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Philipp Theisohn Die kommende Dichtung

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Philipp Theisohn

Die kommende Dichtung

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Philipp Theisohn

Die kommende Dichtung

Geschichte des literarischen Orakels 1450-2050

Wilhelm Fink

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung derGeschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften

in Ingelheim am Rhein

Umschlagabbildung:Pierre-Eugène Lacoste: Signatures astrales (1869), aus:

Adolphe Desbarolles: Les Mystères de la main.Révélations complètes. Chiromancie, phrénologie, graphologie, études physiologiques, révélations du passé,

connaissance de l’avenir, Paris 1934 [Reprint], S. 56.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung

einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es

nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.

© 2012 Wilhelm Fink Verlag, München(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

E-Book ISBN 978-3- 5392-7ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5392-1

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Meinen Eltern

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Vorsatz

Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die Vorstellung von Lite-ratur als einem Zukunftsmedium. Ich nenne diese Vorstellung und die aus ihr hervorgehenden kulturgeschichtlichen Formationen mit einer gewissen Präzision »Mantopoetik«. Mit der Unterstellung der Existenz einer Manto-poetik verbindet sich eine zweigliedrige These:

a. Die Literatur der Neuzeit wird maßgeblich durch den Auftrag be-stimmt, die Zukunft sprechen zu lassen.

b. Die Verfahren, Reflexionen und Probleme, zu denen sie im Zuge der Erfüllung dieses Auftrags vordringt, verhandelt die Literatur in Ausein-andersetzung mit der Mantik.

Damit ist bereits deutlich, was diese Untersuchung leisten will – und was nicht. Sie legt ihr Augenmerk weder auf eine Geschichte der Zukunft (die es überdies schon gibt1) noch auf eine Kulturgeschichte der mantischen Künste (die es als solche noch nicht gibt, aber geben sollte). Im Zentrum ihrer Be-trachtungen steht immer das Schicksal der Dichtung, das seit der Mitte des 15. Jahrhunderts mitbestimmt wird durch die Funktionalisierung eines poe-tischen Zukunftswissens. Dieses Zukunftswissen verhält sich nicht statisch, sondern durchläuft einen historischen Paradigmenwandel, der wiederum nur erklärbar wird in Rücksicht auf die ihn umgebenden philosophischen, theologischen, mitunter auch politischen Denkräume. Auch hier muss frei-lich das Gesetz des Sujets gelten: Wir werden jene Denkräume nur durch-queren, nicht aber erschöpfend erkunden können. So müssen uns etwa die mantischen Zeichenformen des Neuplatonismus, die astrologischen Debat-ten des 16. und 17. Jahrhunderts, die geschichtsphilosophischen Umbrüche der Revolutionszeit oder die Technikphantasien des Faschismus zweifellos interessieren – jedoch bilden diese Dinge immer nur den Referenzrahmen der Reflexion. Zu erwarten ist demnach keine weitere Untersuchung zur Bedeutung von Zukunft für das europäische Geschichtsdenken2, auch keine weitere Abhandlung über die Karriere der Geheimwissenschaften. Das Sujet ist die Poiesis des Zukunftswissens, nicht die Zukunft selbst.

Gerechtfertigt wird dieses Sujet durch die Überzeugung, dass erst die Geschichte der Mantopoetik ein tieferes Verständnis der säkularen Literatur und ihrer Entwicklungen ermöglicht. Sie liest diese Literatur im Horizont

1 Georges Minois: Histoire de l’avenir, Des prophètes à la prospective, Paris 1996; dt. als Ge-schichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Düsseldorf / Zürich 1998.

2 Dieses Feld haben die Arbeiten Kosellecks (Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtli-cher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979) und Hölschers (Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M. 1999) bereits gründlich erschlossen.

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VorsatzVIII

einer kulturellen Verschuldung gegenüber der Providenz, einer Verschul-dung, die nur durch die Rückversicherung bei den literarischen Orakeln kompensiert werden kann. Die Rede des Orakels begleitet den neuzeitlichen Menschen unentwegt, selbst dann, wenn er (wie Lichtenberg argwöhnt3) ihr gerade nicht zu lauschen scheint. Dass diese Rede auf das Engste mit der literarischen Produktion dieses Menschentypus verbunden ist, sollte nicht überraschen. Die Frage ist nur, auf welche Weise Literatur und Mantik eigent-lich miteinander verbunden sind, ob sie sich auch wirklich verbinden oder nicht vielmehr in einem Konkurrenzverhältnis stehen bzw. sich wechsel-seitig zu verdrängen versuchen. Hölderlins folgenschweres Verdikt »Delphi schlummert«4 ist in diesem Zusammenhang doppelsinnig zu lesen: einerseits als Klage über die verlorene gesellschaftliche Würde der Dichtung5, als Ab-gesang auf eine Welt, in der die Poesie noch unzweideutig als eine Kunst der »fernhintreffenden Sprüche« definiert war; andererseits aber auch gerade als eine Verkehrung der Machtverhältnisse, in deren Folge die Dichtung der Neuzeit die sie bedrängende mantische Tradition überwältigt und sich als deren rechtmäßige Nachfolgerin, als die einzig unverdorbene »Frucht von Hesperien« ins Spiel bringen kann. Die Dynamiken, welche die Wechsel-beziehung zwischen der ars poetica und der ars mantica beherrschen und die sich in entsprechender Form auch literarhistorisch abspiegeln, sind durchaus verworren und oft nicht auf den ersten Blick zu durchmessen. Sie lassen sich leider nicht in Bloomsche Tropen umrechnen (worin durchaus eine Versu-chung bestanden hätte) und schon gar nicht als semantische Bewegungen in-nerhalb kultureller Texturen interpretieren. Die Zukunft der Dichtung ist mehr als ein Text. Sie ist ein Geschehen.

Es ist ein Anliegen der vorliegenden Studie, die Literaturwissenschaft wieder für das Geschehen und für die Geschichte zu öffnen. Die Vorausset-zung hierfür besteht in der Bereitschaft, scheinbar errungene Herrschaftsan-sprüche wieder abzutreten, die Dinge erst einmal Dinge sein zu lassen und sie nicht im Handumdrehen dem transzendentalen Subjekt des Diskurses einzuverleiben, das unseren Wünschen nach Belieben gehorcht. Wer sich mit Literatur als einem Geschehen beschäftigen will, der muss zunächst einmal Grenzen ziehen, denn das Geschehen, das Neue, das Unerwartbare ereignet

3 »Die Orakel haben nicht sowohl aufhören zu reden als vielmehr die Menschen ihnen zu-»Die Orakel haben nicht sowohl aufhören zu reden als vielmehr die Menschen ihnen zu-hören«. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, München 1969, Bd. I, 517 [= F 413].

4 Friedrich Hölderlin: Brot und Wein (Erste Fassung) (1804), in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Jochen Schmidt, Bd. I, Frankfurt a.M. 1992, 287.

5 Das ist Heideggers folgenreiche Lektüre, die im Anschluss an die Hölderlin-Exegese eine vermeintlich durch die Kybernetik bestimmte wie eingesperrte Gegenwart mit der Kunst als Kraft der alétheia konfrontiert. (Martin Heidegger: Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens [1967], in: ders., Denkerfahrungen 1910-1976, hg. von Her-mann Heidegger, Frankfurt a.M. 1983, 135-149, insbes. 140f.)

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Vorsatz IX

sich nur in den Grenzüberquerungen: im Übertritt der Wirklichkeit auf das literarische Feld und im Ausbruch der Literatur in eine Wirklichkeit, die auf sie nicht vorbereitet ist. Das literarische Orakel erinnert uns an diese Wahr-heit. Es weiß, dass das Morgen einmal Sprache werden muss, es weiß aber auch, dass es jetzt noch nicht Sprache ist. Vor allem jedoch weiß es, dass zwi-schen der noch sprachlosen Zukunft und der noch zukunftslosen Sprache dunkle Pfade in beide Richtungen verlaufen. Und das, was wir auf diesen Pfaden antreffen – das ist die Dichtung des Kommenden.

**

Die vorliegende Untersuchung wurde 2011 vom Departement für Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften der ETH Zürich als Habilitationsschrift angenommen. Zwischen Abgabefassung und Druckfassung liegt ein größe-rer Zeitraum, in dem der Text einigen Umarbeitungen unterzogen wurde. Hinzugekommen sind vor allem eine ausführliche Betrachtung Fischarts (in Kapitel V) und die Ausführungen zur »Kunst der Ingenieure« (in Kapitel XI). Weggefallen ist hingegen nach längerer Abwägung ein leicht irritierendes Unterkapitel zum »aptum« und zur Geschichte des Gottesurteils. Die Überle-gungen zum ›Sortilegium‹ (Kapitel IV) wurden mittlerweile in abgewandelter Zuspitzung in einem von Andreas Kilcher und mir im Fink-Verlag herausge-gebenen Sammelband zur »Enzyklopädik der Esoterik« veröffentlicht.

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Inhalt

I. Die vertauschte Saite. Mantik und Dichtung ....................................................... 3

Das Blut des Python (3) · Sophokles oder Die Dramaturgie des Orakels (7) · Die Zukunft und die Sprache (11) · Mantik und Semantik (15) · Die Mantik als Phantom neuzeitlicher Dichtung (18) · Warum eigentlich Dichtung? (21) · Die Mantopoetik als Subversion der artes (24) · Kernszenarien der Man-topoetik I: Die Konjektur (27) · Kernszenarien der Mantopoetik II: Die Ahnung (29) · Kernszenarien der Mantopoetik III: Das Programm (32)

II. Zu Vorgeschichte und Vorformen der Mantopoetik ................................ 35

Das platonische Vorurteil (35) · Jamblichs sýnthema als erste Überblendung von Mantik und Poetik (36) · Sprache und Welt I: Der Logos als Wächter der Zukunft (41) · Die Skepsis und der Sturz der Zukunft ins semiotische Dunkel (43) · Sprache und Welt II: Die Zeichenform der Providenz (46) · sors als der fünfte Schriftsinn (49)

Das Zeitalter der Konjektur

III. Zur geistigen Grundlage konjekturalen Denkens ... 55 Mit Konjekturen leben: Campanellas Civitas Solis · Der mediengeschichtliche

Kontext der Konjektur (58) · Die Immanentisierung der Providenz (60) · Die Fortuna als Operator der Vorsehung (62) · Gott im Sein (63) · Einfaltung, Ausfaltung, Mutmaßung: Cusanus (67) · Das cusanische Denken und die Naturphilosophie der Renaissance (71) · Die Konjektur als Quadratur des Kreises (74) · Agrippa oder Die frühneuzeitliche Prognostik als Grenz-überschreitung (75) · Synesios oder Die Phantasie als Medium der Zu-kunftsrede (80) · Iustus Faustus: Der Protestantismus und die Zukunft als Dämonie (83) · Ficino und die Providentia als Sängerin (88)

IV. »Kurtzweyl« – das Sortilegium und die poetische Verfügbarkeit der Zukunft ................... 91

Geschichten aus Antwerpen (91) · Das Losbuch und sein kulturtheoreti-scher Ort (95) · Geomantie und Literatur (98) · Bollstatters Sortilogium (101) · Die Überwältigung der Fortuna durch den Geist: Lorenzo Spirito (104) · Wickram und das typologische Erzählen als Sortilegium (110) · Die verspielte Providenz (117)

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InhaltXII

V. Die Poesie als futurischer Kode .................................. 123 Panurg will heiraten: Rabelais und die erste Krise der Konjektur (123) ·

Nostradamus oder Die Orakeldichtung als Überbietung der Astrologie (129) · fureur poëtique (133) · Ronsard und die Sprache der Könige (137) · Apollinische Politik und mantische Poesie (143) · Fischart oder Die Poesie als ›recursische‹ und ›accursische‹ Astrologie (150) · Zur Poetologie der Gegenpraktik (152) · Die neuen Manichäer oder Die Praktik als satanisches Textfeld (159) · »B der Buochstab« und die zermalmte astrologische Rede (162)

VI. Der Untergang des siderischen Menschen ............... 169 Über Chiromantie (169) · Die zweifache Geschichte der Astrologie (171) ·

Prognostik und Eschatologie (175) · Die Konjektur zwischen göttlichem und siderischem Geist (179) · Leo Armenius oder Das Drama des Vorzeichens (182) · Die Unterscheidung der Zeiten (187) · Die dunckelen oertter (189) · Die Wider-göttlichkeit der Zukunft: Grimmelshausen (193) · Die mantische Obsession des simplicianischen Erzählens (196) · Der Satyr als Wahrsager (201)

Das Zeitalter der Ahnung

VII. Auf dem Weg zur »vernünftigen Vermuthungskunst« ...................... 209

Nach der Natur: Rousseaus Zukunft (209) · Bernoulli, Leibniz und die Gewiss heit des Wahrscheinlichen (212) · Gottsched oder Die poetische Wahrscheinlichkeit als Erbin der Mantik (216) · Breitinger oder Die Dichtung als imitatio der Mantik (218) · Die Mantik vor den Toren der Literatur: Richardson (221) · Gellert oder Die Unwahrscheinlich-keit empfindsamer Zukunft (224) · Ars mantica, Ars fingendi: Baumgar-ten (228) · Die Mantik und der Schatten der Ästhetik (231) · Vom genus aestheticomanticum (234)

VIII. Jupiters Kinder und die Wissenschaft der Zukunft ..................................... 237

Herder oder Die Ethomantie als Wissenschaft der Zukunft (237) · Hennings oder Die Konsequenz der Dinge (240) · Die Ahnung zwischen Idee und Natur (243) · Die Aufklärung und die Politik der Ahnung (245) · Ahnung und Ästhetik als Analogkonzepte um 1800 (248) · Schillers Wallenstein (251) · Schicksalsbegriff und Schicksalswissen (257) · Coda: Hölderlins Zeiten (260)

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Inhalt XIII

IX. Die Weissagung als »schöpferischer Akt« ................. 265 Erwines Geheimnis oder Ein Anfang mit Eichendorff (265) · Ahnung und

Form (268) · Novalis, die Zukunft und der romantische Zeitbegriff (273) · Die Räume der goldenen Zeit (277) · Mantopoetische Experimente I: Kleist und die Mantik als Nervengift der Literatur (279) · Mantopoetische Experimente II: Arnim und die Zeit der Frauen (286) · Mantopoetische Ex-perimente III: Magnetisches Wissen, zum Ersten (291) · Exkurs: Gott und die Ahnung (296) · Mantopoetische Experimente IV: Magnetisches Wissen, zum Zweiten (299) · Die Hermeneutik als Antidot zur Mantik (308) · Die Divination des Verstehens (312)

X. »Geschichte« oder Untergang und Wiedergeburt der literarischen Zukunft ................... 317

Die verlorene Zukunft des 19. Jahrhunderts: Goethes Manto (317) · Stif-ters Nachsommer oder Die Zukunft im Unterholz der Geschichte (323) · Die Kunst als Zukunftsgerätschaft (328) · Die mantische Auktorialität des Rea-lismus (331) · Verlorene Schlachten: Zukunftslose Dichtung und apoetische Zukunft (333) · Vernes besiegte Armee der Dichtung oder Der Dämon der Elektrizität (335) · Comte, Darwin, Marx: Vorbereitungen zu einer neuen Zukunft (338) · Bellamy und die Rückkehr zur Sphinx (341) · 802701 n.Chr.: Der Text als Zeitmaschine (344) · Werden, was man ist: Nietzsche (351) · Der Rhythmus des Orakels (356)

Das Zeitalter des Programms

XI. Automantique. Das Programm und die Mantik der Moderne ...... 363

Afrika oder Das Ende der Kontingenz (363) · Die vier Grundsätze des Pro-gramms (366) · Schnitzler oder Der Mann mit dem grünen Schal (369) · Die Austreibung der Zukunft aus dem Unbewussten: Freud (372) · Die prospek-tive Tendenz des Traumes (374) · Die Welt als Diktat des Unbewussten (378) · Worte werfen: Mallarmés Kampf gegen den Zufall (381) · Das Buch als Raum der Kalküle (385) · Geschwächte Seher: Der Symbolismus und die Verschie-bung mantischen Potentials (389) · Carl Einstein oder Die Re-Mantisierung des ästhetischen Bewusstseins (393) · Das ungehörte Orakel I: Breton (397) · Das ungehörte Orakel II: T.S. Eliot (400) · Die Typistin des Teiresias (405) · Die Kunst der Ingenieure und das Ende der Zukunft (407) · Der Faschismus als futurischer Leerlauf (411) · Hanussen (415) · Stapledon oder Die Remy-thisierung der Zukunft (418) · Die wandelnde Symbolik programmatischer Zukunft (421)

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InhaltXIV

XII. Cold War Poetics. Aufstieg und Fall der Futurologie ....................... 423

Nach dem Geist (423) · ›Black Box‹ oder Die Rettung der Zukunftsfor-schung durch die Dunkelheit (427) · Robert Jungk und die Neurasthenie des futurologischen Autors (432) · Herman Kahn oder Futurologie als Substitut der Kriegsführung (437) · Die militärische Herrschaft der Fiktion (441) · Die Programmierung des Feindes (443) · Die Extrapolation als futurologische Krankheit (446) · Lem oder Science Fiction als Metareflexion futurologi-schen Schreibens (450) · Pynchon und die Welle der Zukunft (456)

XIII. Die kommende Dichtung ............................................ 461 Thinking in Loops (461) · Die Zukunft der Dichtung (469)

Literaturverzeichnis ....................................................................... 477Abbildungsnachweise .....................................................................507Personenregister .............................................................................509Danksagung ................................................................................ 515

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I. Die vertauschte Saite. Mantik und Dichtung

Als Apoll eines Tages bemerkte, dass seiner Lyra eine Saite fehlte, nahm er die Sehne von seinem Bogen und spannte sie ihr auf. – Ein unverdächtiges und nicht sonderlich originelles Bild, möchte man meinen, besteht doch die Leistung seines Schöpfers lediglich darin, die konkurrierenden Insignien des Gottes spielerisch zu verknüpfen. Eigentlich bedürfte es hierzu keiner allzu großen Erfindungsgabe, ja: derart naheliegend erscheint uns die Vorstellung jenes Saitentausches, dass wir davon ausgehen sollten, sie schon früh und ver-breitet, bestenfalls variiert in der Rezeptionsgeschichte des Mythos vorzu-finden. Erstaunlicherweise ist dem nicht so. Dieses Mythem verfügt weder über eine nennenswerte Bildtradition noch über literarische Belegstellen, sondern es erscheint dort, wo wir es nun herhaben, nämlich aus Sebastián de Covarrubias’ Emblemas morales von 1610, wirklich zum allerersten Mal. Und das will etwas bedeuten. In jener unscheinbaren Verschiebung nämlich, die schon so lange auf der Hand liegt, seit es den Mythos Apoll gibt, verbirgt sich das Bewusstsein der neuzeitlichen Literatur.

Es ist uns fremd geworden, dieses Bewusstsein, was nicht zuletzt mit Blick auf die Praescriptio (»Eisdem trahimur et ledimur«) und die Subscriptio des Emblems deutlich wird. Diese entschlüsseln das Bild wie folgt:

Wir werden von ihnen angezogen und zugleich verletzt

Phoebus fehlte eine Saite an seiner Leier, und er zog an ihrer Stelle eine andere auf, die er vom siegreichen Bogen nahm, mit dem er sonst den in Pythons Blut gestählten Pfeil abschießt. Hütet euch vor seiner Wut und seinem Zorn, erfreut euch an seiner maßvollen Harmonie, denn der glühende Strahl bringt uns helles und starkes Licht und Wärme, doch oft auch den Tod.1

Hat das wirklich etwas mit uns, mit unserem Verständnis von Literatur zu tun? Kein vertrauter Gedanke ist uns der todbringende Klang der Dichtung mehr, haben wir diese doch gerade kennengelernt als eine Zerstreuung des Todes, als seinen Aufschub – denken wir einmal an Sheherazade – oder gar als seine Überwindung in der Gestalt von Apollos Schützling Orpheus, dessen Kopf immerhin noch singend bis nach Lesbos geschwommen ist, nachdem

1 »EISDEM TRAHIMUR ET LEDIMUR: Faltò vna cuerda à Pheuo de la lira, / Y puso en su lugar otra, tomada / De el arco vitorioso, con que tira, / La flecha, en sangre de Phyton templada: / Guardaos de su furor, y de su ira, / Gozad de su armonia moderada, / Que el encendido rayo, claro y fuerte / Luz, y calor nos da, y à vezes muerte.« Seba-stián de Covarrubias Orozco: Emblemas morales, ed. de Carmen Bravo-Villasante, Ma-drid 1978, Centuria I, Emblema 76. Deutsche Übersetzung nach: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, hg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne, Stuttgart / Weimar 1996, 1743.

Das Blut des Python

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I. Die vertauschte Saite. Mantik und Dichtung4

sein Träger unglückseligerweise von Bacchantinnen zerrissen worden war. Dass Apoll hingegen beim Leierspiel eine Saite berührt, die uns betrifft und trifft, die zu töten vermag, in deren Wirkungskreis so gar nichts ›Unbegriff-liches‹, sondern etwas höchst Konkretes, etwas Blutiges sich ereignen könnte – dessen erinnern wir uns schon längst nicht mehr. In der Tat: Die poetische Rede hat spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert vieles daran ge-setzt, dieses Verhältnis zu verheimlichen. Immer wieder kehrt sie zwar zu ihrem Gott, zu Apoll zurück, immer wieder spricht sie vom Bogen und von der Lyra, doch will sie uns glauben machen, dass es sich dabei um eine ad-versatorische Beziehung handelt. Schillers Ibykus ist letzten Endes nur der Prototyp dieses Befundes, ein Sänger mit dem Segen Apolls, der aber eben nur »der Leier zarte Saiten, / Doch nie des Bogens Kraft gespannt« hat.2 Es ist dabei nicht Ignoranz, nicht Unkenntnis der Verwandtschaft, in der man sich befindet. Goethes Sängerwürde (1798) etwa erkennt wohl das tertium compara-tionis (»Nicht die Leier nur hat Saiten / Saiten hat der Bogen auch«3) zwischen Sanges- und Mordinstrument. Gerade aus dieser Einsicht aber erwächst dort der Dichtung die Erkenntnis ihrer Alterität. Die Worte mögen »des Dichters Waffen« sein, es liegt aber eben nicht in ihrer Macht, sich »Recht zu verschaf-fen« – dies kommt wiederum nur den vom Bogen geschossenen »Pfeilen« zu. Man meidet also die apollinische Metonymie, und einige weitere Zeugen ließen sich noch für diese Scheu anführen, nicht zuletzt etwa Heine, der in seiner Vorrede zur dritten Auflage des Buchs der Lieder (1839) seine lange Ver-nachlässigung der Verskunst vor Apoll mit dem Argument zu rechtfertigen versucht, dass ja auch der Gott »die goldene Leier zuweilen vertauschte[] mit dem starken Bogen und den tödlichen Pfeilen«.4 Man mag das eine also zwar für das andere, aber nicht im anderen geben. Die Bogensehne im Klang der Lyra zu erlauschen – das bleibt zumindest eine Geheimkunst, in die sich allenfalls Grillparzers Sappho eingeweiht zeigt, wenn sie den Göttern für »des Sanges Bogen« und der »Dichtung vollen Köcher« dankt.5

Noch besitzt diese konsequente Trennung von Dichter und Krieger für uns keinerlei Aussagewert. Dies ändert sich, sobald ersichtlich wird, welches Bedeutungspotential Apolls vertauschte Saite tatsächlich birgt. Lassen wir uns nicht von der deutschen Kommentierung irritieren – Covarrubias’ my-thologisches Vexierspiel verhandelt nicht einfach nur das Sujet vom »Nutzen

2 Friedrich Schiller: Die Kraniche des Ibykus (1797), in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Ger-hard Fricke und Herbert G. Göpfert, München8 1987, Bd. I, 346-352, hier 347.

3 Johann Wolfgang von Goethe: Sängerwürde, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.M. 1985ff., Abt. I, Bd. 1: Gedich-te 1756-1799, 718.

4 Heinrich Heine: Vorrede 1839, in: ders., Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, Mün-chen2 1975, Bd. I, 16.

5 Franz Grillparzer: Sappho (1817), in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. von Helmut Bach-maier, Bd. 2: Dramen 1817-1828, Frankfurt/M. 1986, 202.

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Das Blut des Python 5

und Schaden der Kunst«.6 Es geht da um mehr, nämlich um nichts anderes als um die geheime Verfassung der Poesie. Erkennbar wird diese freilich erst, wenn wir einen Schritt zurücktreten und den Ort in den Blick bekommen, an dem sich der Saitentausch vollzieht. Wie (oder vielmehr: wo) kommt die Dichtung also zu ihren ›Konsequenzen‹, was verleiht ihren Worten die Macht – Goethe hat das schon richtig gesehen –, sich ›Recht zu verschaffen‹?

Glauben wir der Subscriptio, dann scheint es ja zunächst einmal so, als ob die Überblendung der apollinischen Instrumente mit einem Verlust des Maßes (der »armonia moderada«) in Verbindung steht. Dort, wo wir zu lange im glühenden Strahl Apolls verweilen, verändert sich offenbar die Quali-tät der poetischen Rede, verwandeln sich ›Licht und Wärme‹ in ›Tod‹, die Worte in Pfeile, erklingt die Bogensehne.7 Benannt wird in dieser Reflexion des Emblems somit eben keine moralische, sondern vielmehr eine ontologische Komponente. Im Abgleiten des Saitenspiels, in der Durchbrechung der Har-monie tritt erst das eigentliche Potential der Dichtung ins Licht. Und was dort zum Vorschein kommt, ist dann eben auch keine der Poesie von außen her sich aufnötigende, sondern eine ihr einwohnende Gewalt, die nur in be-stimmten Momenten unter den Silben hervorzubrechen vermag, in ihnen aber gleichwohl stets mitgeführt wird, sie aus der Tiefe befeuert, motiviert und strukturiert. Diese Gewalt aber – und fern liegt uns noch der Gedanke – ist die Zukunft.

Nicht leicht entdecken sich uns jene Zusammenhänge, wir müssen schon genau hinsehen, um zu bemerken, dass gerade das Kapitel der apollinischen Biographie, welches die Überblendung von Bogen und Lyra erst verständlich machen würde, in der Pictura gar nicht zu sehen ist und in der Subscriptio eher beiläufig erwähnt wird. Der Pfeil, der einst die aufgespannte Sehne ver-ließ wie der Ton die Saiten einer Leier, ist kein gewöhnlicher Pfeil gewesen, sondern wurde – so lässt der Text uns wissen – ›in Pythons Blut gestählt‹ (»en sangre de Phyton templada«). Die besondere Qualität des Bogenklanges soll also offensichtlich durch den Verweis auf eine andere Episode aus Apolls Bio-graphie geklärt werden: seinen Kampf gegen den Python am Parnass.8 Nun erfüllt diese Episode allerdings eine ganz bestimmte Funktion im göttlichen Werdegang, denn dem Python unterstanden einst die chthonischen Orakel. Wissend, dass ihn ein Sohn der Latona einst töten würde, setzte der Python der Schwangeren nach, konnte aber die Geburt des Apoll nicht verhindern. Dieser zog nun nicht nur aus, um die Mutter zu rächen, sondern auch – hier verschränkt sich dann die mythische Motivationslage –, um gemäß seinem

6 Vergl. Emblemata [Anm. 1], 1743.

7 Auf einer anderen Ebene kommentiert und exkulpiert das Emblem hierin dann das ba-rocke Strategem der Überführung von Krieg in Kunst, das gleichwohl über eine be-merkenswerte emblematische Repräsentanz verfügt, vergl. hierzu ausführlich Nicola Kaminski: Ex bello ars oder Ursprung der »Deutschen Poeterey«, Heidelberg 2004, 95-112.

8 Vergl. Hyginus: Fabulae 140.

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I. Die vertauschte Saite. Mantik und Dichtung6

am ersten Lebenstag gefassten Vorsatz ein Orakel zu finden, in welchem er den Willen des Zeus verkünden konnte.9 Es kommt, wie es kommen muss: Apoll trifft bei Delphi auf Python, tötet ihn, übernimmt die Orakelstätte (man nennt ihn dann ›Apollon Pythios‹) und erfüllt damit jene dritte Selbst-zuschreibung, die ihn neben seinen bereits vorhandenen Eigenschaften als Bogenschütze und Sänger auch zum mántis, zum Seher werden lässt.

Wenn nun unser Emblem, das doch eigentlich von den beiden anderen At-tributionen Apolls handelt (den Dreifuß des Orakels sehen wir eben nicht), nun ausgerechnet diese Begebenheit aufruft, um die getauschte Saite zu kennzeichnen, so vollzieht es damit die Verschränkung von Bogen und Lyra im Zeichen der Wahrsagung. Der Raum, in dem das todbringende, maßre-gelnde und ordnende Prinzip des Schützen sich mit dem Wesen der Dich-tung verbinden kann, ist das Orakel, und jener Unterton, der sich bisweilen kaum vernehmbar in das poetische Sprechen mischt, um dieses urplötzlich in ein Strafgericht zu verwandeln und denjenigen, den es angeht, zu sondern und zu zeichnen wie der Pfeil des Pandaros den Menelaos10 – dieser Ton ge-hört dem Seher.

Genau genommen wird hier also etwas offengelegt, nämlich die unter-gründige Beziehung, die zwischen der Dichtung und dem Orakel besteht. Covarrubias ist da hinter ein Geheimnis gekommen: Die ars poetica ist wohl gar keine so harmlose Einrichtung, wie man gemeinhin glauben möchte. Für viele – zumindest für diejenigen, denen in der frühen Neuzeit Diszi-plinen etwas bedeuten – mag die Poesie nur eine Dienstmagd der Vernunft abgeben; eine Hilfsarbeiterin, der es, solange es der wissenschaftlichen Be-weisführung dient, ausnahmsweise vergönnt ist, über Dinge zu reden, die es eigentlich gar nicht gibt. Tatsächlich haben wir es bei der Dichtung aber keineswegs mit einer fernen und tendenziell geisteskranken Verwandten der Philosophie zu tun, sondern, wie es Covarrubias dämmert, auch mit der Alleinerbin einer jüngst verblichenen Disziplin aus dem Reich der ›unzu-verlässigen Künste‹ (artes incertae): mit der ars mantica, der Wahrsagekunst. Das Schicksal und das Selbstverständnis der neuzeitlichen Literatur – dies soll unsere Ausgangsthese sein – hängt in ganz entscheidendem Maße vom Umgang mit diesem Erbe ab. Sie mag es als ein Privileg empfinden und mit vollen Händen ausgeben, wie es in der modernen Lyrik geschieht; sie kann in ihm aber auch eine Erblast, womöglich eine Erbkrankheit erkennen (wo-mit etwa die charakteristische Disposition realistischen Erzählens benannt wäre). Bleiben wir in der Bildlichkeit, die uns Covarrubias zur Verfügung stellt, dann könnte man vielleicht konstatieren, dass das Verhältnis von Man-tik und Dichtung mitunter gerade dadurch charakterisiert werden kann, dass

9 Vergl. Macrobius: Saturnalia I, 17; Ovid: Metamorphosen I, 545.

10 Auch dieser Schuss ist natürlich Apoll gewidmet, und die Bogensehne, der dieser Pfeil entflieht, ist dementsprechend auch eine ›klingende‹ – neurç dè még’ Íaxen. (Homer: Ilias IV, v. 125.)

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Sophokles oder Die Dramaturgie des Orakels 7

die Wahrsagung, die manteía, im Klang der Lyra nicht einfach verschwindet, sondern diesen vielmehr durchwirkt, dass sie im Saitengang Apolls fortan im-mer mitschwingt und oft zwar kaum zu vernehmen ist, doch in bestimmten Momenten wiederum umso deutlicher hervortritt und die Gewalt der Zu-kunftsrede exekutiert.

Eine Vielzahl an anderen Metaphern ließe (und wird) sich für dieses ei-gentümliche Verhältnis gewiss noch finden, doch sei’s drum. Fürs Erste ist allein bedeutsam, dass das Orakel der neuzeitlichen Dichtung niemals etwas Äußerliches bleibt, ein Motiv vielleicht oder eine Pose. Eine Geschichte des literarischen Orakels hat es nicht mit Oberflächenbeziehungen zu tun, auch nicht mit einer Vernetzung zweier äquivalenter Diskursfelder. Tatsächlich verhandelt sie einen Jahrhunderte andauernden inneren Konflikt. Einen blu-tigen Konflikt.

*

Nun ist – während wir schon mit Übereifer dabei waren, das Verhältnis von mantischer und poetischer Rede in Metaphern zu gießen – die eigentliche Frage, wie denn das Orakel überhaupt spricht, noch vollkommen ungeklärt geblieben. Wir erinnern uns: Die Mantik hatte erst Zutritt zum Reich der Dichtung erhalten, insofern sie Blut geworden war und an der Bogensaite klebte, mithin etwas Endgültiges, Todbringendes mit sich führte, das unse-rem Verständnis des Poetischen wesensfremd zu sein schien und von dem wir vorschnell angenommen hatten, dass es sich dabei um die Zukunft handle.

Um in Erfahrung zu bringen, was es mit dieser besonderen Qualität der Orakelrede auf sich hat, muss man sich an jenen Ort begeben, an dem die po-etische Macht Delphis einigermaßen ungeschützt ans Licht kommt. Theben ist dieser Ort und ein König von Theben der Leidtragende. An Oidipus lässt sich wie an keiner zweiten Figur ablesen, bis zu welchem Grad die Weissa-gung ihre Kundschaft aufzehrt. Apolls Botschaften verfolgen ihn schon vom Tag seiner Geburt an. Sie zerstören sein Königtum, und selbst seinen toten Körper umgibt noch der Spruch vom delphischen Altar, er sei »einbringend Segen denen, die sich gastlich mir / erweisen, denen Fluch, die mich hinweg gejagt.«11 Die Dramaturgie, die Sophokles am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. diesem Schicksal gestiftet hat, wird folgerichtig dominiert vom Widerspiel der – bekanntlich bisweilen weit zurückreichenden – Enthüllungen des Ora-kels, seinen Überbringern und Kommentatoren sowie eben denjenigen, die von den Enthüllungen direkt betroffen sind und sich zu ihnen in irgendeiner Weise verhalten. (Das schließt neben Oidipus und seiner Familie auch immer

11 Sophokles: Oidipus auf Kolonos, 91ff.: »™ntaûqa kámyein tòn talaítwron bíon, / kérdh mèn oœkësanta toîß dedegménoiß, / Áthn dè toîß pémyasin, o… m’ ˜pëlasan«. (Übersetzung und Zitation nach Sophokles: Tragödien und Fragmente, gr.-dt., hg. und übers. von Wilhelm Willige, überarb. von Karl Bayer, Düsseldorf5 2007.)

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den Staat Theben als Ganzes ein, um dessen Heil willen das Orakel im Stück überhaupt erst wieder aufgesucht wird.) Diese Handlungskonstellation ist deswegen so bedeutsam, weil in ihr erstmals auf die Bedingungen reflektiert werden kann, unter denen es der Mantik möglich ist, Dichtung mitzugestal-ten und zu steuern. Natürlich sind auch die homerischen Epen von Weissa-gungen durchzogen12, und selbst Aischylos lässt bereits in den Persern den toten Dareios beschwören, der den Ausgang der Schlacht von Plataiai bereits kennt.13 Nirgends aber erhält die Wahrsagung eine strukturelle Verankerung, die jener der Oidipus-Dramen auch nur annähernd gleichkäme – denn dort besitzt sie eben nicht nur eine Funktion im Fortgang der Tragödie, sondern vielmehr ist die Tragödie der Schauplatz einer ständigen Auseinanderset-zung um den Anspruch des Orakels auf das antike Drama.

So ist zunächst zu beachten, dass in jenem Moment, in dem König Oidipus anhebt, die Weissagung zwar bereits im Raum steht, aber sich immer noch in einem prekären Status befindet. Soeben wird Delphi zum dritten Mal be-müht. Die Pest wütet in Theben. Oidipus hat Kreon, seinen Schwager und Onkel, nach Delphi gesandt, und der kommt nun zurück mit Apolls Wei-sung, »des Landes Schandfleck, der von dieser Erde sich / nährt, zu vertrei-ben, nicht zu hegen ungesühnt« (v. 97f.14). Erst wenn der Mörder des Laïos gefunden und bestraft ist, kommt die Seuche zum Erliegen. Aus der Perspek-tive des informierten Zuschauers ist zu diesem Zeitpunkt die Tragödie be-kanntlich schon geschrieben, denn Oidipus wird am Ende herausfinden, dass er selbst der Mörder und der Gemahl seiner eigenen Mutter ist, sich blenden, ins Exil gehen. Mit anderen Worten: Aus der Sicht des Publikums hat das Orakel sowieso immer bereits recht, es spricht die Wahrheit und schreibt die Dramen, die dann in den kommenden vier Akten nur noch zu Ende ge-spielt werden müssen. Übersehen wird dabei, dass die Botschaft des Kreon in einer Welt ankommt, der die Wahrheitspflicht der Seher keineswegs ein unzweifelhaftes Faktum ist. Genau genommen lebt Theben bereits ganz gut mit zwei Orakelsprüchen, die es zum Zeitpunkt der Pest für nachweislich falsch, besser: für bloße Dichtung halten muss. Dem Laïos wurde einst geweis-sagt, »ihm sei das Los verhängt, zu sterben durch den Sohn« (v. 713), Oidipus wiederum erhielt die Auskunft, »der Mutter müsst’ ich mich vermischen, ein Geschlecht / zutage bringen, schrecklich für der Menschen Blick; / des Va-

12 Zur Mantik bei Homer mit Blick auf die Seherfiguren Kalchas, Helenos, Polydamas, Halitherses und Theoclymenos vergl. Kai Trampedach: Disputed Authority: The Seer in Homeric Epos, in: Practitioners of the Divine. Greek Priests and Religious Officials from Homer to Heliodorus, hg. von Beate Dignas und Kai Trampedach, Cambridge (Mass.) 2008, 207-230; aber auch bereits Hildebrand Stockinger: Die Vorzeichen im homerischen Epos. Ihre Typik und ihre Bedeutung, St. Ottilien 1959.

13 Aischylos: Perser, vv. 681-842.

14 Sophokles: König Oidipus, zitiert nach: ders., Tragödien und Fragmente [Anm. 11], fortan Zitation im Fließtext unter Angabe der Verszahl in Klammern.

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ters Mörder würd’ ich sein, der mich gepflanzt« (vv. 791ff.). Dass die Prophe-zeiungen sich wie zwei Seiten derselben Medaille zueinander verhalten, wird Oidipus erst noch herausfinden müssen. Vorerst jedenfalls handelt es sich um zwei Erzählungen, die in den Augen des Königs und seiner Gattin nicht Wirklichkeit geworden, also Fiktion geblieben sind. Das hat Folgen. Nicht, dass man an Apoll selbst zweifelt, der verborgene Wahrheiten »selber leicht enthüllt« (v. 725). Kein Vertrauen hat man allerdings in das Medium, durch das der Gott kommuniziert, in die Priester des Apoll. Fraglich ist, ob diese wirklich nichts anderes tun, als die ›Zwecke‹ ihres Gottes wiederzugeben. Es sind ja eben doch nur Menschen, ›Sterbliches‹, das keinesfalls an Königen »die Kunst des Sehertums üben kann« (v. 709) und im schlimmsten Fall ganz eige-ne Absichten verfolgt. Nicht nur Iokaste vermutet, dass der Spruch, welchen Laïos einst empfing, »nicht / von Phoibos selber, doch von seinen Dienern wohl« ausgegangen war (vv. 711ff.). Auch Teiresias, von Oidipus zur Weissa-gung (und damit zur Enthüllung des wahren Schuldigen) gezwungen, steht im Verdacht, ein Handlanger des Kreon zu sein, der Oidipus stürzen und sich selbst auf dem Thron sehen wolle (vv. 398ff.).

Man bestellt und hört das Orakel also; ihm bedingungslos zu glauben, seiner Lektüre der göttlichen Schrift Vertrauen zu schenken, ist allerdings dann doch etwas anderes. Manchmal trifft man die Wahrheit vielleicht doch leichter »mit dem Verstand, von Vögeln nicht belehrt« (v. 398), zumindest aber ist die eindeutige Überlegenheit der delphischen Weisheit, ihre Macht über das, was ist und was nicht ist, höchst fragwürdig geworden. Aischylos ist diese Skepsis noch fremd gewesen; Sophokles erbaut auf ihr hingegen sein ganzes dramatisches Konzept. Nur, weil man das Sehertum eben auch für eine Kunst der Dichtung (nämlich für eine Produktion von ›Sinn machen-den‹ Fiktionen) halten kann, muss der anschließende Sturz aus einer ganz auf Fiktionen beruhenden Welt in die Wirklichkeit der Orakelrede umso tie-fer ausfallen. Von der anderen Seite her formuliert: Solange die mantische Rede als ein Absolutum verstanden wird, dem die Menschen einfach Folge leisten, besitzt sie überhaupt keine poetische Kraft. Erst in jenem Moment, in dem die potentielle Unzuverlässigkeit resp. die kreative Eigenmächtigkeit des göttlichen Mediums ein Thema wird, entsteht eine Grauzone, in der sich Weissagung und Dichtung überlappen resp. sich die Seher unter die Dichter mischen können – und umgekehrt. Das Orakel erscheint hierdurch zunächst als ein Interpretationsangebot unter vielen, als einer von mehreren Texten, die Anspruch darauf erheben, eine noch nicht sichtbare Wirklichkeit adäquat wiederzugeben.

Die ödipale Tragödie kann sich letztendlich nur innerhalb dieser Grauzo-ne ereignen. Die pythische Erzählung vom Vatermord wird nur deswegen Realität, weil man sie am Anfang für eine Geschichte hält, die sich ereignen könnte, aber eben nicht zwingend muss. Es mag sein, dass das Orakel dem Haus Theben dieses Drama geschrieben hat, das heißt aber eben noch lange

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nicht, dass das Haus Theben es auch aufführen wird. Sowohl Laïos wie auch Oidipus wähnen sich als freie, eigenständige Autoren des eigenen Schick-sals und merken nicht, dass sie gerade im Beharren auf ihrer Unabhängigkeit nichts anderes tun, als die von Apoll vorgesehene Dramaturgie auszuschrei-ben. Dass der Spruch der Seher keineswegs konkurrenzfähig ist, dass man an ihm eben nicht einfach ›vorbeierzählen‹ kann, sondern dass alles Erzählen, genauer: dass jede Wirklichkeit, die man zum Schutz vor der Weissagung errichtet, tatsächlich im Dienst der Weissagung steht – diese Erfahrung pro-duziert den Schock, den Oidipus erfährt.

Sich als sein eigener Herr zu wähnen und in Wahrheit doch Sklave der Seher zu sein, sein Leben selbst zu schreiben und dabei eigentlich nur auszu-formulieren, was man in Delphi längst dekretiert hat. Immer wieder erzeugt die Rede des Orakels eine gespaltene Existenz. Bei Licht besehen erweist sich die sophokleische Tragödie deshalb als eine Tragödie der mantischen Media-lität. Der Irrtum, die hamartía der Könige von Theben liegt dabei keineswegs in einer Fehllektüre der Sehersprüche, sondern vielmehr in der Hybris, diese Sprüche bereits für einen abgeschlossenen und somit gefahrlos zu interpre-tierenden Text zu halten. Das Herrscherhaus besitzt einen bemerkenswert geringen Einblick in die Produktionsverfahren der Wahrsagemaschinerie, von der es sich abhängig macht. Strikt trennt es die Kündung Apolls von ihren Vermittlern ab, als ob es sich bei den Sehern einfach nur um Herme-neutiker handeln würde, die einen göttlichen Sermon nach Belieben deuten und manipulieren könnten. In diesem Sinne gelten Iokastes Zweifel eben keineswegs allein der Inte grität des delphischen Personals. Letztlich zielen sie auf das Orakel als Wirkungsgeschehen, auf die futurische Gewalt der mantischen Rede.

Wer nämlich – wie die ödipale Entourage – noch daran glaubt, dass er es beim Orakel mit einem Kommunikationsapparat zu tun hätte, der sich analytisch in Sender, Boten und Adressaten zergliedern ließe, der übersieht die Eigengesetzlichkeit der Manteia, oder besser gesagt: er will sie überse-hen. Die Weissagung ist schon immer Konsumption gewesen. Sie wird nicht empfangen und entziffert, sondern sie verschlingt am Ende alle, die mit ihr zu tun haben. Wer Apoll zu nahe kommt, den trifft sein Pfeil. Er wird mit einem Text überschrieben, der ihn aus der Gegenwart heraushebt und un-empfänglich macht für den profanen Umgang mit Zeichen. Die mantische Rede vollzieht sich an ihren Boten und Adressaten im gleichen Grade, sie wirkt durch diese hindurch und verleibt sie sich ein. Die Realisation der Tatsache, dass im Angesicht des Orakels die Hierarchien verschwinden, es weder Vermittler noch Empfänger, sondern allein Gezeichnete gibt – das ist die eigentliche anagnórisis von Theben. Als der Kronzeuge dieser Wahrheit fungiert Teiresias. Er, der unentwegt in der mantischen Wirklichkeit lebt, weiß um ihre verheerende Kraft. ›Schrecklich ist es dort zu wissen, wo es

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dem Wissenden nicht frommen kann‹15, denn dieses Wissen lässt sich nicht distanzieren, nicht verhandeln und nicht verwalten. Das Rätsel der ›Hün-din‹ – wie Oidipus die delphische Sängerin tituliert – löst nicht der Verstand des Königs, sondern es löst sich allein durch den König selbst, der am Ende mit der gleichen Blindheit geschlagen sein wird, die er Teiresias eben noch vorgehalten hat. Gelernt haben wird er dann, dass das Orakel kein ›erlösend Wort‹ kennt, dass es in dem Maße, in dem es das Kommende Sprache werden lässt, denjenigen, der seine Rede hört oder liest, in den Text hineinzieht, amalgamiert und für die Lockungen der Gegenwart unempfänglich werden lässt. Vielleicht genügt diese Beobachtung bereits, um eine erste These zu formulieren:

Die Rede des Orakels ist eine poetische Rede, deren Poetizität auf die Welt der Rezeption übergreift.

Das Orakel dichtet demnach nicht nur, sondern es steuert, kontrolliert und selektiert die prosaische Wirklichkeit des Menschen aus einer poetischen Prozessualität heraus.

*

Es sieht nun ganz danach aus, als ob wir bereits einen Kategorienfehler begangen haben. Sehr sicher waren wir uns, dass das Sujet der Mantik das ›Kommende‹ sei, das, was ›noch nicht im Sein ist‹, die Zukunft also. Ist Man-tik aber wirklich immer ›Voraussage‹? Man wird dem einiges entgegenhalten können. Im konkreten Fall etwa den Umstand, dass Sophokles’ Stück von der ›goldnen Pytho‹ nicht nur ›Neues‹, sondern auch ›von früherer Zeit her Verpflichtendes‹ erwartet (v. 155f.), dass also offensichtlich nicht die Zeit-lichkeit, sondern die rationale Unzugänglichkeit das zentrale Kriterium der Mantik ist. Dem sind zwei Argumente entgegenzuhalten. Zum einen, dass die ›Verpflichtungen der Vergangenheit‹ ja nichts anderes als eine vergange-ne Zukunftsrede bezeichnen, wie auch das Wissen um Oidipus’ Schuld im Grunde nichts anderes darstellt als eben das Wissen um die Identität zweier Voraussagen. Zum anderen aber etwas Grundsätzliches und schwerer Wie-gendes: dass nämlich selbst dort, wo die Mantik Dinge zur Sprache bringt, die in der Vorzeit liegen, sie sich dennoch stets auf ein zukünftiges Ereignis bezieht, nämlich auf das rationale Erkennen der verschütteten Wahrheit, durch welches sie erst ihre Legitimität erhalten wird. Mantik bezeichnet immer ein ›Noch nicht‹-Wissen.

Dessen ungeachtet trifft die Identifizierung von mantischem Wissen und Zukunftswissen allerdings auf einen weiteren massiven, nicht ohne weiteres auszuräumenden Einwand von Seiten der Erkenntnistheorie. Im Verständnis der zeitgenössischen Philosophie bezeichnet der Begriff ›Mantik‹ immerhin

15 »feû feû, froneîn ªß deinòn Énqa mç télh / lúei fronoûnti« (ebd., vv. 316f.).

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ein »Fernwissen«, eine epistemische Praxis, welche der Gewissheit seman-tisch reflektierenden Erkennens voraus liegt und dementsprechend auch im Stande ist, diese zu unterlaufen. ›Mantik‹ wäre demnach gerade eben das unzweckmäßige, unwillkürliche, unmittelbare und vor allem unsprachli-che Erzeugen von Bedeutungen, ein Ahnen, auf dem sich im Zweifelsfall ein Wissen und seine Semantik gründen kann, welches allerdings dann selbst wiederum nicht mehr in den Bereich der Mantikforschung fallen würde.

Eine solche Reduktion mag im Rahmen erkenntnistheoretischer Über-legungen zulässig, verständlich und auch angebracht sein. Zur Folge hat sie jedoch die konsequente Ausblendung des technisch-medialen Aspekts mantischer Verfahren, als deren Konsequenz wiederum sich die Negation der kulturgeschichtlichen Evolution des Orakels und in letzter Instanz da-mit auch die Abtrennung der Weissagung von ihrer jeweiligen historischen Funktionalität ergibt. Aus der Sicht der Philosophie handelt es sich hierbei um »okkulte Folklore«16, durch die der Blick auf die eigentliche abendländi-sche Konfrontation – die Auflösung der Mantik in der Hermeneutik und die Rückgewinnung der Mantik aus der Hermeneutik – versperrt wird.

Nun ist besagte Episode, also die mantisch-hermeneutische Verflechtung und Entflechtung, durchaus aufschlussreich und ihre ausführliche Durch-leuchtung zweifelsohne legitim. Sie spielt auch eine gewisse, historisch ein-grenzbare Rolle in den nachfolgenden Betrachtungen. Als Fundament einer Geschichtsschreibung, der es um die Interferenzen von Mantik und Poetik geht, scheint sie mir jedoch gerade nicht zu taugen, denn allein die bereits ge-wonnene Einsicht in die mantische Rede als einer konsumptiven, die Gren-zen von Botschaft, Medium und Adressat auflösenden Praxis der Dichtung erzwingt einen weiter ausgreifenden Mantikbegriff. Dieser muss sich zum einen am klassischen Verständnis der mantischen Künste orientieren (das sich mit Blick auf die innere Organisation der Wahrsagung tatsächlich viel dif-ferenzierter ausnimmt, als man zu vermuten geneigt ist), zum anderen aber dem Orakelwesen auch zugestehen, sich im Laufe der technischen Entwick-lung transformiert und neue Formen angenommen zu haben. Zu letzteren zählen dann auch die historischen Ausfaltungen der astrologischen Prognos-tik oder der Futurologie, die ein rein erkenntnistheoretisch fundiertes Man-tikverständnis nicht zu integrieren vermag.

Am Ende kann nur ein Kriterium entscheidend für den Einbezug eines Phänomens in unser Untersuchungsfeld sein: die Teilhabe an einem poetischen Entwurf, der darauf ausgerichtet ist, der Zukunft die Zeichen zu stiften. Das kann freilich noch nicht alles sein, denn in diesen Definitionsbereich fielen etwa auch die Utopie oder die Anagogie, die mit dem Akt der Manteia nur wenig zu schaffen haben. Was noch aussteht, um einen definitorisch vollständigen

16 Wolfram Hogrebe: Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen (Système or-phique de Iéna), Frankfurt a.M. 1992, 16.

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Mantikbegriff zu eta blieren, ist die präzise Bestimmung des konkreten Ver-hältnisses, in welchem die Zukunft hier zur Sprache steht.

Wer in Erfahrung bringen will, warum die Verzahnung von Mantik und Poesie für das Verständnis der Neuzeit eine solch essentielle Bedeutung be-sitzt, der muss zunächst begreifen, dass die ›Voraus-Sage‹, also die Vorstellung der prónoia als eines sprachlichen Geschehens, eine in sich problematische Konstruktion ist. Das Problembewusstsein verbindet sich dabei ganz mit der Frage, auf welche Weise die Zukunft zu Wort kommen soll. Die Zukunft des Mantikers ist nämlich keine geschlossene zweckrationale Formation. Sie ist auch nicht einfach nur das Signifikat einer zeichenhaften Welt. Tatsächlich steht die mantische Zukunft in einem prälogischen Verhältnis zur Gegenwart. Sie lebt und verändert sich, sie bewegt sich mit uns und ab und an bekom-men wir sie auch kurz zu Gesicht. Sie lässt sich aber eben nicht umstands-los begrifflich repräsentieren. Der Irrglaube, dass man das könnte, verdankt sich der Denktradition der metaphysischen Ontologie, in deren Vorstellung die Zukunft immer nur als ein futurum perfectum erscheint, also eine Struk-tur, die – in ideeller Form – schon abgeschlossen vorliegt, obwohl sie eben noch nicht im Sein ist. Eine solche Struktur lässt sich natürlich ohne weiteres aufdecken, ausbuchstabieren und systematisch auf die Gegenwart beziehen, indem man etwa die Welt der Erscheinungen mit Kausalketten oder Schick-salsteleologien überzieht. Aber das ist Hybris. Nichts gegen das futurum per-fectum, das ein tatsächlich zweckdienlicher Gedanke ist, aber dieser Gedanke gehört uns nicht. Im besten Fall verhält es sich anders herum: Wir gehören ihm. Wenn die Zukunft das Ende eines großen Planes ist, dann gehört zu diesem Plan zwangsläufig auch unser eigenes Nachdenken über Zukunft und unser klägliches Bemühen, sie in den Begriff zu bekommen. Die Zukunft als fixum übersteigt unser Bewusstsein. Der Mantiker, ja, sogar ein vernünftiger Futurologe weiß so etwas, und weil er das weiß, konzentriert er sich auf die wesentliche Aufgabe, die nicht darin besteht, die Zukunft zu vermessen, sondern darin, sie zum Sprechen zu bringen, sie in ein Geschöpf zu verwandeln, das, wie Nietzsche – sicherlich ein besonderer Fall von Zukunftsobsession – später formulieren wird, »schon in hundert Zeichen« redet.17

Diese Rede, die mantische Rede, lässt sich somit als die Semantisierung einer vorsemantischen Beziehung fassen, oder, um es schärfer zu formulie-ren, als Richtspruch in einer ungerichteten Welt, als discrimen im Reich des Indiskreten. Ermöglicht wird dieser Richtspruch durch eine Reduktion, und dies ist unsere zweite These:

Erst im Verzicht auf den großen Zusammenhang gibt sich die Zukunft zu erkennen.

17 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1887-1889, in: ders., Sämtliche Werke. Kriti-sche Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, XIII, 189 (= 11 [411]).

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Auch dort, wo der Mantiker selbst die Rahmenbedingungen bestimmt, nach denen die Zukunft bemessen wird – nämlich im programmatischen Denken – bleibt sein Selbstverständnis immer ein reduktionistisches. Das Kommen-de zeigt sich ihm nur unter der Bedingung, dass die Parameter, mit deren Hilfe er das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft beurteilt, nicht vollstän-dig sind: dass sie ihm eben nicht alles zeigen, sondern bestenfalls bestimmte Aspekte, deren konkrete Einordnung in einen Kausalzusammenhang nicht ohne weiteres möglich wäre.

Hieraus resultiert eine weitere Abgrenzung. Der Mantiker ist kein Pro-phet. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass beide Begriffe insbeson-dere in Zusammenhang mit dem Sprachgestus und der Selbstinzenierung der Avantgarden bisweilen für Synonyme gehalten und als solche gebraucht werden. Die Prophetie hat das Ganze gesehen, sie spricht von einem Ort aus, an dem keine Zweifel mehr bestehen, nämlich vom éschaton, dem äußersten Punkt unserer Zeitlichkeit.18 Die Perspektive und Geltungsdauer ihrer Aus-sagen sind daher nicht nur großflächiger und unpersönlicher. Im Gegensatz zur Manteia besitzt für die Prophezeiung auch das Moment der ›Deutung‹ keine wirkliche Relevanz; es geht ihr um die ›Erfüllung der Zeit‹, also den kaíros, von dem her die Vergangenheit sich in verwandelter Gestalt zeigt, der aber selbst nicht aus den Zeichen der Wirklichkeit konstruiert werden kann.19 Die Prophezeiung kann somit völlig losgelöst von der Gegenwart existieren, und es gibt durchaus ernstzunehmende Hinweise, dass es eben diese anhalts-lose Gewissheit ist, welche die poetische Zukunft des Mittelalters von jener der Neuzeit trennt.20 Während die Prophetie durch den irdischen Schleier

18 Blanchot ist in diesem Punkt sehr präzise, ihm zufolge »kündigt die prophetische Rede eine unmögliche Zukunft an, oder sie macht aus der Zukunft, die sie ankündigt und weil sie sie ankündigt, etwas Unmögliches, das nicht in unser Erleben eingeht und das alle verläßlichen Daseinsvoraussetzungen umstürzt.« (Maurice Blanchot: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, aus dem Französischen von Karl August Horst, Frankfurt a.M. 1988, 111; im Original: »Mais la parole prophétique annonce un impos-sible avenir, ou fait de l’avenir qu’elle annonce et parce qu’elle l’annonce quelque chose d’impossible, qu’on ne saurait vivre et qui doit bouleverser toutes les données sûres de l’existence«. Maurice Blanchot: Le livre à venir, Paris 1959, 117f.)

19 Schon Frank Kermode (The Sense of an Ending. Studies in the Theory of Fiction, London / Oxford / New York 1967) hat gezeigt, dass das prophetische Erzählen aus genau diesem Grund für die literaturtheoretische Aufarbeitung des ›Endes‹ eine Schlüsselfunktion einnimmt. (Zur Bedeutung des kaíros als Konterpart des chrónos für die zeitliche Organi-sation fiktionaler Texte vergl. ebd., 47f.) Die poetologische Traditionslinie des prophe-tischen Erzählens konkurriert mit der Mantopoetik durchaus, sie konfligiert aber nicht mit ihr, was sich wunderbar anhand der Dichtertypologien zeigen lässt, die im frühen 20. Jahrhundert entstehen. (Es lässt sich nicht nur zeigen, sondern wird auch gezeigt werden, nämlich von Gabriela Wacker: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstver-ständnis in der Klassischen Moderne, Berlin et al. 2013.)

20 Am Beispiel Dantes hat dieses trennende Moment glänzend herausgearbeitet Piero Boi-tani: »Those who will call this time ancient«: The Futures of Prophecy and Poetry, in: Medieval

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klar auf die Vorsehung blickt, hat es die Mantik mit einer fragmentierten Zukunftsrede zu tun, die sie aus dem Strom einer verdunkelten Gegenwart zu bergen versucht: aus der Entrückung der Pythia, den Eingeweiden eines Opfertiers, der Konstellation der Gestirne, einem Kartenspiel oder auch ei-nem bloßen Gefühl.

Das Bewusstsein, welches diese Festlegungen vornimmt, weiß, dass es sich hierbei immer nur um Einschnitte innerhalb einer grundsätzlich indiskreten Sphäre handelt, dass das mantische Sprechen letztendlich auf unsprachlichen Verhältnissen aufruht. In einer Welt, in welcher der Logos keine Ordnungs-gewalt besitzt, durchbricht die Weissagung das undurchdringliche Geflecht aus Gegenwart und Zukunft in einem Akt der Sprachgebung. Das ist – wie uns die thebanische Tragödie gelehrt hat – durchaus ein prekärer Vorgang. In jenem Moment, in dem aus dem Gesang der Pythia eine Botschaft und aus den Weissagern Botschafter werden, wird das Orakel verdächtig. Die Spra-che als jene Instanz, von der sich die Mantik keinerlei Klarheit versprechen kann, da sie der Evidenz ›unmittelbarer‹ Erfahrung gerade entgegensteht, wird auf einmal zum Sinnträger des weissagenden Bewusstseins. Aus Mantik wird Semantik. Man muss sich diese Verwandlung nicht als einen endgül-tigen und universalen Einbruch vorstellen; es kann sich dabei auch nur um einen kurzen Moment handeln, eine spontane und einmalige Etablierung von Bedeutung. Die Semantisierung der Mantik ist indessen ausbaufähig und kann sich sogar zu funktionsfähigen komplexen Deutungssystemen aus-wachsen. In jedem Fall, gleich ob in der Artikulation einer bloßen Ahnung oder im Output einer ›Zukunftsmaschine‹, bleibt der Standort des Orakels jedoch stets die obskure Welt, in der immer mehr verborgen bleibt als die Zeichen zu erkennen geben.

Wenn dem aber so ist, dann hat unser erneutes Vordringen zu den Orakeln auch Folgen für unsere Vorstellung von der Versprachlichung des Kommen-den. Während die herkömmliche Semantik nämlich als Projekt einer »Klärung von Verwendungsregeln und Wahrheitsbedingungen« verstanden wird, wird es einer ›Semantik der Zukunft‹ niemals gelingen, dem Dunkel ihrer manti-schen Herkunft ganz zu entkommen. Immer wieder muss sie zurück in den Raum der vorrationalen Erfahrung, für deren Übersetzbarkeit in eine Spra-che der Wahrheit es weder Gewähr noch Bestätigung gibt.21 So kann letztlich

Futures. Attitudes to the Future in the Middle Ages, ed. by John A. Burrow and Ian P. Wei, Woodbridge 2000, 51-65.

21 Hogrebe: Metaphysik und Mantik [Anm. 16], 126. Im weiteren Rahmen öffnet sich die Konfrontation von ›Vorwissen‹ und Sprachlichkeit dabei hin zu einer Debatte um semi-otische Transzendenz, um eine letztgültige Bestimmung von Zeichen, eben: um die Fra-ge, ob eine definitive Bedeutung im Schatten der Sprache überhaupt einzulösen sei. Die Philosophie hat diese Frage letzthin zum Scheidepunkt von legitimer und illegitimer Metaphysik erklärt und unterdessen die Mantik als metaphysische Alternativdisziplin entdeckt, mit deren Hilfe sich diese Entscheidung umgehen lässt. Während es nämlich

Mantik und Semantik

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I. Die vertauschte Saite. Mantik und Dichtung16

selbst das Eintreffen einer Weissagung diese nicht ›bewahrheiten‹, denn das würde voraussetzen, dass sich ihr Urteil rational rekonstruieren ließe.

Die Unmöglichkeit solch einer Rekonstruktion spricht aber keinesfalls gegen die Mantik, sondern eher gegen das Plateau, von dem aus sie in diesem Zusammenhang perspektiviert wird. Es wäre verfehlt, ihr die Unverlässlich-keit und begriffliche Diffusion der durch sie etablierten zeichenhaften Bezie-hungen von Gegenwart und Zukunft in Rechnung zu stellen. Die Mantik ist nun einmal an einer systematischen, stabilen und ›abbildbaren‹ Wahrheitsbe-ziehung gar nicht interessiert. Diese gehört ganz zu den Aufgabenbereichen der abendländischen Metaphysik, die im Kern darauf abzielt, das Sein jen-seits der Erscheinungen via Semantisierung verfügbar zu machen. Die Welt des Mantikers liegt hingegen inmitten einer semantischen Dämmerung, die im Akt der Diskretion zwar immer wieder durchbrochen, aber eben nie auf-gelöst werden kann – und auch nicht soll. Die Manteia ist nämlich weniger wahrheits- denn handlungsorientiert. Sie zielt nicht auf eine ontologisch ge-sicherte, vom mantischen Subjekt unabhängige Verweisungsstruktur, sondern behält stets im Auge, dass es kein uninteressiertes Fragen nach der Zukunft gibt. Dem Urteil der Voraussage steht man nicht teilnahmslos gegenüber, sondern handelnd. Das Kommende in Erfahrung bringen zu wollen, das ist in erster Linie ein Akt der Selbstsicherung resp. Selbststeuerung. Was zunächst paradox klingen mag, erklärt sich mit Blick auf den besonderen Charakter mantischer Zukunftskonzeption: Die Zukunft ist nicht statisch, sondern dynamisch. Wir sehen einen Ausschnitt zukünftiger Geschehnisse; in welchen Kontext sie gehören, was ihnen vorausgeht und folgt, welche

zu den verbindlichen wie problematischen Prämissen metaphysischen Sprachdenkens gehört, dass »›an die Stelle‹ eines Zeichens letzten Endes etwas anderes als ein Zeichen treten könnte« ( Josef Simon: Philosophie des Zeichens, Berlin / New York 1989, 6), er-möglicht die Mantik hingegen die Etablierung einer »internen Metaphysik, die an jeder endlichen Substanz des Verstehens die Herkunft aus und die Bezüglichkeit auf Unbe-stimmtheit zum Problem macht« (Hogrebe: Mantik und Metaphysik, 55). Der Endgültig-keit des ›letzten Verweises‹ wird somit »eine unendliche Geschichte des Interpretierens«, der Vorstellung einer abgeschlossenen Syntax des Kommenden der »unaufhebbare[n] Index der Unabgeschlossenheit« entgegengesetzt (ebd., 56). Sinnhaft wird eine solche Opposition dann, wenn wir uns der Mantik unter der Vorgabe eines sich in ihr artiku-lierenden Wahrheitsanspruchs nähern, wenn wir sie also auf ihren epistemologischen Gehalt befragen. Unser Blickwinkel ist indessen ein anderer. Er urteilt nicht über die Angemessenheit und Legitimität eschatologischer Sprachkonzepte, sondern erkennt sie als wirksames Prinzip innerhalb des Entwicklungs prozesses mantischer Redeformen an – ungeachtet des Umstandes, dass sich das Verlangen nach einem Ende der ›Deutbarkeit‹ immer wieder in einen Widerspruch zur Zeichenhaftigkeit seines Bestrebens setzt. Für die Philosophie ist dieser Widerspruch nicht haltbar, für den Mantopoetiker hingegen schon. Mehr als das: Es ist vielmehr gerade diese Widersprüchlichkeit, die die manto-poetische Evolution vorantreibt und aus der sich die bewegte Geschichte der Verflech-tungen von Mantik und Dichtung erst erklären lässt, denn es handelt sich nicht zuletzt um eine Aporie, die die Dichtung selbst gesucht hat.