24
BEZIEHUNGSKRISE APRIL 2013 UNABHÄNGIGES MAGAZIN ZUM WORKSHOP „EUROPA IN BERLIN“ VOM 04. BIS 07. APRIL 2013

politikorange Beziehungskrise

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Im April 2013 erschien die politikorange zum Thema Europa. Dazu begaben sich Jungjournalisten auf Entdeckungstour durch Berlin.

Citation preview

Page 1: politikorange Beziehungskrise

BEZIEHUNGSKRISE

APRIL 2013 UNABHÄNGIGES MAGAZIN ZUM WORKSHOP „EUROPA IN BERLIN“ VOM 04. BIS 07. APRIL 2013

Page 2: politikorange Beziehungskrise

\\ 2

Foto, Titelfoto: Nick Jaussi & Paul Wagner

Page 3: politikorange Beziehungskrise

3 //

»Solidarisch« Europa diskutiert über Ret-tungsgelder für Griechen-land. Doch was kommt bei den Menschen an? Seite 22

Liebe Leserinnen und Leser,

neben der Euro-Krise leistet sich Eu-ropa eine Beziehungskrise. Genau das wollen wir mit den ersten Seiten ver-deutlichen: Es kracht in der Kiste. Die Stimmung ist angespannt. Innige Lie-be? Leider Fehlanzeige. Ob die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Spanien oder die Zahlungsunfähigkeit Zyperns: Eu-ropa ist wenig attraktiv, besonders dem Staatenbund fehlt es an Visionen, an Mut und Entschlusskraft. An vier Tagen luden 25 Teilnehmerin-nen und Teilnehmer Europa zur Paartheraphie. Sie untersuchten die ge-meinsame Vergangenheit sowie aktu-elle Streitthemen und fahndeten nach Lösungen, wie Europa wieder „sexy“ werden könnte. Ein Universalrezept scheint gefunden: Unterschiedliche Interessenlagen müssen harmonisiert werden. Durch ein neues Bewusstsein kann eine gemeinsame Begeisterung für Europa entfacht werden.

Fakt ist: Krisen gehören zu einer Part-nerschaft dazu, ja sie sind völlig nor-mal – und manchmal sogar wichtig. Eine Krise bedeutet noch lange nicht das Ende.

Viel Spaß mit der politikorange wünschen

Anne Juliane Wirth Johanna Kleibl

EDITORIAL

INHALT

»Zwielichtig« Ein Blick ins Stricher-milieu: die Schattenseite der europäsichen Freizü-gigkeit. Seite 19

A uf Reisen sind alle gleich.“ Zu dieser Erkenntnis ist Katharina

Borngässer während einer ihrer vielen Aufenthalte im Ausland gekommen. Die junge Frau trägt runde Brillengläser und hat ihr blondes Haar zu einem Zopf zu-sammengebunden, sie wirkt jünger als 25. Bei einem Schüleraustausch in Ka-nada entdeckte sie das Reisen für sich.

„Man nimmt aus jedem Land etwas mit, verinnerlicht etwas. Kleinigkeiten, wie das Grüßen des Busfahrers aus England oder den Genuss am Essen aus Italien. Daraus setzt sich meine europäische Identität zusammen.“ Seit diesem er-sten Austausch hat Katharina bereits in sechs verschiedenen Ländern gelebt. Sie kann sich auch vorstellen, später nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa zu arbeiten – vereinheit-lichten Abschlüsse und gelockerten Aufenthaltsbestimmungen sei Dank.

Auch Brita Müller wollte raus in die Welt, reisen, Stewardess werden. Doch die Träume der damals 20-Jäh-rigen stießen auf eine unüberwindbare Grenze: der Eiserne Vorhang. „Ich habe die Dimension, mit der die Mauer auf unser Leben einwirkt, erst mal gar nicht erfassen können“, erzählt die heute 71-Jährige. „Erst als wir auf einmal un-sere Verwandten im Westen nicht mehr besuchen durften, wurde mir klar, dass jetzt etwas anders ist.“

EUROPÄISCHES BEWUSSTSEIN STÄRKEN

Ihre Liebe zum Reisen hat Katharina aktiv in ihr Studium eingebunden. Der Master in European Politics ist ein internationaler Studiengang, der Auslandsaufenthalte vorsieht. Mög-lich ist so ein Studiengang erst durch die vielfach kritisierte Bologna-Re-form geworden. „Viele Dinge in un-serem Alltag haben wir Brüssel zu verdanken und wissen es nicht. Din-ge, die für junge Menschen einfach selbstverständlich sind, wie Frieden und Toleranz – aber auch ein Aus-landssemester. Durch europapoli-tische Bildung in Schulen sollte man das Bewusstsein für die Wichtigkeit der EU stärken.“

Brita Müller hat dieses Bewusst-sein: „Wir haben die längste Frie-densperiode unserer Zeit, Nahrung im Überfluss, den Leuten geht es gut

– das ist eine sehr große Errungen-schaft“, stellt sie fest. Ihre Enkelin geht in ihrem Studium mit dem ERAS-MUS-Programm nach Frankreich.

„Für euch junge Menschen ist Europa gut, der Umgang mit verschiedenen Menschen formt den Charakter, baut Vorurteile ab. Ich wäre sicherlich an-ders geworden, hätte ich damals eure Möglichkeiten gehabt.“

EUROPA, DEINE MÖGLICHKEITEN

Für ihre Vision von einem gemeinsamen Europa sitzt Katharina im Bundesvorstand der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF), die sich für ein demokratisches und transparentes Europa einsetzen. „Eu-ropa ist ein einzigartiges, großes Projekt, das zeigt, was alles möglich ist – junge Menschen, die solidarisch miteinander umgehen, sich mit fremden Kulturen und Sprachen auseinandersetzen und welt-weit vernetzt sind.“ Selbstverständlich kann es auch mal kompliziert werden, wenn 27 Staaten versuchen, ihre Mei-nung in Einklang zu bringen. „Trotzdem sollte man versuchen, an einem Strang zu ziehen und die eigenen, nationalen Inte-ressen für das große Ganze in den Hinter-grund stellen.“

Sophia Alt18, Schotten

... hat gelernt, dass auf Reisen alle gleich sind.

»Gespalten« Die AfD will den Euro-Austritt. Protestpartei oder tragfähiger Gegenent-wurf? Seite 08

»Reguliert« Blick ins Supermarktregal: Wie viel Europa steckt im Joghurt und in der Zigaret-tenwerbung? Seite 05

AN DER BERLINER MAUER: FRÜHER ENDETE HIER DIE REISELUST, HEUTE IST SIE EIN BUNTES ZIEL JENER. Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner

EUROPAS GRENZENLOSE IDENTITÄT FÜR DIE NEUE EUROPÄISCHE GENERATION VERSCHWINDEN GRENZEN IMMER MEHR. AUCH GESELLSCHAFTLICH WIRD DAMIT DER GRUNDSTEIN FÜR EIN GESAMTEUROPÄISCHES BEWUSSTSEIN GELEGT. VON SOPHIA ALT

Page 4: politikorange Beziehungskrise

\\ 4

J ährlich wird in Deutschland am 3. Oktober der Geschichte gedacht, es

wird der Einheit gemahnt und gefeiert. Etwas früher im Kalender, am 9. Mai, bleibt es ruhig. Niemand steht mit einem Sektglas auf der Straße, geht auf Kundge-bungen und feiert sich, feiert Europa, fei-ert Frieden, Vielfalt und Freiheit. Nur die wenigsten Bürger kennen dieses beson-dere Datum – das des Europatages. Das ist natürlich wenig verwunderlich. Denn Europa hat ein „Marketingproblem“, wie es erst kürzlich Martin Schulz (SPD, Prä-sident des Europäischen Parlaments, in einem Interview nannte. Die Slogans „Ich bin ein Berliner“ oder „Du bist Deutsch-land“ prangen fett auf Werbeplakaten. Doch was macht eigentlich einen Europä-er aus? Und wie fühlt sich das an?

DER DURCHSCHNITT

Der typische Europäer ist 1,76 Meter groß, arbeitet 33 Stunden in der Woche, verdient 2.100 Euro im Monat und ist leicht überge-wichtig, wie das Eurobarometer zeigt. Du erfüllst diese Merkmale? Dann herzlichen Glückwunsch zum Durchschnitt. Für die bulgarische Studentin Zlatina ist ein Eu-ropäer, jemand der „gern reist und seine Freiheit genießt“. Dem stimmt Nikoletta, angehende Anwältin aus Ungarn, zu. Ein Europäer sei nicht von der geografischen Lage seines Wohnortes abhängig: „Selbst wenn er weit entfernt lebt, aber den euro-

päischen Gewohnheiten folgt und die eu-ropäische Kultur pflegt, ist er immer noch ein Europäer“, ergänzt sie. Der dänischen Austauschschülerin Mille wird ihre euro-päische Identität immer wieder auf Aus-landsreisen bewusst: „Ob als Deutsche oder Dänin: Sobald wir in die USA reisen, sind wir für die Amerikaner „die Europä-er“. Bewohner anderer Kontinente nehmen uns stärker als Europäer wahr.“

ZUFRIEDENHEIT IM SINKFLUG

Wesentlich komplizierter wird es, wenn man das Identifikationsgefühl in Worte fassen will. Eine allgemeine Definition könnte lauten, dass die Identität einer Gruppe die Summe der Merkmale ist, die sie von anderen unterscheidet. Grund-legend für eine europäische Identität ist ein Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa. Gegenwärtig steht für die Bürger Euro-pas mehrheitlich ihre nationale, zum Teil auch ihre regionale, Identität im Vorder-grund. So auch bei den Interviewten: Weder Nikoletta, noch Mille oder Zlatina fühlen sich als Europäer – denn dafür seien „die europäischen Länder zu un-terschiedlich und handeln zu national.“ Dieser Kritikpunkt spiegelt sich auch bei der Zufriedenheit mit der Europäischen Union, einem Zusammenschluss aus immerhin 27 Staaten, wieder. So waren laut Eurobarometer in den 90er Jahren noch 70 Prozent aller Befragten mit Euro-

pa zufrieden. Gleichzeitig schwindet das Vertrauen vieler Menschen darin, dass die Europapolitiker die Kirse noch lösen können.

ZU VIELE NAMEN OHNE GESICHT

Die Gründe für das fehlende europäische Identifikationsgefühl sind nicht neu: öko-nomische Profitgier, fehlende Kontrolle und hoch verschuldete Haushalte führen zu katastrophalen wirtschaft lichen Fol-gen. Gleichzeitig schwindet das Vertrau-en in die Europapolitiker immer mehr, die Krise zu lösen. Kaum einer kann mehr als drei Europa-Parlamentarier auf-zählen. Die mediale Berichterstattung beschränkt sich meist plakativ auf Panik-meldungen. Der Euro droht zu scheitern. Die Politik scheint ratlos, ja überfordert. Zudem sind die nationalen Regierungen zu sehr darum bemüht, die eigene Ver-antwortung auf das „Ungeheuer Eu-ropa“ abzuwälzen. Hinzu kommen die ethnischen und kulturellen Unterschiede zwischen den europäischen Ländern. Es fehlen identitätsstiftende Ressourcen. So existiert keine gemeinsame Sprache, die alle europäischen Bürger eint. Gleichzei-tig befürchten 41 Prozent der Unionsbür-ger einen Verlust an nationaler Identität und Kultur im Zuge der Europäischen Integration, so die Zahlen des Eurobaro-meters.

EUROPA IST ÜBERALLSpanische Trauben, Auslandssemester und kulturelle Vielfalt: Europa ist hier, ist greifbar, begegnet uns alltäglich. Viel-leicht ist Europa aber schon zu selbst-verständlich, sodass wir die vielen Mög-lichkeiten gar nicht mehr wertschätzen können. Ein Umdenken kann aber nur erreicht werden, wenn die Medien auch die positiven Aspekte Europas aufzeigen. Aufklärung ist ein weiterer wichtiger An-satzpunkt auf den Weg zu einem „Wir-sind-Europa-Gefühl“. Notwendig ist auch, dass die Demokratie Europas gestärkt wird. Bürger sollten über wichtige Ent-scheidungen abstimmen können. Und ganz wichtig: Europa braucht mehr To-leranz, denn Identität ist vielseitig. Sie lässt sich kaum auf einen Begriff redu-zieren – so sind wir eben Hobby-Fußball-spieler, Väter, Mütter, Künstler, Kinder, Briefmarkensammler, Partner, Deutsche, Berliner – und eben auch Europäer.

WIR EUROPÄER IM JAHR 1973 SPRACHEN DIE MITGLIEDSLÄNDER DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT ERST-MALS VON DER „EUROPÄISCHEN IDENTITÄT“. FÜHLEN WIR UNS HEUT-ZUTAGE EUROPÄISCH? ANNA JULIA SCHMIDT SUCHT ANTWORTEN.

Foto: Nick Jaussi & Paul WagnerKRITISCHER BLICK: SPIEGLEIN, SPIEGLEIN AN DER WAND – WER FÜHLT SICH EUROPÄISCH IN DIESEM LAND?

Anna Julia Schmidt19, Nidda

... weiß nun, dass Europa ein Marketing-problem hat.

MEINUNG

Page 5: politikorange Beziehungskrise

5 //

D ie gläserne Eingangstür öffnet sich quietschend. Im Inneren des Super-

markts wirbt ein Pappaufsteller für Bier. Darauf abgebildet: Eine tätowierte Frau, die übertrieben lächelt. Daneben sind Cola-Flaschen zum Aktionspreis aufge-türmt. Hinter einer Wand aus knallbunten Smoothies befindet sich die Obst- und Ge-müseauslage. Tomaten aus Italien, Brok-koli aus Spanien, Kiwis aus Griechenland und Blumenkohl aus Frankreich: Mir fällt auf, dass die meisten Früchte, Salate und

Nüsse nicht aus Deutschland kommen. Was hier in grünen Plastikkörben liegt und gelegentlich auf Druckstellen geprüft wird, hat trotz allem eine gemeinsame Herkunft: Europa. Das mag abstrakt und weit weg klingen, jedoch gehört Europa genauso zu unserem Alltag, wie die Auswahl zwi-schen Äpfeln, Zucchini und Physalis.

VIEL EUROPA IM JOGHURT

Ich steuere die Kühltheke an und nehme einen Joghurt heraus. Neben Milch, Zu-cker, Aromastoffen und wenigen Erdbee-ren enthält dieser kleine Becher viel Euro-pa: Die Erdbeeren kommen aus Polen, die Rohbakterien aus Schleswig-Holstein und die Grundstoffe für die Verpackung stam-men aus Österreich sowie Deutschland.

Bis so ein simpler Fruchtjoghurt im Supermarkt-Regal landet, fahren Lastwa-gen durch zahlreiche europäische Länder, mitunter mehr als neuntausend Kilometer weit. Zudem bestimmen Verordnungen

der Europäischen Gemeinschaft (EG) bei-spielsweise über die maximale Bleimen-ge, der im Joghurt enthalten sein darf. Er ist bei einem Gramm pro Kilogramm angesetzt. Auch ein Vervot von Metall-partikeln und Insektenteilen in Joghurts und anderen Lebensmitteln schreibt die Verordnung vor.

BEHÖRDE WARNT BEI LEBENS­MITTELSKANDALEN

Die Europäische Union stützt sich bei all ihren Entscheidungen zum Thema Lebens-mittel auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Europäische Behörde für Lebensmittel-sicherheit (EFSA) leistet Beratungsdienste bei der Formulierung von Rechtsvorschrif-ten oder dann, wenn sich Entscheidungs-träger mit einer Bedrohung der Nahrungs-mittelsicherheit konfrontiert sehen. Ihr Schnellwarnsystem schützt Verbraucher vor Lebensmittelvergiftungen. Mit Hilfe des Systems lässt sich ebenfalls feststellen, ob Produkte verbotene Substanzen oder grenz-wertüberschreitende Mengen gefährlicher Stoffe enthalten. Wird eine Bedrohung er-kannt, wird in der gesamten Europäischen Union davor gewarnt.

VON GURKEN UND ZUSTÄNDIGKEITEN

Die Öffentlichkeit ist wenig über die EU-Lebensmittelpolitik informiert, oftmals kursiert Halbwissen – so auch bei der

berühmten Gurken-Verordnung. „Dass die EU nur Gesetze zur Krümmung von Gurken verabschiedet hat, ist falsch“, weiß Julian Plottka, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Politik in Berlin. So hätten schon vorher in 15 EU-Staaten unterschiedliche Ge-setze zur Gurkenkrümmung existiert, die dann in einer einheitlichen Verordnung zusammengefasst wurden. Denn fest steht: Gerade Gurken lassen sich leich-ter transportieren. Die Verordnung zur

Krümmung von Gurken ist dennoch wie-der abgeschafft worden; Deutschland war damals einer der größten Gegensprecher dieser Verordnung.

„Die Europäische Union hat Kompe-tenzen in fast allen Bereichen, in denen die Einzelstaaten diese abgeben“, erklärt Julian Plottka. In Bezug auf Kultur- und Sozialpolitik, Bildung und Sport in den Einzelstaaten hat die EU kein Mitsprache-recht. Alleinige Zuständigkeit besitzt sie dagegen im Bereich von Handelspolitik, Zoll und Wettbewerb. Manchmal muss sich die EU auch die Zuständigkeit mit den Einzelstaaten teilen – das gilt bei-spielsweise für Binnenmarkt, Mindest-standards und Gesundheit.

VON ZIGARETTENWERBUNG UND MINDESTLOHN

Wohl wenig gesund lebt der ältere Herr, der gerade nach Zigaretten verlangt. Die Richtlinien für Zigarettenwerbung wer-

den von der Europäischen Union geregelt, da diese in mehreren Ländern publiziert wird und damit unter das gesamteuropä-ische Interesse fällt. Das Rauchverbot in Deutschland wird dagegen national be-stimmt. Der Verkäuferin ist das ziemlich egal, sie zieht die Kippenschachtel lieblos über das Band. Piep. „Macht vier Euro 90“, murmelt sie. Sie verdient etwa acht Euro die Stunde – das liegt knapp über dem tariflichem Mindestlohn; diesen legen wie-derum die deutschen Tarifparteien fest.

Nun fährt auch der Erdbeerjoghurt auf dem Band zur Kassiererin. Lächerliche 34 Cent kostet der Becher Europa. Ich krame nach den passenden Münzen und bezah-le. Auf dem Weg zum Ausgang komme ich an Rentnern in beige-grauer Kleidung vorbei. Sie sitzen im Neonlicht an Tisch-chen in Granit-Optik, kauen Bratwurst und schweigen. Ob die wohl wissen, wie nah Europa auch in diesem Moment für sie ist?

SUPERMARKT EUROPA GEKRÜMMTE GURKEN UND ZIGARETTENWERBUNG: REGULIERT DIE EU WIRKLICH BIS AUF DEN KÜCHENTISCH? JOHANNES KELLER IST DER FRAGE NACHGEGANGEN UND HAT SICH IN EINEM BERLINER SUPERMARKT UMGESEHEN.

Foto: Nick Jaussi & Paul WagnerKONTINENT IM KÜHLREGAL: UNSER WOCHENEINKAUF SCHMECKT EUROPÄISCH.

Johannes Keller20, Berlin

... iast überzeugt, dass in seinem Joghurt ziem-lich viel Europapolitik steckt.

Page 6: politikorange Beziehungskrise

\\ 6

D ie Bankenkrise in Zypern hat das Verhältnis zwischen Russland und

der Europäischen Union (EU) einmal mehr verdeutlicht. Russland reagierte mit einer Außenpolitik, die sich letztlich nicht für die Rettungsmilliarden entscheiden konnte. Dagegen wurde auf europäischer Seite selten so offen kommuniziert, dass man nicht für „russisches Fluchtkapital“ zahlen wolle. Kurzum: Die Gemüter sind erhitzt.

DIPLOMATIE STATT HERZLICHKEIT

Die Situation zwischen der jungen EU und dem reformierten Russland ist noch nie ausgereift gewesen. Seit dem Zusam-menbruch der Sowjetunion 1990 und dem Maastrichter Vertrag von 1992 ste-hen sich nicht mehr West- und Ostblock im Machtkampf gegenüber; vielmehr geht es jetzt um das Verhältnis zwi-schen der Europäischen Union und der Russischen Föderation. Beide pflegen seit nunmehr zwanzig Jahren diploma-tische Beziehungen. Aufmerksame Beob-achter dieser Entwicklungen sind der Politikprofessor Peter W. Schulze und der SPD-Politiker Gernot Erler. In ihrem gemeinsamen Buch zur „Europäisierung Russlands“ fassen sie die komplexen Be-ziehungen zwischen der EU und Russ-land zusammen.

„EIN DÜRFTIG GEREGELTER ZUSTAND“

Das Partnerschafts- und Kooperations-abkommen (PKA) gilt als erste und zen-trale vertragliche Regelung zwischen den Staaten. Das Abkommen zum po-litischen Dialog trat 1997 in Kraft, nach zehn Jahren sollte es eigentlich auslau-fen. Stattdessen wird das PKA alle zwölf Monate verlängert. Peter W. Schulze findet: „Das ist ein dürftig geregelter Zustand.“ Beide Vertragspartner wür-den sich von Jahr zu Jahr durchhangeln, denn keine der beiden Seiten hätte ein Interesse das Verhältnis zu kappen. Zu groß seien gemeinsame Interessen, de-ren Formulierung in vier sogenannten

„Common Spaces“ beschlossen wurde. Diese vier gemeinsamen Räume,

die im Jahr 2008 zum ersten Mal ver-handelt wurden, betreffen Wirtschaft, Freiheit, Sicherheit und Bildung. Drei der insgesamt vier Freiräume würden sich unproblematisch gestalten – das meint zumindest Schulze. Lediglich der Freiheits-Raum stelle aus russischer Sicht ein großes Problem dar. Der Poli-tikprofessor verweist auf die lang ver-handelte Visa-Erleichterung, deren Rati-fizierung nun bevorsteht.

„Aus Sicht der EU wird eine Zu-sammenarbeit bei internationalen Kri-sen immer bedeutender“, ergänzt Erler.

Dies geschehe vor allem, weil sich die EU stärker im Kontext globaler Heraus-forderungen einschalten würde. Die Konfliktsituation in Syrien sei – ange-sichts der engen Beziehungen zwischen Moskau und Damaskus – von größter Bedeutung.

DER BRÜCKENKOPF ZUR EU

Fragen zu Menschenrechten und zur Rechtsstaatlichkeit belasten das euro-päisch-russische Verhältnis. Die pro-blematischen Verhandlungen um das Folgeabkommen des PKA würden sich auch deshalb so schwierig gestalten, weil Russland die Strukturen, Institutionen und Gesetzgebungsverfahren der EU nicht wirklich annehme und verstünde. In einem Wahlwerbespot von 2012 hatte Präsident Putin die Europäische Union sogar als Negativbeispiel für Demokratie angeführt. Deshalb hätte Moskau oft bila-terale Beziehungen bevorzugt. „Deutsch-land ist Russlands Brückenkopf zur EU. Auf dieser Beziehung liegt eindeutig Russ-lands Priorität.“ Die vormals guten Be-ziehungen unter der Regierung Schröder seien durch einen Kurswechsel Moskaus beendet worden. Seitdem sei die Födera-tion ein unberechenbarer, bedrohlicher Faktor für die Staatengemeinschaft ge-worden: „Und diese Eskalation spüren wir heute“, so die Autoren.

ANNÄHERUNG ERWÜNSCHT

In dieser angespannten außenpolitischen Situation kann nur spekuliert werden, wo-hin sich die Russische Föderation zukünftig bewegen wird. Schulze stellt in Aussicht, dass sich Russland von seinen Rohstoffex-porten unabhängig machen, eine eigene Technologie hochziehen und Nischenmärk-te besetzen müsse und werde. Für diese in-dustriellen Prozesse könnten die Zulieferer aus Deutschland und Frankreich oder aber aus China und Südkorea kommen. Perspek-tivisch seien auch die aufstrebenden Schwel-lenländer der BRICS-Staaten, zu denen Russ-land gehört, eine Bündnisoption. Ebenso wie Putins Eurasische Union – inklusive aller Ex-Sowjetstaaten –, die schon 2015 re-alisiert werden soll. Die beiden Buchautoren hingegen hoffen auf eine Annäherung Russ-lands an die EU-Staatengemeinschaft. Peter W. Schulze warnt: „Spielt Europa nicht mit, spielt Russ land woanders.“

FREUNDSCHAFT MIT STRATEGIE DIE RUSSISCHE FÖDERATION UND DIE EUROPÄISCHE UNION TEILEN SICH KONTINENT UND INTERESSEN. EIN ÜBER- UND AUSBLICK DIESER BESONDEREN BEZIEHUNG VON LEONARD KEHNSCHERPER

Foto: Nick Jaussi & Paul WagnerWIE VIEL NÄHE IST VERTRETBAR? AN DER MENSCHENRECHTSSITUATION IN RUSSLAND HAT MANCHER EUROPÄER ZU KNABBERN.

Leonard Kehnscherper19, Berlin

... weiß nun, was „Modernisierungspart-nerschaft“ bedeutet.

Page 7: politikorange Beziehungskrise

7 //

FRUCHTFLEISCH Europa auf dem Teller: Was ist dein Lieblings-Europa-Menü?

KRISTINE MATILAINEN, 27 JAHRE AUS HELSINKI, FINNLAND

ALS VORSPEISE KNUSPRIGE, SPANISCHE TAPAS, GEFOLGT VON LECKEREM

FINNISCHEN HERING. ALS NACHTISCH NEHME ICH BELGISCHE WAFFELN.

„BUNTGEMISCHT“

I ch beglückwünsche Sie, junge Deut-sche zu sein, das heißt, Kinder eines

großen Volkes“, sagte der französische Präsident Charles de Gaulle in seiner berühmten „Ansprache an die deutsche Jugend“ im Jahr 1962. Sein Mut verdient Respekt, denn so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war solch eine Aussage keines-falls selbstverständlich. Jahrhundertelang standen sich Frankreich und Deutschland als erbitterte Gegner gegenüber. Doch die Staatsoberhäupter Charles de Gaulle und Konrad Adenauer legten den Grundstein für eine Annäherung beider Länder nach dem Krieg. Am 22. Januar 1963 unter-zeichneten sie den Élysée-Vertrag, der die Aussöhnung besiegelte. 2013 feiert die deutsch-französische Ehe ihre Goldene Hochzeit. Fünfzig gemeinsame Jahre sind vergangen – höchste Zeit für eine Be-standsaufnahme.

VON EINIGKEIT UND DIFFERENZEN

Radio France, ARTE, ARD und Deutsch-landradio wollten im Jahr 2012 von deut-schen und französischen Bürgern wissen, ob sie denn ihr jeweiliges Nachbarland auch schätzen. Mehr als 80 Prozent der Deutschen antworteten, dass sie Frank-reich sehr oder sogar leidenschaftlich mögen. Auf der anderen Seite des Rheins waren es exakt 73 Prozent. Auch in der Politik hat sich einiges getan. So be-herrschte das „Traumpaar Merkozy“ ei-nige Zeit die politische Bühne. Mit der Wahl des Sozialisten François Hollandes zum Präsidenten scheint die Beziehung zum konservativ regierten Deutschland etwas abgekühlt. Was will die EU sein? Frankreich findet nun andere Antworten als Deutschland. Man duzt sich und hat doch herzlich viele Differenzen.

EIN HANDSCHLAG BLEIBT

Europa-Journalist Thomas Becker sieht die Ursache hierfür nicht in der unter-schiedlichen Parteizugehörigkeit begrün-

det: „Die Vergangenheit zeigt: Mitunter ist es für die Beziehung sogar besser, wenn Staatsoberhäupter aus verschiedenen po-litischen Lagern kommen.“ Als Beispiel nennt er François Mitterrand und Helmut Kohl. Gemeinsam gedachten der sozia-listische Präsident und der konservative Bundeskanzler auf einem Soldatenfried-hof den Opfern des Ersten Weltkriegs. In einem sehr emotionalen Moment hielten sie minutenlang die Hände – das Bild ging in die Geschichte ein. Ein noch besseres Symbol für die deutsch-französische Aus-söhnung kann es kaum geben.

ZURÜCKBLICKEN UND JUGEND MOTIVIEREN

Historiker meinen, dass es noch einmal 50 Jahre bräuchte, um beide Länder wirk-lich von den Schatten der Vergangenheit zu befreien. Der politische Aktivist Sté-phane Hessel brachte es in einem seiner vergangenen Interviews auf den Punkt:

„Wir müssen auf den Élysée-Vertrag zu-

rückblicken mit dem Gefühl, er hat in der Tiefe etwas gemacht, was gar nicht mehr auszulöschen ist.“ Sich die Hände reichen, sich austauschen, erinnern und die Jugend motivieren – das sind die Schlagworte für eine fruchtbare deutsch-französische Zu-kunft.

EIN UNSCHLAGBARES TEAM AUS FEINDEN WURDEN FREUNDE. 50 JAHRE NACH DEM ELYSÉE-VERTRAG SIND DEUTSCHLAND UND FRANKREICH HEUTE DIE TREIBENDEN KRÄFTE DER EUROPÄISCHEN UNION. EIN KOMMENTAR VON ANITA SCHEDLER

Anita Schedler22, Augsburg

… hat erfahren, dass Personen, die wie Stéphane Hessel Widerstand leisten, ein gemeinsames Europa gestalten können.

Foto

: Pau

l Wag

ner

Foto

: Mar

kus

Erd

lenb

urch

THOMAS G. BECKER, 38 JAHRE AUS ESSEN, DEUTSCHLAND

DAS BELGISCHE NATIONALGERICHT MOULES ET FRITES, DAZU CHICORÉE. ALS NACHTISCH FRANZÖSISCHE KÄSEPLATTE

UND EINEN ROTEN FITOU.

„WESTEUROPÄISCH“

ANNALENA SCHULZ, 16 JAHRE AUS DRESDEN, DEUTSCHLAND

GANZ INTERNATIONAL: ZUERST ITALIENISCHE ANTIPASTI, DANACH

TYPISCHES GYROS MIT PSOMI-BROT. ALS DESSERT GIBT’S CRÈME BRÛLÉE.

„INTERNATIONAL“

Foto

: Mar

kus

Erd

lenb

urch

MEINUNG

Page 8: politikorange Beziehungskrise

\\ 8

D ie Währung ist der Motor der Integra-tion”, sagte Helmut Kohl (CDU) 1992

– unterschrieb den Maastrichter Vertrag und hoffte auf seine Allzweckwaffe Euro.

Parallel dazu schlug die damalige EU-Parlamentarierin Ursula Braun-Moser die Hände vor den Kopf. „Als Historiker hat er die ökonomische Dimension nicht begrif-fen”, erinnert sich Braun-Moser an zähe Diskussionen mit dem Altkanzler darüber, ob zur Einigung Europas eine gemeinsame Währung allein ausreichen würde. Es fehl-ten Durchgriffsrechte auf die Haushalte der einzelnen Länder, eine gemeinsame Wirt-schaftspolitik. Die damalige CDU-Politike-rin war kurz davor, eine eigene Partei mit genau diesem Ziel zu gründen. Aus Angst, einen Magneten für rechtsextreme Grup-pierungen zu schaffen, verwarf sie die Idee jedoch wieder.

Über 20 Jahre später sorgt in Deutsch-land eine Partei für Schlagzeilen, die sich Braun-Mosers Überlegungen von 1992 auf die Fahnen geschrieben hat. Ihr Name: „Al-ternative für Deutschland” (AfD). Zentrale Forderung: Der Austritt aus dem Euro. Als Unterstützerin im Boot: Ursula Braun-Mo-ser.

RECHTSEXTREME STIMMEN IN SOZIALEN NETZWERKEN

Die Euro-Skeptiker haben offenbar einen Nerv getroffen: Einer Studie von Infratest dimap zufolge beträgt das Wählerpotential der Partei 24 Prozent. In wenigen Wochen

sammelte die AfD nach eigenen Angaben rund 6.600 Mitglieder. Ihr medienkom-patibler Frontmann, Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke, tingelte schon vor dem ersten offiziellen Parteitag Mitte April erfolgreich durch die wichtigsten Polit-Talks im Fernse-hen. Auch wenn das Parteiprogramm mehr als nur das Euro-Thema aufgreift, ist es noch sehr überschaubar.

Dem früh aufgekommenen Vorwurf des Rechtspopulismus konnte man bis jetzt nicht den Garaus machen. Stefan Milkereit, Beisitzer im Bundesvorstand, twitterte be-reits im November: „Multi-Kulti-Gen führt zu Mutationen und damit zu Krankheiten, die vorher bei Reinrassigkeit nicht vorhan-den waren.” Ausländerfeindliche Kommen-tare auf der Facebook-Seite der AfD-Jugend heizten die internen Grabenkämpfe an.

„KEINE SPINNER“

„Klar gab es auf dem Gründungsparteitag Leute mit T-Shirts, auf denen Hammer und Sichel die Europa-Flagge bearbeiten”, sagt Wirtschaftsjournalist Ferdinand Knauss, der die Aktivitäten der Partei seit Beginn verfolgt. In der Führungsriege säßen jedoch

„keine Spinner, die aus Eitelkeit eine Partei gründen“, sondern Professoren und Unter-nehmer „von hohem Renommé“. Knauss argumentiert, dass Lucke und Co. gerade keine einfachen Lösungen suchten, wie beispielsweise der italienische Protest-Poli-tiker Beppe Grillo – der mit populistischen Parolen die Mehrheit bei den Parlaments-

wahlen erlangt hat. Das Parteiensystem in Deutschland sei festgefahrener als in vielen anderen EU-Staaten. Neue Parteien wür-den aus historischen Gründen gleich auf Rechtsdrall und Populismus durchleuchtet, hätten kaum eine Chance. Die in Großbri-tannien im Aufschwung befindliche „UK Independence Party” (UKIP) und die fran-zösische Front National seien weitaus ra-dikaler als ihr deutsches Pendant. Keine Vorbilder, aber Beispiele für die Möglichkeit eines politischen Senkrechtstarts.

PARALLELWÄHRUNG ALS KOMPROMISSVORSCHLAG?

Doch wie realistisch ist die Realisierung des großen Parteiziels? Ist die Rückkehr zu na-tio nalen Währungen nach all den Rettungs-schirmen noch zu rechtfertigen? Braun-Moser fordert zwar nicht die D-Mark zurück

– bringt dafür aber eine Parallelwährung ins Spiel. Für Deutschland ist der Euro zu billig, für Länder wie Griechenland zu teuer – mit der Wiedereinführung beispielsweise der Drachme würde der Euro in Griechenland parallel bestehen und sich die stärkere Wäh-rung durchsetzen.

Das Drehen an der Währungsschrau-be würde jedoch nicht nur das zwischen-läufige Scheitern des europäischen Projekts besiegeln, warnt Ramona Ader von den Ber-liner Jungsozialisten. Auch in Deutschland könnte es aufgrund globalisierter Produkti-onsprozesse erhebliche Einbrüche auf dem Arbeitsmarkt geben.

Die AfD scheint Klientelpolitik für eine gehobene Mittelschicht zu betreiben, die ihr Eigentum vor weiteren Rettungspa-keten in Sicherheit bringen will. Nicht aber für die viel zitierten Wutbürger aus allen Schichten. Auch bleibt es unwahr-scheinlich, dass unentschlossene Wähler der Alternative für Deutschland aus der Hand fressen.

Im Bundestag wird sich über Europa-politik ohnehin konsequent ausgeschwie-gen, weil das negativ besetzte Thema keine Stimmen einbringt, so Jungpolitikerin Ader. Insgesamt gehe es den Deutschen noch zu gut, die Konjuktur brummt – kein Nährbo-den für klassische Protestparteien.

Doch etwas ganz entscheidendes hat die polarisierende Partei jetzt schon erreicht: Die AfD bricht zumindest Schweigen. Das bislang als alternativlos propagierte Thema Euro-Rettung wird in Frage gestellt – und damit eine überfällige Debatte angestoßen. Die auch Helmut Kohl bestens zu Gesicht gestanden hätte.

ALTERNATIVE ZUM SCHWEIGEN MIT EURO-KRITISCHEN STIMMEN GEHT DIE NEU GEGRÜNDETE PARTEI ALTERNATIVE FÜR DEUTSCHLAND BEI DER NÄCHSTEN BUNDESTAGSWAHL AN DEN START. RECHTER RAND, PROTESTPARTEI ODER EIN TRAGFÄHIGER GEGENENTWURF? EIN KOMMENTAR VON JAN KAMPMANN

Foto: Nick Jaussi & Paul WagnerANGRIFF AUF DEN EURO: DIE ALTERNATIVE FÜR DEUTSCHLAND KRITISIERT DIE WÄHRUNGSUNION

Jan Kampmann25, Gießen

... hat gelernt, dass das Credo „Jeder Opa nach Europa“ in der EU-Politik ein gestriges ist.

MEINUNG

Page 9: politikorange Beziehungskrise

9 //

S ie heißen Carlos, Alejandro oder Carmen, sind jung, dynamisch, oft

überdurchschnittlich qualifiziert und ge-hören zu einer neuen Generation von Mi-granten in der Bundesrepublik. In Spani-en wartet auf jeden zweiten von ihnen die Arbeitslosigkeit. Und so kommen sie mit der Erwartung nach Deutschland, endlich den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finden.

Eine von ihnen ist die studierte Le-bensmitteltechnologin Clara Romo (27), die vor einem Jahr aus Madrid nach Ber-lin gezogen ist. Während insgesamt in Deutschland junge Fachkräfte gesucht werden, erweist sich die industriearme Hauptstadt noch als ein schwieriges Pflaster: „Ich habe mehr als 100 Be-werbungen in einem Jahr geschrieben, aber kein einziges Vorstellungsgespräch gehabt“ beklagt Clara. „Viele glauben, Deutschland wäre das Paradies, aber ein-fach ist die Situation hier sicher nicht.“

ABSPRUNG NACH DEUTSCHLAND

Nach einem kurzen Praktikum in Frei-sing bei München entschied sich Clara endgültig nach Deutschland auszuwan-

dern. In der kleinen bayerischen Stadt fühlte sie sich anfangs noch ziemlich einsam. Zwei Jahre danach sieht sich Clara in Berlin schon voll integriert, auch weil sie mittlerweile gut Deutsch spricht. „Ich möchte hier bleiben. Ich habe Freunde gefunden, mache Fort-schritte mit der Sprache und fühle mich wohl“, sagt sie. Nach Spanien zu-rück will sie nicht, Jobs sucht sie des-halb mittlerweile in ganz Deutschland, auch wenn sie Berlin nur ungern ver-lassen möchte. „Ich habe damals eine Stelle in Madrid bekommen. Die Ent-lohnung betrug 2 Euro pro Stunde“, er-innert sich Clara. Dazu ein Gehalt von 500 Euro im Monat, geteilte Wohnung mit der Familie und keine fachgerechte Weiterbildung: „All das will ich nicht mehr“.

EINE NEUE GENERATION EINWANDERER

Nach Angaben der Internationalen Ar-beitsorganisation (IAO) ist die Zahl der abgewanderten Spanier von 2010 bis 2012 um 70 Prozent gestiegen. Zahlen der Bundesagentur für Arbeit zeigen, dass 1,3 Prozent der sozialversiche-

rungspflichtig Beschäftigten 2012 aus den Ländern Griechenland, Portugal, Spanien und Italien kamen. Im Ver-gleich zum Vorjahr hat sich dieser Wert um 6,5 Prozent erhöht. Auch künftig ist zu erwarten, dass von den derzeit 7,5 Millionen arbeitslosen Jugendlichen in Südeuropa, den „Krisenkindern“, wie sie getauft wurden, viele nach Deutsch-land aufbrechen. Eine neue Generation von Einwanderern wächst heran.

Zlatina Kolchakova26, Sofia

… weiß nun, dass die europäischen Institu-tionen in Brüssel das Babylon der Neuzeit sind.

SÜDWIND IM ARBEITSMARKT DIE HOHE JUGENDARBEITSLO-SIGKEIT IN SÜDEUROPA TREIBT VIELE BERUFSEINSTEIGER AN, IHR GLÜCK IN DEUTSCHLAND ZU SUCHEN, AUCH IN BERLIN. VON ZLATINA KOLCHAKOVA.

Foto: Henrik NürnbergerIN BERLIN AUF ARBEITSSUCHE: CLARA ROMO AUS MADRID

W ie wird die Zukunft der EU aus-sehen? Höhere Transferzahlungen

und weitere Pleite-Staaten strapazieren die Geldbeutel der Steuerzahler. Hans-Olaf Henkel, der ehemalige Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, fordert in seinem provokativen Buch mit dem Titel „Rettet unser Geld!“ die Spal-tung der Währung. Europa soll künftig wirtschaftlich in einen Nord- und einen Südteil gesplittet werden. Deutschland als stärkste Wirtschaftsmacht der Region würde die Nord-Zone, in der auch die Be-nelux-Staaten und Skandinavien vertreten sind, anführen. In der Süd-Zone, mit dem finanzschwächeren Süd-Euro übernähme Frankreich diese Rolle. Nach Henkel ist das Ziel der Eurospaltung die Folgen der Staatsschuldenkrise zu lindern.

DAUERBETTELEI IN DER TRANS­FERUNION SOLL ENDEN

Prof. Dr. Wilhelm Nölling, ehemaliges Mitglied des Zentralbankrates der Deut-schen Bundesbank, unterstützt diese Idee. Seiner Ansicht nach sollen die wirt-schaftlich starken Nord-Staaten, die den

„Anforderungen der Wettbewerbsstärken“ gerecht werden, den Euro retten. Die schwächere Süd-Zone wiederum würde sich ihrer eigenen Währung und wirt-schaftlicher Souveränität widmen.

PASSEN EUROPAS WIRTSCHAF­TEN ZUSAMMEN?

Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Dr. Sylvia-Yvonne Kauf-mann (Die Linke), versteht diese Logik nicht. Die Währungsunion sei der Kern, der die EU zusammenhalte. „Die Forde-rung ist ökonomisch und politisch falsch, weil die Währungsunion durch die Ein-führung des Nord-Süd-Euros auseinan-derbrechen wird”, so Kaufmann. Dass

sich die Wirtschaften unterscheiden, sei nicht schlimm, weil die Voraussetzungen für die verschiedenen Ökonomien nicht gleich seien.

Eine andere Meinung vertritt der Eu-ropa-Journalist Thomas Becker. Er findet Henkels Forderung ökonomisch schlüssig, weil der einheitliche Wert der Währung nicht die unterschiedlichen wirtschaftlichen Lagen der Länder berücksichtigt. Verdienst und Ausgaben sind von Land zu Land ver-schieden. „Wenn die Währung durch den Süd-Euro abgewertet werden würde, ergä-be sich eine Möglichkeit für die Südstaaten ihre Wirtschaft anzukurbeln”, so Becker. Aktuell könnten die Schulden beispielswei-se von Griechenland nicht abbezahlt wer-den – mit dem Süd-Euros ginge das schon, glaubt er. „Der Süd-Euro wertet das Geld ab, sodass eine Rückzahlung der Schulden im Süd-Euro denkbar wäre”, mutmaßt der Journalist. Dennoch sei Henkels Idee „wie ein Harakiri“, also ein Schnitt ins eigene

Fleisch. Durch die damit verbundene Miss-achtung der europäischen Verträge würde sich die Union in ihrer Entwicklung selbst um Jahre zurückwerfen.

Die Debatte zeigt: Wie die währungs-politischen Probleme gelöst werden können, bleibt kontrovers umstritten. Klar ist, dass die EU in einer Beziehungskrise steckt. Ihre Ursprünge gehen bis in die Euro-Einfüh-rung zurück. Wie in jeder Beziehung muss der Staatenbund aus der Vergangenheit ler-nen und für mehr Harmonie kämpfen.

Julia Zablotny18, Salzkotten

... wird wie der Herr Bundespräsident Gauck niemals eine Wahl verpassen, nie-mals, nie.

EURO-SPALTUNG ALS SOLIDARISCHE HALTUNG? ZWISCHEN STAATSSCHULDEN UND RETTUNGSSCHIRMEN GIBT ES EINEN GEWAGTEN LÖSUNGSVORSCHLAG: DIE TEILUNG DES EUROS IN EINE NORD– UND EINE SÜDWÄHRUNG. EIN BERICHT VON JULIA ZABLOTNY

Page 10: politikorange Beziehungskrise

\\ 10

@ SkaKeller, gibt es noch ein paar Bilder von der Aktion?”

– “@kevusch, Voilà. Konnte nur nicht gleichzeitig fotografieren und Aktion machen” – so offen gehen Europa-Abgeordnete mit ihrem Alltag im Par-lament um. Die Grünen-Politikerin Ska Keller twittert regelmäßig, zum Beispiel von einer Protestaktion im EU-Parlament gegen die elektronische Vorratsdatenspeicherung. Die Aktion selber konnten die Bürger nicht live verfolgen, zumindest nicht im Fernse-hen. Die Kurzmeldungen auf Twitter von den Parlamentariern, die in der Runde präsent waren, gaben aber ein ziemlich vollständiges Bild davon wie-der.

Generell sind die Organe der Eu-ropäischen Union viel transparenter gestaltet, als es den meisten Menschen bewusst ist. Genau das war nämlich ein zentrales Anliegen des Vertrags von Lissabon, der 2009 in Kraft trat: Die Europäische Union näher an den Bürger zu bringen. Mit dieser Absicht startete man Projekte wie den Internet-TV-Sender EuroparlTV, der unter an-derem Plenartagungen live in allen 23 Amtssprachen überträgt. Das EU-Parla-ment ist auch auf Facebook und Twitter präsent und verfügt über Informations-büros in allen Mitgliedsländern.

Mehr Transparenz bietet kein an-deres Parlament der Welt, auch nicht der Bundestag. Trotzdem haben viele Europäer das Gefühl, das Europäische Parlament sei eine verschlossene Insti-tution mit wenigen Machtbefugnissen.

KOMPETENZGEWINN DES EU­PARLAMENTS

Dabei wurde die Macht des Europäischen Parlaments mit dem Lissabonner Vertrag stark ausgeweitet. So ist es mit drei we-sentlichen Aufgaben betraut: Gemeinsam mit dem Europäischen Rat, in dem alle Staats- und Regierungschefs der Mit-gliedsstaaten zusammensitzen, erörtert und verabschiedet es Gesetze. Außerdem übt es eine ständige Kontrolle über alle anderen EU-Institutionen aus, insbeson-dere über die Kommission. Zuletzt be-stimmt es Seite an Seite mit dem Rat den EU-Haushalt. Erst seit dem Lissabonner Vertrag muss dieser überhaupt zusätzlich vom Parlament verabschiedet werden. So hat das Parlament Anfang März sein Ve-torecht eingesetzt und den vom Europä-ischen Rat vorgeschlagenen Finanzplan für 2014 bis 2020 abgelehnt. Hauptargu-mentation: Es seien nicht genug Mittel für Sozialpolitik eingeplant worden.

Das Parlament hat sehr viel Macht und der Arbeitsalltag eines EU-Abgeord-neten beinhaltet wenig Freizeit. Im Parla-ment teilen sich diese nicht nach ihrer Na-tionalität, sondern nach ihrer poli tischen Orientierung. So organisieren sich Abge-ordnete ähnlicher politischer Meinung in Fraktionen, sodass es eigentlich keine festen Mehrheiten gibt. “Das erhöht na-türlich die Einzelverantwortung der Par-lamentarier”, bemerkt die ehemalige EP-Vizepräsidentin Sylvia-Yvonne Kaufmann.

Der Sitz des Parlaments ist in Straß-burg. Dort halten sich alle Abgeordneten jeden Monat eine Woche für die Plenar-

sitzung auf. Zwischen den Sitzungswo-chen sind die Europa-Abgeordneten aber nicht unbeschäftigt, im Gegenteil: Außer in Fraktionen fi nden sich die Parlamenta-rier auch in Ausschüssen zu bestimmten Themen zusammen, um diese möglichst sachgerecht zu behandeln. Zwischen den Sitzungswochen tagen die Ausschüsse in Brüssel, um mit der Kommission vor Ort in Kontakt treten zu können. 756 Abge-ordnete im Parlament machen es nicht einfacher, Kompromisse zu fi nden und erhöhen die Arbeitsbelastung. Trotzdem mache der Job ihr Spaß, sagt Ska Keller. Vor allem schätze sie, dass sie aktiv an der Zukunft Europas mitwirken können.

NACHHOLBEDARF BEI DER KOMMUNIUKATION

Bei der Kommunikation mit dem Bürger besteht allerdings noch Nachholbedarf. Denn vielen EU-Bürgern ist noch immer nicht bewusst, dass Plenarsitzungen live im Internet verfolgt werden können und es ihnen über die Europäische Bürgerini-tative möglich ist, die Kommission kon-kret mit Aufgaben zu betrauen.

Die Entscheidungen, die von EU-Abgeordneten getroffen werden, beein-fl ussen direkt unseren Alltag. So sorgte beispielsweise das Europäische Parla-ment dafür, dass wir innerhalb der EU relativ kostengünstig telefonieren kön-nen. Die Kommunikation mit dem “nor-malen Bürger” scheitert jedoch oft, trotz der verschiedenen Kanäle, die eingesetzt werden. Nur wer sich wirklich aktiv über Europa-Politik informieren will, stößt auf

die offi ziellen Informationkanäle und die der Abgeordneten. Das Parlament erlangt nach und nach mehr Einfl uss und wird

– mit dem Druck der Europa-Parlamenta-rier – wohl immer mehr gewinnen: „Die Gesetzesinitiative, die bisher nur von der Europäischen Kommission ausgeht, sollte auch dem Parlament zustehen. Genauso läuft es ja auch im Bundestag.“, meint Ska Keller.Sie twittert reichlich weiter, erzählt von ihren Abenteuern im Parlament. 3302 Fol-lowers hat Ska Keller, eine große Menge für einen EU-Abgeordneten. User kevusch, der die Protestaktion eifrig mitverfolgt, ist allerdings nicht zufällig auf ihrem Profi l gelandet. Er gehört der Piratenpartei an und interessiert sich demnach aktiv für solche Angelegenheiten. Ein Blick auf Ska Kellers restliche Tweets zeigt: Bisher hat-te sie keine Interaktion mit stinknormalen Bürgern.

756 PARLAMENTARIER – WER HAT HIER KEINE AHNUNG? IM EUROPÄISCHEN PARLAMENT SITZEN ÜBER 700 ABGEORDNETE, DIE UNS EUROPÄER VERTRETEN. VON DEN ENTSCHEIDUNGEN, DIE DIESE TREFFEN, HABEN JEDOCH VIELE BÜRGER KEINE AHNUNG. DABEI SIND DIE KOMMUNIKA-TIONSKANÄLE VIELFÄLTIG. VON FÁTIMA GONZÁLEZ-TORRES UND DIANA HÖHNE

Grafi k: Maximilian Gens (Quellen: bpb.de)IN EINER EUROPÄISCHEN BLASE – TROTZ WILLEN ZUM AUSTAUSCH

Fátima González-Torres23, MadridDiana Höhne21, Kiel

... wissen nun, dass auch Hausfrauen Europa-Abge-ordnete sein können.

Strasbourg-WochePlenarsitzungen

STRASBOURGSITZ DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS

BRÜSSELSITZ DER EUROPÄISCHEN KOMMISSION

Ausschusssitzungen

Am Wochenende

zu Hause

Page 11: politikorange Beziehungskrise

11 //

F remdenfeindlichkeit habe ich schon manchmal gespürt“, sagt Ali, der

dieses Jahr aus Mali gefl ohen ist und auf eine bessere Zukunft in Berlin hofft. „Be-sonders bei der Suche nach Arbeit oder beim Kontakt mit Beamten. Es ist nicht einfach.“

Dass Alis Situation europaweit kein Einzelfall ist, zeigt die Studie „Die Abwertung der Anderen“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) aus dem Jahr 2011: In Italien stimmten ganze 62,5 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass es zu viele Zuwanderer in ihrem Land gäbe, am niedrigsten lag die Zahl in Polen bei 27,2 Prozent. In Deutschland waren es 50 Pro-zent der Befragten.

RECHTSDRIFT IN EUROPA

Die Ergebnisse der Europawahl 2009 zei-gen, dass auch auf der politsichen Ebene rechte Tendenzen zunehmen. So erlangte

die rechtspopulistische Fraktion „Europa der Freiheit und der Demokratie“ 34 Sitze im EU-Parlament. Ein weiteres Beispiel ist die griechische Chrysi Avgi, die „Goldene Morgenröte“. Sie betreibt eine aggressive Politik gegen Einwanderer, ist europa-feindlich – und erfolgreich: Mit 18 Man-daten ist sie seit Mai 2012 im griechischen Parlament vertreten.

Aktuell schwenkt auch Ungarns Politik nach rechts: „Ungarn verwandelt sich unter der Regierung Viktor Orbáns in ein Rechtsregime“, schreibt Literaturno-belpreisträgerin Elfriede Jelinek in einem offenen Brief an einen ungarischen Mi-nister. Besonders die größte europäische Minderheit, die Roma und Sinti, haben unter Orbáns Politik zu leiden. Sie wer-den oft durch Zwangsräumungen aus ih-rem Zuhause vertrieben und müssen Dis-kriminierungen am Arbeitsplatz erdulden, wie Amnesty International im Mai 2011 berichtete.

KULTURELLE VIELFALT STATT IDENTITÄTSVERLUST

Die FES-Studie thematisiert jedoch auch, dass knapp 70 Prozent aller europäischen Befragten Zuwanderer als eine Bereicherung für die eigene Kultur sehen. Europa ist eine Union der kulturellen Vielfalt und um die-sen Reichtum zu schützen, wird viel getan: Durch das europaweite Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, bei dem Schulen sich gegen Diskriminierung einsetzen, sollen junge Menschen motiviert werden, sich aktiv gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu engagieren – im Schulalltag und darüber hinaus. Allein in Deutschland tragen schon mehr als 1 000 Schulen diesen Titel.

Wichtig sei auch, dass an der Kom-munikation innerhalb Europas gearbei-tet wird, fi nden die Gründer der Aktion

„Hello Europe“. Ihr Ziel ist es, „Europa durch Momente zu verbinden” und zwar

mittels Flatscreenbildschirmen, die auf öffentlichen Plätzen live Einblicke in ver-schiedene europäische Städte bieten. Das gelingt, indem sie die Aufnahmen von Ka-meras aus anderen Städten senden.

Auch Ali, der zurzeit im Refugee-Camp am Oranienplatz wohnt, hat schon viel Offenheit und Solidarität von den Bewohnern Berlins erlebt: Freiwillige un-terstützen die Menschen in ihrer vorüber-gehenden Bleibe mit Essen und Medizin.

J eder vierte junge Europäer, der eine Arbeit sucht, fi ndet keine. Das frus-

triert. Europa scheint perspektivlos, we-nig attraktiv – nicht so für die Mitglie-der der Jungen Europäischen Bewegung Berlin Brandenburg e.V. (JEB). Der ge-meinnützige und überparteiliche Jugend-verband gehört zum Netzwerk der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF), der 30 000 Aktive aus mehr als 30 Ländern zählt. In der JEB machen sich politikinteressierte Menschen für Toleranz und Vielfalt in Europa stark.

„Wir leben in einer Demokratie – wir müssen uns einmischen! Denn wenn wir etwas besser gestalten wollen, müs-sen wir auch etwas dafür tun“, sagt Fe-lix Brannaschk, Vorsitzender der JEB. In Arbeitsgruppen, bei Projekten, Aktionen und Konferenzen würden Mitglieder des Jugendverbandes lernen, wie das kompli-zierte Europa funktioniert.

POLITIK PRAKTISCH ERLEBEN

David Krappitz und Katja Sinko engagie-ren sich seit mehreren Jahren in der JEB. Die Studenten organisieren gemeinsam mit vielen Helfern die Simulation Europä-isches Parlament (SIMEP). Das Planspiel fi ndet zweimal jährlich im Reichstag so-wie im Berliner Abgeordnetenhaus statt. Krappitz erklärt: „Für zwei Tage schlüp-

fen 200 junge Menschen in die Rolle von Europa-Abgeordneten. Gemeinsam formulieren sie Gesetzesvorschläge und lernen, wie Beschlüsse entstehen.“

Um Beschlüsse und Stellungnah-men durchzusetzen, verständigen sich die jungen Parlamentarier zuerst in den

jeweiligen Ländergruppen. Lauter und emotionaler verläuft dann die Sitzung im Plenarsaal: „In der Schlussabstim-mung über die Entschließungen fi nden heftige Debatten und heiße Diskus-sionen statt. In diesen zwei Tagen

merken die Teilnehmer schnell, wie schwer es mitunter sein kann – bei 27 un-terschiedlichen Interessen – einen Kom-promiss zu fi nden“, ergänzt Sinko.

ZU VIELE STEINE IM WEG

Das Planspiel im November 2012 thema-tisierte die Zukunft des Euro, die EU-Au-ßenpolitik im Mittelmeerraum und Euro-päischen Datenschutz. In einer nächsten SIMEP könnte es um die Bekämpfung der hohen Jugendarbeitslosigkeit gehen

– denn die bereite vielen jungen Euro-päern große Sorgen. David Krappitz

fordert die Einmischung der Wirtschaft: „Unternehmen müssen mobiler werden, sich international besser vernetzen. Sie sollten Arbeitskräfte, die aus dem eu-ropäischen Ausland nach Deutschland kommen, besser fördern.“ Zudem müsse man ihnen bei der Wohnungssuche oder der Sprach aneignung helfen. Es könne nicht sein, dass Deutschland über Fach-kräftemangel klagt, während in Spanien und Griechenland eine hohe Jugendar-beitslosigkeit von über 26 Prozent herr-sche. Der 22-Jährige kritisiert, dass vor allem jungen Spaniern so viele Steine in

den Weg gelegt werden: „Da herrscht Nachholbedarf, ansonsten wird sich an der Situation nicht viel ändern!“

Bernadette Lumbela16, Ingelheim

… hat erfahren, dass Toleranz nicht selbst-verständlich ist.

STEINE WEGRÄUMEN DIE JUNGE EUROPÄISCHE BEWEGUNG BERLIN BRANDENBURG E.V. IST EINE BUNTE PLATTFORM FÜR JUNGE MENSCHEN, DIE SICH EUROPAPOLITISCH ENGAGIEREN MÖCHTEN. UNSERE AUTORIN VANESSA LY HAT MITGLIEDER GETROFFEN.

Vanessa Ly19, Berlin

... hat gelernt, dass jeder Europa mitge-stalten kann.

IN VIELFALT GEEINT? IN VIELEN REGIONEN EUROPAS HABEN RECHTSEXTREME PARTEIEN ZULAUF. DOCH AUCH DER WILLE ZU INTEGRATION, AUSTAUSCH UND VERSTÄNDIGUNG IST IN DER EU ERFAHRBAR. EIN BERICHT VON BERNADETTE LUMBELA

30 Ländern zählt. In der JEB machen sich politikinteressierte Menschen für Toleranz und Vielfalt in Europa stark.

„Wir leben in einer Demokratie – wir müssen uns einmischen! Denn wenn wir etwas besser gestalten wollen, müs-sen wir auch etwas dafür tun“, sagt Fe-lix Brannaschk, Vorsitzender der JEB. In Arbeitsgruppen, bei Projekten, Aktionen und Konferenzen würden Mitglieder des Jugendverbandes lernen, wie das kompli-

POLITIK PRAKTISCH ERLEBEN

David Krappitz und Katja Sinko engagie-ren sich seit mehreren Jahren in der JEB. Die Studenten organisieren gemeinsam mit vielen Helfern die Simulation Europä-isches Parlament (SIMEP). Das Planspiel fi ndet zweimal jährlich im Reichstag so-wie im Berliner Abgeordnetenhaus statt.

jeweiligen Ländergruppen. Lauter und emotionaler verläuft dann die Sitzung im Plenarsaal: „In der Schlussabstim-mung über die Entschließungen fi nden heftige Debatten und heiße Diskus-sionen statt. In diesen zwei Tagen

Das Planspiel im November 2012 thema-tisierte die Zukunft des Euro, die EU-Au-ßenpolitik im Mittelmeerraum und Euro-päischen Datenschutz. In einer nächsten SIMEP könnte es um die Bekämpfung der hohen Jugendarbeitslosigkeit gehen

– denn die bereite vielen jungen Euro-päern große Sorgen. David Krappitz

der Sprach aneignung helfen. Es könne nicht sein, dass Deutschland über Fach-kräftemangel klagt, während in Spanien und Griechenland eine hohe Jugendar-beitslosigkeit von über 26 Prozent herr-sche. Der 22-Jährige kritisiert, dass vor allem jungen Spaniern so viele Steine in

Bild: Nick Jaussi & Paul Wagner

Page 12: politikorange Beziehungskrise

\\ 12

„ICH BIN EIN EUROPÄER“ EINE BERLINER STADTFÜHRUNG FÜR ECHTE EUROPA-ENTHUSIASTEN – DER EUROPÄISCHE REISEPLAN FÜHRT UNS DURCH DIE GANZE STADT. WIR HABEN EINIGE WICHTIGE UND SPANNENDE BERLINER ORTE AUFGELISTET, AN DENEN JEDER EUROPA-FAN GEWESEN SEIN MUSS.

15:00 UHR:BERLIN­DAHLEM

EINE EUROPÄISCHE FUNDGRUBE

Ein buntes Mosaik aus über 275 000 ori-ginalen Objekten ist das Museumeuropäischer Kulturen in Dahlem. Die Einzelstücke formen wie ein Mosaikgemeinsam ein prächtiges Bild der ge-samteuropäischen Kulturgeschichte. Esmag kaum ein europäisches Thema ge-ben, zu dem sich hier keine historischen Ausstellungsstücke fi nden lassen.

7:30 UHR: HAUPTBAHNHOF

ANGEKOMMEN IN BERLIN: DER EUROPAPLATZ

Die Reise geht los! Als Teil des moder-nen Stadtquartiers, der so genannten

„Europacity“, lenkt der Europaplatz das Auge auf den imposanten Berli-ner Hauptbahnhof. Zugleich wird hier auf die Bedeutung des Bahnhofs für die Weltoffenheit Berlins hingewiesen und eine Verbindung zu anderen Euro-paplätzen auf unserem Kontinent her-gestellt. Derzeit gleicht der Platz noch einer riesigen Baustelle.

09:00 UHR: BRANDENBURGER TOR

MIT EUROPA­EXPERTEN SPRECHEN

Zentraler geht es kaum: Die Vertretung der europäischen Kommission sitzt di-rekt am Brandenburger Tor. Ein Besuch lohnt sich in jedem Fall. Zu empfehlen sind persönliche Gespräche mit den Mit-arbeitern. Rettungsschirm, Austausch-programme oder europäische Bürger-begehren: Hier kannst du alle Fragen zu Europa los werden. Die europäischen Grundrechte gibt es neben einer Viel-zahl an anderen Informationsmaterialien in 3x2cm großen Büchern. Die passen garantiert in jede Tasche.

Foto: Sandra Steiß / SDM Berlin

Foto: Basile Scache / www.jugendfotos.de

Foto: Henrik Nürnberger

Page 13: politikorange Beziehungskrise

13 //

12:00 UHR: EAST SIDE GALLERY

DAS ENDE DER EUROPÄ­ISCHEN SPALTUNG

Es gibt kaum eine Reliquie mit mehr Symbolwert für den europäischen Ent-wicklungsprozess wie die Berliner Mau-er. Der Zusammenbruch des Ostblocks hat nicht nur Ost- und Westdeutschland wiedervereinigt, sondern eine gesamteu-ropäische Union überhaupt erst möglich gemacht. Immer mehr osteuropäische Staaten haben sich Europa zugewandt und die europäische Idee weiterentwi-ckelt, die Gemeinschaft hat sich vergrö-ßert und ist vielfältiger geworden.

10:30 UHR: ALEXANDERPLATZ

FLAGGE ZEIGEN!

Nationalfl aggen sind von gestern: Ver-giss deine alte Deutschlandfl agge von der WM und setz mit der Anschaffung einer europäischen Flagge ein Zeichen! Das Flaggenhaus am Alexanderplatz bietet die Möglichkeit, sich mit Europa wortwörtlich einzudecken. Einheit in Viel-falt heißt das Motto. Die blaue Flagge mit den zwölf gelben Sternen lässt sich auch hervorragend als Rock umbinden.

09:00 UHR: BRANDENBURGER TOR

MIT EUROPA­EXPERTEN SPRECHEN

Zentraler geht es kaum: Die Vertretung der europäischen Kommission sitzt di-rekt am Brandenburger Tor. Ein Besuch lohnt sich in jedem Fall. Zu empfehlen sind persönliche Gespräche mit den Mit-arbeitern. Rettungsschirm, Austausch-programme oder europäische Bürger-begehren: Hier kannst du alle Fragen zu Europa los werden. Die europäischen Grundrechte gibt es neben einer Viel-zahl an anderen Informationsmaterialien in 3x2cm großen Büchern. Die passen garantiert in jede Tasche.

Markus Erdlenbruch20, StuttgartJörg Spyro26, Magdeburg

... wissen nun, wie wichtig es ist, Europa im Alltag zu thematisieren.

Foto: Ann-Christin Wehmeyer

17:00 UHRBAHNHOF LICHTENBERG

NÄCHSTER HALT: EUROPA!

Deine Tour könnte jetzt enden, doch in nur 5 1/2 Stunden wartet schon die nächste europäische Hauptstadt auf dich: Mehrmals täglich verbindet der Eurocity Berlin-Warszawa-Express dich mit dem Herzen unseres Nachbarlandes. Und wen es in den richtig fernen Osten treibt, der kann sich am Zentralen Omni-busbahnhof am Westkreuz ein Busticket nach Moskau kaufen. Fahrzeit: Mehr als zwei Tage.

Foto: Henrik Nürnberger

Foto: Henrik Nürnberger

Foto: Basile Scache / www.jugendfotos.de

Page 14: politikorange Beziehungskrise

\\ 14

B erlin ist vielfältig, bunt – und verän-dert sich rasant. Wirklich bewusst

wurde mir das erst, als ich von meinem Erasmus-Studium in Murcia, einer Uni-versitätsstadt im Südosten Spaniens, zu-rückkehrte. Manchmal ist die deutsche Hauptstadt aber auch ein hartes Pflaster

– gerade für uns Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Es ist mit-unter sehr stressig, wenn ich in meinem Rollstuhl die Stadt durchkreuze – und das obwohl Berlin im vergangenen Jahr den Access City Award gewann. Damit werden Städte mit über 50 000 Einwohnern geehrt und ausgezeichnet, die sich vorbildlich dafür einsetzen, Mobilitätsbarrieren im städtischen Raum abzubauen. Verliehen wird der Preis von der Europäischen Kommission. Viviane Reding (EVP), Vi-zepräsidentin der EU-Kommission, sagte bei der Preisverleihung in Brüssel: „Men-schen mit Behinderungen sind im Alltag noch immer mit zu vielen Hindernissen konfrontiert, aber Städte wie Berlin zei-gen vor, wie das Leben für alle leichter werden könnte.“

AUSGEZEICHNETE HAUPTSTADT

Berlin wurde zurecht ausgezeichnet. So kann ich in den vielen barrierefreien Diskos das veränderte Bewusstsein der bunt gemischten Clubbesucher erleben. Dann bin ich Teil dieser feiernden Ge-meinschaft – auch wenn ich im Rollstuhl eine Etage tiefer sitze. Erst wenn man ei-nen Club ohne Barrieren einfach so oder

mit einfachen Hilfestellungen besuchen kann, dann gelingt Inklusion. Da ist es für ein paar Stunden auch egal, dass nicht alle Menschen die Bahn problem-los nutzen können.

Und dennoch ist hierzulande nicht alles gut. Wenn man seine Heimat schon einmal verlassen und für längere Zeit in einem anderen europäischen Land gelebt hat, dann wundert man sich, wie schwer Deutschland die Anwendung und Verbes-serung der Rechte von Menschen mit Be-hinderung fällt. Leider ist der Aktionsplan unserer Bundesregierung lange nicht so proaktiv und ermutigend wie sein Name glauben lässt. Behindertenverbände mel-den sich immer lauter zu Wort und kri-tisieren die mangelhafte Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Noch immer werden Behinderte von deutschen Behörden und Ämtern weit weniger menschlich behandelt – und das, obwohl man die gleiche Sprache spricht.

VERBESSERTER ZUGANG HAT NUTZEN

Ob in Berlin, in Deutschland, Spanien oder anderswo: Inklusion ist ein häufig auftauchendes Wort. Für mich persön-lich bedeutet es auch, dass man sich an die Bedürfnisse der Bewohner anpasst. Früher haben sich Menschen allzu oft anpassen müssen. Eine Stadt, deren Bahnhöfe trotz aller Fortschritte noch immer nicht komplett mit einem Aufzug ausgestattet sind, mindert die Lebens-qualität ihrer Bürger – ganz egal ob die

mit Rollstuhl, Rollator, mit Stützen oder einem Kinderwagen unterwegs sind. Was für eine Stadt gilt, gilt gleichfalls für ein Land, einen ganzen Kontinent. Nach Angaben der Europäischen Kom-mission und dem European Disability Forum, einer unabhängigen Nichtregie-rungsorganisation, leben rund 80 Millio-nen Menschen mit leichter bis schwerer Behinderung in Europa. Die Überalte-rung unserer Gesellschaft hat zur Folge, dass die Zahl der Menschen mit einge-schränkter Mobilität wächst. Mit einem verbesserten Zugang ist daher ein erheb-licher wirtschaftlicher und sozialer Nut-zen verbunden.

MIT STRATEGIE ZUM ZIEL

Ein dynamisches und innovatives Europa darf folglich niemanden ausschließen. Die Europäische Union treibt den Bewusst-seinswandel aktiv voran. EU-Kampagnen weisen verstärkt auf die Fähig- und Fer-tigkeiten behinderter Menschen hin. Die Strategie zu Gunsten von Menschen mit Behinderungen der Europäischen Kom-mission ist lobenswert. Sie zielt darauf ab, diesen Menschen ihren Alltag zu erleich-tern und es ihnen zu ermöglichen, ihre Rechte als Unionsbürger uneingeschränkt wahrzunehmen. Konkret geht es um den Zugang zu EU-Fördermitteln, bewusst-seinsbildende Maßnahmen und die Auf-forderung an die Mitgliedstaaten, enger zusammenzuarbeiten, um die Eingliede-rung von Behinderten zu ermöglichen. Doch diese europäische Strategie muss

auch konsequent umgesetzt werden. Tat-sache ist: Die Europäische Union hat mit dem Plan einen Prozess in Gang gesetzt, der Menschen mit Behinderungen neue Möglichkeiten eröffnen kann. Uneinge-schränkt und gleichberechtigt können sie an der Gemeinschaft teilhaben. Im Jahr 2016 wird die EU dann über die Fortschritte zu Gunsten von Menschen mit Behinderungen berichten. Die aktive Öffentlichkeit lässt nicht zu, dass gutge-meinte Strategiepapiere in den Bücherre-galen verstauben. Sie müssen umgesetzt und mit Leben erfüllt werden.

EU – JETZT INKLUSIV GESTALTEN

In was für einer EU wollen wir leben? Diese Frage muss sich eine vielfältige eu-ropäische Gesellschaft stellen. Ihre Ge-staltung ist kein Projekt von Eliten, viel-mehr benötigt sie eine breite Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen. Ge-meinsam sollten Europas Institutionen, Mitgliedstaaten und auch die Bürger ein barrierefreies Europa gestalten.

ZUGANG FÜR ALLE IN EINER ALTERNDEN EUROPÄISCHEN GESELLSCHAFT HAT BARRIEREFREIHEIT EINEN MEHRWERT FÜR ALLE UND IST GRADMESSER FÜR DIE INNOVATIONSKRAFT DER EUROPÄISCHEN UNION. EIN ERFAHRUNGS-BERICHT VON DENNIS KNOLL

Foto: Nick Jaussi & Paul WagnerSCHÖN ABER SCHWIERIG ZU ÜBERWINDEN: NICHT IMMER GEHT ES BARRIEREFREI DURCH EUROPA.

Dennis Knoll31, Berlin

... weiß nun, dass er seine Fremdsprachen in-nerhalb der EU spontan anwenden kann. Ob in London oder Madrid.

Page 15: politikorange Beziehungskrise

15 //

S panien im Januar 2011: Weil Mo-hammed Aziz die Rate von über

138.000 Euro nicht mehr zahlen kann, muss er seine kleine Wohnung räumen. Mit ihm sitzen zwei Kinder und die Ehe-frau auf der Straße. Zudem soll Aziz die Gesamtschulden tilgen – unmachbar für den Arbeitslosen. Der Südländer nimmt sich einen Anwalt, dieser legt Einspruch

ein und fordert Revision. Er verweist auf missbräuchliche Klauseln, die man nicht in den Prozess habe einbringen können, weshalb dieser zu annulieren sei. Genau darum sei die Zwangsräumung nicht rechtens, argumentiert der Jurist. Verun-sichert durch die Gesetzeslage wendet sich der leitende Richter des Verfahrens an eine höhere Instanz: den Gerichtshof der Europäischen Union.

WÄCHTER ÜBER VERTRÄGE

Der Europäische Gerichtshof (EuGH), mit Sitz in Luxemburg, verkörpert die Judikative der Europäischen Union. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträ-ge. Das bedeutet zuerst einmal, dass er

darüber wacht, dass die Verträge inner-halb der Europäischen Union ihre Recht-mäßigkeit besitzen. Zudem hat er einen großen Einfluss in der Rechtsprechung der nationalen Gerichte. Denn um eine einheitliche Anwendung des Rechts der Europäischen Union sicherzustellen und divergierende Auslegungen zu vermeiden, müssen nationale Gerichte sich an den

EuGH wenden und ihn um eine Ausle-gung des Unionrechtes bitten, bevor sie ihr Urteil sprechen können.

ZWEI SCHRITTE ZUR KLAGE

Der Europäische Gerichtshof kann grund-sätzlich von einem Mitgliedsstaat, einem Organ der EU sowie von Bürgern ange-rufen werden. Jeder Europäer kann sich an diesen Gerichtshof wenden – doch nur die wenigsten tun dies dann tatsäch-lich. Mohammed Aziz wagte mit seinem Anwalt diesen bedeutenden Schritt.Jede eingereichte Klage wird einem Richter und einem Generalanwalt zugeteilt. Die Klagen werden in zwei Schritten bearbei-tet: dem schriftlichen Verfahren und der mündlichen Verhandlung. In der ersten

Phase legen alle beteiligten Parteien, also Mohammed Aziz und Spaniens Vertre-ter, dem für die Rechtssache zuständi-gen Richter eine schriftliche Erklärung vor. Der Richter erstellt daraufhin einen Bericht, in dem er diese Schriftsätze und die rechtlichen Grundlagen des Falls zu-sammenfasst. Die zweite Phase ist die öf-fentliche Anhörung. Bei dieser tragen die

Anwälte ihre Ausführungen den Richtern und dem Generalanwalt vor.

Der Richterspruch ist dann ver-pflichtend und muss umgesetzt werden. Deshalb sind auch die nationalen Ge-richte daran gebunden.

EIN HISTORISCHER FALL

Mohammed Aziz und sein Anwalt hatten beim Europäischen Gerichtshof Erfolg. Im Interview mit der Zeitung „El País“ sagte der hochzufriedene Verteidiger:

„Ich hatte Aziz gesagt, dass sein Name für ein Urteil in der europäischen Rechtsge-schichte stehen wird und die Banken ihn fürchten werden. Aber er hatte mich für verrückt erklärt.“ Fakt ist: Sie schrieben europäische Rechtsgeschichte.

EIN URTEIL FÜR VIELEDie Luxemburger Richter haben das spa-nische Verfahren zur Zwangsräumung von Wohnungen für illegal erklärt. Nach deren Entscheidung verstößt die spa-nische Gesetzgebung gegen den im EU-Recht verankerten Verbraucherschutz. Für alle Zwangsräumungen innerhalb des Wirkungsbereichs des Europäischen

Gerichtshofes gilt nun das Urteil – sofern derselbe Sachverhalt wie im Fall Moham-med Aziz besteht.

WATSCHE AUS LUXEMBURG BRIEFE VON ÄMTERN SIND UNBELIEBT – VOR ALLEM, WENN DER INHALT ÜBER DAS EIGENE LEBEN BESTIMMT. SOPHIE STEINFELD BERICHTET ÜBER DEN FALL DES SPANIERS MOHAMMED AZIZ, DER VOR DEM EUROPÄISCHEN GERICHTSHOF VERHANDELT WURDE. VON SOPHIE STEINFELD

NICHT NUR IN SPANIEN PROTESTIEREN BÜRGER GEGEN ZWANGSRÄUMUNGEN.

Sophie Steinfeld15, Ingelheim

... hat gelernt, dass der Europäische Gerichtshof einen wirklich großen Einfluss auf das Leben der Bürger hat.

Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner

Page 16: politikorange Beziehungskrise

\\ 16

Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner

ZUR PERSON

Tina Löffelbein ist politische Referentin bei Greenpeace in Berlin. Nachdem sie Geschichte und internationales Recht studiert hat, ist sie seit mittlerweile zehn Jahren Um-weltschützerin mit den Schwerpunkten Gentechnik und Klimapolitik.

ZUR PERSON

Timo Lange ist Campaigner bei Lobbycontrol. Er vertritt seine Organisation in Berlin gegenüber Politik und Medien und setzt sich für eine transparentere und gerechtere Demokratie ein, in der auch schwächere Interessen eine Stimme haben.

Page 17: politikorange Beziehungskrise

17 //

WIE ERKENNE ICH EIGENTLICH EINEN LOB­BYISTEN AUF DER STRASSE?

Timo Lange: Es gibt diese Klischeevorstellung von Lobbyisten als Männern in dunklen Anzügen mit Aktenkoffer, möglicherweise auch mit wertvollen Gegenständen drin. Das ist ein Klischee, wird aber der Realität nicht gerecht. Lobbyisten kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen, das sind Juristen, Volkswirte, Politologen und auch Journalisten [...].Lobbyist ist in Deutschland ein eher abwertender Be-griff und wird meistens mit Industrie und Wirtschaft in Verbindung gebracht. Wir bei Lobbycontrol unter-scheiden nicht grundsätzlich zwischen den „guten Beratern“ und den „bösen Lobbyisten“. Auch wir sind Lobbyisten, für mehr Transparenz im Lobbyis-mus, für ausgewogenere Interessenvertretung.

Tina Löffelbein: Wir unterscheiden da schon, weil wir für etwas sprechen, das sonst keine Stimme hat: die Umwelt. Wir bekommen keine Boni, wenn wir ein gutes „Beratungsgespräch“ führen. Wir machen das aus Überzeugung. Aber der Kontakt zu Politikern ist uns allen gemein.

BLEIBEN WIR BEIM THEMA UMWELT. AGRARSUBVENTIONEN SOLLEN DIE LAND­WIRTSCHAFT IN DER EU STABIL HALTEN, WERDEN ABER VON VIELEN KRITISIERT. WARUM GIBT ES ÜBERHAUPT AGRAR­SUBVENTIONEN?

Tina Löffelbein: Da muss man in die Geschichte gu-cken. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte Hunger und die Europäische Gemeinschaft musste der Land-wirtschaft auf die Beine zu helfen und damit kam leider auch die Subventionsmaschine in Gang. Und es war das erste gemeinsame Politikfeld – die ganze Verzahnung, die wir heute haben, war damals noch nicht da.

MIT 55 MILLIARDEN EURO IST DER AGRARSEKTOR DAS GRÖSSTE ALLER EU­ BUDGETS. GEMEINSAM BEZAHLT VON DEN EU­BÜRGERN. UND WAS HABEN WIR DAVON?

Tina Löffelbein: Viel zu wenig. Zurzeit wird Massen-produktion subventioniert, das heißt niedrige Preise und wenig Qualität. Daher kommen die Fleischskan-dale. Außerdem werden die Umwelt folgekosten igno-riert. Landwirtschaft ist in der EU eine der größten

Ursachen für aussterbende Arten, für Emissionen und Treibhausgase, das wird alles nicht eingerech-net. Diejenigen, die von den Subventionen profitie-ren, müssten der Gemeinschaft etwas zurückgeben, aber das tun sie nicht.

DU HAST GERADE VON MASSEN­PRODUKTION GESPROCHEN, MIR FÄLLT ALS ERSTES DIE MILCHWIRTSCHAFT EIN. VOR EIN PAAR JAHREN DEMONS­TRIERTEN BAUERN, DA SIE DURCH NIEDRIGE PREISE VOM VERKAUF IHERER PRODUKTE NICHT MEHR LEBEN KÖNNEN. WAS LÄUFT DA SCHIEF?

Tina Löffelbein: Das Problem ist, dass die Subven-tionen ungerecht verteilt sind. Die größten Bauern-höfe, die am stärksten industrialisierten, die kriegen das meiste Geld. Während gerade Familienbetriebe wenig bekommen. Die, die in den meisten Fällen um-weltfreundlich arbeiten und hochwertige Produkte liefern. Aber darauf wird nicht geguckt, sondern nach der Hektaranzahl berechnet. Deswegen sind die meisten Betriebe an der Existenzgrenze.

DIE LEBENSMITTEL DER „GROSSEN“ SIND DURCH DIE SUBVENTIONEN SO BILLIG, DASS SIE NACH AFRIKA EXPORTIERT WERDEN UND DORT EINHEIMISCHE WAREN VERDRÄNGEN. WARUM WEHREN SICH DIE AFRIKANISCHEN LÄNDER NICHT DURCH IMPORTSPERREN?

Tina Löffelbein: Die afrikanischen Länder haben das ganz große Problem, dass sie sich da Knebelverträge eingehandelt haben. Welthandelsorganisation und EU haben einfach gesagt: Ihr müsst eure Märkte öffnen für unsere Waren, wir unsere aber nicht für eure. Das sind nicht zwei gleich starke Verhandlungspartner, da lässt die EU die Muskeln spielen. Diese Gefahren sind bei Vertragsschluss von vielen Staaten noch nicht ge-sehen worden. Da wird sich so schnell nichts ändern.

ZURÜCK NACH DEUTSCHLAND. WAS KANN ICH ALS BÜRGER TUN, FÜR EINE GERECHTERE LANDWIRTSCHAFT?

Tina Löffelbein: Es gibt verschiedene Möglichkeiten aktiv zu werden. Man kann Organisationen unter-stützen, auch finanziell, damit dort Experten arbei-ten können [...].

ABER DANN DELEGIERT MAN JA DIE ARBEIT.

Tina Löffelbein: Klar. Es gibt aber auch unzähli-ge Unterschriftenaktionen oder Demos, damit die Behörden aufmerksam werden. Merken, was die Wähler interessiert. Als Gegengewicht zu den Seil-schaften des deutschen Bauernverbandes, der sehr gut in die Behörden vernetzt ist.

Timo Lange: Auch auf europäischer Ebene ist er das. Eine neue Möglichkeit ist übrigens die Europäische Bürgerinitiative. Da müssen sich die Institutionen mit von Bürgern angestoßenen Themen beschäftigen.

DAS EUROPAPARLAMENT HAT SCHON EIN LOBBYREGISTER, DER BUNDESTAG NICHT. DARAUF ARBEITET IHR HIN, RICH­TIG?

Timo Lange: Ein verpflichtendes Lobbyregister auf ge-setzlicher Basis ist eine unserer zentralen Forderungen. Dennoch: das Register in Brüssel ist nicht verpflichtend, es ist anreizbasiert, wie es so schön heißt. Wenn man einen Hausausweis fürs Europaparlament haben möchte, muss man sich eintragen. Greenpeace hat, glaube ich, elf solche Ausweise. Aber in Brüssel kann man auch ohne diesen Ausweis hervorragend Lobbyarbeit leisten. Wich-tige Akteure wie etwa die Deutsche Bank stehen nicht in diesem Register, haben nicht vor sich einzutragen. Die treffen sich eben bei anderen Veranstaltungen mit dem entsprechenden Parlamentarier oder Kommissions-beamten.

»AUCH WIR SIND LOBBYISTEN – FÜR MEHR TRANSPARENZ IM LOBBYISMUS.«

Claudia Flach22, Leipzig

... hat gemerkt, dass sie vielleicht mal Lob-byistin wird, weil sie in Europa wirklich etwas verändern will.

JENSEITS VON GUT UND BÖSE BEIM GESETZESCHREIBEN WILL VIELES BEDACHT SEIN. DESHALB LASSEN SICH POLITIKER VON EXPERTEN BERATEN. TIMO LANGE VON LOBBYCONTROL UND TINA LÖFFELBEIN VON GREENPEACE PLAUDERN AUS DEM LOBBYISTEN-NÄHKÄSTCHEN.

Page 18: politikorange Beziehungskrise

\\ 18

K ompliziert, weit weg und zu abstrakt: Noch immer

können sich viele Bürger nicht mit Europa identifizieren. Doch Rettung scheint in Sicht: Am 1. April 2012 startete die Europä-ische Bürgerinitiative (EBI), die den Menschen mehr Mitbestim-mung in der EU gewährt. Sie ist ein durch den Vertrag von Lis-sabon beschlossenes Instrument der direkten Demokratie in der Europäischen Union. Mündige Unionsbürger können nun die Agenda der Kommission mitbe-stimmen.

EINE MILLIONEN UNTERSCHRIFTEN

Ob Umwelt, Landwirtschaft, Ver-kehr oder öffentliche Gesundheit: Gegenstand einer Bürgerinitia-tive kann jeder Bereich sein, in dem die Europäische Kommis-sion befugt ist, einen Rechtsakt vorzuschlagen. Damit sich die Kommission mit einem bestimm-ten Thema befasst, müssen in zwölf Monaten insgesamt eine

Million gültige Unterstützungsbe-kundungen in einem Viertel aller EU-Mitgliedsstaaten gesammelt werden. Ein Jahr nach dem Inkrafttreten der EBI sind 14 Bürgerinitia tiven registriert, darunter auch die Initiative „Wasser ist ein Men-schenrecht“. Sie konnte – inner-halb weniger Monate – über eine Millionen Unterzeichner finden. Diese hohe Zahl führt aber noch nicht zu einer Gesetzesänderung. Die Europäische Kommission be-hält nämlich weiterhin das allei-nige Initiativrecht. Das bedeutet: Selbst wenn eine Initiative alle Kriterien erfüllt, ist die Kommis-sion rechtlich nicht verpflichtet, das Bürgerbegehren tatsächlich in eine Gesetzesinitiative umzu-setzen.

WELTNEUHEIT, DIE DEMOKRATIE STÄRKT

Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, überzeugte Europäerin und ehe-malige Vize-Präsidentin des Eu-ropäischen Parlaments, hat über zehn Jahre für die Einführung der

Europäischen Bürgerinitiative gekämpft. „Die Europäische Union kann sich darüber freuen, dass ihre Bürger mehr Mitspra-cherechte bekommen haben“ sagt Kauf-mann. Unionsbürger könnten Europa nun über die Grenzen hinweg gestalten, die „Weltneuheit“ habe die Demokratie bereits gestärkt.

FEHLENDE BEKANNTHEIT

Der Anfang ist gemacht. Ob sich das neue Instrument bewährt, hängt von vielen Faktoren ab: Welche Themen gehen in die Debatte ein? Haben sie Erfolg und wie reagiert die Europäische Kommission? Derzeit mangelt es der Europäischen Bür-gerinitiative massiv an Bekanntheit. Das sollte sich schnell ändern.

Katja Sinko23, Rostock

… hat erfahren, dass Populismus in der EU-Berichterstattung immer sehr einfach ist, es jedoch eine Kunst ist Europa runterzubrechen.

MITSPRACHE? JA, BITTE! EINE MILLION UNTERSCHRIFTEN AUS MINDESTENS SIEBEN DER 27 MITGLIEDS-STAATEN INNERHALB EINES JAHRES BRAUCHT ES, UM AUF DER EUROPAPOLITISCHEN AGENDA DER EU-KOMMISSION ZU LANDEN. EIN BERICHT VON KATJA SINKO

D ie Konstrukteure der Europäischen Gemeinschaft sind einem entschei-

denden Irrglauben aufgesessen: Sie dachten, dass sich mit der wirtschaftlichen Union gleichfalls eine soziale einstellt. Mit dem Wirtschaftswunder in der Nachkriegszeit, das ein durchweg gesamteuropäisches Phä-nomen war, schien sich diese angenommene Kausalität zunächst zu bewahrheiten. Doch mehr als 50 Jahre nach dem Europäischen Gründungsvertrag kommt das wohlfahrts-staatliche Defizit der EU an die erodierende Oberfläche des Staatenbundes.

MANGELNDE GESTALTUNGS­KOMPETENZ

Der Sozialstaat ist mehr als nur ein „Bene-fit“ moderner, wirtschaftlich entwickelter Gesellschaften. Er ist zur wesentlichen Le-gitimationsquelle der Demokratien gewor-den. Das Spardiktat in Südeuropa hat der

Gemeinschaft vor Augen geführt, wie fragil die wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften sind und wie in Folge jene Demokratien einem nie gekannten Stresstest ausgesetzt werden. Die EU wird dabei nicht nur schnell zum Sündenbock dieser sozialen Eruption gemacht, sie wird – und dies ist neu – zu-nehmend auch zum Problemlöser sozialer Schieflagen erklärt. Doch kann sie nicht ein-mal annähernd auf diese hehren Ansprüche reagieren. Es fehlen ihr schlicht die „sozia-len Instrumente“:

Während die Europäisierung in fast allen politischen Bereichen voranschreitet, ist die Wohlfahrtspolitik weitgehend Kom-petenz der Nationalstaaten geblieben. Die EU verfügt weder über eine nennenswerte Wohlfahrtsbürokratie, noch hat sie weitrei-chende Zugangsrechte, die Souveränität der Staaten hinsichtlich eines europäischen Sozi-almodells aufzubrechen. Vor allem kann sie nicht als solidarischer „Umverteiler“ agieren.

Kein EU-Bürger besitzt Sozialleistungsan-sprüche gegenüber Brüssel. Derweil wird das zentrale Projekt der Binnenmarktinte-gration unangefochten vorangetrieben – vor allem zum Leidwesen umfangreicher, natio-naler Wohlfahrtsregime.

HARMONISIERUNG DER WOHLFAHRT NICHT IN SICHT

Der ökonomische Wettbewerbsdruck birgt dabei immer die Gefahr, dass die Sicherung bei Arbeitslosigkeit, Invalidität und die Ge-sundheits- sowie Altersabsicherungen mit europaweit sehr unterschiedlichen Prä-gungen, einem „Sozialdumping“ ausge-setzt ist. Der Binnenmarkt untergräbt dabei schleichend starke Systeme und begünstigt rudimentäre Sozialstaaten. Eine Perspekti-ve der Harmonisierung der historisch sehr verschieden entwickelten Wohlfahrtstypen der Länder scheint nicht einmal annähernd

auf der europapolitischen Agenda zu stehen. Tiefgreifende Kompetenzverlagerungen zu Gunsten eines europäischen Sozialmodells sind mehr denn je illusorisch.

Und doch gilt es, mehr Licht in ein unter repräsentiertes Politikfeld zu bringen, was für das bisherige Wirtschaftsprojekt EU vielleicht das sein kann, was es für die europäischen Demokratien bereits ist: Ein Schlüssel zur Akzeptanz, der für Europa die Tür zur Integration weiter öffnen könnte.

Henrik Nürnberger23, Berlin

...weiß nun, dass die Verordnung Nr. 1677/88/EWG, die die maximale Krümmung der Gurke regelt, leider nicht mehr in Kraft ist.

BINNENMARKT VERSUS WOHLFAHRTSSTAAT WIE DAS SOZIAL-STAATSDEFIZIT DER EU DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION ERSCHWERT –EINE BETRACHTUNG VON HENRIK NÜRNBERGER

Karikatur: Johannes Keller

Page 19: politikorange Beziehungskrise

19 //

E s ist Freitag, kurz nach 20 Uhr in Berlin. In einer verrauchten Bar ste-

hen ein paar junge Männer, die sich auf Rumänisch unterhalten. Kurze Zeit später verlässt einer der Männer das Lokal mit einem älteren Herrn.

Erku* zählt zu den ungefähr 1 000 jungen Strichern, die in Berlin ihren Kör-per verkaufen. „Mit elf haben mich meine Eltern von Rumänien nach Deutschland geschickt, mit zwölf flog ich aus dem Heim raus und musste mein eigenes Geld ver-dienen. Durch andere Jungs bin ich drauf gekommen, mich für Sex bezahlen zu las-sen. Für ‘nen schnellen Fick bekomme ich zwischen 50 bis 70 Euro, je nach Freier.“

“ICH HABE OFT DINGE GETAN, DIE ICH NICHT TUN WOLLTE“

Erku berichtet über die gegenwärtige Situa tion in seinem Heimatland: Es gebe kein fließend Wasser oder Strom in den ländlichen Regionen, die Jugendarbeits-losigkeit sei hoch und die Schere zwi-schen Arm und Reich klaffe immer weiter auseinander. Viele Menschen sähen sich mit einer trostlosen Zukunftsperspektive konfrontiert. Die jungen Osteuropäer be-kämen von ihrem Umfeld eingeflößt, dass in Deutschland alles besser sei und sie dort einer strahlenden Zukunft entgegen blickten. Doch die Realität sieht für Erku anders aus. Für das schnelle Geld geht er über jegliche Hemmschwelle: „Ich habe oft Dinge getan, die ich nicht tun wollte.“

Gerhard Schönborn ist Sozial arbeiter beim Verein „Neustart e.V.“, der sich um weibliche Prostituierte auf dem Straßen-

strich rund um die Kurfürstenstraße küm-mert. Er schätzt die Zahl der Prostituierten beider Geschlechter in Berlin auf insge-samt 8 000 bis 10 000, zwei Drittel davon stammten aus Osteuropa. Bis zu fünf Prozent machten ihre Arbeit wirklich frei-willig, die meisten würden durch ihr in-stabiles soziales Umfeld und eine schwie-rige ökonomische Lage in die Prostitution gedrängt. Seit dem EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens gibt es eine regelrechte Armutseinwanderung nach Deutschland. Laut dem Jahrbuch 2012 des Statistischen Bundesamts (Destatis) waren Bulgaren und Rumänen im Jahr 2011 nach den Po-len die zweit- und drittgrößte Zuwanderer-gruppe, allein im Jahr 2011 waren es rund 113 000. Zwar ist die maximale Aufent-haltsdauer für ungelernte Arbeiter aus Rumänien und Bulgarien derzeit noch auf sechs Monate beschränkt, doch wer nicht die nötige Qualifikation mitbringt, kann durch Anmeldung einer Selbstständigkeit dauerhaft bleiben. Viele dieser Einwande-rer leben auch in Deutschland in Armut und gehen einer inoffiziellen Beschäfti-gung nach – wie der Prostitution.

EINBLICK IN DIE SZENE

Uli Menze kennt sich aus in der Stricher-Freier-Szene Berlins. Früher betreute er als Streetworker Stricherprojekte. 60 Pro-zent der „Jungs“, die sich in seiner Sze-nebar „Tabasco“ tummeln, kommen aus Osteuropa, größtenteils aus Ungarn, Ru-mänien und Bulgarien. Die Jungs setzen sich an die Bar oder in eine Sitzecke und warten darauf, dass sie angesprochen

werden. Es sei nicht selten der Fall, dass sie sich nicht einmal ein Getränk leisten können. Wenn sie einen potentiellen Frei-er gefunden und mit diesem den Preis ausgehandelt haben, geht es weiter. Doch wohin, weiß auch Menze nicht. „Hier um die Ecke befinden sich genügend Parks, öffentliche Toiletten, Sexkabinen in Video theken oder Sexshops. Manch-mal erwische ich sie sogar auf unserem Damenklo.“

In der Regel sind die Stricher 18 bis 25 Jahre alt. „Danach“ erzählt Oliver Wöt-zel, Barkeeper in der Szenekneipe „Blue Boys Bar“, „wird man aussortiert. Es sei denn, du hast 25 Zentimeter in der Hose, dann spielt es keine Rolle, ob du 20 oder 50 bist oder drei Nasen hast.“ Wötzel schätzt, dass nur fünf Prozent der Stricher wirklich homosexuell sind. Alle anderen überwinden sich, da sie das Geld dringend brauchen, zum Beispiel um Heroin oder andere Drogen zu kaufen. Seit einigen Jah-ren wird vermehrt die extrem suchterzeu-gende Droge Crystal Meth aus Osteuropa eingeschmuggelt, die den Markt mit rela-tiv billigem Stoff überschwemmt. „Viele kommen schon total zugedröhnt ins Lokal, weil sie einfach nicht mehr anders kön-nen“, erläutert Wötzel.

GEFANGEN IM MILIEU

Die unter 18-jährigen Stricher warten am Spielplatz neben der Bar auf ihre Freier, denn in jeder bekannten Szenebar finden regelmäßig sogenannte „Begehungen“ der Polizei statt. Drogenhandel und die Pro-stitution von Minderjährigen sind keine

Seltenheit im Milieu. „Die Drogen werden offen vor den Augen aller vertickt“, berich-tet auch Menze.

Schönborn beobachtet, dass es nur wenige Stricher wirklich aus dem Milieu heraus schaffen. Wer es schafft, wird den-noch allgegenwärtig mit seiner Vergangen-heit konfrontiert. Viele der Jungs werden nie in der Lage sein, sich zu binden oder Beziehungen einzugehen. Manche werden weiter sinken, verlieren ihren Willen, aus dem Teufelskreis der Prostitution auszu-brechen. „Sie fallen so tief, dass es für sie ein riesiger Schritt ist, sich ans staatliche Hilfssystem anzubinden. Oftmals haben sie nicht einmal mehr die Kraft dazu, sich eine Krankenkassenkarte zu besorgen. Zu groß ist die Scheu vor der Offenbarung.“ Erku erzählt, dass er neuen Mut gefasst hat und nun aus dem Milieu austreten will: Er hat sich mit anderen rumänischen Jungs zusammengetan und wohnt mit ih-nen in einer Sozialwohnung.

* Erku heißt eigentlich anders. Er bat da-rum, nur unter diesem Namen genannt zu werden

Foto: Nick Jaussi & Paul WagnerER KENNT DAS MILIEU: ULI MENZES BAR „TABASCO“ IST TREFFPUNKT VON STRICHERN AUS GANZ EUROPA.

Julian Best19, Sigmaringen

... hat gelernt, dass Europa sogar aus dem Wasser-hahn kommt.

GEWERBE IM DUNKELN DAS SCHNELLE GELD AM STRASSENRAND, DIE SCHATTENSEITE DER EUROPÄISCHEN FREIZÜGIGKEIT – JUNGE OSTEUROPÄER AUF DEM BERLINER STRASSENSTRICH.EIN EINBLICK VON JULIAN BEST

Page 20: politikorange Beziehungskrise

\\ 20

D ie Situation ist nicht einfach: Die Kälte und ihre Gesundheit ma-

chen den Flüchtlingen im Protestcamp in Berlin-Kreuzberg zu schaffen. Es mangelt ihnen an allem.

Marali kommt aus Mali und schläft wie sein Bruder nun schon seit einem halben Jahr in einem der windschiefen Zelte am Oranienplatz. Zur Theaterprobe kommt er etwas zu spät.

Eine Welle der Protestbewegungen entstand 2012 in Deutschland. Mit Mär-schen, Camps und Hungerstreiks machen Flüchtlinge auf Missstände in der Asyl-politik aufmerksam und fordern einen Abschiebestopp und die Abschaffung der Residenzpflicht. Diese schränkt die Bewegungs freiheit Asylsuchender auf eine fest zugeteilte Region ein.

In der gesamten EU wurden 2012 rund 332 000 Asylanträge gestellt, halb so viele wie im Jahr 1992, als es noch rund 670 000 waren. Laut der europä-ischen Kommission wurden letztes Jahr 73 Prozent der Erstanträge abgelehnt. Weit mehr Flüchtlinge als der reiche Westen beherbergen übrigens Staaten wie Pakistan, Iran und Syrien, in denen Flüchtlingsströme aus angrenzenden Kri-sengebieten Schutz suchen. Trotz der ver-gleichsweise niedrigen Flüchtlingszahlen in Deutschland schüren Fotos von über-ladenen Flüchtlingsbooten bei manchem Menschen hierzulande Angst vor einer Überflutung Europas

Seit einem halben Jahr werden die Flüchtlinge nun schon mitten in Kreuz-berg geduldet. Das Camp aus bunten Zel-ten ist vollkommen selbstorganisiert und partizipatorisch – offen für jeden, der hel-fen oder mitwirken will.

DER LANGE WEG NACH BERLIN – EIN THEATERPROJEKT

So arbeitet auch Christel Gbaguidi am Oranienplatz täglich drei Stunden mit Flüchtlingen an einem Theaterprojekt.

„Es ist nicht alles nur Politik. Es geht auch viel darum“, sagt er und deutet mit seiner Hand auf die Brust: Er meint den Menschen, mit all seinen Problemen und Gefühlen. Herr Gbaguidi begrüßt jeden einzelnen jungen Mann:„Ca va? Wie geht es dir?“ Jeder Flüchtling bringt seine eigene, teilweise unsagbar trau-matische Lebensgeschichte mit. Genau diese Geschichten, die Flucht vor Gewalt und Not bis zur illegalen Einreise nach Europa, werden zum Inhalt des Theater-stücks.

In Deutschland trifft das Bun-desamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Entscheidung über Asylan-

träge. Für ein dauerhaftes Bleiberecht muss ein Grund wie politische Verfol-gung gegen eine Abschiebung sprechen. Die Unterbringung während des Verfah-rens erfolgt in Asylheimen. Laut dem neusten Migrationsbericht des BAMF kommt Deutschlnad auf drei Asylbewer-ber pro 10 000 Einwohner und liegt damit im Europäischen Mittelfeld.

SCHUTZ DER GRENZEN VOR MENSCHEN, DIE SCHUTZ SUCHEN

Kontinuierlich wachsen Mauern um Eu-ropa herum, vollkommen unsichtbar für uns entscheiden sie doch für andere über Leben und Tod.

Die europäische Grenzschutza-gentur Frontex will mit Soldaten, Hub-schraubern und Wärmekameras illegale Einwanderung and den europäischen Außengrenzen verhindern.

Frontex organisiert auch Grenzpa-trouillen und Sammelabschiebungen im Mittelmeerraum. Die Menschenrechtsor-ganisation Human Rigths Watch nennt Frontex nicht ohne Grund „The EU‘s Dirty Hands“ – die schmutzigen Hände Europas – in seiner gleichnamigen Publi-katon über die Behandlung von Flücht-lingen an den Grenzen Griechenlands.

So grenzenlos Europa für uns EU-Bürger sein mag, es bedarf anscheinend eines immer besseren „Schutzes“ vor Men-schen, die selbst Schutz suchen und de-nen keine Möglichkeit bleibt, legal nach Europa zu kommen.

KEINE GESAMTEUROPÄISCHE LÖSUNG

Die Staaten an den europäischen Außen-grenzen müssen sich besonderen Heraus-forderungen stellen. Vor allem die Bedin-gungen in überfüllten Erstauffanglagern sind umstritten. Die Dublin-II-Verordnung aus dem Jahr 2003 legt fest, dass der Erst-einreisestaat für das Asylverfahren zustän-dig ist. Folglich sind Flüchtlinge an das Land gebunden, in dem sie zuerst den europäischen Boden betreten haben. Hier-durch wird eine gleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge auf alle europäischen Staa-ten schwierig und ein System der innereu-ropäischen Abschiebung belastet wenige Randstaaten mit sehr vielen Asylanträgen.

Herr Gbaguidi ist davon überzeugt, dass man Probleme mit Kunst lösen kann. Ein zentraler Aspekt seiner Arbeit am Theaterprojekt sind Kommunikation und Menschlichkeit. Auch Frontex scheint sich nun künstlerisch zu engagieren. Die Grenzschutzagentur schreibt einen Foto-

vwettbewerb mit dem Motto „Ties that bind: Bridging borders in modern Europe“ aus. Vielleicht wird Marali in einigen Jah-ren im Sommerurlaub selbst an Europas Grenzen „inspiration from the beauty of European landscapes“ sammeln. Beson-ders inspiriert wirkt er allerdings nicht, wenn er davon erzählt, wie er über die Grenze gekommen ist.

POLITIK AM RANDE DES GRENZWERTIGEN IM ZENTRUM KREUZBERGS HABEN FLÜCHTLINGE EIN CAMP ERRICHTET, VIELE BEWOHNER DER STADT AKZEPTIEREN UND UNTERSTÜTZEN SIE. SCHWIERIGER IST DIE SITUATION AN DEN AUSSENGRENZEN DER EU, AN DENEN HART GEGEN ILLEGALE EINWANDERUNG VORGEGANGEN WIRD. VON CHRISTIN FIGL

Foto: Nick Jaussi & Paul WagnerDEN MUT NICHT VERLOREN: TÄGLICH LEITET CHRISTEL GBAGUIDI EIN THEATERPROJEKT MIT FLÜCHTLINGEN AN.

Christin Figl20, Wien

... weiß jetzt, dass im Europaparlament wirk-lich über 90 deutsche Abgeordnete sitzen.

Page 21: politikorange Beziehungskrise

21 //

S pannende EU-Themen finden sich „auf der Straße oder am Boden des

Bierglases im offenem Gespräch mit Ak-teuren der EU-Politik“, weiß Thomas Becker. Der TV-Journalist war drei Jahre lang für den WDR in Brüssel tätig, wo die Themen öfters auch mal theoretisch und trocken sein können. Deswegen sei es für Korrespondenten in Brüssel müh-sam, ihre Beiträge in der Heimat redak-tion durchzusetzen. „Journalisten müs-sen die EU personalisieren“, rät Becker. Das gehe am besten mit Beispielen aus dem Alltag. Die Kunst sei es, abstrakte Informationen anschaulich darzustellen.

„Ich habe noch nie so kreativ, so wild, so frei gearbeitet wie in Brüssel“, sagt er und grinst. Gleichzeitig müsse man da-rauf achten, nicht dem Populismus zu verfallen. Diese Einschätzung teilt er mit Reinhard Hönighaus, der ebenfalls drei Jahre in Brüssel war – als Korrespondent für die Financial Times Deutschland:

„Für die nationalen Parteien und Medien ist die EU häufig der Sündenbock bei Misserfolgen. Erfolge schreiben sich die Regierungen dagegen selbst zu.“

ZUSTAND DER PRESSEFREIHEIT IN EUROPA

Neben den inhaltlichen Herausforde-rungen bei der EU-Berichterstattung sind manche Journalisten außerdem schwierigen Arbeitsbedingungen in ih-ren Herkunftsländern ausgesetzt. Laut Reporter ohne Grenzen schneidet zwar ein Großteil der europäischen Länder im internationalen Vergleich gut ab. „Aber die Unterschiede zwischen den EU-Staaten beim Schutz der Pressefreiheit werden größer“, beklagt Ulrike Gruska, Pressereferentin bei Reporter ohne Gren-zen in Berlin. In den südlichen und öst-lichen Staaten Europas seien oftmals die wirtschaftlichen Bedingungen, mafiose Strukturen oder der Einfluss des Staates Grund für das schlechte Zeugnis. „Die rechtlichen Grundlagen in der EU rei-chen aus, aber an der Umsetzung hapert es oftmals“, so Gruska. Nach der aktuel-len Rangliste der Pressefreiheit von Re-porter ohne Grenzen liegt Deutschland auf Rang 17. Der schlechte Zugang zu Behördeninformationen und die abneh-

mende Medienvielfalt seien verantwort-lich dafür, dass Deutschland im euro-päischen Vergleich nur durchschnittlich abschneidet. EINE BEDROHUNG DER VIERTEN MACHT

„Der Abbau von Vollredaktionen und Zeitungssterben lassen sich in ganz Eu-ropa feststellen“, bemerkt Ulrike Gruska. Auch Becker resümiert: „Der kritische Journalismus in der EU nimmt ab“. Rein-hard Hönighaus sieht die Pressefreiheit vor allem durch Ressourcenprobleme bedroht: Die sinkende Korrespondenten-zahl in Brüssel gefährde die Vielfalt in der Berichterstattung. Nationale Medien kauften Nachrichten zunehmend Agen-turen ab oder verließen sich auf Pres-semitteilungen ohne weitere Recherche. Dieser „Copy-Paste-Journalismus“, wie Gruska ihn nennt, sorge dafür, dass die Trennung von Werbung und redaktio-nellem Inhalt zunehmend aufweicht – es gebe weniger Blickwinkel, weniger Kon-trolle, mehr Fehler.

Freier Informationszugang, Medienviel-falt und unabhängiger Journalismus sind unverzichtbar für die Demokratie. Auf-gabe der Journalisten in Brüssel ist es, europapolitische Themen für den Leser verständlich aufzubereiten und so das Be-wusstsein für Europa zu stärken. Medien können so mitwirken, der EU ein Gesicht zu geben und Transparenz zu schaffen – für ein stärkeres Wir-Gefühl.

KREATIVE HERAUS-FORDERUNG BRÜSSEL 27 LÄNDER UND 23 SPRACHEN TREFFEN IN BRÜSSEL AUFEINANDER. VIEL ARBEIT UND EINE HERAUSFORDERUNG DIES ZU VERMITTELN – ABER KORRESPONDENTEN SIND EINE SCHWINDENDE SPEZIES. VON NIKLAS GOLITSCHEK UND MAREIKE WITTE

FRUCHTFLEISCH Ein Dschungel an Visionen: Dein Wunsch für Europas Zukunft?

RAKESH SHERMA, 56 JAHRE AUS DELHI, INDIEN

MEHR MENSCHLICHKEIT UND NACHHAL-TIGE WIRTSCHAFTSENTWICKLUNG IN

EUROPA. EUROPA SOLL DIE NEUEN INDUS-TRIEMÄCHTE FAIRER BEHANDELN.

„FAIRNESS“

CLAUDIA RÖSSGER, 36 JAHRE AUS BERLIN, DEUTSCHLAND

AM ENDE EINES FORTSCHRITTLICHEN INTEGRATIONSPROZESSES SOLLTEN

MEINER MEINUNG NACH DIE VEREINIGTEN STAATEN VON EUROPA STEHEN.

„VEREINT“

RONNY SIMON, 45 JAHRE AUS BRANDENBURG, DEUTSCHLAND

DIE EUROPÄISCHEN LÄNDER SOLLTEN ENGER ZUSAMMENRÜCKEN. DENNOCH

MÜSSEN REGIONALE BESONDERHEITEN ERHALTEN BLEIBEN.

„VIELFALT“

Foto

s: M

arku

s E

rdle

nbur

ch

Niklas Golitschek 19, DieburgMareike Witte 24, Berlin

… haben gelernt, dass Sigmar Gabriel mit der Energiesparlampe die Bundestagswahl gewinnen wollte.

Page 22: politikorange Beziehungskrise

\\ 22

S olidarität?“, Effie Papavasileiou lacht, „ich fühle hier keinerlei euro-

päische Solidarität.“ Mit Anfang dreißig ist sie seit fünf Jahren arbeitslos. „Ich habe eine der besten Kosmetikschulen Athens besucht, mein Traum war immer mein eigener Salon, aber die Krise macht ihn unmöglich.“ In Trikala, einer Stadt in Zentralgriechenland, ist die Krise bitterer denn je. Ein Viertel der Bewohner ist auf Armenspeisungen angewiesen, Kranken-versicherungen gibt es nach einem Jahr Arbeitslosigkeit nicht mehr. Die junge Generation verlässt in Scharen das Land und faschistische Parteien bekommen verstärkt Zulauf. Effies Mann versucht sie und ihren fünf Jahre alten Sohn Alexis mit schlecht bezahlten Jobs in der En-ergiewirtschaft durchzubringen. Studiert hat er Agrarwissenschaft. Nun baut Effie im eigenen Garten saisonales Gemüse an und versucht es an Nachbarn zu ver-kaufen: „Damit können wir ein Drittel des Gehalts meines Mannes sparen und ich habe eine Aufgabe, die mich vor der Langeweile schützt.“ Wenn sie könnte, würde sie gehen, sagt sie und schaut trau-rig auf ihren kleinen Gemüsegarten. Sie wünscht sich, dass ihr Sohn einmal seine Träume verwirklichen kann und es nicht am Geld scheitert.

GROSS IST DIE VERWIRRUNG

Was Effie fordert, ist gar nicht so sehr die finanzielle Solidarität der Euro-Staaten mit Griechenland, sondern viel mehr die gesellschaftliche. Verständnis für die Situ-ation, die keiner derjenigen Griechen ver-ursacht hat, der sie jetzt ertragen muss. Einseitige Sparmaßnahmen, der Anstieg der Selbstmordrate um ein Drittel, Ar-beitslosenquoten in ungeahnter Höhe und ein negatives Wirtschaftswachstum bis 2015. Das ist die Bilanz der europä-ischen Hilfe.

„Die aktuellen Programme sind nicht nur eine Katastrophe für Griechenland, sie bedeuten auch eine Gefahr für Euro-pa“, meint der Finanzexperte und SPD-Bundestagsabgeordnete Lothar Binding,

„Immer wenn es den Menschen betrifft – jenseits des Geldes – ist Europa aus dem Blick geraten.“

Die Werte, die momentan in der praktischen Politik Europas vorherrschen, sind reduziert auf Geld und das zerstört Vertrauen in eine Werteunion. Binding ist überzeugt: „Die Hilfen in Milliardenhöhe dienen nur indirekt einem System, das die Gläubiger bedient und das den Men-schen vor Ort nicht hilft.“

Michael Roth, europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion drückt es so aus: „Die EU ist von Beginn an Solidaritätsunion. Ziel ist es, annä-hernd gleichwertige Lebensverhältnisse

in allen Regionen zu schaffen. Davon sind wir Lichtjahre entfernt!“ Die Sche-re zwischen armen und reichen Ländern klaffe so weit auseinander wie noch nie. Und genau das erleben wir derzeit: Eine Währungsunion ohne eine verbindliche Wirtschafts- und Sozialunion, die nicht funktioniert und funktionieren kann.

„Ein Konstrukt, das mehr als Währungszo-ne und Binnenmarkt sein will, muss aber auch gesellschaftlich verankert sein“, sagt Michael Roth.

WELCHES EUROPA WOLLEN WIR?

In der EU sitzen wir in einem Boot. Deutschland ist verwundbar wie kein zweites Land. Michael Roth erklärt das folgendermaßen: „Unser Wohlstand hängt an den Exporten – über 60 Prozent in die EU und rund 40 Prozent in die Eurozone. Arbeitslose Griechen und Spanier kaufen eben keine teuren Produkte aus Deutsch-land – das wird sich bemerkbar machen.“

Im Schatten der wirtschaftlichen Dauerkrise hat sich eine Vertrauenskrise breit gemacht. Für zu viele Menschen ist Europa daher weniger Teil der Lösung, als

Teil des Problems. Vergessen sind über 60 Jahre Frieden in Europa und Vorteile wie grenzüberschreitendes Reisen, Studieren oder Leben.

Immer wieder wird die Forderung laut, Griechenland kurzfristig aus dem Euro auszuschließen. „Das ist eine Maß-nahme, die uns von der europäischen Idee entfernt und einen Dominoeffekt auslöst“, das ist Bindings feste Überzeugung. „Es ist in etwa so, wie wenn man einem Freund vorschlägt, die Freundschaft mal für drei Wochen auszusetzen und wenn es wieder besser läuft, die Freundschaft wieder auf-leben zu lassen. Das funktioniert nicht.“

Heute tangiert es uns wenig, wenn in Spanien die Arbeitslosigkeit bei 30 Pro-zent liegt oder jeder zweite junge Grieche arbeitslos ist. „Es muss uns aber tangie-ren, denn eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied“, so Binding. Die Grundidee Europas war und ist die eines menschenwürdigen Lebens für alle Euro-päer. Anders wird man auch kein Bekennt-nis für Europa bekommen und die Union wird flügellahm bleiben.

Effie Papavasileou und ihrer kleinen Familie helfen diese Überlegungen alle wenig. Untereinander versucht man so-

lidarisch zu sein: „In der Weihnachtszeit gab es Geschenkbasare in Trikala. Man hat mitgebracht, was man konnte und es dann getauscht, damit es für jeden eine Bescherung an Weihnachten geben konn-te.“ Auch die Lotterie wurde in Trikala abgeschafft. Stattdessen gab es ein Los mit einem befristeten Arbeitsplatz als La-gerkraft in einem Supermarkt zu gewin-nen. „Es war das Beste, was seit langem in Trikala passiert ist“, sagt Effie, „wenn es nicht die traurige Realität wäre, hätte ich fast darüber lachen können.“

FLÜGELLAHM VERSUCHSKANINCHEN GRIECHENLAND: DIE MILLIARDEN DER EUROPÄISCHEN RETTUNGSSCHIRME WANDERN DIREKT IN DIE HÄNDE DER GRIECHISCHEN GLÄUBIGER. INVESTITIONEN BLEIBEN AUS. AUF WELCHEM WEG IST DIE EU UND WIE STEHT ES UM DIE SOLIDARITÄT?EIN AUSBLICK VON LISA BRÜSSLER

Karikatur: Johannes Keller

Lisa Brüßler21, Göttingen

... hat erfahren, dass es in Griechenland wieder Tauschhandel gibt – back to the roots.

Page 23: politikorange Beziehungskrise

23 //

A ls Veranstaltungszeitung, Magazin, Onlinedienst und Radioprogramm

erreicht das Mediennetzwerk politikoran-ge seine jungen Hörer und Leser. Krieg, Fortschritt, Kongresse, Partei- und Ju-gendmedientage – politikorange berichtet jung und frech zu Schwerpunkten und Veranstaltungen. Junge Autoren zeigen die große und die kleine Politik aus einer frischen, fruchtigen, anderen Perspektive.

POLITIKORANGE – DAS MULTIMEDIUM

politikorange wurde 2002 als Veranstal-tungszeitung ins Leben gerufen. Seit da-mals gehören Kongresse, Festivals und Jugendmedienevents zum Programm. 2004 erschienen die ersten Themenma-gazine: staeffi* und ortschritt*. Während der Jugendmedientage 2005 in Hamburg wurden erstmals Infos rund um die Ver-anstaltung live im Radio ausgestrahlt und eine 60-minütige Sendung produziert.

WIE KOMM’ ICH DA RAN?Gedruckte Ausgaben werden direkt auf Veranstaltungen, über die Landesver-bände der Jugendpresse Deutschland e.V. und als Beilagen in Tageszeitungen verteilt. In unserem Online-Archiv ste-hen bereits über 50 politikorange-Ausga-ben und unsere Radiosendungen sowie Videobeiträge zum Download bereit. Dort können Ausgaben auch nachbe-stellt werden.

WARUM EIGENTLICH POLITIKORANGE?

In einer Gesellschaft, in der oft über das fehlende Engagement von Jugend-lichen diskutiert wird, begeistern wir für eigenständiges Denken und Han-deln. politikorange informiert über das Engagement anderer und motiviert zur Eigeninitiative. Und politikorange selbst ist Beteiligung – denn politikorange ist frisch, jung und selbstgemacht.

WER MACHT POLITIKORANGE?Junge Journalisten – sie recherchieren, berichten und kommentieren. Wer neu-gierig und engagiert in Richtung Journa-lismus gehen will, dem stehen hier alle Türen offen. Genauso willkommen sind begeisterte Knipser und kreative Köpfe fürs Layout. Den Rahmen für Organisa-tion und Vertrieb stellt die Jugendpresse Deutschland. Ständig wechselnde Redak-tionsteams sorgen dafür, dass politikoran-ge immer frisch und fruchtig bleibt. Viele erfahrene Jungjournalisten der Jugend-presse stehen mit Rat und Tat zur Seite.

Wer heiß aufs schreiben, fotogra-fieren, mitschneiden ist, findet Infos zum Mitmachen und zu aktuellen Ver-anstaltungen im Internet oder schreibt einfach eine eMail. Die frischesten Mit-machmöglichkeiten landen dann direkt in Deinem Postfach.

[email protected]

FRISCH, FRUCHTIG, SELBSTGEPRESST – [email protected]

Diese Ausgabe von politikorange entstand im Rahmen des Seminars „Europa in Berlin“, vom 04. bis 07. April 2013 in Berlin.

Herausgeber:politikorange ℅ Jugendpresse Deutschland e.V.Alt-Moabit 89, 10559 Berlinwww.politikorange.de

Chefredaktion (V.i.S.d.P.):Johanna Kleibl ([email protected])Anne Juliane Wirth ([email protected])

Redaktion: Sophia Alt, Julian Best, Lisa Brüßler, Markus Erdlenbruch, Christin Figl, Claudia Flach, Niklas Golitschek Edler von Elbwart, Fátima González-Torres, Diana Höhne, Jan Kamp-mann, Leonard Kehnscherper, Johannes Keller, Dennis Knoll, Zlatina Kolchakova, Bernadette Lumbela, Vanessa Ly, Henrik Nürnberger, Anita Schedler, Anna Julia Schmidt, Katja Sinko, Jörg Spyro, Sophie Steinfeld, Mareike Witte, Julia Zablotny

Bildredaktion: Nick Jaussi ([email protected])Paul Wagner ([email protected])

Layout: Maximilian Gens ([email protected])

Betreuung: Juliane Jesse ([email protected]) Druck: LR Medienverlag und Druckerei GmbHStraße der Jugend 5403050 CottbusAuflage: 2 000 Exemplare

Ein besonderer Dank gilt Sarah Vespermann und Inge Voß von der Friedrich-Ebert-Stif-tung, sowie der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union der ver.di.

Ein Projekt der Jungen Presse Berlin in Ko-ope ra tion mit der Friedrich-Ebert-Stiftung.

IMPRESSUM

Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner

MACH MIT!LUST AUF JOURNALISMUS? OB ALS AUTOR, LAYOUTER, FOTO-GRAF ODER CHEFREDAKTEUR – BEI POLITIKORANGE KANNST AUCH DU AKTIV WERDEN!

> POLITIKORANGE.DE/MITMACHEN

Page 24: politikorange Beziehungskrise

EUROSTAT

EEA Einheitliche Europäische Akte

GASPGemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

EZBBUDG

TAXUD

ECOFINWEU

Rat der Wirtschafts- und Finanzminister

ECU

EU

EEFSCICEFTA

KSZE

SJEFSF

WWUGSVP

AGRI

ER

EURATOMEWGOSHA

UCLAF

EPEGV

EUGH

EVGEDAESM

ERHOSZECOLIPA

EGKS

Europäisches Parlament

Europäische Atomgemeinschaft

Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz

Europäischer Rat

Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

Europäische Finanzstabilisierungsfazilität

Juristischer Dienst der Europäischen Kommission

Gemeinsamer Dolmetscher- und Konferenzdienst der EU

Europäische Verteidigungsgemeinschaft

Europäischer Stabilitätsmechanismus

Europäischer Rechnungshof

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

Stelle zur Koordination der Maßnahmen zur Bekämpfung von Betrug

Europäische Union

Europäischer Gerichtshof

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl

Europäische Verteidigungsagentur

Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

Wirtschafts- und Währungsunion

Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Ausschuss für Landwirtschaft und landwirtschaftliche Entwicklung

Verband der europäischen Kosmetiker

Europäische Freihandelsgesellschaft

Statistisches Amt der EU

Europäische Währungseinheit

Europäischer Entwicklungsfonds

Generaldirektion Steuern und Zollunion

Europäische Zentralbank

Westeuropäische Union

Haushaltsausschuss des EP

ABGEKÜRZT: EUROPA GANZ KOMPAKT EFFIZIENZ BEDEUTET AUCH SPRACHÖKONOMIE. DIESE KANN JEDOCH ZU EINEM ZIEMLICHEN WIRRWARR AN ABBREVIATUREN FÜHREN. EIN WEGWEISER DURCH DEN EUROPÄISCHEN ABKÜRZUNGSDSCHUNGEL. SIND ALLE KLARHEITEN BESEITIGT?