konver-sionsmodell, dem zufolge psychische Konflikte in symbolischer Weise auf der körperlichen Ebeneausgetragen und „gelöst“ werden. In der systemischen oder Familientherapie steht die Beziehungs-dynamik in Familien, zwischen Arzt und Patient oder in der Gesellschaft im Vordergrund. WeitereBeiträge liefern die Verhaltenstherapie, die Psychoneuroendokrinologie, das „case-work“ der Sozi-alarbeit und die Krisenintervention.

Die Streitfrage, ein wie großer Anteil eines Symptoms körperlich und ein wie großer seelisch bedingtist, ist so alt wie die Heilkunde selbst. In der Geburtshilfe lassen sich f€ur eine Reihe wichtiger Symptomebereits in erster Näherung eindeutige Zuordnungen erkennen. So wird man manchen Krankheitsbildernnur dann gerecht, wenn man ein umfassendes biopsychosoziales Grundkonzept annimmt (vorzeitigeWehen/Fr€uhgeburt, Hyperemesis, Post-partum-Depression), einige sind vorwiegend psychosomatisch

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bedingt (verleugnete Schwangerschaft, Schwangerschaftskonflikt), andere wiederum klar somatopsy-chisch im Sinne psychischer Reaktionen auf körperliche Zustände oder medizinische Interventionen(Pränataldiagnostik, kindliche Missbildung/Totgeburt, Sterilisatio post partum). F€ur die pragmatischetägliche Arbeit wird die Zuordnung also hinreichend klar sein, um angemessene Therapiekonzepte f€ur diePatientinnen zu entwickeln und die offenen Fragen einer zweifellos zu f€uhrenden akademischen Diskus-sion zu €uberlassen.

6.1 HyperemesisÜbelkeit und Erbrechen begleiten nahezu sprichwörtlich jede Fr€uhschwangerschaft. Bis zu 80 % allerFrauen empfinden eine milde oder mäßig starke Form davon, sodass – hierin vergleichbar demPostpartum-Blues – von einer psychophysiologischen Reaktion gesprochen werden kann, die in denmeisten Fällen mit dem Ende des 1. Trimenons abklingt. Ebenfalls vergleichbar sind unterschiedlicheAusprägungsgrade, die von milder Übelkeit bis zu heftigem Erbrechen mehr als 10-mal pro Tag mitDehydratation und Elektrolytverlust reichen können. Ursächlich daran beteiligt ist der rasche Anstieg desHCG-Spiegels, dessen Höhe auch die verstärkte Rate von Hyperemesis bei Mehrlingsschwangerschaftenerklären kann.

Psychosoziale Anpassungsprozesse an die Schwangerschaft sind bei vielen Frauen Kofaktoren; das zuerwartende Kind kann als schwierige Aufgabe, evtl. sogar als Bedrohung erlebt werden. Ein bestimmtesPersönlichkeitsprofil oder ein spezifischer Konflikt lassen sich aber nicht definieren; tiefenpsychologischeInterpretationen wie „Versuch des Loswerdens einer ungewollten Schwangerschaft“ oder „unreife Per-sönlichkeit“ mögen im Einzelfall, sicher nicht als generelle Erklärung zutreffen.

Zielf€uhrender ist eine Erhebung konkreter Stressoren, wie der Partnerschaft, der Gew€unschtheit derSchwangerschaft, Familie und Arbeitsplatz. Möglicherweise ist die Migration speziell disponierend; somusste z. B. eine pakistanische Patientin des Autors €uber mehrere Wochen wegen einer schwerwiegen-den Elektrolytentgleisung mittels Zentralvenenkatheter parenteral ernährt werden. In weniger krassenFällen gen€ugt die Hospitalisierung, Volumen- und Elektrolytersatz, schrittweiser Nahrungsaufbau und dieBearbeitung der sozioökonomischen Faktoren.

6.2 Verleugnete Schwangerschaft und Scheinschwangerschaft („Grossesse Nerveuse“)Diese beiden Symptome sind historisch alt; bereits Hippokrates erwähnte sie. Die psychischen Prozesse,die notwendig sind, um eine tatsächlich bestehende Schwangerschaft zu verleugnen oder eine nichtvorhandene sich selbst und anderen vorzuspielen, €ubten offenbar immer große Faszination aus.

Bei der verleugneten Schwangerschaft nehmen die betroffenen Frauen eine tatsächlich bestehendeSchwangerschaft €uberhaupt nicht oder erst sehr spät – in einigen Fällen erst bei der Geburt – wahr. Die€ublichen Schwangerschaftssymptome werden umgedeutet, meist als „Bauchschmerzen“ und unerklär-liche Gewichtszunahme, die Kindesbewegungen werden als Darmperistaltik interpretiert (Wesselet al. 2007).

Typisch ist auch das Einbinden der Angehörigen einschließlich des Partners und sogar medizinischerBerufe in das System von Verleugnung und Rationalisierung. So wurde z. B. von einer Frau berichtet, diemit Bauchschmerzen wegen eines vermeintlich verschluckten H€uhnerknochens ins Krankenhaus kamund bei der ein Abdomenröntgen durchgef€uhrt wurde. Dabei stellte sich der Knochen dann als einkomplettes kindliches Skelett heraus. (Dieser Fall illustriert dar€uber hinaus noch die magische Vorstellungvon der oralen Schwängerung.)

Von der verleugneten Schwangerschaft muss die verheimlichte Schwangerschaft unterschiedenwerden, bei der die betroffene Frau wissentlich und absichtlich ihren Zustand verbirgt.

Frauen verleugnen eine Schwangerschaft aus sehr unterschiedlichen Gr€unden, denen keine gemein-same psychisch-strukturelle Ursache zugrunde liegt. Daher lässt sich kein einheitliches Profil, sondern nur

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mehrere Gruppen von Patientinnen identifizieren, wobei bei einer Patientin mehrere Faktoren koizidierenkönnen. In seiner Einteilung gibt Spielvogel und Hohener (1995) folgenden Kategorien an:

– psychotische Form der Verleugnung,– Frauen mit Suchtanamnese,– Teenagerschwangerschaften,– andere.

Bei der psychotischen Form bildet die Verleugnung der Schwangerschaft einen Teil der Störung dergesamten Persönlichkeit, meist im Rahmen einer chronischen Schizophrenie. Die Schwangerschafts-veränderungen werden mit wahnhaften oder halluzinatorischen Inhalten erf€ullt.

Bei substanzabhängigen Schwangeren gilt die Verleugnung/Verdrängung einer unangenehmen oderunannehmbaren Wirklichkeit als typische Bewältigungsstrategie (Wessel et al. 2007). Planendes undvorsorgendes Verhalten, wie es f€ur die Schwangerschaft notwendig wäre, kann nicht in die Realitätumgesetzt werden.

Bei der Teenagerschwangerschaft spielt meist die emotionelle und kognitive Unreife mit der Unfä-higkeit, zuk€unftige Folgen der eigenen Handlungen abzuschätzen, eine wesentliche Rolle.

Die sehr heterogene Gruppe der „anderen Ursachen“ wird gebildet durch Frauen, bei denen eineSchwangerschaft und die vorausgegangene Sexualität aus verschiedenen Gr€unden „nicht sein darf“(prämenopausale Frauen, Frauen mit mehreren Partnern) oder Frauen mit schweren psychosexuellenKonflikten, wie z. B. nach einem sexuellen Trauma oder einer sexualfeindlichen Erziehung.

Nachdem einem Infantizid (Kindesmord durch die Mutter unmittelbar nach der Geburt) sehr häufigeine verleugnete Schwangerschaft vorausgeht, wurde vorgeschlagen, das Problem des Infantizids durchModelle der anonymen Geburt oder einer „Babyklappe“ zumindest teilweise zu lösen (Klieret al. 2013). Die Deutsche Gesellschaft f€ur Psychosomatik in Gynäkologie und Geburtshilfe veröffent-lichte 2001 eine Stellungnahme (Neises und Rohde 2001), die die Wirksamkeit dieser Versuche be-zweifelt. Aus der psychosomatischen Sicht der Autoren (und auch meiner eigenen; M.L.) fehlten dieBeweise f€ur die Sinnhaftigkeit einer derartigen Lösung. Jene Frauen, die ihr Kind töten, leiden praktischalle an einer schweren Persönlichkeitsstörung, die ihnen eben jenes planende Handeln verunmöglicht, dasf€ur eine anonyme Geburt notwendig ist (Anner et al. 2005; Coutinho und Krell 2012). Sowohl die M€utterals auch die Kinder haben nach einer anonymen Geburt schwere psychische Probleme zu erwarten(Askren und Bloom 1999). Man sollte danach streben, die vorhandenen Therapiemöglichkeiten f€ur dieProbleme, die zu dem Ausnahmezustand f€uhrten, zu n€utzen; in den allermeisten Fällen lassen sich inZusammenarbeit mit Sozialarbeitern und Jugendschutzbehörden Auswege finden, wie etwa eine Adop-tionsfreigabe unter strengem Datenschutz.

Die Scheinschwangerschaft („grossesse nerveuse“) lässt sich aus einer Zeit verstehen, in der es f€urdie weibliche Identität von zentraler Wichtigkeit war, Kinder zu bekommen, und in der es gleichzeitigtechnisch schwierig war, eine Schwangerschaft eindeutig nachzuweisen. Beides hat sich wesentlichgeändert, sodass eine längerdauernde Scheinschwangerschaft extrem selten geworden ist. Möglicherwei-se hat die nonpuerperale Galaktorrhö ihren Platz als Konversionssyndrom eingenommen.

6.3 Vorzeitige Wehen/FrühgeburtDie Fr€uhgeburtlichkeit mit ihren (Spät)Folgen an kindlicher Morbidität und Mortalität bleibt weiter einhöchst unbefriedigend gelöstes Problem der Geburtshilfe, das schweres individuelles Leid und hohesoziale Kosten verursacht. Ein besseres Verständnis und die Prävention der Fr€uhgeburtlichkeit stellendaher weiterhin ein vorrangiges Ziel jeglicher umfassenden geburtshilflichen Betreuung dar. ZwischenAutoren der verschiedensten Fachrichtungen herrscht weitgehende Übereinstimmung dar€uber, dass die

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Fr€uhgeburtlichkeit ein multifaktorielles Geschehen ist, zu dem viele somatische und psychosozialeKofaktoren beitragen.

Zu den klassischen sozioökonomischen Risikofaktoren, die in mehreren Untersuchungen bestätigtwerden konnten und die ihre G€ultigkeit behalten, gehören jugendliches Alter der Mutter (<18 Jahre) undZugehörigkeit zur unteren Sozialschicht. Von diesen abhängige, sekundäre Faktoren sind enge Wohn-verhältnisse („crowding“) und mangelnde Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen. In Korrelati-on mit Alter und Sozialschicht, aber auch davon unabhängige Risikofaktoren f€ur Fr€uhgeburtlichkeitund/oder intrauterine Wachstumsrestriktion werden i.v.-Drogenabhängigkeit sowie Alkohol- und Niko-tinabusus genannt.

Eine interessante Differenzierung zeigte sich in j€ungster Zeit bei mehreren weiteren klassischenRisikofaktoren, nämlich beim Familienstand, der beruflichen Belastung und der Migration. In fr€uherenStudien wurde allein die Tatsache, ledig, berufstätig oder Migrantin zu sein, als Stressor per se betrachtet.Neuere Untersuchungen konnten zeigen, dass nicht das Vorhandensein des Stressors, sondern dessensubjektiv erlebte Qualität und dessen Verarbeitung die entscheidenden Variablen sind.

Viele ältere sozialmedizinisch-epidemiologische Untersuchungen haben den Zivilstand erhoben undallgemein eine höhere Fr€uhgeburtsrate bei ledigen oder geschiedenen Frauen gefunden. Bedenkt man dieWichtigkeit, die ein Gef€uhl der Sicherheit f€ur den g€unstigen Verlauf einer Schwangerschaft darstellt,erscheint dies auch plausibel. Rauchfuß (1999) konnte allerdings zeigen, dass auch eine unbefriedigendePaarbeziehung einen ung€unstigen, ja sogar einen „dosisabhängigen“ Effekt auf das Gestationsalter hatte:Je €ubereinstimmender und je fr€uher in der Schwangerschaft die Beziehung von den Partnern als schlechteingestuft wurde, desto höher war die Wahrscheinlichkeit einer Fr€uhgeburt.

In ähnlicher Weise wurde von Henriksen et al. (1994) versucht, eine 2 � 2-Matrix f€ur die Auswirkun-gen der Berufstätigkeit mit den Dimensionen „Belastung“ und „Kontrollmöglichkeit“ zu erstellen. Frauenmit niedriger Belastung und hoher Kontrollmöglichkeit hatten hierin das geringste, Frauen mit hoherBelastung und niedriger Kontrollmöglichkeit das höchste Fr€uhgeburtsrisiko.

Die Bestimmung „rein psychologischer“Risikomerkmale oder Persönlichkeitsfaktoren, die zu Fr€uhge-burtlichkeit prädestinieren, erwies sich als schwierig. Die in älteren Arbeiten gefundenen Eigenschaftenwie „selbstbewusst, sozialkritisch, ehrgeizig“ oder „negative Einstellung zu Menstruation und Sexualität,beruflich stärker orientiert, geringere Identifikation mit dem Mutterbild“ wirkten im besten Fall schweroperationalisierbar oder rundheraus frauenfeindlich. Zustandsgebundene („state“) und persönlichkeits-gebundene („trait“) Angst zeigte uneinheitlichen Einfluss auf das Gestationsalter; möglicherweise unter-scheiden sich Frauen mit reaktiven Ängsten nach missgl€uckten Schwangerschaften von jenen ohneVorbelastung.

Parallel zu der zunehmend differenzierten psychosomatischen Sicht ging in der somatischen Medizindie Entwicklung ebenfalls hin zu einem komplexeren Konzept der Fr€uhgeburtlichkeit. Die Bedeutunganamnestischer Risikofaktoren wie Zustand nach Spätabortus/Fr€uhgeburt wurde ebenso erkannt wieder Wert des Screenings per Zervixultraschall, Fibronektin- oder Infektionsabklärung in Risikogruppen.Die Tokolyse und die konsequente Lungenreifung mit Kortikosteroiden wurden „evidence-based ver-bessert“. Epidemiologische Daten €uber die besseren Ergebnisse an Perinatalzentren fanden ihren Nieder-schlag in der Forderung nach einer Regionalisierung der Geburtshilfe mit antenatalem Transport vonRisikoschwangeren, wie z. B. bei Mehrlingsschwangerschaften.

Eine der multifaktoriellen Genese angemessene Betreuung wird daher auch mehrere Zugänge n€utzenm€ussen:

– möglichst fr€uhe Erfassung von Schwangerem mit hohem Fr€uhgeburtsrisiko, z. B. durch geeigneteScores (Creasy 1991),

– intensive, engmaschige und interdisziplinäre Betreuung der Frauen mit hohem Risiko,

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– nichtärztliche Interventionsmodelle wie mobile Hebammen,– ambulante und stationäre, psychotherapeutisch ausgerichtete Betreuung,– muttersprachliche Betreuung f€ur Migrantinnen.

Arbeit mit Frauen mit Migrationshintergrund nimmt in den letzten Jahrzehnten einen immer größe-ren Anteil der psychosomatischen Geburtshilfe ein.

Das Inanspruchnahmeverhalten der sozialmedizinischen Angebote hängt von kulturellen, sozioöko-nomischen und Bildungsparametern ab (Lamkaddem et al. 2014). Patientinnen mit t€urkischem Migra-tionshintergrund verf€ugen meist €uber eine gute familiäre Unterst€utzung und eine stabile Paarbeziehungund besuchen regelmäßig die Vorsorgeuntersuchungen; sie weisen eine vergleichbare perinatale Morta-lität und Morbidität auf wie Frauen ohne Migrationshintergrund (David et al. 2014).

6.4 PränataldiagnostikDie verschiedenen Methoden der Pränataldiagnostik (PND) haben das Erleben der Schwangerschaft f€urdie Schwangere und ihren Partner in mehreren wichtigen Aspekten verändert. Durch die Verf€ugbarkeitder PND sind Eltern zu einer Auseinandersetzung mit der Schwangerschaft und zu Entscheidungen €uberden Fetus gezwungen, die historisch völlig neu sind.

" Bis zu einem gewissen Grad lässt sich sagen, dass die Pränataldiagnostik das moderne Schwanger-schaftserleben in wesentlichem Ausmaß konstituiert.

6.4.1 Methoden der PNDZumVerständnis der psychischen Auswirkungen der verschiedenenMethoden der PND und zur besserenÜbersicht können 3 Kategorien verwendet werden: Zielgruppe der Schwangeren, Gestationsalter undInvasivität. Jede Methode der PND besitzt gewissermaßen ein charakteristisches Profil, das sich aus deneinzelnen Kategorien zusammensetzt und wesentlich das psychische Erleben, aber auch Art und Ausmaßvon Beratung und des „informed consent“ beeinflusst.

Hinsichtlich der Zielgruppe kann man zwischen Schwangerschafts-Monitoring und gezielter Sucheunterscheiden. Der Ultraschall (US) zur Bestimmung von Zahl, Alter, Lage und Wachstum des/der Fetensowie Sitz der Plazenta ist die typische, ungezielte Monitoring-Technik, die eine nahezu 100%igeAnwendungs- und Akzeptanzrate aufweist. Sie kann allerdings beim geringsten Verdacht auf eineMissbildung sofort ihre Qualität ändern und zu einer hochemotionellen Stressituation werden.

Paare nach Geburt eines von einer seltenen hereditären Erkrankung betroffenen Kindes (zystischeFibrose, M. Tay-Sachs, Duchenne-Muskeldystrophie) sind bereits vor jeglicher PND massiv psychischbelastet; die möglichen zusätzlichen Stressoren sind daher anders zu bewerten als bei einer gesundenPrimipara.

Wesentlich f€ur das Erleben einer Methode ist deren Invasivität. Vertreter der invasiven Methoden sindAmniozentese (AC), Chorionzottenbiopsie (CVS)/Plazentapunktion und Chordozentese. Diese Metho-den haben eine gewisse Komplikationsrate, die in 0,5 % (AC) bis 4 % (CVS) zum Abortus f€uhrt. Dietypische Problematik besteht in der notwendigen individuellen Riskenabschätzung zweier niedrigerRisiken (Abortus vs. Trisomie), die beide sehr schwerwiegend, aber ähnlich unwahrscheinlich sind.Neben diesen real begr€undeten Ängsten erweckt die Penetration des Unterbauches und der schwangerenGebärmutter mit einer langen Nadel häufig Ängste vor und Phantasien €uber eine Gefährdung oderVerletzung des Kindes.

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Das an einigen Abteilungen bereits f€ur alle Schwangeren angebotene Ersttrimesterscreening(Nackentransparenz plus Serumscreening) wird viele Amniozentesen vermeiden helfen, parallel dazuwird aber ein Druck in Richtung immer fr€uhere Pränataldiagnostik ausgelöst.

" Das Gestationsalter, in dem die quantitativ und qualitativ wichtigsten Methoden durchgef€uhrt werden,sind das späte 1. Trimenon („nuchal translucency“, Serumscreening, CVS) und das 2. Trimenon(Triple-Test, AC, Organ-/Fehlbildungsscreening).

In diese Phase fällt die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz, der Beziehungsaufbau zum Kind, dieIntegration der eigenen körperlichen Veränderungen und bei Mehrgebärenden das Versp€uren der erstenKindesbewegungen.

6.4.2 Erleben von PNDIn diesem vulnerablen Entwicklungsprozess treten nun die Methoden der PND mit real und/odersymbolisch mächtigen, aussage- und konsequenzreichen Bildern, Eingriffen und Befunden auf.

Das Erleben einer Ultraschalluntersuchung wurde in der Vergangenheit vielfach untersucht und vonden Frauen als weitgehend positiv beschrieben, in quantifizierenden Studien wird das innere Bild desKindes klarer und näher (Langer et al. 1988). Das Bild des Fetus am Monitor löst beim ersten Anblickmeist spontane Gef€uhlsregungen aus; der Herzschlag oder die Bewegungen des Kindes werden mitfreudiger Überraschung kommentiert. US-Untersuchungen können Ängste deutlich reduzieren, was beiSchwangerschaftskomplikationen wie z. B. Blutungen (Langer et al. 1988) schon vor Langem gezeigtwerden konnte. Bei der Betreuung von Frauen nach vorangegangenen missgl€uckten Schwangerschaftenkann US besonders hilfreich eingebaut werden, wenn nicht nur allgemein entängstigt, sondern v. a. dasspezifische Problem der fr€uheren Schwangerschaft, z. B. eine kindliche Missbildung oder Wachstums-restriktion, ausgeschlossen werden kann.

" Vor jedem f€ur den Untersucher noch so banalem US im 1. Trimenon muss daher ein Gesprächstattfinden, in dem ein zumindest grundsätzlicher „informed consent“ eingeholt werden muss.

Das Klarerwerden des Fetus durch die Visualisierung, damit seine unleugbare, teilweise von derSchwangeren unabhängige Existenz sind Charakteristika, die vor der Ära des US erst in späteren Phasender Schwangerschaft erlebt wurden. Der Ultraschall greift also in den zeitlichen Ablauf ein, spätere Stufenvon Bindung und Trennung und manche Bereiche, die fr€uher der Mutterschaft/Elternschaft zugerechnetwurden, werden bereits in die Schwangerschaft vorgezogen. Konkrete Beispiele daf€ur wären die Ge-schlechtsfeststellung des Kindes oder der 3-D-Ultraschall mit seinen plastischen Bildern vom kindlichenGesicht.

Die f€uhrenden Begleitemotionen der Amniozentese sind häufig intensive Angst und eine„Schwangerschaft auf Abruf“ („tentative pregnancy“, Katz-Rothman 1993). Vor und während derIntervention sind es v. a. die Ängste vor Verletzung des Kindes oder vor einer Fehlgeburt, danach dieAngst vor einem pathologischen Ergebnis und der Entscheidung f€ur oder gegen den Schwangerschafts-abbruch. Die Entängstigung beim Eintreffen eines normalen Resultates ist dann auch dementsprechendhoch, wenn es auch Untersuchungen gibt, wonach das Angstniveau bis zur Geburt nicht auf denAusgangswert zur€uckkehrt (Chitayat et al. 2011).

Ultraschall und CTG waren Konfliktzonen zwischen Schulmedizin und sog. „alternativer Geburtshil-fe“ in den 1980er-Jahren. F€ur beide Methoden konnte gezeigt werden (Langer et al. 1988; Ringler 1985)

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dass das Erleben und die Akzeptanz in hohem Maß von der G€ute des Feedbacks €uber das Geseheneabhängt, und bei guter Kommunikation keine Barriere, sondern sogar eine Br€ucke zum Gesprächdarstellen kann.

" Die Mitteilung eines ung€unstigen Resultates st€urzt die Eltern in eine völlige emotionelle Ausnahme-situation. Die schlimmsten Bef€urchtungen wurden wahr. In einer derartigen Krise m€ussen die Schwan-gere und ihr Partner nun auch noch komplexe medizinische Sachverhalte €uber den Zustand des Kindeszu verstehen versuchen. Daher kommt der Gesprächsf€uhrung eine zentrale Bedeutung zu: Die wich-tigsten Ziele m€ussen es sein, emotionale Unterst€utzung zu bieten sowie eine Orientierungshilfe f€ur dieUnterscheidung zwischen Wichtigem und Nebensächlichem, Dringlichem und Zweitrangigem anzu-bieten.

6.4.3 Beratung bei kindlichen Chromosomenanomalien und FehlbildungenDie Pränataldiagnostik ist untrennbar mit dem Schwangerschaftsabbruch verkn€upft. Alle Einzel-personen und Institutionen, die PND anbieten, m€ussen sich dieser Tatsache bewusst sein und sichantizipierend damit auseinandersetzen. Dabei sollten Ärzte ihre eigenen Werthaltungen in einer konti-nuierlichen Reflexion klären und einen Rahmen ihres Handelns festlegen. Sie m€ussen aber auch bereitsein, die Einstellung des betroffenen Paares zu respektieren und es in seiner Krise und Trauer zu begleiten.Die folgenden Empfehlungen können weitgehend auch auf die Betreuung nach intrauterinem Frucht-tod oder Totgeburt angewendet werden.

Nach Abklingen der ersten Schockphase nach der Diagnosemitteilung muss sich eine qualifizierteBeratung €uber die Konsequenzen des Befundes anschließen. Die medizinische, psychische und sozialePrognose des zu erwartenden Kindes muss detailliert erörtert werden; keinesfalls sollte Wissen €uber dieErkrankung oder ein Automatismus hinsichtlich Schwangerschaftsabbruch unterstellt werden. In jedemFall sollte eine psychologische Betreuung so fr€uh wie möglich angeboten und begonnen werden und auchnach der Krankenhausentlassung weitergef€uhrt werden.

Eine kleine Zahl von Frauen trägt eine Schwangerschaft trotz nachgewiesener Missbildung oderChromosomenanomalie bis zum Geburtstermin aus, wobei nat€urlich zwischen lebensfähigen Anomalienwie Trisomie 21 oder jenen mit infauster Prognose wie Anenzephalus große Unterschiede im Erleben undbei der Beratung bestehen. Schwangere mit demWunsch, ein Kind mit einer zu erwartenden Behinderungzur Welt zu bringen, sollten auf alle Möglichkeiten der Unterst€utzung, sei es von der öffentlichen Handoder von privaten Selbsthilfegruppen, aufmerksam gemacht werden.

Viele jener Frauen, die ein Kind mit einer infausten Prognose austragen wollen, betonen, dass sie demKind jene Lebenszeit, die ihm „eben möglich“ sei, und sich selbst das Erleben der Schwangerschaftgönnen wollten. Diese Haltung ist ohne geringschätzige Kommentare zu respektieren, und eine konti-nuierliche Betreuung ist anzubieten, die €uber die Geburt bzw. den Tod des Kindes hinausgeht.

Einige, durchaus kontrovers diskutierte Arbeiten berichten €uber direkte, kausale Einfl€usse psychischerFaktoren auf scheinbar rein somatische Phänomene. Fetale Fehlbildungen (Mittellinienrhaphenstörungenwie Gastroschisis oder Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten) fanden sich vermehrt bei Frauen, die im 1. Tri-menonen eine nahe Bezugsperson (Partner, Kind) verloren haben (Hansen et al. 2000), und psycho-logischer Stress während der Schwangerschaft soll zu einer höheren Rate an Totgeburten prädestinieren(Wisborg et al. 2008)

Allen oben besprochenen Gruppen von Frauen ist gemeinsam, dass sie einen lebensveränderndenVerlust erlitten haben und ein Trauma durchleben. Bei Kindern mit einer Fehlbildung oder Behinderunghandelt es sich um den Verlust der Hoffnungen und Phantasien f€ur ein gesundes Kind, bei einem Abbruchoder einer Totgeburt um das Kind als Lebenwesen. Diese Verluste wurden in der Vergangenheit oft nichtausreichend gew€urdigt und mit zwar gut gemeinten, aber unpassenden Bemerkungen wie „Sie können ja

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wieder schwanger werden, und dann bekommen Sie ein gesundes Kind“ quittiert. Gefordert und ge-w€unscht muss hingegen eine Betreuung sein, die die „Trauerarbeit“, also die aktive Bewältigung desVerlustes, unterst€utzt. Zur Betreuung von Frauen während und nach einem Schwangerschaftsabbruch ausgenetischer Indikation existiert eine reichhaltige Literatur (Übersichten bei Chitayat et al. 2011; Langerund Ringler 1989; Kolker und Burke 1993), daher sollen hier nur einige praktisch relevante Aspekte nähererwähnt werden.

Ein zentrales Thema in der Auseinandersetzung bilden Schuldgef€uhle; so kann die Frau (seltener derMann) in ihren subjektiven Krankheitstheorien sich selbst oder ihr Verhalten als Ursache der Missbildungempfinden Daraus resultiert eine tiefe Kränkung des Selbstwertgef€uhls mit einer reaktiv-depressivenVerstimmung. Bei einer schon eingegangenen Beziehung zum Kind f€uhlen sich die Paare schuldig andessen Tod, den sie selbst beschlossen und herbeigef€uhrt haben. Oft stehen hohe Ich-Idealforderungen anaufopfernden Eltern dahinter, denen sie nicht gen€ugten, sondern ihre eigenen, scheinbar selbsts€uchtigenBed€urfnisse durchsetzten.

Grundsätze der Betreuung

– Strategien, die das Anerkennen des Verlustes fördern und das Entwerten bzw. „Fäkalisieren“ desKindes verhindern: Sehen, evtl. Halten des Kindes, wenn dies den Eltern in der Akutphase nichtmöglich ist, sollte ein Foto angefertigt werden. Alle Handlungen, die das Kind zur Person werdenlassen, wie die Namensgebung oder religiöse Rituale wie Taufe und Begräbnis, sollten aktivunterst€utzt werden.

– Das Betrachten des Kindes stellt eine wichtige Realitätskontrolle dar, speziell im Fall einesSchwangerschaftsabbruchs aus medizinischer Indikation. Ähnliches gilt f€ur die Besprechungspäter eintreffender Pathologiebefunden wie Obduktionsbericht oder Karyotyp.

– Daran schließt sich das Wahrnehmen gesunder und kranker Anteile des Kindes an, um das Kindals Ganzes zu erleben und einer Aufspaltung entegenzuwirken.

– Die subjektiven Krankheitstheorien bez€uglich der Erkrankung/des Todes des Kindes m€ussenunbedingt besprochen werden. Anzustreben ist dabei einerseits das Ernstnehmen der Kausal-attributionen mit ihrer psychischen Bedeutung, aber andererseits auch die manchmal notwendigenaturwissenschaftlich-medizinische Korrektur von oft vorhandenen Fehlvorstellungen. Diesebeinhalten oft völlig unbegr€undete Schuldgef€uhle, die jahrelang weiterwirken können.

– Manchmal kommt es zur Selbstentwertung der Patientinnen, die sich als „schlechte Mutter“betrachten, weil sie nicht die Kraft gehabt haben, ein behindertes Kind anzunehmen. In diesemFall sollten die eigenen Bed€urfnisse gegen Überichforderungen gest€utzt werden. Der Wunschnach einem gesunden Kind muss als verständlich und gerechtfertigt angesehen werden.

– Der Dialog des betroffen Paares ist zu fördern; auf einseitige Übernahme von Schuld zu achten.Häufig kommt es zu zeitversetzten Trauerreaktionen in der Weise, dass Frauen fr€uher und mitkonkreteren Inhalten, Männer erst mit einer gewissen Zeitverzögerung und oft mit Reaktions-bildungen trauern.

– Im Kontakt mit Angehörigen sollte eine Balance zwischen sozialer Unterst€utzung und demBed€urfnis nach Schutz und Abgrenzung gefunden werden.

– Strategien f€ur den Wiedereintritt in Familie, Freundeskreis und Arbeitsplatz besprechen.

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6.5 Betreuung von RisikoschwangerschaftenJede Schwangerschaft, die – aus welchem Grund auch immer – nicht „normal“ verläuft, bedeutet eineenorme psychische Belastung f€ur die betroffene Schwangere. Frauen mit Mehrlingsschwangerschaften,Präeklampsie, Diabetes mellitus oder intrauteriner Wachstumsrestriktion werden engmaschig ambulantkontrolliert und/oder in vielen Fällen auch hospitalisiert. Durch diese Maßnahmen und durch dieKommentare der Ärzte wird die schon bestehende Angst um das Kind und manchmal auch um die eigeneGesundheit noch verstärkt. Die Nebenwirkungen der Tokolyse und der wochenlangen erzwungenen Ruhestellen weitere Einschränkungen dar; hinzu kommt, dass oft die eigenen Körperwahrnehmungen derFrauen den beeinträchtigten Zustand des Kindes nicht anzeigen und daherMisstrauen in sie geweckt wird.Werden Frauen im Zuge eines Antenataltransportes an ein Perinatalzentrum transferiert, wird der Kontaktzu den Angehörigen oft durch die größere Entfernung zum Heimatort erschwert.

Die spezifischen Belastungen, die die Intensivbehandlung eines unreifen Neugeborenen f€ur die be-troffenen Eltern bedeutet, ist schon mehrfach betont worden. Der zeitliche Ablauf, der „Bogen“ derSchwangerschaft, wird zu einem Zeitpunkt jäh unterbrochen, an dem sich die Frau noch nicht f€ur dieGeburt bereit f€uhlt. Die Mitarbeit und Compliance der Eltern während des Aufenthaltes des Kindes in derneonatalen Intensivstation ist f€ur dessen Erholung bedeutsam und muss durch das Personal unterst€utztwerden.

" Der Stress der oben angef€uhrten, unterschiedlichen Diagnosen und Phasen kann am besten durch eineintegrierte psychosomatische Betreuung durch Geburtshelfer, Neonatologen und Psychotherapeutengemildert werden.

6.6 Postpartale affektive Störungen: Blues, Depression, PsychoseDie Anpassungsleistungen im Wochenbett sind ebenso bedeutsam wie jene am Beginn derSchwangerschaft, nur werden sie von der professionellen und persönlichen Umgebung der Wöchnerinweniger wahrgenommen und wenn, dann negativer konnotiert. Eine Andeutung davon findet sich in demSatz: „Die Schwangerschaft fängt häufig mit einem Gef€uhl von Ehrfurcht und Schwindel an und hört,wenn sie dem Alltag wieder Platz macht, mit einem Jammertag auf“ (Hertz und Molinski 1986).

Im Allgemeinen unterscheidet man 3 Abstufungen von affektiven Störungen der Postpartalperiode, dieallerdings keine eigenen nosologischen Einheiten bilden und zwischen denen es durchaus Übergängegibt:

– den Postpartum-Blues,– die postpartale Depression,– und die postpartale Psychose.

In großen Serienuntersuchungen wurde eine Inzidenz von 50–70 % Blues, 10–15 % Depression nachDSM IV-Kriterien und 0,1–1 % Psychose gefunden.

Allen Formen ist gemeinsam, dass sie aus mehreren Gr€unden zu selten diagnostiziert werden. Diebetroffenen Frauen verschweigen ihre Beschwerden aus dem Schuldgef€uhl heraus, als „gute Mutter“versagt zu haben; auch die Ärzte haben diesem Problem bisher zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt,€uberdies klafft im medizinischen System nach der Krankenhausentlasssung genau in jener Zeit eineL€ucke, in der sich die typischen Symptome entwickeln.

In j€ungster Zeit wurde die Forschung auf diesem Gebiet durch die Entwicklung und Standardisierungder Edinburgh Postnatal Depression Scale (EPDS) stimuliert, die sich als diagnostisches Instrumentdurchgesetzt hat. Die Inzidenz fr€uher postpartaler Depressionen wird mit EPDS-Kriterien mit 10–20 %

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angegeben; Risikofaktoren daf€ur sind hohe Kinderzahl, persönlichkeitsgebundene Angst, niedrige Le-benszufriedenheit und niedrige Sozialschicht sowie Fr€uhgeburtlichkeit des Kindes (Bergant et al. 1999).

Seit langer Zeit wurde und wird angenommen, dass die postpartalen hormonellen Schwankungen einenwesentlichen Anteil an der Auslösung der affektiven Störungen hätten. Als möglicher Wirkmechanismuswurde die Modulation der Serotoninrezeptorinteraktion durch Östrogene postuliert. Bei genauer Betrach-tung finden sich jedoch nur wenige Hinweise auf eine mögliche Rolle der hormonellen Veränderungen derbiochemischen Parameter und einer eventuellen Hormontherapie bei Blues und Depression. Steiner(1998) konnte in methodisch sauberen Studien keine Zusammenhänge zwischen den Serumspiegelnvon Sexualhormonen, neurobiochemischen Daten und postpartalen Befindlichkeitsstörungen finden. Dertherapeutische Einsatz von Östrogen ist bestenfalls „mäßig“ erfolgreich (Dennis und Ross 2008), Gesta-gene sind kontraindiziert, weil sie eine Verschlechterung hervorrufen. In einer €uberwiegenden Mehrzahlder Fälle zeigen Frauen mit Postpartum-Blues eine hohe Tendenz zur spontanen Besserung.

Die alte Bezeichnung „Stillpsychose“ unterstellte eine ursächliche Verbindung zwischen Stillen undPsychose mit der Konsequenz, dass die Patientinnen nahezu ausnahmslos abstillten. Nach modernerAnsicht bleibt die Postpartumpsychose zwar weiterhin eine ernstzunehmende Erkrankung, die am besteninterdisziplinär von Psychiatrie und Geburtshilfe betreut wird. In einer Institution, die mit der Betreuungdieser Patientinnen Erfahrung hat, sind das Abstillen oder gar eine Trennung von Mutter und Kind aberpraktisch nie notwendig, und die Hospitalisierungsdauer hat gegen€uber fr€uher deutlich abgenommen.Eine Kombinationstherapie mit Psychopharmaka [selektive Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI)oder trizyklische Antidepressiva (TCA)], Psychotherapie sowie engmaschiger supportive Betreuung beider Kinderpflege ist indiziert. Als Sicherheitsmaßnahme kann die Kontrolle von Serumspiegeln derPsychopharmaka bei Mutter und Kind sinnvoll sein.

6.7 Sterilisation post partumDie Tubenligatur als endg€ultige Form der Empfängnisverh€utung verlangt eine ausf€uhrliche und differen-zierte Aufklärung durch den Arzt und einen wohl€uberlegten Entscheidungsprozess der Patientin. EinemProzentsatz von 90 % zufriedener Frauen stehen jene gegen€uber, die ihre Entscheidung heftigst bereuenund oft reaktive Depressionen entwickeln. Risikofaktoren f€ur einen ung€unstigen Verlauf stellen Alter<30 Jahre, wenig Erfahrung mit anderen Kontrazeptiva, Partnerschaftskonflikte oder kurze Entschei-dungszeit dar. Mehrere dieser Dimensionen wurden in einem Prognose-Score f€ur die Tubensterilisationzusammengefasst, der auch von psychosomatisch nicht speziell Geschulten gut angewendet werden kann(Langer et al. 2000).

"Cave Auf keinen Fall sollte der Arzt einer Frau, die sich bis dahin noch nicht damit auseinandergesetzthat, während oder unmittelbar nach der Geburt eine Tubenligatur vorschlagen.

7 Psychosomatische Therapiemöglichkeiten

Die psychosomatische Medizin hat eine Reihe von therapeutischen Strategien anzubieten, die sich angesunde Schwangere, an Patientinnen mit einem spezifischen Problem, wie auch an das Personal richten.

7.1 Therapieangebote für SchwangereDas bekannteste und quantitativ bedeutendste Konzept sind die Geburtsvorbereitungskurse in ver-schiedenen Formen. Je nach Ausbildung und Präferenzen des Leiters sind sie f€ur Frauen allein oder f€urPaare konzipiert. Sie werden individuell, in kleineren oder größeren Gruppen abgehalten und sindinhaltlich eher an Informationsvermittlung, Entängstigung oder am Gruppenprozess ausgerichtet. Prak-

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tisch immer werden Atem€ubungen vermittelt, meist wird eine Form der Entspannungstechnik, wie dieprogressive Muskelrelaxation nach Jacobson gelehrt. (Das klassische autogene Training ist f€ur Schwan-gere wegen der dabei notwendigen Abgabe der Kontrolle €uber den eigenen Körper weniger geeignet.)Mehrere ältere Untersuchungen haben die Vorteile von Geburtsvorbereitungskursen gezeigt: bessereMitarbeit der Gebärenden, weniger Analgetikaverbrauch, mehr aktive Teilnahme der Partner.

Die Art des Angebotes richtet sich allerdings vornehmlich an ein spezielles Segment der Schwangerenaus der sozialen Mittelschicht der urbanen Bildungsb€urger mit eher enger Paarbindung. Sozioökono-misch unterprivilegierte oder psychisch belastete Frauen, die eine perinatologische Risikogruppe darstel-len, f€uhlen sich weniger angesprochen, obwohl gerade sie eine Form der Unterst€utzung benötigenw€urden.

Bei den in Abschn. 6 besprochenen spezifischen Störungen sind grundsätzlich mehrere Formen despsychotherapeutischen Gespräches und der Beratung möglich und auch indiziert. Dabei können undwerden meist auch Elemente aus verschiedenen Techniken verwendet: intensive, individuelle Geburts-vorbereitung, umfassende Beratung („counselling“), Krisenintervention, Paar- und Familientherapie,Verhaltenstherapie sowie längerdauernde, fokussierende Psychotherapien.

Allerdings sind dabei die speziellen Ausgangsbedingungen besonders zu ber€ucksichtigen. DieSchwangerschaft ist ein zeitlicher Ablauf mit einer eigenen Dynamik, d. h. die €ublichen psychothera-peutischen Vorstellungen vom Einleiten und Zulassen eines Prozesses sind nicht oder nur eingeschränktanwendbar. Aufdeckendes oder konfrontierendes Vorgehen ist – wenn €uberhaupt – nur mit äußersterVorsicht anzuwenden, absolut im Vordergrund stehen st€utzende Interventionen, Wecken der Ressourcender Patientin, Aktivieren des sozialen Netzes etc.

Häufig m€ussen auch Setting-Bedingungen verletzt werden, die ansonsten einen unverzichtbarenRahmen psychotherapeutischer Arbeit bilden. Die Anforderungen an den Therapeuten und seine Techniksind aber dadurch nicht geringer, sondern eher noch höher als unter traditionellen Bedingungen.

7.2 Angebote für das PersonalGeburtshilfliche Arbeit ist f€ur das gesamte Personal physisch und psychisch anstrengend. Hebammen undGeburtshelfer können dabei intensive und vielfältige Gef€uhle empfinden: Freude und Erleichterung €ubereine gegl€uckte Geburt, Neid auf das offensichtliche Gl€uck, Unwillen und Verärgerung bei Gebärendenmit fr€uhem Kontrollverlust, Angst und Hektik bei Komplikationen, Trauer und Betroffenheit beimissgl€uckter Schwangerschaft, Schuldgef€uhle bei tatsächlichen oder vermeintlichen eigenen Fehlern.Des Weiteren können sowohl aus hierarchischen als auch aus demokratischen Formen der Zusammen-arbeit Spannungen unter den Mitarbeitern entstehen.

Alle diese Gef€uhle sind legitim, unvermeidlich und manchmal sogar hilfreich als Indikatoren f€urStörungen des Ablaufes. Innerhalb der Arzt-Patientin-Beziehung sind sie machtvolle Faktoren in derInteraktion, die unbedingt reflektiert und nicht unterdr€uckt oder negiert werden sollten.

Die bekannteste und geeignetste Form daf€ur sind Balint-Gruppen, in denen die teilnehmenden Ärzteunter Leitung eines Psychotherapeuten eigene schwierige Fälle referieren und danach in der Gruppebesprechen. Die anderen Gruppenmitglieder können dabei helfen, die von den Patientinnen und ihrenErkrankungen ausgelösten Gef€uhle besser oder €uberhaupt erst zu reflektieren.

Eine ebenfalls sehr sinnvolle Form stellt die Stationssupervision dar, bei der alle beteiligten Berufs-gruppen die durch die Patientinnen und durch die Zusammenarbeit ausgelösten Spannungen ansprechenkönnen. Schwierigkeiten bilden hierbei eventuell die bestehenden hierarchischen Verhältnisse zwischenden Teilnehmern, die Teil der Arbeitsrealität darstellen.

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7.3 Psychosomatische Versorgung und interdisziplinäre ZusammenarbeitWelche Berufsgruppe mit welcher Ausbildung sollte die oben beschriebenen Leistungen konkret erbrin-gen? In erster Näherung lässt sich das Modell Grundhaltung und Krankheitslehre auch hier heranziehen.Jeder in der Geburtshilfe Tätige muss €uber ein ausreichendes Maß an Grundwissen verf€ugen und es inseine tägliche Routine einbauen, dar€uber hinaus sollte jede geburtshilfliche Station f€ur besondere Auf-gaben einen psychotherapeutisch geschulten Mitarbeiter zur Verf€ugung haben.

In der psychosomatischen Literatur und Praxis wurden in der Vergangenheit verschiedeneModelle derOrganisation psychosomatischer Arbeit diskutiert; sie lassen sich im Wesentlichen durch die KonzepteKonsultation, Liaison und Integration zusammenfassen.

" Konsultation Unter Konsultation versteht man das (punktuelle) Beiziehen klinischer Psychologen/Psychotherapeuten oder Psychiatern zu einzelnen Patientinnen mit besonderen Problemen.

" Liaison Ein in Liaison arbeitender Psychotherapeut verbringt wesentliche Teile seiner Arbeitszeit aneiner geburtshilflichen/gynäkologischen Einrichtung, behält jedoch Verbindungen zu einer psycho-therapeutischen Institution f€ur die Zwecke der Supervision, Fortbildung etc.

" Integration Integriert arbeiten Geburtshelfer, die selbst eine psychotheraupeutische Zusatzausbildungabsolviert haben. Jedes dieser Modelle hat spezifische Vor- und Nachteile, allerdings werden lang-fristige Umstrukturierungen einer Abteilung nach psychosomatischen Grundsätzen sich wohl nur mitIntegration herbeif€uhren lassen.

Bei manchen Patientinnen ist die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen von zentralerBedeutung. Zum Beispiel d€urfen substanzabhängige und/oder HIV-positive Patientinnen sowie Frauenmit Postpartumpsychose nur gemeinsam mit Psychiatern behandelt werden. Teenager, arbeits- undwohnsitzlose Frauen sollten gemeinsam mit Sozialarbeitern, Migrantinnen gemeinsam mit Sprach-und/oder Kulturdolmetschern betreut werden.

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