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HAW Hamburg Februar 2015 Prof. Ravens-Sieberer Psychische Gesundheit und Wohlbefinden von Kindern und Familien in Deutschland - Ergebnisse repräsentativer Studien Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer MPH Professorin für Gesundheitswissenschaften – Versorgung von Kindern und Jugendlichen Forschungsdirektorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, - psychotherapie und -psychosomatik Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Martinistr. 52 20246 Hamburg

Psychische Gesundheit und Wohlbefinden von Kindern und ... · Verschiebung von den somatischen zu den psychischen Störungen ... Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen

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HAW Hamburg Februar 2015 Prof. Ravens-Sieberer

Psychische Gesundheit und Wohlbefinden von Kindern und Familien in Deutschland - Ergebnisse repräsentativer Studien

Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer

Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer MPH Professorin für Gesundheitswissenschaften – Versorgung von Kindern und Jugendlichen Forschungsdirektorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Martinistr. 52 20246 Hamburg

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Verschiebung von den akuten zu den chronischen Erkrankungen • Zunahme von chronischen Krankheiten wie z.B. Asthma,

Diabetes, Krankheiten des allergischen Formenkreises und Adipositas

Verschiebung von den somatischen zu den psychischen Störungen • Entwicklungs- und Verhaltensstörungen, Lernstörungen,

Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen, Gewaltbereitschaft, emotionale Auffälligkeiten sowie Risikoverhalten (Alkohol- und Drogenkonsum)

Die „neue Morbidität“ wird zu einem großen Teil von

Störungen der Entwicklung, der Emotionalität und des Sozialverhaltens bestimmt Zunahme psychischer Probleme

Kindergesundheit im 20. Jahrhundert – neue Probleme? Was bezeichnet die „neue Morbidität“ im Kindes- und Jugendalter ?

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ADHS: Konzentrationsprobleme, motorische Unruhe, Impulsivität, Stimmungsschwankungen

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Prävalenz psychischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland

Aus: Barkmann & Schulte-Markwort (2010)

17,6% präzisionsgewichtete

durchschnittliche Primärstudienprävalenz

(95%-KI=15.7;19.5, k=33, n=72.978)

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Nehmen psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland zu? Trends von 1950 bis 2007 [k=33 Studien]

Aus: Barkmann & Schulte-Markwort (2010)

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Fragen und Herausforderungen an die Public Health Forschung:

1. Was sind die bedeutsamsten Gesundheitsprobleme im Kindes- und Jugendalter? Prävalenz und Verlauf psychischer Störungen,

2. Wie ist die Versorgungslage der betroffenen Kinder? Versorgungsforschung, Ergebnisse als Basis für Präventions- und Interventionsmaßnahmen,

3. Welche Einflussfaktoren – Risiken und Ressourcen – sind besonders wichtig? Determinanten im Entwicklungsverlauf

4. Wie lassen sich entsprechende Ergebnisse kommunizieren, z.B. an Familien, Schulen, Kindergärten …aber auch an die Gesundheitspolitik? Transfer / „evidenced based policy“

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Studienbeispiele:

Der bundesweite Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des Robert Koch-Instituts (KIGGS)

& die BELLA-Studie als ein Modul von KIGGS • Psychische Gesundheit • Versorgung • Risiko und Schutzfaktoren

Implikationen für Prävention und Versorgung:

Die AOK-Stern-Familienstudie

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Der bundesweite Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des Robert-Koch Instituts …

… untersuchte von Mai 2003 bis Mai 2006 mit vier Teams eine repräsentative Stichprobe von 17.641 Kindern an 167 Orten.

Die Familien hatten Kinder zwischen 0 und 17 Jahren.

Teilnahmequote = 66,6%.

Themen: körperliche & psychische Gesundheit, soziales Umfeld, Lebens-bedingungen u.v.m.

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Untersuchungsprogramm und -durchführung

Die Untersuchungen wurden von vier ärztlich geleiteten Untersuchungsteams vor Ort durchgeführt.

Für die Untersuchungen wurden eigens spezielle Untersuchungszentren vor Ort eingerichtet

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Untersuchungsprogramm

schriftliche Befragung der Eltern und der Jugendlichen von 11-17 Jahren

Medizinische Unter- suchungen und Tests

computergestütztes ärztliches Elterninterview

Blut- und Urinprobe

CAPI

Das nach Altergruppen gestaffelte Untersuchungsprogramm bestand aus:

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Vertiefende Erhebungen wurden durch Zusatz-module an Subsamples durchgeführt.

BELLA ist an KiGGS angeschlossen

KiGGS konnte nur die wichtigsten Indikatoren als „Eckwerte“ erheben.

Die Befragung “Seelisches Wohlbefinden und Verhalten” - ein Modul von KiGGS

Aus Ravens-Sieberer et al. (2008) Eur Child Adolesc Psychiatry 17(Suppl1):10-21.

Eine repräsentative Unterstichprobe von 4199 Familien wurden um Teilnahme an der BELLA-Studie gebeten.

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Die Bella-Studie: Durchführung

Bei Einverständnis wurden die Familien telefonisch kontaktiert und etwa ½ Stunde standardisiert interviewt.

Anschließend wurde ihnen ein Fragebogen geschickt.

2863 Familien mit Kindern zwischen 7 und 17 nahmen teil.

Ab 11 Jahren wurden auch die Kinder selber telefonisch und schriftlich befragt.

Zur Durchführung der BELLA-Studie siehe auch Ravens-Sieberer et al. (2008) Eur Child Adolesc Psychiatry 17(Suppl1):10–21

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2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015

KiGGS [Basis] 2003-2006

BELLA [Basis] 2003-2006

BELLA [Welle 2] 2005-2008

BELLA [Welle 1] 2004-2007

KiGGS [Welle 1] 2009-2012

BELLA+ [Welle 3] 2009-2012 Analysen

KiGGS [Welle 2] 2014-2017

BELLA [Welle 4] 2014-2017

Die BELLA Studie: Die Befragung “Seelisches Wohlbefinden und Verhalten”

eine Längsschnittuntersuchung Alle TeilnehmerInnen werden gebeten mehrfach an der Studie

teilzunehmen.

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Erfassung psychischer Auffälligkeiten - Methode

Um allgemeine psychische Auffälligkeiten zu erfassen, wurde der SDQ eingesetzt, der Symptome und Belastungen erfasst. (Strength and Difficulties Questionnaire, Goodman et al. 1997)

Spezifische psychische Auffälligkeiten wurden mit weiteren standardisierten Instrumenten erfasst.

Ängste: z.B. exzessive Angst bei Trennung von den Eltern; unrealistische Sorgen; Angst vor Sozialkontakten

Depression: z.B. Traurigkeit, Interesselosigkeit, Suizidgedanken

Störungen des Sozialverhaltens: absichtliches unsoziales Verhalten; Aggression; Verletzung sozialer Normen

Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung: Konzentrationsprobleme, (motorische) Unruhe, Impulsivität, Stimmungsschwankungen

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Erfassung psychischer Auffälligkeiten mit dem SDQ (Strength and Difficulties Questionnaire, Goodman et al. 1997)

Die Informationen aus SDQ-Symptomfragebogen und SDQ-Impact zur Belastung können mit Hilfe eines Algorithmus integriert werden, der ermittelt, ob psychische Auffälligkeit „unwahrscheinlich“, „möglich“ oder „wahrscheinlich“ ist.

Symptome

Belastung Vorhersage psychische Auffälligkeit:

=> „unwahrscheinlich“ => „möglich“ => „wahrscheinlich“

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Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen (DIPS) Um spezifische Auffälligkeiten wie Depressionen, Ängsten, ADHS oder Störungen des Sozialverhaltens zu erfassen, wurden zusätzliche standardisierte Instrumente und ein klinisches Interview eingesetzt.

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Häufigkeiten psychischer Störungen

Was sind die bedeutsamsten seelischen Probleme im Kindes- und Jugendalter?

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9,712,2

78,1

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

gesamtWahrscheinlich möglich unwahrscheinlich

Prävalenzen psychischer Auffälligkeiten

Aus: Ravens-Sieberer et al. (2007) Bundesgesundheitsblatt 50(5):871-78.

Nach den SDQ-Angaben zu Symptomen und Belastung liegt bei 9,7% der untersuchten Kinder sehr wahrscheinlich eine psychische Auffälligkeit vor,

12,2% zeigen möglicherweise psychische Auffälligkeiten.

21,9%

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Prävalenzen psychischer Auffälligkeiten nach Alter

Aus: Ravens-Sieberer, U.,et. al. (2014 (submitted)). The longitudinal BELLA-Study: Design, methods and course of mental health problems. European Child and Adolescent Psychiatry (7).

Jungen zeigen häufigen Hinweise auf psychische Auffälligkeiten als Mädchen, die Häufigkeit der Auffälligkeiten steigt mit dem Alter leicht an.

die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung psychischer Auffälligkeiten ist höher im Alter von 7 bis 12 Jahren und in einem Alter von über 19 Jahren

Alter (in Jahren)

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Psychische Auffälligkeit nach sozioökonomischem Status

0102030405060708090

100

hoher SES mittlerer SES niedriger SES

Hinweise unauffällig

Das Auftreten von Hinweisen auf psychische Auffälligkeit wird mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status der Familien (hier nach

Winkler) signifikant häufiger. Gradient stabil über 2 Jahre follow up psychische Auffälligkeit bei Kindern mit niedrigem SES persistenter

als bei hohen SES

68,8%

31,2% 20,9% 16,6%

79,1% 83,4%

Anga

ben

in %

Aus: Ravens-Sieberer et al. (2007) Bundesgesundheitsblatt 50(5):871-78.

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8,59

9,510

10,511

11,512

12,513

13,5

SES low SES high

GermanySpainNetherlandsAustriaUKFranceSwitzerlandHungariaGreeceCzech RepublicPoland

SDQ

- mea

n to

tal M

H P

robl

ems

scor

e

all differences significant *** = p<.001

Mental health problems among adolescents from 11 European countries and socioeconomic status

Lower SES significantly associated with more child and adolescent mental health problems

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Verlauf psychischer Auffälligkeiten [SDQ-Impact + spezifische Störungen | Eltern- und Selbsturteil kombiniert]

Aus: Ravens-Sieberer, U.,et. al. (2014 (submitted). The longitudinal BELLA-Study: Design, methods and course of mental health problems. European Child and Adolescent Psychiatry (7).

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10 % bis 11% der Kinder und Jugendlichen zeigten zu allen vier Messzeitpunkten psychische Auffälligkeiten

Die Persistenz beträgt ca. 50% nach 1-2 Jahren und 31.5% nach 6 Jahren

Verlauf psychischer Auffälligkeiten Ergebnisse BELLA B0 bis B3 (N=1.255) ]

Aus: Ravens-Sieberer, U.,et. al. (2014 (submitted). The longitudinal BELLA-Study: Design, methods and course of mental health problems. European Child and Adolescent Psychiatry (7).

74,3%

7,3% 2,9%

15,5%

Teilnehmende mit psychische Auffälligkeit im zeitlichen Verlauf

keine psychischeAuffälligkeitakut/wiederkehrendpsychische Auffälligkeitanhaltende psychischeAuffälligkeitgenesen

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Häufigkeiten spezifischer psychischer Störungen

Depressive Symptome, Angststörungen, ADHS, externalisierende Störungen, psychosomatische Störungen

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Auftretenshäufigkeiten spezifischer psychischer Auffälligkeiten

Aus: Ravens-Sieberer et al. (2007) Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland Ergebnisse aus der BELLA-Studie im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). BGB 50 (5/6), 871-878

Auch alle spezifischen Störungen treten bei niedrigerem SES häufiger auf.

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Unterschiede zwischen den spezifischen Störungsbildern

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

20

B0 B1 B2 B3

Depression

Angststörung

ADHS

Störung desSozialverhaltensLinear (Depression)

Linear (Angststörung)

Linear (ADHS)

Linear (Störung desSozialverhaltens)

Messzeitpunkt

Präv

alen

zen

in P

roze

nt

Auftreten von spezifischen psychischen Auffälligkeiten bei 13- bis 17-Jährigen (Elternangaben)

Depressionen und Ängste nehmen im zeitlichen Verlauf leicht zu Leicht abnehmende Gesamtprävalenzen bei AHDS und Störung des

Sozialverhaltens

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Versorgung

Wie ist die Versorgungslage der betroffenen Kinder?

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Versorgung der betroffenen Kinder

Betrachtet man die Frage an die Eltern hinsichtlich einer psychischen Erkrankung ihres Kindes: „Hat Ihr Kind eine psychische Erkrankung (z.B. eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Depression, Angststörung oder Störung des Sozialverhaltens)?“ sowie die sich anschließende Frage, ob das Kind für die vorliegende Störung behandelt wird „Ist es deswegen in psychologischer, psychotherapeutischer oder psychiatrischer Behandlung?“ zeigt sich, dass nur ca. 50% der Kinder in Behandlung sind:

jedes dritte Kind (33%) mit einer akuten/wiederkehrenden psychischen Erkrankung und 64 % mit einer anhaltenden psychischen Erkrankung sind in Behandlung

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Psychiater pro 100 000 Einwohne (OECD Health Data)

Datenquelle: Health at a Glance 2011: OECD Indicators

Switzerland Iceland Norway France Finland

Sweden Netherlands

Germany United Kingdom

Luxembourg Italy

Israel Belgium

Denmark Greece OECD

Canada New Zealand

Australia United States

Austria Estonia Ireland

Czech Republic Hungary

Slovak Republic Japan

Portugal Slovenia

Poland Korea Chile

Turkey Mexico

42,2 23,2 22,2 21,8 21,6 20,9 20,0 19,8 19,4

18,2 18,0 17,9 17,7

16,7 16,2 15,4 15,4 15,3 15,0 14,5 14,2 14,0 13,9 13,9

12,3 11,5 10,6 10,2 10,1

9,3 5,1 4,1 3,6

0,9

01020304050Per 100 000 population

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Wartezeiten auf ein psychotherapeutisches Erstgespräch (Mittelwerte in Wochen) durchschnittliche Wartezeit von knapp drei Monaten (12,5 Wochen) in den ostdeutschen Flächen- staaten (Brandenburg, Mecklen- burg-Vorpommern) gut zehn Wochen länger als in den Stadtstaaten (Hamburg, Bremen und Berlin).

Datenquelle: BPtK-Studie zu Wartezeiten in der ambulanten psychotherapeutischen

Versorgung Bundespsychotherapeutenkammer, 2011

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Social Inequalities and health care utilisation

„…Multiple logisitc regression analysis showed that children...

• ... with high psychpathological symptom load and impact • ... at younger age • ... in families with higher SES,

... with higher maternal level of education have a higher change of receiving psychological or

psychiatric care“. (Ravens-Sieberer et al. (in press) International Journal of Public Health)

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Risiko- und Schutzfaktoren

Welche Einflussfaktoren – Risiken und Ressourcen – sind besonders wichtig?

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Schutzfaktoren Risikofaktoren

Optimismus

Kohärenzsinn

soz. Unterstützung

Familienklima

Selbstwirksamkeit elterl. Belastung

elterl. Symptome

psych. Erkrankung Eltern

psychosoziale Belastung

niedriger SES

Frühgeburt

Nationalität

chron. Erkrankung

Heim

Geschwisterzahl

enge Wohnverhältnisse

allein erz. Eltern

psychische Auffälligkeiten, Lebensqualität

Untersuchungsmodell: Operationalisierung in BELLA und KiGGS

Hyperaktivität Depressivität Angst

Suizidalität Kidscreen

Störung des Sozialverhaltens

Gesamtauffälligkeit (SDQ)

Entwicklung

Essstörungen KINDLR

Soziale Kompetenz

Selbstkonzept

elterl. Lebensqualität

Elterl. Unterstützung

Schulklima

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Risikofaktoren & ihre Wirkung auf psychische Auffälligkeit

Aus: Wille et al. (2008)

Liegt vor

Niedriger sozioökonomischer Status 25%

Soziale Unterstützung im 1. Lebensj. 4 %

Arbeitslosigkeit 11 %

Familienkonflikte 6 %

Psych. Erkrankung eines Elternteils 13 %

Konflikte in Familien der Eltern 12 %

Partnerschaft der Erziehenden 8 %

Alleinerziehend 13 %

Stieffamilie 9 %

Unerwünschte Schwangerschaft 4 %

Chronische Erkrankung 30 % Elterliche Belastung 10 %

Geringe physische LQ (SF-12) 10 %

Geringe psychische LQ (SF-12) 10 %

Psychopath. Symptome Eltern (SCL) 10 %

Odds Ratio

1.6

2.7

1.7

4.9

2.4

2.8

2.7

2.1

2.4

2.0

1.8

4.7

2.9

4.2

4.0

Ein niedriger SES und chron. Erkrankung der Eltern sind besonders häufige Risiken.

Alle aufgeführten Risiken sind signifikante Prädiktoren psychischer Auffälligkeiten der Kinder.

Besonders stark wirken sich folgende Faktoren aus: => Konflikte in der Familie => elterliche Belastung => elterliche psychische Gesundheit

„Manchmal haben Familien Schwierigkeiten, miteinander klar zu kommen. Sie sind nicht immer einer Meinung und sie werden unter Umständen ärgerlich. Wie würden Sie i.A. die Fähigkeit Ihrer Familie einschätzen, miteinander zurechtzukommen?“

(ausgezeichnet/ sehr gut/ gut/ weniger gut/ schlecht)

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Familienklima als Schutzfaktor

Familie birgt nicht nur Risiken, sondern auch Ressourcen.

Ein guter familiärer Zusammenhalt ist dann vorhanden, wenn z.B.

• in der Familie jeder auf die Sorgen und Nöte des anderen eingeht,

• jeder das Gefühl hat, dass ihm zugehört wird und • die Familie häufig etwas gemeinsam unternimmt.

Schlechtes Familienklima Gutes Familienklima 50% 50%

Macht ein guter familiärer Zusammenhalt einen Unterschied?

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Familiäre Schutzfaktoren und das Auftreten verschiedener Störungen

Bezüglich Störungen des Sozialverhaltens ist die Chance bei

einem guten Familienklima sogar nur bei etwa einem Viertel. (OR 0,27***, CI=0.17-0.43)

Bei Kindern mit einem guten Familienklima ist die Chance eines Kindes, depressive oder Angstsymptome zu zeigen, etwa halbiert. (OR 0.56*, CI=0.36 -0.88 bzw. OR 0.45***, CI=0.32-0.65)

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Aus: Wissen & Forschen 2013

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Ansatz für Prävention

Verschiedene Untersuchungen zeigen, wie es um die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen bestellt ist.

Sie geben Informationen über verbreitete Probleme (wie z.B. psychische Auffälligkeiten) und weisen auf Risikofaktoren und Schutzfaktoren hin.

=> Risikofaktor: z.B. ein niedriger sozioökonomischer Status ⇒Schutzfaktor: z.B. ein gutes Familienklima

Aber: Welche Konsequenz folgt hieraus für Familien?

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Alltagstaugliche Implikationen für Prävention?

Die AOK-Stern-Familienstudie

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„Den Daten ein Gesicht geben“ – Die AOK-stern-Studie

Wie sind Ergebnisse dieser Studien alltagspraktisch umsetzbar?

Problem 1: Das Vorliegen von verschiedenen Risikofaktoren kann nicht so einfach geändert werden (z.B. SES). Problem 2: Wie protektive Ressourcen (z.B. Familienklima) konkret mobilisiert werden können, vermitteln die großen Studien in der Regel auch nicht.

Hier setzt die AOK-stern-Studie an:

„Was können Eltern für ein gesundes Aufwachsen

ihrer Kinder tun?“ WHO Kooperationszentrum für Kinder- und Jugendgesundheits- förderung

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Ergebnisse: Empfehlungen

Aus den Beobachtungen in den Familien wurden Empfehlungen abgeleitet.

Diese Empfehlungen lassen sich auf einfache Grundregeln reduzieren, die das Familienklima fördern. Diese betreffen vor allem psychosoziale Aspekte wie die Berechenbarkeit des Alltags, das unbedingte Wertschätzung, sowie Aufmerksamkeit und Zuneigung.

Aber auch konkrete Regeln wie bzgl. Mahlzeiten und Medienkonsum oder Suchtmitteln können Familien dabei unterstützen ihre Kinder vor der „neuen Morbidität“ zu schützen.

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Empfehlungen für Familien zur Förderung der Gesundheit ihrer Kinder

1. Gemeinsame Mahlzeiten zelebrieren 2. Regelmäßige Tagesabläufe gestalten, Routinen und Rituale finden 3. Aufbau und Pflege sozialer Kontakte 4. Jedem Kind täglich eine gewisse Zeit ungeteilte Aufmerksamkeit

schenken 5. Gemeinsame Bewegungsmöglichkeiten nutzen und schaffen 6. Regeln aushandeln und miteinander reden 7. Kinder zur Verantwortung und Selbständigkeit erziehen 8. Gesunde Kinder brauchen gesunde Eltern: Fördern Sie ihre eigene

Gesundheit! 9. Die Eltern sind immer noch Vorbilder: Kinder vor Sucht und Drogen

schützen

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Empf

ehlu

ngen

für F

amili

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zur F

örde

rung

der

Ges

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Kin

der

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Für Kinder ist es wichtig, regelmäßig ungeteilte Aufmerksamkeit zu erfahren. Dies vermittelt ihnen Geborgenheit und Wertschätzung.

Beispiel Familienregel 4: Ungeteilte Aufmerksamkeit

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8 VE 7Referenten Prävention 22.06.2010 in Berlin

Gesündere Kinder durch FamilienroutinenSignifikante Zusammenhänge

Körperliche Gesundheit speziell Übergewicht

Psychische Gesundheit wie Nervosität und

Einschlafstörungen, allgemeine Beschwerden

gemeinsame Mahlzeiten

tägliche Zeiten ungeteilter Aufmerksamkeit für das Kind

gemeinsam bewegen

ausgehandelte Regeln

Interesse an Kita/Schule

begrenzterMedienkonsum

tägliche Rituale

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Schwieriges Verhalten von Kindern? Schwierige Verhältnisse für Kinder?

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Nationaler Wohlstand und psychisches Wohlbefinden III

65

70

75

80

85

90

5 10 15 20 25 30

Austria Belgium Bulgaria Cyprus Czech Rep.Denmark Estonia Finland France Germany Greece Hungary Ireland Italy Latvia Lithuania Luxembourg Malta Netherlands Poland Portugal Romania Slovakia Slovenia Spain Sweden United Kingdom

KID

SC

RE

EN

-10

Länd

er M

ittel

wer

t PW

Jährliche Ausgabe für öffentliche und private Bildungseinrichtungen pro Person/ Schüler

Zusammenhang zwischen psychischem Wohlbefinden und jährlichen Ausgaben für öffentliche und private Bildungseinrichtungen pro Schüler in EUR PPS. (R=0.46; R2=0.21; p<.01)

Poland, Latvia, Lithunia, Slovakia

Austria, Netherlands, Belgium, Germany, Ireland, UK

... higher annual expenditures on education are associated with higher levels of mental well-being

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Fazit & Ausblick

Die dargestellten Ergebnisse belegen die hohe Relevanz psychischer Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter und damit die Notwendigkeit von Prävention und Intervention.

Es zeigt sich, dass der familiäre Hintergrund einen wichtigen Einflussfaktor für die gesundheitlichen Probleme darstellt. => als Risiko und als Ressource

In Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status sind die Kinder doppelt so häufig psychisch auffällig

Die Ergebnisse geben Hinweise auf mögliche Ansatzpunkte präventiver Maßnahmen:

• Ressourcenförderung in Gruppen mit geringer Risikobelastung • Komplexe Maßnahmen in Gruppen mit höherer Risikobelastung

Die Daten zeigen auch die Herausforderung auf, betroffene Familien in adäquate Versorgung zu vermitteln.

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Für Krankheitsprävention und Intervention ergeben sich Herausforderungen:

Präventive und interventive Maßnahmen sollten an der Verhältnis- UND der Verhaltenseben ansetzen

- Gesundheit in Kitas und Schulen bringen - Investition in frühe (Gesundheits-)Bildung - Umwandlung von "Komm"- in "Geh"-Strukturen: Ärzte, Mitarbeiter von psychologischen Diensten etc. gehen in Kindereinrichtungen/Institutionen auf Eltern zu

aber … da sich Risikofaktoren niemals völlig vermeiden lassen, sind die Stärken und Ressourcen des Kindes/Jugendlichen und seiner Familie besonders wichtig. Eine Behandlung bei lang dauernden oder immer wiederkehrenden Gesundheitsstörungen ist dann erfolgreich, wenn es gelingt, möglichst viele dieser Stärken zu nutzen und gemeinsam Veränderungen einzuleiten.

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ECAP Supplement

Mental Health of Children and Adolescents – Results of the BELLA-Study

as the BELLA study group: Prof. Ravens-Sieberer Prof. Barkmann Dr. Bettge Prof. Bullinger Prof. Döpfner Prof. Herpertz-Dahlmann Fr. Hölling Prof. Resch Prof. Rothenberger Prof. Schulte-Markwort Prof. Wittchen

www.child-public-health.de

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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!