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Manuelle Medizin 2009 · 47:255–260DOI 10.1007/s00337-009-0693-yOnline publiziert: 13. August 2009© Springer Medizin Verlag 2009
S. Klemm Praxis für Osteopathie, Sankt Andreasberg
Okklusionsstörungen und Beweglichkeit der HWS
Originalien
Der Einfluss der Okklusion auf das kraniomandibuläre System (CMS) und die Körperperipherie wird derzeit kontrovers diskutiert. Neurologische sowie funktionelle muskuläre Relationen legen ebenso wie die topographische Nähe zur oberen HWSRegion eine systemische Betrachtungsweise des CMS nahe. So bietet die zervikotrigeminale Konvergenz [17] auf neurologischer Basis ein Erklärungsmodell für wechselseitige Einflüsse der trigeminal versorgten Kopf und der zervikal versorgten Nackenregion. Verschiedene Arbeiten an Tierversuchen konnten belegen, dass sowohl sensible als auch muskuläre Interaktionen dargestellt werden können. Bartsch u. Goadsby [5] weisen z. B. durch künstlich erzeugte Inflammationen im trigeminal versorgten Gebiet eine Sensibilisierung der hochzervikal innervierten Hinterhauptsregion nach, die auch zu einer Zunahme der Druckempfindlichkeit der tiefen paraspinalen Muskulatur führt. Umgekehrt führen künstliche Inflammationen der tiefen Weichteilschichten im Kopfgelenkbereich zu einer Verbreiterung des Rezeptorenfeldes im Hinterhorn bis in die Projektionszone des Gesichtsfeldes [4]. Sensibel und nozizeptiv ist also eine wechselseitige Beeinflussung in beide Richtungen vorhanden. Diese wechselseitige Beeinflussung lässt sich bei der Kau und Nackenmuskulatur nicht darstellen. So konnte durch künstlich erzeugte Inflammationen tiefer Gewebeschichten im Kopfgelenkbereich eine erhöhte EMGAktivität sowohl der lokalen Halswirbelsäulenmuskeln als auch
der kieferführenden Muskeln nachgewiesen werden [15]. Künstliche Inflammationen im Kiefergelenk führen ebenso zu erhöhter EMGAktivität der lokalen Muskulatur [7, 24], nicht aber der zervikalen Muskeln [24]. Zusammengefasst konnte nur durch eine künstliche induzierte Inflammation zervikal eine Spannungszunahme sowohl in der oberen Halsmuskulatur als auch in der kieferführenden Muskulatur belegt werden, umgekehrt gelang dies nicht. Pars pro toto stellt sich aus den Ergebnissen der Tierversuche die Frage, ob am Menschen eine sensible Störung der Okklusion eine muskuläre „response“ zervikal auslösen kann und diese im Rahmen einer Beweglichkeitsänderung an der Halswirbelsäule messbar ist. In dieser Studie wird daher der Einfluss einer kurzfristigen, einseitigen, künstlich induzierten, okklusodentogenen Störung auf die Beweglichkeit der oberen HWS untersucht.
Material und Methode
Stichprobe
Die Studie wurde in der RehbergKlinik, Sankt Andreasberg, an 21 Tanzsportlerinnen mit sehr gutem Koordinationsvermögen für komplexe Bewegungsabläufe durchgeführt. Nicht in die Studie eingeschlossen wurden Probanden mit Tinnitus, Schwindel, Operationen oder Traumata in der HWS und kraniomandibulären Region innerhalb der letzten 4 Wochen. Bewegungseinschränkungen der oberen HWS (gemessen mit
dem 3DMotionAnalyzer CMS 70P, zebris Medical GmbH, Isny) führten ebenso wie das Symptomenbild einer kraniomandibulären Dysfunktion (CMD) zum Ausschluss aus der Studie. Kopp et al. [19] fassen die Kardinalsymptome einer CMD hierfür wie folgt zusammen:FSchmerz bei Bewegung/Belastung
des CMS,FFunktionseinschränkung,
veränderte Mundöffnung,FEmpfindungsstörungen,
Missempfindungen undFGeräusche bei Bewegung
des CMS.
Zur Diagnose einer CMD ist allerdings eine mehrschichtige Diagnostik erforderlich [1]. Für die vorliegende Arbeit wurde die von Ahlers [1] als erste Ebene beschriebene Diagnostik in modifizierter Form verwendet. Diese umfasst neben der Anamnese einen standardisierten Fragebogen zum Ausschluss des Symptomenbildes CMD sowie die klinische Untersuchung der Mundöffnung. Nach Beendigung dieser Untersuchungen standen 20 Probanden für die Studie zur Verfügung. Die Probanden wurden durch den Studienkoordinator per Münzwurf auf zwei Gruppen (A und B, je n=10) verteilt. Durch die Ausschlusskriterien, die enge Alterseinschränkung (14–19 Jahre) sowie die Wahl, nur gleichgeschlechtliche Probanden zu untersuchen, konnte die Streuung bei der HWSBewegungsvermessung auf im Mittel ±7,5° eingegrenzt werden.
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Messung und Testablauf
Als Studiendesign wurde eine doppelblinde, klinische Untersuchung im CrossoverVerfahren gewählt. Die Störung der Okklusion erfolgte durch eine einseitig platzierte, 0,75 mm starke Metallfolie (HelagoZinnfolie, Heinz & Laufer, Bad Godesberg). Die Metallfolie wurde rechts zwischen dem ersten Molar und Prämolar durch den Biss des Probanden fixiert. Die Messung mit der Metalleinlage wird als Treatment (T) bezeichnet, eine Kontrollmessung ohne Metalleinlage als Control (C). Die Messungen T und C wurden an jeder Gruppe dreimal durchgeführt, jeweils unterbrochen durch eine Wash
outPeriode von mindestens vier Stunden zur Vermeidung des Carryover und Periodeneffektes [10].
Baseline-MessungHier wurden die Ausgangsdaten der Messvariablen „rotant“ (Rotation in Anteflexion), „rotali“ (Rotation nach links in Anteflexion) und „rotare“ (Rotation nach rechts in Anteflexion) der Probanden erfasst.
Messung unter UntersuchungsbedingungenFür die Gruppe A erfolgte nachstehender Messablauf:1. Messung unter
Kontrollbedingung,
2. FollowupMessung unter Treatmentbedingung.
Bei der Gruppe B verliefen die Messungen umgekehrt:1. Messung unter Treatmentbedingung,2. FollowupMessung unter Kontroll
bedingung.
Der komplette Verlauf ist .Abb. 1 zu entnehmen. Das Umfeld für die Probanden und die Konditionen für die Messungen wurden an beiden Versuchstagen möglichst vergleichbar gewählt. Dies betraf die Ernährung, ein standardisiertes Aufwärmprogramm vor den Messungen, konstant gehaltene Raumtemperatur (22°) und, soweit möglich, die Tageszeit bei den Messungen.
TestablaufIn einem separaten Raum absolvierten die Probanden unmittelbar vor den Messungen (Baseline, C, T) ein fünfminütiges Aufwärmprogramm. Dies beinhaltete einminütiges Marschieren auf der Stelle sowie zweimalig endgradig wiederholte Bewegungen in Lateralflexion, Rotation und Flexion/Extension der gesamten Wirbelsäule durch den Studienkoordinator. Danach führte der Studienleiter im Messraum die ultraschallgekoppelte Bewegungsvermessung der HWS in fünf Ebenen mit dem Messgerät CMS 70P durch. Der Versuchsaufbau und die Durchführung der Bewegungsvermessung entsprach den Empfehlungen von Hugger et al. [16] sowie Dvir u. Prushansky [12]. Nach Abschluss aller Bewegungsmessungen wurden die Probanden gebeten, ihr subjektives Empfinden anzugeben. Anhand der LikertSkala sollten sie in fünf Items einschätzen, ob sich die Spannung im Kiefer bzw. in der HWS durch die Metalleinlage ändert. Darüber hinaus sollten sie beurteilen, ob sich durch die Metalleinlage die Beweglichkeit der HWS verändert.
Ergebnisse
Vergleichbarkeit der Gruppen
Beim Vergleich der Gruppen (.Tab. 1) war bezogen auf die soziodemographischen Daten kein signifikanter Un
Information zum Studienablauf
Verteilung des Fragebogens A und klinische Untersuchung
WASH-OUT-PERIODE 2. Messungen am ersten Tag (12:30–16:00)
Gruppe A, Messung ohne Treatment
Gruppe A, Follow-up-Messung mit Treatment
Gruppe B, , Follow-up-Messung ohne Treatment
4. Fragebogen B, Tag 2 (11:30–12:00)
Gruppe B, Messung mit Treatment
WASH-OUT-PERIODE 3. Messung am zweiten Tag(8:00–11:30)
1. Messung am ersten Tag (8:00–11:30) Gruppe A; n = 10, Baseline-Messung Gruppe B; n = 10, Baseline-Messung
Abb. 1 9 Zeitlicher Ab-lauf der Untersuchung
96,5
56,948,3
56,748,2
0
20
40
60
80
100
120
A (n=10) B (n=10)Gruppeneinteilung
rotantrotalerotari
Dur
chsc
hnitt
liche
Bew
egun
gs-
ausl
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ng in
Gra
d
113,6
Abb. 2 8 Bewegungsmesswerte (Mittelwerte) der Baseline, aufgeteilt nach Gruppen
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Originalien
terschied festzustellen. Auch zeigten die Gruppen eine gute Vergleichbarkeit zum bundesdeutschen Durchschnitt (Mikrozensus [20]). Der BodyMassIndex lag mit 20,14 leicht unter dem bundesdeutschen Mittel von 21, aber innerhalb der Marge von 17 bis 24.
Mit zweiseitigem tTest wurde die Vergleichbarkeit der HWSBewegungsausmaße (BaselineMessung) in den Gruppen A und B geprüft und ein signifikanter Unterschied in der Halswirbelsäulenbeweglichkeit beider Gruppen gefunden (.Abb. 2). Durch die Verwendung eines CrossoverDesigns, in dem jede Gruppe mit sich selbst verglichen wird, stört diese ungleiche Verteilung jedoch nicht bei der Diskussion der Ergebnisse.
Statistik
Die statistischen Analysen wurden mit Excel und dem Statistikprogramm JMP IN Release 5.1 durchgeführt. Um die Messergebnisse unter Treatment und ControlBedingungen mit denen der BaselineMessung vergleichen zu können, wurden hierfür separat die Parameter „rotant“, „rotali“ und „rotare“ mittels Kovarianzanalyse (ANCOVA) verglichen. Bei keinem Messlauf lag ein Carryover oder Periodeneffekt vor [10].
Studienergebnisse
Die Ergebnisse der ultraschallgekoppelten Bewegungsvermessungen der HWS zeigen, dass eine künstliche, einseitig induzierte, kurzfristige Störung der Okklusion keinen Einfluss auf die Beweglichkeit der oberen Halswirbelsäule hat (.Tab. 2).
Dieses Ergebnis wird durch die subjektiven Aussagen der Probanden unterstrichen. Die Auswertung der mit der LikertSkala quantifizierten Items ergab keine Hinweise für eine wahrnehmbare Spannungszunahme der subokzipitalen Muskulatur oder für eine Veränderung der Beweglichkeit im Bereich der Halswirbelsäule. Allerdings gaben die Probanden an, dass durch die Okklusionsstörung eine lokale Spannungszunahme im Kieferbereich spürbar war (.Abb. 3).
Zusammenfassung · Abstract
Manuelle Medizin 2009 · 47:255–260 DOI 10.1007/s00337-009-0693-y© Springer Medizin Verlag 2009
S. Klemm
Okklusionsstörungen und Beweglichkeit der HWS
ZusammenfassungHintergrund. Aufgrund der Theorie der zervi-kotrigeminalen Konvergenz können Verän-derungen der Okklusion eine Zunahme der Empfindlichkeit sowie eine Spannungszu-nahme in der okzipitalen Region erzeugen.Material/Methode. Die prospektive, rando-misierte, doppelblinde klinische Studie un-tersuchte den Einfluss einer künstlich indu-zierten kurzfristigen Störung der Okklusion auf die Beweglichkeit der oberen Halswirbel-säule. Im Cross-over-Design wurde hierfür an zwanzig 14- bis 19-jährigen gesunden weiblichen Tänzerinnen die Kopfrotation in Anteflexion mittels dreidimensionaler ultra-schallgekoppelter Bewegungsvermessung, mit dem 3D-Motion-Analyzer (CMS 70P) un-tersucht. Die Störung der Okklusion wurde durch eine rechtsseitig zwischen Prämolar und erstem Molar positionierte, 0,75 mm dicke Zinnfolie erreicht.
Ergebnisse. Es bestehen keine signifikanten Änderungen in der Beweglichkeit der oberen Halswirbelsäule in Relation zu einer kurzfris-tig veränderten Okklusion. Die subjektiven Einschätzungen der Probanden zu Span-nungs- oder Beweglichkeitsänderungen der HWS unterstreichen die Ergebnisse.Schlussfolgerung. Kurzfristige Änderungen der Okklusion zeigen bei gesunden weib-lichen 14- bis 19-jährigen Tänzerinnen keine Änderung in der Beweglichkeit der oberen HWS. Funktionelle Untersuchungen, wie der Meerseman-Test, die sich auf dieses Prinzip stützen, sollten kritisch betrachtet werden. Weitere Studien mit breiter gestreuter Stich-probe sind notwendig.
SchlüsselwörterOkklusion · Bewegungsausmaß der Hals-wirbelsäule · TMD · CMD
Occlusion disorders and mobility of the upper cervical spine
AbstractBackground. Based on the theory of con-vergence of cervical and trigeminal nerves, a change of occlusion should increase sensi-tivity and tension in the suboccipital muscles and consequently decrease mobility of the upper spine.Probands and methods. This prospective, randomized, double-blind clinical investiga-tion evaluated the influence of a short-term artificial change of occlusion on the upper cervical spine mobility. A total of 20 healthy female dancers between 14 and 19 years old were investigated in a cross-over design for head movement rotation in anteflexion with a 3-dimensional ultrasonic measuring device, the 3D motion analyzer (CMS 70 P). A change in occlusion was produced by positioning a 0.75 mm thick piece of tinfoil between the right premolar and first molar.
Results. There were no significant differenc-es in measurement of movements of the up-per cervical spine in relation to short-term changes of occlusion. Subjective assessments by the probands to the changes in tension or motion supported these results.Conclusion. Short-term changes of occlu-sion in healthy, female, 14 to 19-year-old dancers produced no change in the range of motion of the upper cervical spine. Func-tional testsbased on his principle, like the Meerseman test, should be used critically. Further studies with an extended number of participants are necessary.
KeywordsOcclusion · Range of motion of the upper cervical spine · TMD · CMD
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Diskussion
Entgegen dem Ergebnis der vorliegenden Arbeit beschreibt Fink et al. [14] bei einer einseitigen Bisserhöhung links von 0,9 mm eine Funktionseinschränkung von C0–3 sowie eine Spannungserhöhung der hochzervikalen Muskulatur. Die von Fink untersuchten Probanden waren im Mittel 23,5 Jahre alt und beiderlei Geschlechts (12 weiblich, 8 männlich). Die Spannungsunterschiede wurden palpatorisch und die Bewegungseinschränkungen der HWS manualmedizinisch beurteilt.
In der vorliegenden Studie wurden die Bewegungsamplituden der oberen HWS hingegen mit einer Bewegungsanalyse erfasst. Die Probanden waren jünger, alle weiblich, sportlich trainiert und an komplexe Bewegungsabläufe gewöhnt. Zusätzlich wurden Funktionsstörungen der Halswirbelsäule bei den Probanden ausgeschlossen. Diese Unterschiede bei der Messmethode und Probandenauswahl erlauben keinen direkten Vergleich der Ergebnisse. Auch wurden in beiden Arbeiten nur kleine Stichproben (n=20) getestet. Insofern sollten die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit mit Vorsicht interpretiert werden. Die Effekte der Behandlung lassen sich zwar als mittel bis groß klassifizieren, durch die Größe der Stich
probe allerdings bei geringer bis mittlerer Power.
Für die Effektstärken der Messvariablen „rotali“, „rotare“ und „rotant“ ergaben sich folgende Werte:F„rotali“: −0,4376,F„rotare“: −0,6989,F„rotant“: −0,7085.
Das Vorzeichen sagt hierbei nichts über die Wirksamkeit aus. Die Effektstärke berechnet sich als Differenz zwischen dem Mittelwert der Treatment und der Kontrollgruppe.
Cohen [24] klassifiziert die Effektstärken folgendermaßen:F„small effect size“: d=0,2,F„medium effect size“: d=0,5,F„large effect size“: d=0,8.
Um eine statistische Signifikanz zu erreichen (bei α=0,05 und β=0,95) müssten allerdings folgende Gruppengrößen vorliegen.F„rotali“: n=115,F„rotare“: n=46,F„rotant“: n=44.
In der vorliegenden Studie beträgt die tatsächliche Power (bei α=0,05) für die einzelnen Messvariablen:F„rotali“: 0,2410,
F„rotare“: 0,4439,F„rotant“: 0,4520.
Somit liegt die Power im kleinen bis mittleren Bereich. Wünschenswert wären infolgedessen Studien mit größeren und eventuell gemischten Stichproben bei ähnlichem Studiendesign.
Entfernt man sich vom osteopathischen Gedankengang einer peripheren Bewegungsveränderung der HWS durch eine kurzfristige Störung der Okklusion und zieht Studien aus anderen medizinischen Bereichen, z. B. der Zahnmedizin, zurate, so wird hier der Einfluss okklusaler Faktoren auf die Ätiopathogenese einer CMD oder temporomandibulären Dysfunktion (TMD) als eher gering gewertet [11].
De Kanter [11] verglich in einem weiteren Schritt die Ergebnisse der Recherche mit der landesweiten Untersuchung an 2718 Probanden in den Niederlanden und kam ebenfalls zu dem Schluss, dass der Einfluss okklusaler Faktoren in der Ätiopathogenese einer TMD als eher gering einzuschätzen ist. Auch Conti et al. [9] folgerten aus einer Querschnittstudie an 310 Studenten, dass die Okklusion selbst keinen Einfluss auf das Vorhandensein oder den Schweregrad einer TMD hat. Ebenso untersuchten Sarita et al. [20] das Vorkommen von Anzeichen und Symptomen einer TMD bei 600 Erwachsenen mit verkürzten Zahnreihen und verglichen sie mit einer Kontrollgruppe (n=125), die vollständige Zahnreihen aufwies. Es gab keinen Hinweis dafür, dass verkürzte Zahnreihen TMDAnzeichen und Symptome provozieren. Eine Übersichtsarbeit zur Thematik TMD und Okklusion, in der Türp u. Schindler [22] zwischen 1979 und 2003 publizierte Studien verglichen, führte zu ähnlichen Ergebnissen. Die Autoren stellten weiterhin fest, dass morphologisch okklusalen Abweichungen nicht die Gewichtung in der Ätiologie einer TMD zukommt, wie in der Vergangenheit angenommen wurde.
Vom zahnmedizinischen Standpunkt aus gesehen, sind die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit also fassbar. Nach Betrachtung dieser Ergebnisse erscheint es fraglich, ob überhaupt kurzfristige künstliche Änderungen der Okklusion an gesunden Probanden Auswirkungen auf die Beweglichkeit in der Peripherie provozieren können.
Tab. 2 Bewegungsauslenkungen der oberen Halswirbelsäule, Gruppenvergleich
Gruppe Durchschnitt Standardabweichung Mittelwert Messbereich
Gruppe A
„Rotant“ 113,6 8,33 115,0 (94,122)
„Rotale“ 56,9 5,38 56,5 (47,67)
„Rotari“ 56,7 4,35 56,5 (47,62)
Gruppe B
„Rotant“ 96,5 14,93 101,5 (69,111)
„Rotale“ 48,3 10,35 51,5 (25,60)
„Rotari“ 48,2 6,03 49,0 (39,59)
Tab. 1 Soziodemographische Daten sowie interokklusaler Abstand, Gruppenvergleich
Parameter Gruppe A Durch-schnitt (SD)
Gruppe B Durch-schnitt (SD)
t-Werta Signifikanz zweiseitig
Alter (Jahre) 16,3 (1,42) 15,8 (1,48) 0,773 0,450
Größe (cm) 166,8 (3,88) 168,2 (4,39) −0,755 0,460
Gewicht (kg) 57,7 (6,77) 55,4 (5,74) 0,820 0,423
Body-Mass-Index 20,73 (2,17) 19,56 (1,63) 1,359 0,191
Gesamtschmerzb 1,82 (1,93) 0,43 (1,36) 1,865 0,079
Interokklusaler Abstand (mm)
46,1 (3,76) 46,8 (5,46) −0,337 0,740
a 0,5, b VAS-Skala 1–10. SD Standardabweichung.
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Originalien
Aber auch neuere Tierversuche [4] zum Thema CMD und HWS eröffnen neue Perspektiven zu diesem Thema. Die Autoren (ebd.) provozierten an Ratten mit hochzervikal infiltriertem Senföl (einem Entzündung verursachenden Agens) eine nozizeptive Stimulation, die in die trigeminal versorgte Kopf und Kieferregion projiziert wurde. Mit denselben Mitteln können nozizeptive Afferenzen aus trigeminal versorgtem Gebiet in die zervikale Region projiziert werden. Durch nozizeptive Stimulierung von trigeminal versorgtem Gewebe wird eine erhöhte Empfindlichkeit in hochzervikal versorgte Gebiete beschrieben [5]. Die sensiblen Informationen sind somit in beide Richtungen projizierbar. Bei den muskulären Verbindungen stellt sich dies nicht dar.
Hu et al. [15] konnten ebenfalls an Ratten durch Infiltration von Senföl in die subokzipitale Muskulatur per EMGMessung eine Tonuserhöhung in der subokzipitalen Muskulatur als auch in der kieferführenden Muskulatur nachweisen. Umgekehrt gelang dies nicht: Yu et al. [23] erreichten durch die Infiltration von Senföl in die Kieferregion nur eine lokale Tonuserhöhung der Kiefermuskulatur und keine in der HWSRegion.
So finden sich auch in den Tierversuchen ähnliche Ergebnisse wie in der vorliegenden Untersuchung. Auch wenn sich im Tierversuch durch Provokation der CMSMuskulatur keine Spannungsänderungen der HWSRegion [23] darstellen, so zeigen längerfristige Änderungen der Zahnschließung doch einen peripheren Einfluss [3]. Allerdings haben okklusogene Faktoren
bei Menschen in der Ätiologie der CMD einen eher untergeordneten Einfluss im Gegensatz zu artrogenen oder myogenen Faktoren. So konnte Beuckels [6] an 200 Schülern mit myotensiven Techniken im CMS eine Wirkung auf die Beweglichkeit der Körperperipherie belegen. Auch werden kraniomandibuläre Veränderungen als prädisponierender Faktor für Erkrankungen der HWS diskutiert [2]. Ebenso zeigen Patienten mit CMD häufiger asymptomatische vertebragene Funktionsstörungen und eine erhöhte Druckempfindlichkeit der Nacken und Schultermuskulatur [13]. Stark [21] untersuchte 100 CMDPatienten anhand einer Bewegungsanalyse mit dem CMS 70 und verglich sie mit einer gesunden Kontrollgruppe. Dabei fand er eine eingeschränkte HWSBeweglichkeit der CMDPatienten. Dies zeigte sich ebenfalls in der Studie von Klemm [18], in der mit dem gleichen Messsystem insbesondere bei Patienten mit CMD eine verringerte Beweglichkeit der oberen HWSRegion belegt werden konnte. Diese Arbeiten beziehen sich auf Patienten mit einem längerfristigen, teilweise über Jahre bestehenden Krankheitsbild. Möglicherweise zieht dies Kompensationsmechanismen auf neurologischer, mechanischer und vielleicht später sogar auf struktureller Ebene nach sich. Auf diese Weise wären Änderungen in der Muskulatur sowie in den Gelenken nachvollziehbar. Um den Einfluss einer Arthropathie oder Myopathie im Rahmen der CMD auf die Körperperipherie belegen zu können, sollten weitere Untersuchungen vorgenommen werden.
Insgesamt resultieren aus dieser Diskussion und den Ergebnissen der Studie viele Hinweise dafür, dass sich okklusodentogene Störungen weniger dominant auf die Körperperipherie auswirken als bisher angenommen. Sollte diese Annahme durch weitere Untersuchungen bestätigt werden, würde dadurch der Stellenwert der osteopathischen Behandlung wachsen. Insbesondere arthrogene und myogene Dysfunktionen mit ihren Auswirkungen auf die Peripherie lassen sich speziell im interdisziplinären Therapieansatz von CMD osteopathisch kausal behandeln, dentogene Ursachen eher in geringerem Maße.
Fazit für die Praxis
Veränderungen in der Beweglichkeit der oberen Halswirbelsäule durch eine kurz-fristige Änderung der Okklusion sind eher kritisch zu betrachten.In der vorliegenden Studie wurden aus-schließlich weibliche gesunde Sport-lerinnen untersucht, somit sollte von ei-ner Verallgemeinerung der Ergebnisse vorerst abgesehen werden. Die gemes-senen objektiven Daten werden aller-dings durch die subjektiven Einschät-zungen der Probandinnen weiter gefes-tigt. Sie konnten weder eine Spannungs-änderung noch eine Beweglichkeitsän-derung der HWS durch die Störung der Okklusion feststellen. Eine weitere Ar-beit des Autors führte zu den gleichen Er-gebnissen.Auch Tierversuche bestätigen die beste-hende Theorie der Dominanz der HWS
1 2 3 4 5Items
Item 1: Meine HWS ist mit der Metalleinlage weniger beweglich.
Item 2: Meine HWS ist mit und ohne Metalleinlage gleichwertig beweglich.
Item 3: Die Spannung im rechten Kiefergelenks ist mit und ohne Metalleinlage gleichwertig.
Item 4: Die Spannung in der rechten und linken Kieferregion war die gleiche.
Item 5: Die Spannung im oberen Bereich der Rückseite des Nackens ist größer mit der Metalleinlage im rechten Kiefergelenk.
2
3
2
1
0
0,7
1,10,9 0,9
Wahr
Möglicherweisewahr
Möglicherweisenicht wahr
Nicht wahrAbb. 3 7 Subjektive Ein-schätzungen der Stichpro-
be zu Spannung und Be-weglichkeit an der HWS
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auf das CMS. Nur durch eine künstliche induzierte Inflammation zervikal konn-te eine Spannungszunahme sowohl in der oberen Halsmuskulatur als auch in der kieferführenden Muskulatur aufge-zeigt werden, umgekehrt nicht. Belegt ist allerdings eine gegenseitige sensible und nozizeptive Beeinflussung von CMS und CCS.Dies bedeutet für die tägliche Praxis, dass funktionelle Tests, die aufgrund ei-ner kurzfristigen Änderung der Okklu-sion eine Beweglichkeitsänderung an der oberen HWS interpretieren (z. B. der Meersman-Test), kritisch betrachtet wer-den sollten.
KorrespondenzadresseS. Klemm
Osteopath BSc. (Hons) Ost., Physiotherapeut, Praxis für OsteopathieGlückaufweg 10, 37444 Sankt [email protected]
Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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M. Kirschneck1 · I. Kirchberger1 G. Stucki MD, MS1, 2, 3 · U.W. Böhni MD4 A. Cieza PhD, MPH1, 3 · J. Dvorak MD5
1 ICF Research Branch of the WHO CC FIC (DIMDI), Institut für Gesundheits- und Rehabilitationswissenschaften, Ludwig-Maximilians-Universität, München
2 Klinik und Poliklinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Ludwig-Maximilians-Universität, München
3 Schweizer Paraplegiker Forschung, Nottwil
4 Praxis ZeniT, Schaffhausen5 Schulthess Klinik, Zürich
ICF-Interventions-kategorien für Manuelle MedizinEin erster Beitrag zur standardi-sierten Therapiedokumentation und Erfolgskontrolle
Manuelle Medizin (2009) 47, 123-132
In dem oben genannten Beitrag waren die Institutsangaben zu den Autoren G. Stucki und A. Cieza nicht korrekt.Wir bitten dies zu entschuldigen und die aktuellen Angaben zu berücksichtigen.
Erratum
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