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Ökonomische Lesegruppe: Lesetexte zum Ordoliberalismus Alexander Rüstow: Zitate aus dem Brevier ................................................................S. 1 Alexander Rüstow: Die Religion der Marktwirtschaft -- Aus Vor- und Nachwort (Oswalt/Tönnies) ................................................................3 -- Rüstow: Zwischen Kapitalismus und Kommunismus (1949) -- 1. Teil: Markt oder Plan ...............................................................................7 -- 2. Teil: Dritter Weg ....................................................................................13 Wilhelm Röpke: Die Lehre von der Wirtschaft (1937) -- Inhaltsverzeichnis .....................................................................................................19 -- Kapitel 7: Arm und Reich .........................................................................................19 Alexander Rüstow: Zitate aus dem Brevier (Hg. M. von Prollius, Ott-Verlag, Bern 2007) Entstehung des Neoliberalismus: Als im Jahr 1932 mein leider verstorbener Freund Walter Eucken und ich - übrigens unabhängig voneinander, aber in freier Konvergenz das Programm des Neoliberalismus, das unserer sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegt, aufstellten, da handelte es sich um eine reine Utopie. An irgendeine Verwirklichung war auch nicht in Ferne zu denken, und das, was dann im Jahre 1933 und in den folgen- den Jahren geschah, machte die Sache natürlich noch viel utopischer. Als dann das tausendjährige Reich 1945 mit Schanden zusammenbrach, jene drei schlimmen Jahre des Elends, der Bezugskarten, und das des Schwarzhandels, des Frierens, des Hungerns folgten, da konnte man das auch nicht gerade als eine Annäherung an das Programm des Neoliberalismus ansehen. Aber als der Tiefpunkt erreicht war und 1948 sich alle Leute darüber klar waren, dass es so nicht weitergeht, da war nun grosse Nachfrage nach jemandem, der wusste, wie man's denn nun machen sollte. Viele kluge Leute meinten: Nur nichts übereilen. Ganz langsam müsste man eins nach dem anderen die Bezugskarten abbauen, alles allmählich lockern usw. All' diese kleinmütigen Menschen dachten nicht an jenes chinesische Sprichwort: Wer über einen Abgrund springen will, muss es in einem Satz tun und nicht in zweien! Gegenüber all diesen schwachmütigen Kompromiss- lern trat ein Mann auf, der auf Grund des neoliberalen Programms den Mut zur Radikali- tät hatte, Ludwig Erhard. Er wurde damals allgemein für verrückt gehalten. Zum Staunen aller, d.h. aller, mit Ausnahme von uns, ging es und wie es ging! Nur diejenigen, die den Neoliberalismus und seine ungeheure Kraft der Entbindung nicht kannten, die in diesem Programm liegt, konnten sich wundern. Leider wurde dieses Programm der sozialen Marktwirtschaft von Anfang an nur partiell durchgeführt und ist bis zum heutigen Tage nicht ganz verwirklicht. (SwdM, 430) Neoliberalismus, dritter Weg, Soziale Marktwirtschaft: Und fast zu gleicher Zeit, ohne dass wir darüber gesprochen hatten, kamen mein verstorbener Freund Eucken und ich darauf, dass es einen solchen dritten Weg geben müsse, und das war eben der Weg des Neoliberalismus, der das tat, was vernünftige Menschen schon hunderte Jahre früher hätten tun sollen, nämlich folgende Überlegung anstellen: Die Marktwirtschaft hat, was Steigerung der Produktivität und des Volkswohlstandes betrifft, ja alle Erwartungen erfüllt und übertroffen. Diese positive Wirkung sollte man also unbedingt beibehalten. Aber man hat in verhängnisvoller Weise übersehen, dass das nicht durch Abwarten und "laissez faire" zu erreichen, sondern dass das an ganz bestimmte Voraussetzungen gebunden ist. Erstens findet nämlich das Zusammenfallen von Einzelinteresse und Gesamtinteresse nur innerhalb der fairen Leistungskonkurrenz statt. Wenn man also von diesem Marktpatent sozusagen Gebrauch machen will, weil es so ungeheuer produktiv ist, dann muss der Staat dafür sorgen, dass die Grenzen der fairen Leistungskonkurrenz eingehalten werden. Er muss eine strenge Marktpolizei ausüben und muss insbesondere die Bildung von monopolistischen Machtpositionen verhindern. Aber damit ist es noch nicht getan. Denn es gibt eine grosse Reihe von Dingen, die dem Marktmechanismus unzugänglich sind. Dazu gehört zum Beispiel der weite Bereich der Sozialpolitik. Es gibt in jeder Volkswirtschaft Gruppen von Menschen, die man nicht auf den Markt verweisen kann, weil sie nicht fähig sind, aus welchen Gründen auch immer, auf eine marktgemässe Weise für sich selbst zu sorgen, weil sie etwa krank, schwach und alt sind. Diesen Men- schen kann man nicht einfach mit Achselzucken begegnen, sondern muss selbstverständ- lich, wenn man verantwortungsbewusst und human ist, etwas für sie tun. Und was da getan werden muss, das ist eben das, was wir heute Sozialpolitik nennen. Zur Betonung dieses zentralen Anliegens hat Alfred Müller-Armack 1948 den denkbar glücklichen Begriff der "Sozialen Marktwirtschaft" geprägt. (PKN, 67) Neoliberalismus und Christentum: Freilich jedoch ist unser Neoliberalismus nicht mit jeder beliebigen Theologie vereinbar, vielmehr nur unter bestimmten Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen sind: Bejahung des Naturrechts, Bejahung der Erkenntnisfähig- keit der menschlichen Vernunft im Bereich der Schöpfungsordnung und mit Hilfe des angeborenen "lumen naturale", Bejahung der Humanität, der Wertungen, die auf jenen fleischernen Tafeln des Herzens geschrieben stehen, von denen der Apostel Paulus sagt, dass sie der Schöpfer jedem Menschen, ob gläubig oder ungläubig, in die Brust gesetzt hat. Alle christlichen Richtungen, die diese Dinge bejahen, sind mit unserem Neolibera- lismus vereinbar. Deshalb ist es so wichtig zu sehen ... , dass jede grundsätzliche Unver- einbarkeit zwischen Christentum und Neoliberalismus fehlt und dass daraus die Möglich- keit entspringt eine gemeinsame Front bilden zu können, ebenso gegen den Paläolibera- lismus, wie insbesondere gegen Kommunismus und Bolschewismus. (PKN, 70). Neoliberalismus jenseits des rein Wirtschaftlichen: Es war mir unverständlich, wieso Baron Frydag am Anfang den Terminus "Neoliberalismus" im Sinne einer Anschauung gebraucht hat, die nur die ökonomischen Dinge in Betracht zieht. Die Sache liegt genau umgekehrt. Unser Neoliberalismus unterscheidet sich vom Paläoliberalismus gerade OrdoliberalismusLesetexte.doc 1

Neoliberalismus, dritter Weg, Soziale Marktwirtschaft: Und ... · Vitalpolitik, diese Politik, die sich auf den Marktrand bezieht, eine durchaus überragende Bedeutung hat, während

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Ökonomische Lesegruppe: Lesetexte zum Ordoliberalismus Alexander Rüstow: Zitate aus dem Brevier ................................................................S. 1 Alexander Rüstow: Die Religion der Marktwirtschaft -- Aus Vor- und Nachwort (Oswalt/Tönnies) ................................................................3 -- Rüstow: Zwischen Kapitalismus und Kommunismus (1949)

-- 1. Teil: Markt oder Plan ...............................................................................7 -- 2. Teil: Dritter Weg ....................................................................................13

Wilhelm Röpke: Die Lehre von der Wirtschaft (1937) -- Inhaltsverzeichnis .....................................................................................................19 -- Kapitel 7: Arm und Reich .........................................................................................19 Alexander Rüstow: Zitate aus dem Brevier (Hg. M. von Prollius, Ott-Verlag, Bern 2007) Entstehung des Neoliberalismus: Als im Jahr 1932 mein leider verstorbener Freund Walter Eucken und ich - übrigens unabhängig voneinander, aber in freier Konvergenz das Programm des Neoliberalismus, das unserer sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegt, aufstellten, da handelte es sich um eine reine Utopie. An irgendeine Verwirklichung war auch nicht in Ferne zu denken, und das, was dann im Jahre 1933 und in den folgen-den Jahren geschah, machte die Sache natürlich noch viel utopischer. Als dann das tausendjährige Reich 1945 mit Schanden zusammenbrach, jene drei schlimmen Jahre des Elends, der Bezugskarten, und das des Schwarzhandels, des Frierens, des Hungerns folgten, da konnte man das auch nicht gerade als eine Annäherung an das Programm des Neoliberalismus ansehen. Aber als der Tiefpunkt erreicht war und 1948 sich alle Leute darüber klar waren, dass es so nicht weitergeht, da war nun grosse Nachfrage nach jemandem, der wusste, wie man's denn nun machen sollte. Viele kluge Leute meinten: Nur nichts übereilen. Ganz langsam müsste man eins nach dem anderen die Bezugskarten abbauen, alles allmählich lockern usw. All' diese kleinmütigen Menschen dachten nicht an jenes chinesische Sprichwort: Wer über einen Abgrund springen will, muss es in einem Satz tun und nicht in zweien! Gegenüber all diesen schwachmütigen Kompromiss-lern trat ein Mann auf, der auf Grund des neoliberalen Programms den Mut zur Radikali-tät hatte, Ludwig Erhard. Er wurde damals allgemein für verrückt gehalten. Zum Staunen aller, d.h. aller, mit Ausnahme von uns, ging es und wie es ging! Nur diejenigen, die den Neoliberalismus und seine ungeheure Kraft der Entbindung nicht kannten, die in diesem Programm liegt, konnten sich wundern. Leider wurde dieses Programm der sozialen Marktwirtschaft von Anfang an nur partiell durchgeführt und ist bis zum heutigen Tage nicht ganz verwirklicht. (SwdM, 430)

Neoliberalismus, dritter Weg, Soziale Marktwirtschaft: Und fast zu gleicher Zeit, ohne dass wir darüber gesprochen hatten, kamen mein verstorbener Freund Eucken und ich darauf, dass es einen solchen dritten Weg geben müsse, und das war eben der Weg des Neoliberalismus, der das tat, was vernünftige Menschen schon hunderte Jahre früher hätten tun sollen, nämlich folgende Überlegung anstellen: Die Marktwirtschaft hat, was Steigerung der Produktivität und des Volkswohlstandes betrifft, ja alle Erwartungen erfüllt und übertroffen. Diese positive Wirkung sollte man also unbedingt beibehalten. Aber man hat in verhängnisvoller Weise übersehen, dass das nicht durch Abwarten und "laissez faire" zu erreichen, sondern dass das an ganz bestimmte Voraussetzungen gebunden ist. Erstens findet nämlich das Zusammenfallen von Einzelinteresse und Gesamtinteresse nur innerhalb der fairen Leistungskonkurrenz statt. Wenn man also von diesem Marktpatent sozusagen Gebrauch machen will, weil es so ungeheuer produktiv ist, dann muss der Staat dafür sorgen, dass die Grenzen der fairen Leistungskonkurrenz eingehalten werden. Er muss eine strenge Marktpolizei ausüben und muss insbesondere die Bildung von monopolistischen Machtpositionen verhindern. Aber damit ist es noch nicht getan. Denn es gibt eine grosse Reihe von Dingen, die dem Marktmechanismus unzugänglich sind. Dazu gehört zum Beispiel der weite Bereich der Sozialpolitik. Es gibt in jeder Volkswirtschaft Gruppen von Menschen, die man nicht auf den Markt verweisen kann, weil sie nicht fähig sind, aus welchen Gründen auch immer, auf eine marktgemässe Weise für sich selbst zu sorgen, weil sie etwa krank, schwach und alt sind. Diesen Men-schen kann man nicht einfach mit Achselzucken begegnen, sondern muss selbstverständ-lich, wenn man verantwortungsbewusst und human ist, etwas für sie tun. Und was da getan werden muss, das ist eben das, was wir heute Sozialpolitik nennen. Zur Betonung dieses zentralen Anliegens hat Alfred Müller-Armack 1948 den denkbar glücklichen Begriff der "Sozialen Marktwirtschaft" geprägt. (PKN, 67) Neoliberalismus und Christentum: Freilich jedoch ist unser Neoliberalismus nicht mit jeder beliebigen Theologie vereinbar, vielmehr nur unter bestimmten Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen sind: Bejahung des Naturrechts, Bejahung der Erkenntnisfähig-keit der menschlichen Vernunft im Bereich der Schöpfungsordnung und mit Hilfe des angeborenen "lumen naturale", Bejahung der Humanität, der Wertungen, die auf jenen fleischernen Tafeln des Herzens geschrieben stehen, von denen der Apostel Paulus sagt, dass sie der Schöpfer jedem Menschen, ob gläubig oder ungläubig, in die Brust gesetzt hat. Alle christlichen Richtungen, die diese Dinge bejahen, sind mit unserem Neolibera-lismus vereinbar. Deshalb ist es so wichtig zu sehen ... , dass jede grundsätzliche Unver-einbarkeit zwischen Christentum und Neoliberalismus fehlt und dass daraus die Möglich-keit entspringt eine gemeinsame Front bilden zu können, ebenso gegen den Paläolibera-lismus, wie insbesondere gegen Kommunismus und Bolschewismus. (PKN, 70). Neoliberalismus jenseits des rein Wirtschaftlichen: Es war mir unverständlich, wieso Baron Frydag am Anfang den Terminus "Neoliberalismus" im Sinne einer Anschauung gebraucht hat, die nur die ökonomischen Dinge in Betracht zieht. Die Sache liegt genau umgekehrt. Unser Neoliberalismus unterscheidet sich vom Paläoliberalismus gerade

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dadurch, dass er nicht alles nur auf wirtschaftliche Grössen bezieht. Wir sind vielmehr der Meinung, dass die wirtschaftlichen Dinge überwirtschaftlichen Gesichtspunkten untergeordnet werden müssen. Dieser Meinung sind wir nicht erst seit heute, sondern diese Meinung herrscht schon seit den Anfängen des Neoliberalismus. (RuA, 73) Erneuerung des Liberalismus: Wir haben mit unserer geistesgeschichtlichen Analyse und Kritik einen Schnitt geführt, der die fehlerhaften Bestandteile des historischen Libe-ralismus, die seinen Zusammenbruch verschuldet haben, von dem Kern der richtigen Einsichten und positiven Bestandteile trennt, auf denen seine unbestreitbaren weltge-schichtlichen Leistungen beruhen. Die so durchgeführte analytische Ausscheidung des Falschen allein genügt aber noch nicht. Die Lücken müssen wieder geschlossen, es muss, synthetisch, richtiges Neues an die Stelle des Alten gesetzt werden. Der alte Liberalismus muss, mit Hilfe der Einsicht in seine Fehler und Schwächen, von Grund auf erneuert werden. (VdW,140) Wirtschaft in dienender Stellung: Es ist an der Zeit, die Wirtschaft, trotz ihrer selbstver-ständlichen Unentbehrlichkeit, wieder in die ihr gebührende untergeordnete und dienende Stellung zurückzuverweisen, die sie auch, ausser im 19. Jahrhundert, stets eingenommen hat. Der Mensch lebt nicht von Brot allein. Dabei gilt es zu erkennen, dass auch inner-halb der Wirtschaft selber das unwägbar Vitale und Anthropologische wichtiger ist als das eigentlich Wirtschaftliche, in Mengenzahlen messbare. (VdW, 142) Marktrand: Schliesslich hatte ich im Jahre 1932 den Begriff des Marktrandes entwickelt. Aber keineswegs in dem Sinne, dass der Rand eine Nebensache wäre und die Hauptsache der Markt - sondern gerade umgekehrt. Ich habe immer wieder betont, dass der Markt-rand, der Marktrahmen, das eigentliche Gebiet des Menschlichen ist, hundertmal wichti-ger als der Markt selber. Der Markt selber hat lediglich eine dienende Funktion. Der Markt hat die Funktion, zu einer möglichst günstigen Versorgung der Menschen zu führen. Der Markt ist ein Mittel zum Zweck, ist kein Selbstzweck, während der Rand eine Menge Dinge umfasst, die Selbstzweck sind, die menschliche Eigenwerte sind - Kultur, Erziehung usw. (PKN, 68) Primat der Vitalsituation: Da die Wirtschaft um des Menschen willen da ist, und nicht der Mensch um der Wirtschaft Willen - was ist das für eine Zeit, in der eine solche Selbstverständlichkeit ausgesprochen werden muss! -, so ist die Vitalsituation des wirt-schaftenden Menschen ein überwirtschaftlicher Wert innerhalb der Wirtschaft. Die Wirt-schaft ist Mittel, die Vitalsituation aber Zweck. (VdW, 143) Vitalpolitik: Ich habe ferner den Begriff der Vitalpolitik aufgestellt. Der Vitalpolitik, die auf eine anthropologische Fundierung der Sozialpolitik hinausläuft. Denn was heisst vital? - Vital ist dasjenige, was die "vita humana", was das menschliche Leben, das menschen-würdige Leben fördert. Es ist unsere neoliberale Meinung, dass diese

Vitalpolitik, diese Politik, die sich auf den Marktrand bezieht, eine durchaus überragende Bedeutung hat, während der Markt nur Mittel zum Zweck ist. (PKN, 68) Vitalpolitik statt Sozialpolitik: Das ist auch der Sinn der von mir erhobenen Forderung einer Vitalpolitik, die nicht, wie die alte traditionelle Sozialpolitik, im wesentlichen auf höheren Lohn und kürzere Arbeitszeit gerichtet ist, sondern die gesamte Vitalsituation des arbeitenden Menschen, seine wirkliche, konkrete Lebenslage von früh bis Abend und von Abend bis früh, ins Auge fasst, die keineswegs nur von Lohn und Arbeitszeit, sondern von einer Fülle ganz anderer Dinge und Umstände abhängt, wie jeder aus eigener Erfah-rung weiss. Es wäre ein Aberglaube zu meinen, das Glück des arbeitenden Menschen sei proportional der Lohnhöhe und umgekehrt proportional der Arbeitszeit. Ein grossstädti-scher Proletarier etwa im 4. Stock des Hinterhauses einer Mietskaserne, dessen Familie diese unerfreuliche Wohnung nur noch als gemeinsame Schlafstelle benutzt, wird auch bei höherem Lohn und kürzerer Arbeitszeit in seiner Vitalsituation wesentlich schlechter dran sein, als ein südwestdeutscher Arbeiter, der in halb bäuerlicher Siedlung auf dem Lande ein eigenes Haus besitzt. (SoM, 103f.) Freiheit als der zentrale abendländische Wert: Was ist für uns von allen Werten unserer abendländischen Kultur der zentralste, der, zu dessen Verteidigung wir uns vor allen anderen berufen und verpflichtet fühlen? Die Freiheit! Und zwar ebenso die politische wie die geistige Freiheit. (RuA, 338) Freiheit als Frage der Menschwerdung: Wer diese Gegenwartslage wunschlos nüch-tern, mit den Augen eines unbeteiligten Zuschauers, beurteilen würde, der könnte wohl zu dem Ergebnis kommen, dass es um unsere Sache nicht all zu hoffnungsvoll steht, dass sie, alles erwogen, weit mehr Chancen gegen sich als für sich hat. Wer sich aber der Sache der Freiheit auf Gedeih und Verderb verbunden weiss, wer in ihr den einzigen Sinn dieses Experimentes der Menschwerdung sieht, für den wird noch so schwere Bedrohung nur ein Grund mehr sein, sein Äusserstes einzusetzen, das Seinige zu tun und der Weltge-schichte das Ihre überlassen ... (OdG I, 19) Freiheitspflicht: Was wir hier brauchen, das ist eine Freiheitspflicht, eine Pflicht zur Freiheit, die jeden Menschen verpflichtet, seine eigene Freiheit zu wahren, und die solidarischerweise jeden Menschen verpflichtet, jedem anderen Menschen, der seine Freiheit verloren hat, nach Kräften zur Wiedererlangung dieser verlorenen Freiheit zu verhelfen. Denn das wissen wir ja nun, dass diese Dinge rein individuell gar keine praktische Bedeutung haben, das isolierte Individuum kann weder seine Freiheit wahren, noch seine Freiheit wiedergewinnen, sondern beide Probleme sind im höchsten Masse soziale Probleme. Freiheit lässt sich überhaupt nur sozial durch eine freiheitliche Staats- und Gesellschaftsordnung realisieren. (RuA, 307f.) Juristische versus soziologische Freiheit: Man kann bei juristischer Unfreiheit soziolo-gisch frei sein, und bei juristischer Freiheit soziologisch unfrei. Das Entscheidende ist die

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Autonomie oder Heteronomie in der Gestaltung des Arbeitstages. Die Rechtsform der Sklaverei, die in der soziologischen Ausübungsweise der Haussklaverei eine vergleichs-weise noch harmlose patriarchalische Angelegenheit darstellte, entfaltete erst in der Ausübungsweise der Herdensklaverei des Grossbetriebs jene menschlich empörenden Erscheinungen, die wir formalistischerweise ganz zu Unrecht gewohnt sind, der Rechts-form als solcher zuzuschreiben. Die juristische Form kann die wirkliche Lage entweder zum adäquaten Ausdruck bringe, oder sie verdecken. Der Wirklichkeit des Arbeiters im Grossbetrieb entspricht am besten die Rechtsform der Sklaverei oder Leibeigenheit. (OdG I, 174f.) Geistige Freiheit geht politischer Freiheit voraus: Die geistige Freiheitlichkeit geht regelmässig, wie auch schon bei ihrem ersten Auftreten im alten Griechenland, der politi-schen voraus, und ist stets zunächst von einer politischen Oberschicht getragen, die ja allein die Möglichkeit der Hingabe an geistige Betätigung besitzt. Wenn sich eine solche Oberschicht zunächst einmal in den Dienst solcher geistigen Freiheitlichkeit stellt, so ist das immerhin ein erster wichtiger Schritt auf dem Wege zur Überwindung der Überlage-rungsstruktur. (OdG 11, 418f.) Kulturelle Höchstleistung setzt Freiheit voraus: Alle kulturellen Höchstleistungen haben daher Durchbrechung dieser Bindungen, Befreiung und Freiheit zur Voraussetzung gehabt, politische Freiheit, und noch mehr geistige Freiheit. (OdG I, 271) Ohne Wirtschaftsfreiheit keine politische Freiheit: Wenn wir mit Leidenschaft für die Wirtschaftsfreiheit eintreten, so tun wir das in allererster Linie eben deshalb, weil die Wirtschaftsfreiheit die notwendige, die unentbehrliche Grundlage der politischen Freiheit, der menschlichen Freiheit ist, d.h. also im Dienst der Menschenwürde. (RuA, 78) Weltgeschichte als Kampf um Freiheit und Herrschaft: Aus dieser meiner grundsätz-lichen methodologischen Überzeugung habe ich für mich selber die Folgerung gezogen, keinerlei Zweifel zu lassen über das, was ich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bejahe und verneine. Ich bejahe die Freiheit und verneine die Herrschaft, ich bejahe die Menschlichkeit und verneine die Barbarei, ich bejahe den Frieden und verneine die Gewalt. Und diese Gegensatzpaare sind demgemäss die grossen Polaritäten, zwischen denen sich für mich die Weltgeschichte abspielt. Unsere Gegenwart steht mitten in einem weltweiten Entscheidungskampf der Freiheit gegen eine äusserste Form barbarischer und gewalttätiger Herrschaft. Vom Ausgang dieses Kampfes wird unsere Zukunft abhängen. (OdG I 18f.) Aufgabe: Unsere Aufgabe bleibt, Unfreiheit, ungerechte Ungleichheit und Herrschaft-lichkeit, wo sie noch bestehen, auch in versteckten und zur Gewohnheit gewordenen Formen, aufzudecken und zu beseitigen. (OdG III, 332)

Herrschaft hindert freie Entfaltung: Aber je höher das Kulturniveau, desto empfindli-cher wird das Fehlen der Freiheit spürbar. Die gleiche Herrschaftlichkeit, die zunächst konzentrierend und steigernd wirkte, wirkt mehr und mehr beengend und hemmend. Herrschaftsdruck hindert freie Entfaltung. Die geistige Produktivität in Kunst und Wis-senschaft hat ihre eigenen immanenten Entfaltungsgesetze. Je länger desto weniger kann sie sich Befehlen von oben, Vorschriften und Verboten von aussen unterwerfen, oder, wenn sie es tut oder tun muss, so letzten Endes auf Kosten von Leistung und Entfaltung. (OdG 1,271) ALEXANDER RÜSTOW: DIE RELIGION DERMARKTWIRTSCHAFT (Hg. W. Oswalt und S. Tönnies, Lit-Verlag, Münster 2001) Aus dem Vor- und Nachwort (W. Oswalt bzw. S Tönnies) Die politische Macht soll von den Bürgern und ihren demokratischen Vertretern aus-gehen. Sie gerät aber immer mehr in die Hand wirtschaftlicher Interessengruppen. "Corporate Europe" bestimmt zunehmend unser Leben. Der demokratische Rechtsstaat ist gefährdet. Doch hier gibt es ein Tabu: Wirtschaftsmacht wird als naturgegeben hinge-nommen. Der heute als modern und rational geltende Glaube an die unentrinnbare Eigendynamik der Machtentfaltung auf den Märkten hat nach Rüstow nichtrationale, vormoderne Ur-sprünge. Seine sozialwissenschaftliche Analyse führt zu dem Schluss: Das lähmende Gefühl der Alternativlosigkeit gegenüber dem "Kapitalismus" kann mit einem weiter-entwickelten Liberalismus überwunden werden. Rüstow entwirft eine freie Marktwirt-schaft ohne Kapitalismus. Unter dem Eindruck des Nationalsozialismus beschäftigte sich Alexander Rüstow schon in den dreissiger Jahren mit den Ursachen für das Versagen des so genannten Wirt-schaftsliberalismus. Diese Analyse ist heute wieder sehr aktuell. Hinter der Resignation der Demokratie gegenüber dem "globalen Standortwettbewerb" ist der alte Glaube an die unsichtbare Hand der Mächte des Marktes wirksam. Diesen Aberglauben führt Rüstow auf metaökonomische, pseudoreligiöse Ursprünge zurück, die seit Adam Smith im öko-nomischen Denken mitgeschleppt werden. [...] Der unvollständigen Aufklärung setzt Alexander Rüstow das Weiterdenken der Auf-klärung entgegen. Der zweite Teil dieses Buches enthält Rüstows Antwort auf die Un-fähigkeit des verkürzten Liberalismus, der freiheitsgefährdenden Wirtschaftsmacht ent-gegenzutreten. Seinen Entwurf des Dritten Weges publizierte Rüstow zum ersten Mal 1942. [...] Im Unterschied zu Rüstows interdisziplinärem und normativem Denken benutzen Sozial-wissenschaftler heute gerne solche anspruchsvolle Titel wie "Der dritte Weg" um ledig-lich Entwicklungslinien des Status Quo in die Zukunft zu verlängern. Rüstow geht es nicht um eine sozialverträgliche Verpackung konzernfreundlicher Wirtschaftspolitik und

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die nachträgliche Abfederung der Folgen von Wirtschaftsmacht, sondern um die systema-tische Vermeidung und Bekämpfung der Wirtschaftsmacht selbst. Aber das Konzept des konsequenten Liberalismus wird oft auf Antitrustgesetzgebung reduziert, als solle die Wirtschaftsordnung beibehalten und nur durch eine starke Wettbewerbsbehörde ergänzt werden. Rüstow setzte sich schon 1929 in "Monopolkontrolle oder Monopolverhütung" mit dieser Frage auseinander. Der konsequente Liberalismus weiss um das Scheitern der Monopolkontrolle im Land mit der stärksten Antitrusttradition und fordert nicht Repara-turen, sondern einen Systemwechsel. Es geht um eine Wirtschaftsverfassung, die Macht-konzentrationen ihrer Existenzmöglichkeit beraubt, so dass - in den meisten Fällen – be-stehende Wirtschaftsmacht sich auflöst und neue erst gar nicht entstehen kann. [...] Alexander Rüstow ist einer der bedeutenden Sozialwissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland. Er „war der letzte Universalhistoriker in der Soziologie“ (Meier-Rust). Der aus dem nationalsozialistischen Deutschland emigrierte Mitbegründer des sogenannten Ordoliberalismus wird - meistens ohne Kenntnis seines Werkes - immer wieder als einer der Vordenker der bundesrepublikanischen Wirtschafts- und Gesell-schaftsordnung in Anspruch genommen. So wird Rüstows kritischer Geist ignoriert, den Dolf Sternberger auf den Punkt brachte: "Alexander Rüstow [... ] war gewiss, dass die menschliche Natur auf Freiheit angelegt ist. Die Herrschaft war ihm ein Sündenfall." Diese ursprünglich ordoliberale Philosophie und die daraus entwickelte Politische Öko-nomie wird inzwischen in verschiedenen Ländern von einigen Sozialwissenschaftlern zur Lösung der Probleme der Globalisierung diskutiert. [...] Ordoliberalismus: Der Ordoliberalismus ist mehr als eine Wirtschaftstheorie. Er ist mehr als eine gegen Monopole und Oligopole gewandte Auffassung von machtfreier Markt-wirtschaft. Er hebt sich prinzipiell von den herrschenden Konzepten ab, die auf Quietis-mus hinauslaufen: Er ist auf Aktivität gerichtet, auf eine planvolle Tätigkeit, die Abläufen einen Rahmen setzt. Er baut auf die Fähigkeit des Menschen, aufgrund seiner Vernunft den Dingen eine Richtung zu geben, die auf das Allgemeinwohl zielt. Insofern ist er im weitesten Sinne aufklärerisch. Die Tatsache, dass der Ordoliberalismus, wie schon der Name sagt, "liberal" ist, steht dem nicht entgegen. Denn wenn der Ordoliberalismus auch auf die selbsttätigen Wirkun-gen des freien Spiels von Angebot und Nachfrage setzt, betont er doch, dass dieses freie Spiel seine Bedingungen hat, die durch vernünftiges Eingreifen erst hergestellt werden müssen. Allein gelassen, führt dieses Spiel zu Verklumpungen und Machtballungen, in denen sich Angebot und Nachfrage nicht mehr frei gegenüberstehen. Die wirtschaftliche Agglomeration hat zur Folge, dass der Staat in die Abhängigkeit der Wirtschaft gerät und sich ihr unterordnet. Nach Auffassung des Ordoliberalismus aber soll das Verhältnis um-gekehrt sein: Der Staat setzt der Wirtschaft die Rahmenbedingungen, unter denen eine dem Allgemeinwohl dienende Konkurrenz ihre wohltätigen Wirkungen entfalten kann. Diese Auffassung ist im gegenwärtigen Zeitgeist ein erratischer Block. Denn dieser Geist hat sich ganz der Selbsttätigkeit und Selbstregulierung verschrieben. Auf abstraktester Ebene huldigt die Systemtheorie der angeblichen Automatik der Abläufe. In der Wirt-schaftstheorie drückt sie sich in dem Konzept Hayeks aus, das eine Art Wirtschafts-

darwinismus darstellt: "The Survival of the Fittest" ist das Programm, und "the fittest" ist der Grösste. Der Kleine mag untergehen. Diese Freiheit ist "die Freiheit des Fuchses im freien Hühnerstall" - wie Roger Garaudy sich einmal ausdrückte. Der Ordoliberalismus hingegen duldet keinen Fuchs im Hühnerstall. Er erwartet vom Staat, dass er feste, die Kleinen schützende Rahmenbedingungen setzt. Nur innerhalb dieser Grenzen haben die selbsttätigen Kräfte freien Raum. Aufklärer: Bei keinem Ordoliberalen geht die auf planende Aktivität setzende Grundhal-tung so deutlich über die Konzeption einer besseren Wirtschaftsordnung hinaus wie bei Alexander Rüstow. Er war von Haus aus kein Ökonom, sondern Altphilologe. Seine geistige Heimat war die griechische Antike. Seine Beschäftigung mit dem Griechentum hat Rüstow mit einer Freiheitsliebe ausgestattet, die dazu führte, dass er sein ganzes Werk der Darstellung des Kampfes zwischen Freiheit und "Überlagerung" - wie er sich ausdrückte - widmete. Die Überwucherung der Wirtschaft und letztlich des Staates durch die Monopole und Oligopole war für Rüstow nur die in unserer Zeit aktuelle Form jahr-tausendealter Überlagerung. Sein dreibändiges Hauptwerk heisst "Ortsbestimmung der Gegenwart" - ein schlechter Titel, weil er insinuiert, dass es um die Probleme der Jahrhundertmitte ginge, in der es entstanden ist. Tatsächlich handelt es sich um eine Kulturgeschichte der Freiheit von den Anfängen bis heute, und als sein Sohn Dankwart A. Rustow eine amerikanische Kurz-fassung des Werkes herausgab, fand er den passenderen Titel "Freedom and Domina-tion". Wenn man die der Aufklärung zuzurechnende Grundhaltung des Ordoliberalismus, seinen auf Veränderung gerichteten Schwung erfassen will, muss man Rüstow lesen. Gleichgültig, wie man über Monopole und Kartelle denkt: Man erfasst, wenn man sich von Rüstow anstecken lässt, den gegenwärtigen Zeitgeist in seiner Passivität, Lethargie und Fauligkeit. Natürlich hat sich dieser Geist nicht explizit unter die Fahne dieser Begriffe gestellt - er verwendet zur Rechtfertigung seiner Untüchtigkeit Begriffe wie Selbstregulierung, Selbstreflexivität und Autopoiesis. Er kennt keine Subjekte, die plan-voll in ausserhalb ihrer selbst liegende Zusammenhänge eingreifen, sondern nur das unendliche Zusammenspiel auf Selbsterhaltung ausgerichteter Systeme. Die Benennung von Ross und Reiter, die Kennzeichnung absichtsvoll agierender Individuen oder Grup-pen ist ihm fremd. Damit unterscheidet er sich grundsätzlich vom Geist der Aufklärung, dem sich Alexander Rüstow verschrieben hat. Wenn diese Epoche von Kant als die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit bezeichnet wurde, dann ist eine solche Epo-che wieder fällig. Denn die auf Selbstregulierung setzende, den handelnden Menschen ignorierende herrschende Auffassung ist eine neue, selbstverschuldete Unmündigkeit, die so abergläubisch ist wie das Mittelalter, von dem Kant die Aufklärung abhebt. Der jetzige Aberglaube bezieht sich auf die systemische Selbstregulierung, die einen menschlichen Eingriff verbietet. Er ist der Aufklärung ebenso krass entgegengesetzt wie der Geist der Romantik, der ihr ein Ende bereitete. Denn die Aufklärung wurde dadurch besiegt, dass ihr - jedenfalls in Deutschland - eine Vorstellung entgegentrat, die menschliches Handeln

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für einen gefährlichen künstlichen Eingriff in organisch-selbsttätiges, quasi naturhaftes Wirken hielt. Wenn man versucht, den Charakter der Aufklärung so abstrakt wie möglich zu fassen, so ist es ihre Vorstellung, dass Abläufe nicht endogen, sondern exogen gesteuert sind. In einer auf die Geschichtsbetrachtung bezogenen überspitzten Form findet sich diese Vor-stellung in Rüstows Konzept von Überlagerung. Wir werden noch sehen, wie sich dieses Motiv - die Weigerung, in den Abläufen Selbstläufigkeit anzunehmen, die Neigung, aktives, bewusstes Handeln entweder aufzuspüren oder zu fordern - als rotes Band durch sein Werk zieht. [...] Irrtum des Liberalismus und Sozialismus: Alexander Rüstows Schriften sind gerade für diejenigen, die in ihrer Jugend ihre Hoffnungen in den Sozialismus gelegt und ihn dann enttäuscht fallengelassen haben, die richtige Lektüre. Denn sie zeigen, dass ein resignier-tes Laissez-faire nicht die einzige Alternative zu sozialistischer Steuerung ist. Der sozia-listische Verbesserungswille ist bei Rüstow erhalten, auch wenn er der Planwirtschaft abgesagt hat. Wie wir sahen, ist Rüstow einen ganz ähnlichen Weg gegangen wie die meisten älteren Intellektuellen unserer Tage. Auch sein Ausgangspunkt war ein idealis-tischer Sozialismus, und wenn er das Ziel einer zentralistischen Planwirtschaft schon früh aufgab, kann man doch davon sprechen, dass seine Grundhaltung Zeit seines Lebens antikapitalistisch blieb. Diese Aussage ist allerdings nur dann richtig, wenn man den Begriff "Kapitalismus" so verwendet, wie Rüstow - unter Berufung auf Walter Eucken - es tat: nicht als Synonym für Marktwirtschaft, sondern für deren monopolistische Entgleisung: "Mit vollstem Recht wehrt man sich dagegen, die Marktwirtschaft der vollständigen Konkurrenz als ,Kapita-lismus' bezeichnen zu lassen - mit vollstem Recht wird betont, dass die ,kapitalistisch’ genannte Wirtschaft des 19. und 20. Jahrhunderts eine schwere pathologische Ent-artungsform, ja in vielem geradezu das Gegenteil der echten Konkurrenzwirtschaft darstelle. Aber gerade wenn dem so ist, brauchen wir doch dringend einen eigenen unterscheidenden Terminus für diese historische Entartungsform, und warum also nicht den seit langem international eingebürgerten Terminus ,Kapitalismus’? Wir unter-scheiden von der freien Marktwirtschaft der vollständigen Konkurrenz, wie sie den normalen Gegenstand der liberalen Wirtschaftstheorie bildet, die infolge eines sub-theologisch verabsolutierten Laissez-faire entartete subventionistisch-monopolistisch-protektionisch-pluralistische Wirtschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, welch letztere wir ,kapitalistisch' nennen." Diese Einengung des Begriffs hat bedeutende Wirkungen: "Sobald man diese bereinigen-de Unterscheidung zwischen der echten Marktwirtschaft der liberalen Wirtschaftstheorie und der entarteten ,kapitalistischen' Wirtschaft des 19. und 20. Jahrhunderts streng durch-führt, kann man die scharfe Kritik des Sozialismus an dieser kapitalistischen Wirtschaft zum weit überwiegenden Teil voll unterschreiben, und darüber hinaus auch die marxisti-sche Grundthese, dass diese ,kapitalistische' Wirtschaft, weitergetrieben, mit Notwendig-keit zu Kommunismus und Kollektivismus führen müsse. Ja man kann geradezu den

Kapitalismus, je später, desto mehr, als einen unbewussten und inkonsequenten Halb-kollektivismus wider Willen bezeichnen." Rüstow stellte fest, dass sich Marxismus und Vulgärliberalismus in dem Irrtum einig wa-ren, dass sie die Monopolisierungstendenz als notwendige und unvermeidliche Folge der Marktfreiheit ansahen. Auf dieser Grundlage sei es falsch gewesen, wenn die Liberalen die marxistische These bestritten hätten, dass diese Entwicklung letzten Endes zum Kol-lektivismus führen müsse. Der tatsächliche Fehler habe nicht hier, sondern in der ge-meinsamen Prämisse gelegen: in der von beiden geteilten Überzeugung von der exogen nicht zu beeinflussenden Unvermeidlichkeit der Entwicklung. Während die Liberalen meinten, dass die menschenfeindlichen Auswirkungen der Wirtschaftsfreiheit unvermeid-lich seien und man nur wenig tun könne, um ihre schlimmsten Folgen durch soziale Re-formen einzudämmen, behaupteten die Sozialisten, dass das liberale System, weil es sei-ner Natur nach unverbesserlich sei, ganz abgeschafft und ersetzt werden müsse. [...]"Wogegen wir uns wenden, das sind die Irrtümer, die Marx vom historischen Libera-lismus übernommen hat. Und wenn wir, gemeinsam mit den Sozialisten, den Kapitalis-mus ablehnen, so erst recht und um so mehr den Kollektivismus als einen auf die äus-serste Spitze getriebenen Kapitalismus. Und unser aller schwerster Vorwurf gegen den Kapitalismus ist gerade der, dass er - wie es die Kollektivisten selber lehren - früher oder später unvermeidlich in den Kollektivismus führt." Den status controversiae hat Rüstow deshalb folgendermassen klargestellt: 1. Vulgärliberalismus wie Marxismus glauben zu Unrecht, dass der Kapitalismus die zwangsläufige ökonomische Folge der Konkurrenzwirtschaft sei. 2. Der Liberalismus bestreitet mit Recht, dass der sozialistische Kollektivismus die zwangsläufig letzte Folge der Konkurrenzwirtschaft sei. 3. Er bestreitet mit Unrecht den vom Marxismus erkannten zwangsläufigen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Kollektivismus. Subtheologie: Rüstow bezeichnet die Verabsolutierung des Laissez-faire als "subtheo-logisch" oder "theologisch-metaphysisch". Befassen wir uns mit dieser Kennzeichnung, so stossen wir auf den Kerngedanken, mit dem Rüstow den Ordoliberalismus bereichert hat. Rüstow stellt fest, dass hinter dem Konzept der Konkurrenzwirtschaft die Vorstellung einer von Gott dem Schöpfer selbst gesetzten unsichtbaren Wirtschaftsverfassung steht, vor der alle unzulänglichen menschlichen Verfassungsversuche zu weichen haben: cedant deo. Er weist nach, dass Adam Smith und seine Vorgänger, die Physiokraten, sich in drei metaphysisch gegründete Deszendenzlinien eingeordnet haben: eine pythagoreisch-stoi-sche, eine theologisch-deistische und - besonders überraschend - eine chinesisch-kosmo-logische. Zur Begründung des stoischen Einflusses zitiert Rüstow Adam Smiths Worte: "Die alten Stoiker waren der Meinung, dass wir - da die Welt durch die alles regelnde Vorsehung eines weisen, mächtigen und gütigen Gottes beherrscht werde - jedes einzelne Ereignis als einen notwendigen Teil des Weltplanes betrachten sollen, als etwas, was die Tendenz habe, die allgemeine Ordnung und Glückseligkeit des Ganzen zu fördern: dass darum die Lasten und Torheiten der Menschen einen ebenso notwendigen Teil dieses Planes bilden

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wie ihre Weisheit und Tugend und dass sie durch jene ewige Kunst, die Gutes aus Bösem schafft, dazu bestimmt seien, in gleicher Weise für das Gedeihen und die Vollendung des grossen Systems der Natur zu wirken." Dazu sagt Rüstow: "Man könnte Adam Smiths Verhältnis zur Stoa geradezu so beschrei-ben, dass er der stoischen Aufforderung, ,jedes einzelne Ereignis als einen notwendigen Teil des Weltplanes zu betrachten, als etwas, das (auch bei scheinbar entgegen gesetzter Absicht) die Tendenz habe, die allgemeine Ordnung und Glückseligkeit des Ganzen zu fördern' - dass er dieser von ihm selbst in der ,Theory' so formulierten allgemeinen Auf-forderung im ,Wealth of Nations' für den Bereich der Wirtschaft und die Rolle des indivi-duellen Selbstinteresses in ihr auf sehr spezielle und detaillierte Weise nachgekommen ist." Rüstow weist darüber hinaus noch viele Textstellen nach, in denen der metaphysisch-deistische Hintergrund dieser Vorstellung durchleuchtet - besonders deutlich in den Worten aus Adam Smiths "Theory of Moral Sentiments": "Man kann also in gewissem Sinne von uns sagen, dass wir Mitarbeiter der Gottheit sind und dass wir, soweit es in unserer Macht steht, die Pläne der Vorsehung ihrer Verwirklichung näher bringen. Wenn wir anders handeln, dann scheinen wir dagegen den Plan gewissermassen zu durch-kreuzen, den der Schöpfer der Natur zur Herbeiführung der Glückseligkeit und Vollkom-menheit der Welt entworfen hat, und scheinen uns, wenn ich so sagen darf, gewisser-massen als Feinde Gottes zu erklären." In der heutigen Rezeption des klassischen Liberalismus spielt die Tatsache keine Rolle mehr, dass die liberale Theorie der Marktwirtschaft einmal den Charakter eines Erlö-sungswissens trug. Sie wurde vergessen. Dem gegenwärtigen Glauben an die selbst-regulierenden Kräfte der Marktwirtschaft fehlt die numinose Stimmung. [...] Heute sind Kybernetik, Systemtheorie und Chaoslehre die Wissenschaften, aus denen der Zeitgeist seine Überzeugung herleitet, dass man die Abläufe am besten sich selbst überlässt, dass sie die durch äussere Einwirkung nur zu störende endogene Fähigkeit haben, einen be-friedigenden Gesamtzustand herzustellen. [...] Wenn man das heutige Vertrauen in die Selbstregulierung mit dem des 18. Jahrhunderts vergleicht, zeigen sich allerdings bedeutende Unterschiede. Der Hauptunterschied besteht darin, dass dieses Vertrauen in der Zeit der Aufklärung, in der Zeit des absolutistischen Staates also, zu völlig anderen Konsequenzen führte als das heutige. Denn damals bildete es die theoretische Grundlage für die Bereitschaft zu einer radikalen Veränderung, wäh-rend es heute eine quietistische Haltung motiviert. [...] Während man heute nicht nur den Wirtschaftsverkehr selbst, sondern auch seine Rahmenbedingungen dem freien Spiel der Kräfte anheim gibt, ging es dem klassischen Liberalismus darum, diese Rahmenbedingungen grundsätzlich zu verändern. Eine weitere prinzipielle Verschiedenheit zwischen der Situation im 18. Jahrhundert und der gegen-wärtigen ist mit Rüstow in den Blick zu nehmen. Während wir heute die verheerenden Wirkungen eines losgelassenen Liberalismus kennen, konnte es Adam Smith und seinen Zeitgenossen nur darum gehen, die Emanzipation der Wirtschaft aus der merkantilisti-schen Regulierung zu erkämpfen. Während wir heute vor der Aufgabe stehen, die Be-

dingungen festzustellen, unter denen sich die freigelassenen Kräfte wohltätig entfalten, ging es im 18. Jahrhundert um die Freisetzung selbst. Man kann deshalb nicht erwarten, dass Adam Smith bereits imstande war, die soziologi-schen und ethischen Bedingungen dafür anzugeben, dass die unsichtbare Hand auch tatsächlich wohltätige Wirkungen entfalten kann. Aber er kannte diese Bedingungen. Er machte sie nur nicht als solche explizit. In seinem Werk finden sich immer wieder Hin-weise darauf, dass es zu seiner Zeit noch lebendige, ja selbstverständliche moralische Einschränkungen bei der Betätigung des Selbstinteresses gab. Immer wieder spricht Smith von dem „vom inneren Richter gebilligten“, „wohlverstandenen“ Selbstinteresse, von einem Handeln „innerhalb der Schranken der Gerechtigkeit“. Auch Quesnay benutzt die Formulierung „intérêt bien entendu“. "Hinter den sozialethischen Einschränkungen, denen bei Smith die Betätigung des wirt-schaftlichen Eigeninteresses noch unterliegt, hatte ursprünglich die Sanktion von Religion und Kirche gestanden. Im Zuge der allgemeinen Verweltlichung waren jedoch als Garan-ten nur noch Gewissen und Sitte übrig geblieben, und der fortschreitende Auflösungspro-zess machte bei dieser Zwischenstufe nicht halt. Während aber die Schranken ihrer reli-giösen Würde immer mehr verlustig gingen, wuchs dem Eigeninteresse seinerseits eine solche Würde neu zu. Denn wenn der wirtschaftliche Eigennutz auf geheimnisvolle Weise einen unmittelbaren göttlichen Auftrag besitzt, von Gottes unsichtbarer Hand selbst geleitet wird, so hat er es schliesslich nicht mehr nötig, sich von Menschen ethisch kon-trollieren und einschränken zu lassen." "Competition was designed by providence to provide an automatic substitute for honesty", zitiert Rüstow eine überspitzte Formulie-rung R. H. Tawneys. [...] "Man hatte Gott walten lassen wollen und gab schliesslich dem Teufel freie Hand, dem Teufel des Strebens nach Bereicherung auf Kosten anderer, der Machtgier und der Herrschsucht." Staatsverständnis: Die bisherigen Gedankenlinien laufen darauf hinaus, dem Staat eine andere Rolle zuzuweisen, als es der klassische ebenso wie der Neoliberalismus tat. Denn das geforderte Subjekt, das von aussen - in exogener Einwirkung - das Verhängnis ab-wenden kann, in das eine sich selbst überlassene Marktwirtschaft hineinläuft, kann nur der Staat sein. Dieser Gedanke widerspricht dem Ideal des Liberalismus auf schärfste. Denn ihm entsprach ein möglichst schwacher Staat, ihm entsprach das Staatsideal, das die Gegner des Liberalismus zutreffend als "Nachtwächterstaat" verspottet haben. "Je schwächer der Staat war und je mehr er sich genötigt sah, sich auf die Wahrung von Sicherheit und Ordnung zu beschränken, um so weniger würde er - so dachte man - in Versuchung kommen, auf die Sphäre des freien Wirtschaftssystems überzugreifen. Das selbstgesetzte Ideal des Liberalismus war ein schwacher, zugleich jedoch neutraler und unabhängiger Staat. Es fiel niemandem auf, dass diese beiden Anforderungen kontradik-torisch waren. Niemand begriff die offensichtliche soziologische Wahrheit, dass Stärke und Unabhängigkeit des Staates interdependente Variablen sind und dass nur ein starker Staat mächtig genug ist, seine Unabhängigkeit zu wahren. [...] Der Staat verlor seine Unabhängigkeit und unterlag den Angriffen der Pressure-groups. Rüstow beschreibt die Entwicklung als "Periode einer hemmungslos zunehmenden

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Ausdehnung der Staatssphäre [...], die schliesslich zur Allmacht des totalitären Staates führen sollte. Zweifellos ist das eine immer stärkere Zunahme öffentlicher Macht. Aber nicht eigentlich, oder nur formell, der Macht des Staates im alten Sinne, sondern der Macht erst mehrerer, dann einer einzigen Interessentengruppe, pressure group, die sich des Staates bemächtigt hatten." Die folgenden Worte beschreiben den Parlamentarismus der Weimarer Republik - die Parteispendenaffäre der Gegenwart hat sie beunruhigend aktuell gemacht: "Die demokra-tische parlamentarische Struktur der wirtschaftlich führenden Staaten führte dazu, dass die Wirtschaftskorruption sich auf die staatliche Innenpolitik, die politischen Parteien und den Parlamentarismus selbst ausbreitete. Die politischen Parteien wurden allmäh-lich in parlamentarische Agenturen wirtschaftlicher Interessengruppen umgewandelt und von ihnen finanziert." Obwohl wir heute so unübersehbare Hinweise auf den Verfall von Staatlichkeit haben, wird in der Rückgewinnung von staatlichem Selbstbewusstsein und staatlicher Präsenz kein Heilmittel gesehen. Im Gegenteil: Die Forderung nach einer Dominanz des Staates gehört zu den Hindernissen, die der Rezeption des Ordoliberalismus heute entgegen stehen. Denn darin sind sich alle Zeitströmungen gegenwärtig einig: Vom Staat erwartet man nichts. Auch und gerade diejenigen, die den antimonopolistischen - mit Rüstows Worten: antikapitalistischen - Impuls teilen, wollen den Staat möglichst nicht ins Spiel bringen. Dieses Hindernis wiegt umso schwerer, als es für die Veränderung, die zur Verwirkli-chung der ordoliberalen Zielsetzung nötig ist, nicht genügt, dass sich der Staat in die Rolle der Marktpolizei begibt. Zwar würde er sich in einem funktionierenden ordolibera-len System in dieser begrenzten Rolle befinden - zur Etablierung eines solchen Systems aber wäre zunächst einmal ein Coup de force nötig, der einen Staat verlangt, der mehr kann, als die Wirtschaft milde im Sinne einer freien Konkurrenz regulieren. Zur Etablie-rung einer solchen Marktpolitik bedarf es eines Staats, der bereit ist, gegenüber der Wir-tschaft die Machtfrage zu stellen. Da die Konkurrenzbehinderung eine globale Dimension hat, müsste eine effektive De-konzentrationspolitik ebenfalls Weltmassstab haben. Wer sich mit dem Ordoliberalismus befasst, muss sich deshalb mit dem Gedanken an eine weltweite Marktpolitik befassen - einem Gedanken, der infolge eingefleischter Idiosynkrasien auf Ablehnung stösst und nur dann eine Chance hat, akzeptiert zu werden, wenn die Dringlichkeit der Regulierung des weltwirtschaftlichen Chaos deutlich genug empfunden wird. Alexander Rüstow: Zwischen Kapitalismus und Kommunismus 1. Teil: Marktwirtschaft oder Planwirtschaft Rang der Wirtschaft: Das Gewicht, das wir der Wirtschaft beimessen, beruht nicht etwa darauf, dass wir sie mit dem 19. Jahrhundert für das wichtigste und zentralste aller Lebensgebiete hielten. Die Überwindung dieses abergläubischen ökonomozentrischen Materialismus scheint uns vielmehr eine der wichtigsten Vorbedingungen, um wieder zu

einer gesunden und menschlichen Rangordnung der Werte und damit auch zu einer gesunden Einordnung und Ordnung der Wirtschaft selber zu kommen. Wir beginnen deshalb mit der Wirtschaft, weil sie der unterste aller Lebensbereiche ist, derjenige, dessen Aufgabe es ist, allen anderen sich unterzuordnen und zu dienen, und um von da aus zur Gestaltung des Lebens überhaupt in Gesellschaft, Staat und Menschheit aufzu-steigen. An eine wesentlich höhere Stelle der Wertskala kommt die Wirtschaft abnorma-ler- und krankhafterweise nur dann zu stehen, wenn sie vorübergehend nicht in der Lage ist oder daran verhindert wird, ihre Funktion zu erfüllen und den Menschen auch nur das Existenzminimum zu liefern - wie es das deutsche Volk 1945/48 erfahren hat. Aber das ist ein Zustand, der dann zunächst einmal mit allen Mitteln beseitigt werden muss, ehe man weiterdenken und weiterreden kann. Planmässigkeit: Der Gegensatz der erfolgreichen Planmässigkeit der Technik gegenüber der beschämenden Planlosigkeit aller anderen Lebensgebiete war nicht erst von den amerikanischen Technokraten empfunden worden, sondern bereits im 19. Jahrhunden in dem Masse, in dem die unbewusste Selbstverständlichkeit der Tradition auf allen diesen Gebieten fragwürdig geworden und die Reste dieser Traditionen selber degeneriert und verkalkt waren. Unter solchen Umständen ergibt sich tatsächlich die Notwendigkeit, die Dinge, deren bisheriger selbsttätiger Ablauf nicht mehr befriedigt, einer planmässigen Untersuchung und Regelung zu unterziehen, eine Forderung, die wir im folgenden selbst immer wieder zu stellen haben werden. In allen diesen Fällen handelt es sich darum, Dinge, die man bisher mehr oder weniger sich selbst überliess, durch Erkenntnis ihrer Struktur beherrschen und planmässig in den Dienst unserer Ziele stellen zu lernen. Die meisten dieser Fragen sind an Rang und Be-deutung denen der Wirtschaft weit überlegen. Es ist aber bezeichnend für den Wirt-schaftsmaterialismus unserer Zeit, dass ihr die "in der Luft liegende" und berechtigte Forderung der Planmässigkeit, die in Wahrheit viel höher und viel weiter zielt, immer nur unter der Form der Forderung nach Planwirtschaft zu Bewusstsein kommt. Das hat nun insofern geradezu etwas Tragikomisches, als von sämtlichen Lebensgebieten ausgerechnet gerade die Wirtschaft das einzige ist, wo es sehr ernsthafte Argumente für einen - bewussten und planmässigen - Verzicht auf durchgehende Planung (im engeren Sinne) gibt, während allerdings auf anderen Gebieten - einschliesslich dem der Wirt-schaftspolitik - die bisherige mehr oder weniger grosse Planlosigkeit auf die Dauer völlig unvertretbar und unentschuldbar ist. Marktwirtschaftspatent: Zu den genialsten Leistungen der Aufklärung gehört die Ent-deckung des unsichtbaren Automatismus der Marktwirtschaft. Dieser Automatismus bietet den ungeheuren Vorteil, dass, wenn man unter bestimmten Bedingungen die Wir-tschaft seinem Spiel überlässt, der egoistische Vorteil jedes einzelnen zusammenfällt mit dem Gesamtinteresse aller. Bei allen anderen wirtschaftspolitischen Versuchsanordnun-gen bleibt die Gegensätzlichkeit zwischen Eigennutz und Gemeinnutz bestehen, und der Eigennutz muss durch Ermahnungen und Verbote, Prämien und Strafen, Vorschriften und Kontrollen erst dem Gemeinnutz untergeordnet werden, was unvermeidlich zu starken

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inneren Reibungen, Hemmungen und Kraftverlusten führt. Danach kann man sich vor-stellen, wie sehr die ohne solche Bremsen arbeitende Marktwirtschaft, solange sie konstruktionsgemäss funktioniert, an Wirkungsgrad allen anderen Wirtschaftsformen überlegen sein muss. Wohl gibt es Menschen, die im Konfliktfalle wirklich Gemeinnutz vor Eigennutz stellen. Jedoch wird das stets nur ein mehr oder weniger kleiner Bruchteil sein. An der Wirtschaft aber sind alle beteiligt. Stellt man sie also auf eine Einstellung, die nur bei ganz wenigen als mit Bestimmtheit vorhanden vorausgesetzt werden kann, während allen übrigen ein solcher Einstellung entsprechendes Verhalten von aussen aufgenötigt werden muss, so wird eben der Nutzeffekt dementsprechend gering sein, und die Häufigkeit des geheimen Zuwiderhandelns oder der nur augendienstmässigen Erfül-lung verkündeter Pflichten wird zudem demoralisierend und zersetzend wirken. Schaltet man dagegen auf dem Gebiet der Wirtschaft Gemeinnutz und Eigennutz parallel, so kann man mit der grössten überhaupt erreichbaren Sicherheit auf die allgemeine und regelmässige Befolgung dieser Ordnung rechnen, und zwar auch da, wo jede Kontroll-möglichkeit fehlt. Denn eben der Eigennutz, der im anderen Falle mühsam und mit sehr problematischem Erfolg bekämpft werden muss, läuft ja hier gerade vor dem eigenen Wagen, und zwar sehr glücklich zusammengespannt mit Aktivität, Leistungsfreude und Leistungsstolz. Dabei braucht man keineswegs zu befürchten, dass für die Betätigung von Pflichttreue und Opferbereitschaft, sowohl ausserhalb der Marktwirtschaft als auch an ihren Rändern, nicht Gelegenheit noch mehr als genug bliebe. Aber die Spontaneität dieser Tugenden wird nicht, wie im anderen Fall, überbürdet. Allerdings findet dieses Zusammenfallen der Kraftlinien von Eigennutz und Gemeinnutz nur in einem bestimmten, genau abgrenzbaren Teilbereich des Feldes statt. Will man damit arbeiten, so ist demnach erste Bedingung, sicherzustellen, dass sich das Wirt-schaftsleben streng innerhalb der Grenzen dieses Teilbereichs hält. Diese Sicherstellung ist Aufgabe der staatlichen Marktpolizei, eine für Gesetzgebung und Verwaltung gleich verantwortungsvolle und wichtige Aufgabe, die hohe Anforderungen an die Kraft, Unab-hängigkeit, Einsicht und Wachsamkeit des Staates und seiner Organe stellt. Alle diese notwendigen Voraussetzungen marktpolizeilicher Natur gerieten aber im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr in Vergessenheit: Schon die liberale Theorie des 18. Jahrhunderts hatte, in deistischer Theologie befangen und ihrer polemischen Einstellung gegenüber dem Staat entsprechend, die positive Herausarbeitung der staatlichen Randbe-dingungen der Marktwirtschaft vernachlässigt. Daraus ergab sich eine Degeneration der Marktwirtschaft im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere ein Überwuchern marktwirtschaftsfremder und -feindlicher Tendenzen. [...] Endogene und exogene Störungen: Die Fähigkeit zur Selbstheilung endogener Stö-rungen scheint der Marktmechanismus in praktisch unbegrenztem Masse zu besitzen. Dagegen hat seine Fähigkeit zur selbsttätigen Überwindung exogener Störungen eine obere Grenze, die wesentlich tiefer liegt, als es Adam Smith selbst und viele seiner Anhänger anzunehmen geneigt waren. Dass es eine solche Grenze geben muss, folgt ja schon daraus, dass die Marktwirtschaft für ihre Funktionsfähigkeit bestimmter marktpoli-zeilicher Randbedingungen bedarf. Dabei ist allerdings zu unterscheiden, ob diese obere

Grenze gegebenenfalls darin besteht, dass der Mechanismus als solcher nicht mehr imstande ist, sich nach einer Störung wieder ins Gleichgewicht zu setzen, oder ob eine solche Wiedergewinnung des Gleichgewichts zwar auch selbsttätig zustande kommen, aber dem Marktrande so starke Belastungen zumuten würde, dass er nicht fähig oder willig ist, diese Belastungen auf sich zu nehmen, oder dass man ihm jedenfalls diese Fähigkeit oder Willigkeit nicht zutraut. Worauf aber auch die obere Grenze beruhen möge, auf jeden Fall ergibt sich aus ihrem Bestehen das Problem, welche exogenen Hilfsmassnahmen die Bedingung erfüllen, 1. die betreffende Störung tatsächlich wirksam zu überwinden und 2. die automatische Funktionsfähigkeit des Marktmechanismus wiederherzustellen und nicht etwa kumulativ zu untergraben. Diejenigen exogenen Hilfsmassnahmen, die in den beiden Jahrzehnten zwischen den Weltkriegen und in den Jahren seit dem Ende des zweiten in so überreicher Fülle über die exogen gestörten Wirtschaften hereingebrochen sind, haben teilweise schon ihren ersten und unmittelbarsten Zweck nicht oder nur sehr schlecht erfüllt. Aber auch diejenigen von ihnen, die dieser ersten und selbstverständlichen Bedingung mehr oder weniger genügten, legen den Verdacht nahe, dass ihnen dies nur auf Kosten einer kumulativen Zerrüttung und Lähmung des Marktmechanismus als solchen gelungen ist. So insbesondere kurz-fristige Sanierung eines engeren Bereiches auf Kosten langfristiger Zerrüttung eines weiteren. Auf jeden Fall ist das der entscheidende Massstab, der ganz systematisch und mit aller Strenge angelegt werden muss. Markt oder Plan: Worüber wir uns grundsätzlich klar und schlüssig werden müssen, das ist, ob wir das Marktwirtschaftspatent - das seit Adam Smith von der theoretischen Nationalökonomie gehalten und mit einer Fülle von Zusatzpatenten kostenlos in Lizenz gegeben wird - wegen des ausserordentlichen Produktivitätsvorteils seines Schaltungs-prinzips anwenden wollen oder nicht. Die Entscheidung dieser grundlegenden Vorfrage ist wesentlich von soziologischen Strukturproblemen abhängig, deren Bearbeitung ernst-lich in Angriff genommen werden muss, insbesondere von der Frage, welche strukturel-len Rückwirkungen eine systemgemäss funktionierende Marktwirtschaft auf den Integra-tionszustand ihrer Träger hat, bzw. mit welchen Integrationsstrukturen, und daher auch mit welchen Staatsformen, sie vereinbar ist. Dass sich unter den soziologischen Rückwirkungen der Marktwirtschaft auch ungünstige befinden werden, steht dabei natürlich von vornherein ausser Zweifel. Diese ungünstigen Wirkungen sind seit mehr als 100 Jahren, insbesondere aber seit Sismondi, durch die Kri-tik einerseits der Romantik, andererseits des Sozialismus, in hellstes Licht gestellt und dabei nicht selten auch, teils in sentimentaler, teils in gehässiger Weise, stark übertrieben worden. Vor allem aber hat man den finster-brutalen Geist des 19. und 20. Jahrhunderts, den das manchesterliche Laissez-faire in der Wirtschaft sich fessellos austoben liess, für den Charakter der Konkurrenz als solcher gehalten, während in Wahrheit die faire Leis-tungskonkurrenz des vollständigen Wettbewerbs, wie sie die Entdecker des Marktmecha-nismus im Auge hatten, der menschenfreundlich-optimistischen Atmosphäre des 18. Jahrhunderts sehr viel näher steht, wie wir noch sehen werden. [...]

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Wenn in der Planwirtschaft gegenüber der Marktwirtschaft an Stelle des objektiven Wirtschaftserfolgs als entscheidendes Kriterium das Urteil des Vorgesetzten oder vielmehr der ganzen Kette von Vorgesetzten, tritt, und (nach einer geistreichen Formu-lierung von Wilhelm Röpke) an die Stelle des Gerichtsvollziehers der Scharfrichter, so dürften das Strukturverhältnisse sein, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch und gerade menschlich, nicht eben zugunsten der Planwirtschaft ins Gewicht fallen werden. Dagegen besteht ein zweifelloser und gewichtiger Vorsprung der Planwirtschaft darin, dass ihr Prinzip sich auch dem blutigsten Laien - und ihm besonders - binnen zehn Minuten mit Begeisterung klarmachen lässt, während zum Verständnis des unsichtbaren und komplizierten Mechanismus der Marktwirtschaft nicht einmal immer ein abgeschlos-senes wirtschaftswissenschaftliches Studium auszureichen scheint. Bei der Abwägung zwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft darf man auch nicht, wie bisher regelmässig, den Fehler begehen, stillschweigend vorauszusetzen, dass eine staatliche Planwirtschaft das gleiche Ziel höchster Produktivität in der Deckung der durch die Wirtschaft zu befriedigenden Bedürfnisse verfolgen würde wie die Markt-wirtschaft, nur in anderer Form und mit anderen Mitteln. In Wahrheit aber lassen sich in der Wirklichkeit Wirtschaftsziele und Wirtschaftsformen nicht wie auf dem Papier be-liebig miteinander koppeln, sondern es gibt da zwangsläufig gegenseitige Zuordnungen, die man bisher meist übersehen zu haben scheint. Die Frage der gegenseitigen Zuord-nung zwischen Staats- und Sozialstruktur einerseits und Wirtschaftsstruktur anderseits ist eines der wichtigsten Problemgebiete, das eine produktive Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftswissenschaft und Soziologie erfordert. Es ist übrigens unschwer abzusehen, dass sich aus einer solchen Untersuchung die sozio-logische Unvereinbarkeit zwischen Demokratie und Planwirtschaft ergeben würde, und also der utopische Charakter aller noch so scharfsinnigen wirtschaftstheoretischen Kons-truktionen in dieser Richtung. Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Verwirklichung jeder Wirtschaftsordnung ja nur auf politisch-soziologischem Wege möglich ist, und dass es daher, um mit gutem Gewissen eine bestimmte Wirtschaftsordnung politisch propagieren zu können, ganz und gar nicht genügt, sie wirtschaftstheoretisch untersucht und als logisch in sich möglich nachgewie-sen zu haben. Es muss vielmehr stets erst noch geprüft werden, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen, ihre Durchführung politisch und soziologisch möglich ist. Gegen diese elementare Forderung ist immer wieder aufs schwerste verstos-sen worden. Eine der ökonomisch-soziologischen Zuordnungen, die sich bei einer solchen Prüfung ergeben, ist die, dass jede totalitäre Staatswirtschaft mit sozialpsychologischer Notwen-digkeit nicht nur Ziele eines expansiven Imperialismus nach aussen, sondern auch in mehr oder weniger hohem Grade Ziele der Repräsentation und der Propaganda nach innen und aussen verfolgt, d. h. also Ziele, die schon als solche, ganz abgesehen von der Art ihrer Verfolgung, wirtschaftlich unproduktiv sind. Dabei handelt es sich, abgesehen von den enormen Rüstungskosten, nicht so sehr um solche Aufwendungen, die ausdrück-lich und ausschliesslich für politische Propagandazwecke gemacht werden, und also sozusagen auf Reklamekonto zu verbuchen wären. Sondern es handelt sich vor allem um

das fortwährende Hineinspielen des Propagandagesichtspunktes in die Sphäre der Pro-duktion selber. Staatswirtschaft wird stets zum Prahlen neigen, wird - soweit nicht Rüs-tungswirtschaft - stets in mehr oder minder hohem Masse Repräsentationswirtschaft, Prestigewirtschaft, Reklamewirtschaft sein, dem "Kult des Kolossalen" (Röpke) frönen. Übrigens ist zu bemerken, dass die Frage des Produktivitätsgrades der zu wählenden Wirtschaftsordnung für uns praktisch weit weniger wichtig sein könnte - der Mensch lebt nicht von Brot allein -, wenn das 19. Jahrhundert uns die Erde nicht in einem so unsinnig übervölkerten Zustand hinterlassen hätte. [...] Wirtschaftliche Sicherheit: Es sind eine ganze Anzahl geistiger Strömungen, die aus verschiedenen Quellen entspringend und zunächst in ganz verschiedenen Richtungen sich bewegend, alle auf die Forderung nach Planwirtschaft konvergieren; die Mannigfaltig-keit dieser konvergierenden Motivierungen verleiht unverkennbar dieser Forderung eine grosse Wucht, ja zuweilen fast den Eindruck der Unwiderstehlichkeit. Allerdings wird man für die meisten dieser Strömungen letzten Endes zu einer negativen Beurteilung gelangen. Aber es wäre doch sonderbar - und müsste übrigens zu einem trostlosen Pessi-mismus in der Einschätzung des Menschen führen -, wenn es für eine so allgemein und mit solchem Nachdruck sich erhebende Forderung nicht auch berechtigte und haltbare Gründe gäbe. Diese berechtigten Gründe liegen, wie wir gleich sehen werden, auf dem Gebiet der Arbeitsteilung und ihrer Folgen. Systematisch und historisch der Arbeitsteilung voran geht ein Zustand vollständiger wirtschaftlicher Autarkie der kleinsten sozialen Einheiten als Selbsterzeuger und Selbstversorger. Die Arbeitsteilung, sobald sie sich entwickelt (und der Austausch der Produkte und Leistungen so geteilter Arbeit), kann sich zunächst beschränken auf periphere Überschüsse, während für das Existenzminimum die Autarkie aufrechterhalten bleibt, ein Zustand, den wir periphere Arbeitsteilung mit Mindest-autarkie nennen wollen. Oder sie kann äussersten Falls sich auf die gesamte Produktion und den gesamten Bedarf beziehen, was wir als zentrale Arbeitsteilung bezeichnen wollen. In der gesamten älteren Wirtschaftsgeschichte der Menschheit, von der ursprünglichen Sammelstufe bis zur Ausbreitung des pflugwirtschaftlichen Bauerntums, war es so, dass die regelmässige wirtschaftlich relevante Zusammenarbeit sich im engsten Rahmen der Familie - bei den Nomaden der Grossfamilie, bei den Jägern der Horde - abspielte, und dass diese kleinsten sozialen Einheiten - den Molekülen im Aufbau der Materie ent-sprechend wirtschaftlich unabhängig und autark waren. Zwar entwickelte sich daneben schon erstaunlich früh ein arbeitsteiliger Tauschhandel geringeren oder grösseren Umfangs über kürzere oder weitere Entfernungen. Aber diese Arbeitsteilung blieb peripher, bezog sich auf Überschussproduktion einzelner Speziali-täten; es gab niemanden, der für seine Existenz und die seiner Familie von dem Funktio-nieren oder Nichtfunktionieren dieser peripheren Aussenarbeitsteilung abhängig gewesen wäre. Und dabei blieb es in weiten Bereichen noch lange. Auch die ländlichen Gewerbe, die sich allmählich herausspezialisierten, wurden in aller Regel neben- oder halbberuflich neben der Landwirtschaft betrieben, die fortfuhr, dem betreffenden Handwerker und

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seiner Familie wenigstens das Existenzminimum autark zu sichern. Die Mindestautarkie blieb erhalten. Dieser Zustand der Mindestautarkie bei nur peripherer Arbeitsteilung besteht innerhalb der bäuerlichen Landwirtschaft und der landwirtschaftlichen Bevölkerung im Wesentli-chen auch noch heute. Und wo etwa der dänische Bauer seine hoch qualifizierten Pro-dukte fast sämtlich verkauft, um für seinen Eigenbedarf dafür billigere einzuhandeln (etwa Margarine statt Butter), da besteht diese Mindestautarkie doch wenigstens noch latent, da er bei Absatzstockung oder sonstigen Marktstörungen jederzeit auf den Selbst-verbrauch seiner eigenen Produkte zurückgreifen kann. Erst Überschichtung und Verstädterung liessen Bevölkerungsgruppen entstehen, die wirt-schaftlich nicht mehr autark, sondern selbst bezüglich des Existenzminimums in mehr oder minder hohem Masse fremdabhängig und auf arbeitsteiligen Austausch angewiesen waren, so dass also unter Verlust der Mindestautarkie zentrale Arbeitsteilung Platz griff. [...] Der Sieg der Wirtschaftsfreiheit im 19. Jahrhundert und die Entwicklung der ungebunde-nen Konkurrenzwirtschaft schuf demgegenüber eine völlig neue Situation. Zwar blieben die landwirtschaftlichen Produzenten nach wie vor bezüglich ihres Existenzminimums in der Regel autark, und der Staat sicherte nach wie vor die wirtschaftliche Existenz seiner Beamtenschaft und seines Heeres auf herrschaftliche Weise. Aber innerhalb der immer stärker anwachsenden städtischen Schichten von Gewerbe und Handel, einschliesslich der so genannten freien Berufe, wurde jetzt jeder einzelne mit seiner Existenz und der seiner Familie vom "Markt" abhängig, d. h. davon, ob und zu welchem Preise er für die Waren oder Leistungen, die er anzubieten hatte, Abnahme fand. Diese neu geschaffene Lage war bei weitem am empfindlichsten für den Arbeiter, den Proletarier, der nichts anzubieten hatte als seine - dadurch zu einer Marktware degra-dierte - Arbeit. Sobald er für diese Ware keinen Abnehmer fand, sah er sich mit seiner Familie dem wirtschaftlichen Nichts gegenüber, dem Elend preisgegeben. Zwar trat dieser Fall in der Regel nur für verhältnismässig wenige, nur selten und nur für mehr oder weniger kurze Zeit ein, und die Wirtschaftstheorie konnte nachweisen, dass diese Selten-heit und relative Kürze der Arbeitslosigkeit ein notwendiges und gesetzmässiges Ergebnis des ungestörten Marktmechanismus ist. Aber das war für den Arbeiter, dessen Verständ-nis sich dieser fachwissenschaftlichen Deduktion entzog, ein schlechter Trost. [...] So empfindlich dieser Verlust der wirtschaftlichen Sicherheit für die von ihm Betroffe-nen auch war, so wurde ihre Lage doch noch wesentlich verschlimmert durch den damit Hand in Hand gehen den Prozess der sozialen Atomisierung. Der Mensch ist, wie Aristo-teles es klassisch formuliert hat, seiner Natur nach ein Gemeinschaftswesen. Nicht nur physisch und materiell ist er auf Gemeinschaft, auf gegenseitige Hilfe, angewiesen, son-dern noch mehr psychisch und ideell. Unter allen ursprünglichen Lebensbedingungen, bis zu denen des Bauerntums einschliesslich, werden diese beiden Gemeinschaftsbedürfnisse, das physische und das psychische, gleichzeitig und in einem auf das vollkommenste be-friedigt. Unter modernen industriellen Verhältnissen jedoch ist es gerade umgekehrt: Die tägliche Arbeit, die die bäuerliche Familie verbindet, die sich auf dem Bauernhof im engsten Rahmen dieser Familie abspielt, reisst die Proletarierfamilie auseinander, auch

die Familie der Stehkragenproletarier, und selbst noch die des Beamten und des Ange-hörigen der meisten sogenannten freien Berufe: Die Arbeit des Familienvaters spielt sich regelmässig von früh bis spät ausserhalb der Familie ab. Die Arbeit der Mutter, falls sie erwerbstätig ist, desgleichen. Und die Kinder werden bereits durch Kindergarten und Schule für den grössten Teil des Tages der Familie entzogen, um, sobald sie der Schule entwachsen sind, sich ihrerseits gleichfalls einen familienfremden Arbeitsplatz zu suchen. Die Behausung der Familie, eine kurzfristig kündbare, oft wechselnde, meist enge und hässliche Mietswohnung in der Steinwüste einer Grossstadt, dient im wesentlichen nur noch als Schlafstelle mit Frühstück und Abendessen. Von Naturverbundenheit, Boden-ständigkeit, Heimatgefühl kann unter solchen Verhältnissen natürlich keine Rede sein, wenn sich auch rührenderweise das unausrottbare Bedürfnis des Menschen sogar an das betreffende Grossstadtviertel, und sei es noch so hässlich, mit Jugenderinnerungen und Heimatgefühlen hängt. Und Gemeinschaftsverbundenheit, Sicherheit und Wärme der sozialen Einbettung können natürlich ebensowenig gedeihen. Vom wirtschaftlichen Marktrisiko, der Marktunsicherheit, werden im Übrigen ja nicht nur die Arbeiter, sondern auch alle anderen Beteiligten, insbesondere auch die Unter-nehmer, getroffen, wenn auch in einer anderen und weniger ungünstigen Lage, ohne die für den Proletarier charakteristische jederzeitig unmittelbare Bedrohung seiner nackten Existenz. Bei absoluter oder wenigstens minimaler wirtschaftlicher Autarkie des einzelnen bzw. der Familie liegt mein wirtschaftliches Schicksal in meiner eigenen Hand, und ich bin für meine Existenz und die der Meinigen von niemand anderem abhängig; ich stehe wirt-schaftlich fest und sicher auf eigenen Füssen. Bei zentraler Arbeitsteilung jedoch, wie sie heute für nicht unerhebliche Teile der Menschheit Platz gegriffen hat, ist der einzelne für seine wirtschaftliche, ja letzten Endes für seine physische Existenz abhängig vom "Markt", d. h. von etwas Unsichtbarem und Ungreifbarem, auf das er keinen Einfluss hat und das er gar nicht oder nur mehr oder weniger unvollkommen übersieht. Die nächstliegende Reaktion war der Versuch, sich gegen diese Gefahren durch Solida-rität mit den in gleicher Weise betroffenen Kollegen zu sichern, woraus ebenso die Kartelle usw. der Unternehmer wie die Gewerkschaften usw. der Arbeiter hervorge-gangen sind. Soweit diese Versuche für die betreffende Gruppe erfolgreich waren, indem sie zu deren Gunsten Monopole oder Monopoloide schufen, wurde dieser Erfolg auf Kosten anderer Marktbeteiligter errungen, deren Marktabhängigkeit dadurch noch über das bisherige Mass hinaus übersteigert wurde. Eine zunehmende Zerrüttung des Marktes war die Folge dieses wirtschaftlichen Pluralismus, der mit dem politischen Pluralismus Hand in Hand ging. [...] Da in der modernen komplizierten und hoch gesteigerten Arbeitsteilung fast jede der beteiligten Wirtschaftsgruppen an ihrer Stelle für das Funktionieren des wirtschaftlichen Gesamtprozesses unentbehrlich und unersetzbar ist, so braucht man nur alle Angehörigen einer solchen Gruppe hinreichend straff zu organisieren, um durch gleichzeitige Arbeits-teilung dieser Gruppe den gesamten Wirtschaftsprozess schwer zu stören oder gar lahm zu legen und um durch Drohung mit solchem Vorgehen einen erpresserischen Druck

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ausüben zu können: arbeitsteilige Angewiesenheit aufeinander als Mittel wechsel-seitiger Erpressung reihum. [...] Diese unerträgliche wirtschaftliche Unsicherheit jedes Einzelnen, zu der die das Zent-rum der Existenz erfassende Arbeitsteilung infolge mannigfach degenerierter und missbrauchter Marktabhängigkeit führt, ist das eigentliche Übel, gegen das sich die Planwirtschaftsparole richtet und dem sie ihre ungeheure Resonanz verdankt. Man will das unsichtbare Ungeheuer, das jeden Einzelnen bedroht, gemeinsam einfangen und bändigen, fesseln und unschädlich machen. Safety first: Man will endlich seiner wirt-schaftlichen Existenz sicher sein, wenigstens wissen, von wem man abhängt, diese Ab-hängigkeit sichtbar machen und offenlegen, in eine öffentliche Angelegenheit verwan-deln, an deren Regelung man selber beteiligt ist. Und das leistet ja auch die Planwirt-schaft tatsächlich, so falsch und schief auch die meisten sonstigen Argumente sein mögen, die von ihren Vertretern propagiert werden. Das Ziel, das auf diese Weise erreicht werden soll, ist das der "Vollbeschäftigung", womit kontinuierliche, dauernde Vollbeschäftigung, nicht nur in der Hochkonjunktur, frei von Konjunkturschwankungen, gemeint ist. Bei der Beurteilung dieser populären Ziel-setzung müssen aber zunächst einige landläufige Fehlmeinungen statistischer Natur berichtigt werden. Es ist ein Irrtum zu glauben, der Beschäftigungsgrad auf dem höchsten Höhepunkt der Konjunktur sei das Normale, das für die Dauer stabilisiert werden könne und solle. In einer sich entwickelnden, fortschreitenden Marktwirtschaft findet laufend ein Abgang von veralteten Betriebsteilen und Betrieben, ein Zugang von neuen statt, manche Produktionszweige wachsen, andere nehmen ab. Das alles, zuzüglich persönlicher individueller Gründe auf Seiten der Arbeiter, führt laufend zu einem Wechsel von Arbeitsplätzen, wobei sich zwischen die Aufgabe des alten und den Antritt des neuen Arbeitsplatzes eine mehr oder weniger kurze Zeit der Arbeitslosigkeit einschiebt. Man nennt das "Reibungsarbeitslosigkeit", sie ist in einer sich entwickelnden Wirtschaft unvermeidlich und normal. [...] Aber auch diese "berichtigte" Vollbeschäftigung kann als Dauerzustand nur bei Voll-sozialisierung und Planwirtschaft erreicht werden. Und die Frage ist nur, womit diese Ausschaltung der konjunkturellen und strukturellen Arbeitslosigkeit, diese Sicherheit des eigenen Wirtschaftsschicksals, erkauft wird, welches der Preis ist, der dafür gezahlt werden muss. Dieser Preis ist, um es mit einem Wort zu sagen, die Freiheit. Denn das weiss man ja längst, dass der Sklave sich nicht vor Arbeitslosigkeit zu fürchten braucht, der moderne Staatssklave so wenig wie der Privatsklave in alten Zeiten. Um den Preis der Freiheit war also die ökonomische Sicherheit und lebenslängliche Versorgtheit schon immer zu haben, nur dass sich bisher kaum jemand fand, der ihn freiwillig zu zahlen be-reit war. Und auch heute ist man dazu wohl meist nur bereit, weil man nicht weiss, was man tut, weil man sich nicht darüber im Klaren ist, dass einem dieser Preis unvermeidli-cherweise abgefordert werden wird. Planwirtschaft bedarf, wenn sie funktionieren soll, einheitlicher Leitung; einheitliche Leitung bedarf eines einzigen Leiters: Diktatur ist die allein angemessene Organisati-onsform der Planwirtschaft. Demokratische Planwirtschaft aufgrund von Abstimmungen

und Mehrheitsbeschlüssen ist eine so lächerliche Vorstellung, dass jedes Wort zu ihrer Widerlegung verschwendet wäre, lässt sich doch nicht einmal der kleinste Betrieb auf solche Weise führen. Der diktatorische Leiter der Planwirtschaft vereinigt in seiner Hand notwendigerweise eine derartige Machtfülle, dass neben ihm für eine selbständige politische Leitung kein Platz mehr bleibt: Sie müsste sich ihm entweder unterordnen oder zu kläglicher Ohn-macht verurteilt sein. Also ist es dann schon das einzig Vernünftige, politische und wirt-schaftliche Leitung in eine Hand zu legen, wie das bisher ja auch stets geschehen ist. Damit sind wir dann also konsequenterweise bei der totalitären Diktatur, der Tyrannis, angelangt, die in der Tat die der Planwirtschaft allein adäquate Staatsform ist. Das bedeutet also, in terms of the Atlantic Charter, nicht mehr und nicht weniger, als dass für die vierte Freiheit, das freedom from want, die sämtlichen drei anderen preis-gegeben werden, freedom from fear, freedom of speech, freedom of worship. Wer aber nicht bereit ist, seine ökonomische Sicherheit mit planwirtschaftlicher Staatssklaverei zu erkaufen, für den erhebt sich die Frage, welchen anderen Weg es denn gibt, um die ökonomische Unsicherheit, die tatsächlich einen nicht mehr erträg-lichen Grad erreicht hat, zu beseitigen, oder doch auf ein erträgliches Mass zurückzufüh-ren. Und da muss denn ehrlicherweise sofort gesagt werden, dass nur das zweite in Frage kommt. Absolute Sicherheit, Geborgenheit sind nicht wohlfeiler als um den Preis der Freiheit zu haben. Absolut geborgen und sicher sind: das Kind, das Haustier, der Sklave - weil andere sorgen, weil andere verantwortlich sind. Selbständigkeit ohne Verantwor-tung, Freiheit ohne Risiko gibt es nicht, das wäre ein Widerspruch in sich selber. Zu untersuchen bleibt, wie weit sich bei Aufrechterhaltung der Freiheit das Gefahrenrisiko einschränken lässt und ob wir es nicht auf ein durchaus erträgliches und ohne weiteres zumutbares Mass reduzieren können. Das scheint uns in der Tat durchaus der Fall zu sein. Wirtschaftliche Gerechtigkeit: Sozialisierung der Wirtschaft wird ja aber nicht nur im Namen der Sicherheit, sondern vor allem auch im Namen der Gerechtigkeit gefordert. Und auch diese Forderung ist als solche durchaus berechtigt. Dass die Verteilung von Vermögen und Einkommen in unserer plutokratischen Wirtschaftsordnung irgend etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hätte, wird wohl heute niemand mehr im Ernst behaup-ten wollen. Sicherlich gibt es Leute, die ihren selbst erworbenen Reichtum ausschliesslich eigener Tüchtigkeit, und andere, die ihr Elend ausschliesslich eigener Untüchtigkeit zu verdanken haben. Diese Fälle sind aber denkbar weit davon entfernt, die Regel zu bilden. Schon der alte türkische Dichter Fuzuli (gest. 1555) sagt: "Aus Dummheit glaubt einer, der reich werden möchte, dass Faulheit die Ursache der Armut, und viel Arbeit die Ur-sache des Reichtums sei." Und Marx hat an einer bekannten Stelle des 1. Bandes seines "Kapitals" diese naive Meinung mit vollem Recht als "Kinderfibel" verspottet. Bekannt-lich werden Reichtum wie Armut in aller Regel ererbt, arm zu bleiben ist leicht, reich zu bleiben nicht schwer, arm zu werden schon schwieriger, wenn der ererbte Reichtum gross genug war, reich zu werden am schwersten. Wie ererbter Reichtum ursprünglich erwor-ben wurde, ist im Einzelnen zwar nicht immer festzustellen, selten jedenfalls ohne mehr oder minder starke Beteiligung des "politischen Mittels" (Franz Oppenheimer), und am

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Ende aller Enden natürlich durch Überlagerung. Omnis dives aut iniquus aut iniqui heres (Hieronymus). Trotz aller plutokratischen Interferenzen sind die heutigen Reichen im ganzen noch die Erben der einstigen Eroberer, ihres Besitzes, wie übrigens auch ihrer Gesinnung, und auch die wenigen Selfmademen unter ihnen haben meist aus der gleichen Gesinnung und mit entsprechenden Methoden gearbeitet. Auch die Konzentration des Reichtums erklärt sich letzten Endes daraus, dass die Eroberer gegenüber den Unter-worfenen stets nur eine kleine Minderheit waren. Die im allgemeinen auf so wenig vertretbare Weise zustande gekommene heutige Besitzverteilung hat nun die Folge, die für jeden Sozialisten mit Recht den besonderen Stein des Anstosses bildet, dass einer Millionenmasse von Proletariern eine Minderheit von einigen hunderttausend "Kapitalisten" gegenübersteht, in deren Händen sich sämt-liche Produktionsmittel befinden, und in deren Dienst sich daher jeder Arbeiter begeben muss, wenn er nicht verhungern will. Das ist ganz gewiss nicht gerecht, und man kann es sogar empörend finden. Der Grad der Ungerechtigkeit hat im Laufe der letzten zwei-hundert Jahre noch dadurch zugenommen, dass die Zahl der Kapitalisten und Unter-nehmer immer kleiner, die der Proletarier immer grösser, das Missverhältnis also immer schreiender geworden ist. Und wie soll nun dieser wachsenden Ungerechtigkeit nach sozialistischer Meinung abgeholfen werden? Dadurch, dass die Zahl der selbständigen Unternehmer von einigen 100000 auf 1 vermindert, die Ungerechtigkeit und das Miss-verhältnis also auf die denkbar äusserste Spitze getrieben werden. Denn der einzige selbständige Unternehmer, der bei Vollsozialisierung noch übrig bleibt, ist ja der diktatorische Leiter der Planwirtschaft. Ja, wird entgegnet, die Gesamtheit aller Produktionsmittel und Betriebe gehört dann aber doch uns, der Gesamtheit. Das scheint mir nun aber wahrhaftig der Kinderfibel zweites Heft zu sein. Was nützt mir das gewiss erhebende Bewusstsein, zu einem soundsoviel millionstel Miteigentümer sämtlicher Fabriken meines Landes zu sein, wenn ich in keiner einzigen von ihnen auch nur das geringste zu sagen habe? Ja, wenn meine Abhängigkeit in Wirklichkeit sogar noch wesentlich grösser geworden ist als vorher. (Was praktisch entscheidet, ist nicht der formal-juristische Eigentumstitel, sondern der faktische Besitz, die wirkliche Ausübung der Verfügungsgewalt. Ein rein formelles Eigentumsrecht ohne faktisch ausgeübten Besitz pflegt sonst nicht gerade als etwas besonders Erstrebenswertes zu gelten. Volkslied: ‚Was nützet mir ein schöner Garten, wenn Andre drin spazieren gehen’ Genau das ist aber das Endergebnis der Vollsozialisierung. "Dem Volk" gehört zwar dann der Garten der Wirtschaft, wer aber darin spazieren geht, das ist der Diktator mit den von ihm eingesetzten Direktoren usw. Und das Volk hat das unveräusserliche Recht, dies erhebende Schauspiel durch die Gitterstäbe des Zaunes zu bewundern, in dem tief beglückenden Bewusstsein, dass dies alles doch eigentlich niemand anderem als ihm selbst gehört.) Wenn nicht nur der Streik bei Todesstrafe verboten ist, sondern ich nicht einmal mehr die Freiheit habe, meinen Arbeitsplatz nach eigenem Belieben zu wechseln. Während ich vorher nach einem Krach mit dem Unternehmer A oder dessen Vorarbeiter ohne weiteres zu dem Unternehmer B oder C hinüberwechseln konnte, während ich jetzt kommandiert werde, es immer mit dem gleichen Grossunternehmer Staat und dessen Diktator zu tun

habe, und ein Vermerk in meinem Arbeitsbuch mir in gleicher Weise alle erwünschten Arbeitsplätze im ganzen Land verschliesst? Und das soll ein Gerechtigkeitsfortschritt gegenüber dem jetzigen Zustand sein? Wie gesagt, auch wir halten den jetzigen Zustand keineswegs für gerecht und befriedi-gend. Aber wir sind der Meinung, dass Vollsozialisierung die Ungerechtigkeit nur noch steigert, ja, auf die Spitze treibt, und dass die Sozialisten in dieser Beziehung Leuten gleichen, die bei einem Brande in die Flammen hineinrennen, statt in der entgegen gesetzten Richtung. Die Frage, die sich ergibt, ist also auch hier wieder, ob wir etwas Besseres vorzuschlagen haben, ob es eine andere Wirtschaftsordnung gibt, die geeignet ist, die bisherigen Ungerechtigkeiten, in deren Kritik wir mit den Sozialisten einig sind, tatsächlich zu mindern, wo nicht zu beseitigen. Wirtschaftliche Produktivität: [...] Die Gründe für die geringere Produktivität der Plan-wirtschaft gegenüber der Marktwirtschaft können hier, nicht im Einzelnen analysiert werden. Ein allgemeiner anthropologischer Hauptgrund wurde schon erwähnt, die Tat-sache nämlich, dass die Marktwirtschaft den Eigennutz als ungebremste Antriebskraft benutzen kann, während die Planwirtschaft ihn fortwährend bekämpfen muss. Die fortwährenden Prozesse und Hinrichtungen in Sowjetrussland wegen wirtschaftlicher "Korruption" und "Sabotage" illustrieren diese These. (Übrigens handelt es sich bei diesem "Eigennutz" gegen den die Planwirtschaft in einem unvermeidlichen Kampf liegt, keineswegs nur um nackten Individualegoismus, sondern ebenso sehr auch um die pflichtgemässe Sorge für die eigene Familie, die eigenen Angehörigen.) Ein weiterer gleichfalls anthropologischer Grund liegt darin, dass die Leistungsfähigkeit auch des begabtesten Menschen eine obere Grenze hat, die eben schon bei den Leitern der spät-kapitalistischen Mammutkonzerne offensichtlich überschritten war. [...] Dies führt bereits auf die Frage, woran denn eigentlich die Produktivität einer reinen Planwirtschaft, einer total zentral geleiteten Volkswirtschaft, in sich selber gemessen werden soll? Da jede Wirtschaft dazu da ist, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedi-gen, so würde es sich also darum handeln, festzustellen, in welchem Masse ihr die Befriedigung dieser Bedürfnisse gelingt, wozu aber zuvor diese Bedürfnisse selbst festgestellt werden müssten. Das ist in der Marktwirtschaft kein Problem, da es die Marktnachfrage selber ist, die fortwährend diesen Bedürfnissen unmittelbaren und authentischen Ausdruck gibt, und diese Äusserung der Bedürfnisse in Form der Nach-frage reguliert zugleich in wirksamster Weise die Produktion. In der Planwirtschaft dagegen fehlt den - fortwährend wechselnden - Bedürfnissen jede Möglichkeit, sich laufend in unmittelbarer und wirksamer Weise zu äussern. Gelegentliche statistische Erhebungen mit Hilfe von Fragebogen usw., gelegentliche Eingaben oder Beschwerden sind ein völlig unzulänglicher Ersatz. Tatsächlich kommt es in der Planwirtschaft letzten Endes darauf hinaus, dass, wie alles im Totalitarismus, eben auch der Konsum komman-diert wird: man bekommt das, was einem auf Grund der zentralen Planentscheidungen, abzüglich der Ausfälle, Irrtümer und Unterschlagungen bei ihrer Durchführung, zugeteilt wird, und muss froh sein, wenn man überhaupt etwas bekommt. [...]

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Im übrigen aber soll hier einmal ausdrücklich folgendes gesagt sein: Selbst wenn die Planwirtschaft der Marktwirtschaft an Produktivität tatsächlich so überlegen wäre, wie sie ihr in Wirklichkeit unterlegen ist, so würde das noch keineswegs für die Planwirt-schaft entscheiden. Denn der Mensch lebt nicht von Brot allein, und wer nicht bereit sein würde, für die Freiheit, wenn nötig, auch materielle Opfer zu bringen, der ist ihrer nicht wert. Alexander Rüstow: Zwischen Kapitalismus und Kommunismus 2. Teil: Dritter Weg Alternative: [...] Umso froher sollten wir sein, dass wir nicht vor dieser bangen Wahl zwischen "Kapitalismus", und Kollektivismus stehen, sondern dass es einen "dritten Weg" gibt, der die Nachteile sowohl des "Kapitalismus", als auch des Sozialismus ver-meidet. Dieser dritte Weg, der mit vollem Bewusstsein eigentlich erst seit anderthalb Jahrzehnten vertreten wird, befindet sich freilich noch im Stadium des Entwurfes, nicht wenige seiner Probleme sind noch ungelöst, die meisten seiner Einzelheiten noch aus-arbeitungsbedürftig. [...] Natürlich wäre es naiv, aus dem vorstehenden etwa schliessen zu wollen, dass eine Rückkehr zu den wirtschaftspolitischen Grundsätzen der 60er - 70er Jahre des 19. Jahr-hunderts das Heil bringen müsste, selbst wenn sie möglich wäre. Der durch die spätere krasse Entwicklung geschärfte Blick erkennt vielmehr auch schon hier und von Anfang an jene grundlegenden Schwächen und Blindheiten des historischen Wirtschaftslibera-lismus, aus denen auch die späteren schweren Degenerationen hervorgegangen sind. Not-wendig ist vielmehr eine Erneuerung des Liberalismus von Grund auf, eine Erneuerung, die insbesondere auch allen berechtigten Einwänden und Forderungen des Sozialismus voll Rechung trägt. Man könnte unter diesem Gesichtspunkt das, was uns vorschwebt, auch Sozialliberalismus nennen. Während der herrschende Vulgärliberalismus des 19. Jahrhunderts - aus bestimmten, nur religionsgeschichtlich zu verstehenden, quasireligiösen Befangenheiten, wie ich an ande-rer Stelle ausführlich nachgewiesen habe -, die Wirtschaftsfreiheit für etwas Absolutes hielt, wissen wir heute, dass die die Marktwirtschaft der vollständigen Konkurrenz aus-zeichnende selbsttätige Gleichschaltung von Eigennutz und Gemeinnutz nur unter ganz bestimmten Bedingungen und innerhalb eines scharf abgegrenzten Bereiches des Wirt-schaftsfeldes Platz greift. Infolgedessen würde sich als nächstes die dringende Aufgabe ergeben, die Funktionsbedingungen der Konkurrenzwirtschaft, die allein ihren Erfolg verbürgen, mit aller Klarheit und allem Nachdruck in der Theorie wie in der Praxis sicherzustellen. Ich habe an anderer Stelle schon 1932 ausgeführt, dass nur ein starker und unabhängiger Staat die wirklich freie Wirtschaft sichern kann, und dass anstelle des manchesterlichen Laissez-faire ein "liberaler Interventionismus" zu treten hätte, d. h. ein Interventionismus, der nicht als Hemmungsintervention quer zu den Marktgesetzen, son-dern als konforme Anpassungsintervention in der Wirkungsrichtung der Marktgesetze, zur Sicherung ihres möglichst reibungslosen Ablaufs, eingreift.

Da die totale 100-prozentige Staats- und Planwirtschaft nach sowjetrussischem Muster nachgerade aufgehört hat, verlockend zu wirken, und da andererseits eine Rückkehr zu der offensichtlich unzulänglichen und missbräuchlichen Wirtschaftsfreiheit der Vor-kriegs- und der ersten Nachkriegszeit weder möglich noch wünschenswert erscheint, so sind heute in fast allen nichtbolschewistischen Staaten mehr oder weniger bewusste Versuche im Gange, eine brauchbare Mischung aus staatlicher und privater Wirtschaft und eine neue Abgrenzung zwischen beiden zu finden. [...] Notwendig ist die Sicherung eines einsichtigen und haltbaren Gleichgewichts zwischen Staat und Privatwirtschaft, ein "abrutschfestes" Wirtschaftssystem, das nicht mit innerer Notwendigkeit zuletzt bei einer totalen Staatswirtschaft bolschewistischer Prägung enden muss. Die wichtigsten Grundlinien eines solchen Systems sind in Kürze die folgenden: Straffe staatliche Marktpolizei auf allen der Marktfreiheit und dem Walten der Markt-gesetze überlassenen Wirtschaftsgebieten, zur strengen Sicherung eines fairen Leistungs-wettbewerbs und zum strengen Ausschluss jedes unfairen gegen Marktgenossen ge-richteten Behinderungswettbewerbs. Sozialisierung aller Wirtschaftszweige, die, wie insbesondere der Schienenverkehr und die public utilities, aus natürlichen, technischen oder sonstigen Gründen eine unvermeidliche Monopolstruktur haben (Sozialisierung der Rüstungsindustrien dürfte sich auch noch aus anderen als wirtschaftlichen Gründen empfehlen). Solange doch noch ausnahmsweise private Monopole, insbesondere Trusts, bestehen: scharfe Staatsaufsicht mit Preisgenehmigung und Lieferungszwang. Auf den zwischen diesen beiden Hauptfällen der vollständigen Konkurrenz und der Sozi-alisierung liegenden Wirtschaftsgebieten oligopolistischer Struktur: staatliche Einengung der Grenzen der Wirtschaftsfreiheit so lange, bis der verbleibende Rest nur noch im Sinne des Leistungswettbewerbs ausgenutzt werden kann. Unter allen Umständen darf sich marktpolizeiliche und marktstrategische Macht nur in öffentlicher Hand befinden. Die entschiedene und folgerichtige Durchführung einer solchen, die Marktfreiheit sichernden Politik, unterstützt durch noch aufzuführende sonstige Massregeln, würde auch im wesentlichen schon dazu hinreichen, eine Überschreitung des wirtschaftlichen Optimums der Betriebs- und Unternehmensgrösse unrentabel zu machen und dadurch zu verhindern. Jedoch könnte diese Tendenz noch verschärft werden durch progressive Besteuerung überoptimaler Unternehmensgrössen, statt ihrer bisherigen öffentlichen Be-vorzugung. Das Optimum liegt, wie gezeigt, im allgemeinen ganz wesentlich tiefer, als man heute anzunehmen geneigt ist, wo in allen Industrieländern die Aussicht auf Errin-gung einer Monopolstellung, die eine solche Entwicklung begünstigende staatliche Wirtschaftspolitik und die Megalomanie der öffentlichen Meinung die überoptimalen Akkumulation in ungesunder Weise fördern. Eine wirtschaftliche Überlegenheit des Mammutbetriebes aus zwingenden technisch-organisatorischen Gründen liegt nur in einigen ganz wenigen Produktionszweigen vor, es ist keineswegs die Regel, sondern die vereinzelte Ausnahme, für deren Behandlung das oben über oligopolistische und mono-polistische Betriebszweige Gesagte gilt. Als sonstige Massregeln kommen insbesondere in Frage: Grundsätzliche Umstellung der gesamten Agrarpolitik auf Förderung eines gesunden, marktfesten, hochproduktiven

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Kleinbauerntums, einschliesslich des kleinbäuerlichen Obst-, Gemüse- und Gartenbaues. Durchgreifende Aufsiedlung aller noch vorhandenen Grossgüter, die sich nicht aus eigener Kraft halten können, nach den Grundsätzen einer gesunden, auf Selbsthilfe abgestellten Primitivsiedlung. Ein grosses, planmässig ausgebautes Netz von Forschungs-, Züchtungs-, Muster-, Lehr- und Beratungsinstituten für Bauernwirtschaft und alle ihre verschiedenen Zweige. Planmässig umfassende und engmaschige Organisation lebens-naher bäuerlicher Berufspädagogik mit Bauernschulen, Musterwirtschaften, Wander-ehrern usw. Intensiver Ausbau des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens. Das gewaltsam übervölkerte Deutschland wird sich einen extensiven Getreidebau nicht mehr leisten können, sondern sich bei freier Einfuhr von Futter- und Brotgetreide auf inten-sivste Veredelungs- und Hochwertproduktion umstellen müssen, nach dem Vorbild Dänemarks und Hollands. Staatliche Forschungs- und Beratungsinstitute für rationellen Kleinbetrieb in Handwerk und Handel und für Werkstattaussiedelung. Abschaffung der GmbH, die dem Markt-prinzip der wirtschaftlichen Vollverantwortlichkeit widerspricht. Radikale Reorganisa-tion der AG, die sich, vor allem durch Zuschiebung der negativen Chancen an das Publikum, der positiven an die Banken, die Grosskapitalisten und deren Anhang, zu einem Werkzeug konstruktionswidriger Missbräuche ausgewachsen hat. (Max Huber, Expräsident des Verwaltungsrates der A1uminium-Industrie-AG, Neuhausen: „Kein Gesetz, auch kein gegen Aktiengesellschaften ressentiment-beladenes, misstrauisches Gesetz, vermag diesen Sinn der Verantwortung festzulegen. Es gibt kein menschliches Vertrauens- und Verantwortungsverhältnis, kein Gemeinschaftsverhältnis - und dazu gehört auch jedes genossenschaftsartige Gebilde-, das wirklich lebensfähig wäre, wenn die Menschen nicht eine höhere Pflicht als die rechtlich fassbare als selbstverständlich betrachten.“ Je weniger es mit dem Gesetz allein getan ist, desto mehr muss das Gesetz einerseits innerhalb seines Bereichs sein Bestes tun, andererseits zu seiner Ergänzung an die guten, und nicht, wie das heutige Aktienrecht, an die schlechten Instinkte der Beteilig-ten appellieren.) Strukturelle Neuorganisation des Kapitalmarktes unter dem Gesichtspunkt einer gerech-ten und überschaubaren Koppelung von Verantwortlichkeit, Gewinnchance und Risiko. Das Patentrecht sollte bei seiner Schaffung im 19. Jahrhundert den individuellen privaten Erfinder ermutigen, hat sich aber inzwischen missbräuchlicherweise zu einer vom Staat gelieferten Monopolwaffe für den Behinderungswettbewerb grosskapitalistischer Organi-sation ausgewachsen. Die radikal-liberalen Gegner des Patentschutzes hatten von Anfang an derartige Wirkungen befürchtet. Das einfachste und wirksamste Gegenmittel wäre vielleicht ein allgemeiner Lizenzzwang, der allerdings ergänzt werden müsste durch die gesetzliche Ungültigkeit von fortwirkenden Geheimhaltungsverpflichtungen und Konkur-renzklauseln in Anstellungsverträgen. Reklame, Zeitung, Kino und Radio, die sich zu besonderen Instrumenten der Vermas-sung - und wie der politischen, so auch der wirtschaftlichen Demagogie - ausgewachsen haben, erfordern, noch mehr unter kulturpolitischem als unter wirtschaftspolitischem Gesichtspunkt, eine Sonderbehandlung, die auch vor radikal durchgreifenden Mass-nahmen nicht zurückscheuen sollte, wie etwa dem völligen Verbot aller derjenigen

Formen der Reklame, die nur für Grossfirmen erschwinglich sind, und deren völlig un-produktive Kosten schliesslich auf die einer fast unwiderstehlichen Suggestion unter-worfenen Käufer überwälzt werden. Auch gegen sonstige, aus anderen Gründen anrüchi-ge Formen der Reklame sehe ich keine Bedenken, mit radikalen Verboten vorzugehen: die lähmende Hemmung des Laissez-faire liegt glücklicherweise hinter uns. Die gesunde Öffentlichkeit des Wettbewerbs kann z. B. durch Fachausstellungen gewahrt werden, die grossen Ausstellern keine anderen Ausstellungsmöglichkeiten bieten als kleinen. In der Steuerpolitik ist bisher meist der scheinbar so einleuchtende, und eben deshalb demagogisch so bequeme, Grundsatz der sozialen Steuergerechtigkeit stark überwertet worden, unter Verkennung der ausserordentlich weitgehenden marktwirtschaftlichen Überwälzungs- und Ausweichungsmöglichkeiten. An die erste Stelle muss vielmehr der staatssoziologische Gesichtspunkt möglichster Vermeidung demoralisierender und des-integrierender Wirkungen auf den Steuerzahler treten (Prinzip möglichster Unsichtbar-keit des Steuerboten): Denn die Steuererhebung ist ja für den Staat nur Mittel, die Integration dagegen, die sein eigentliches Wesen ausmacht, Selbstzweck. Dieser Ge-sichtspunkt fällt vor allem ins Gewicht gegenüber direkten Steuern, soweit sie nicht als Quellensteuern erhoben werden, und vor allem gegenüber Deklarationssteuern - wenn man nicht über eine so beneidenswert hohe traditionelle Steuermoral verfügt wie England. Wirtschaftspolitisch kann die Steuerpolitik dazu verwandt werden, um die Gleichgewichtsverhältnisse der Marktwirtschaft durch Änderung ihrer "Randdaten" in metaökonomisch erwünschter Weise zu korrigieren, ohne ihren Mechanismus zu stören. Supplementär bleibt die alte Weisheit gültig, dass alte Steuern gute Steuern und neue Steuern schlechte Steuern sind. Der traditionelle Steuerkatechismus müsste im übrigen einer gründlichen Revision unterzogen werden. Ein angemessenes existenzsicherndes Einkommen des Arbeiters durch gesetzlich festgelegte Mindestlöhne erreichen zu wollen, ist eine Kommandowirtschaft, wie sie sich der kleine Moritz vorstellt: zu niedrige Löhne werden eben "einfach" gesetzlich bei Strafe verboten! Diese puerile Lohnpolitik ist aber in führenden Kulturstaaten tatsächlich zur Anwendung gekommen. Da man keinen privaten Betrieb dazu zwingen kann, mit Verlust weiter zu arbeiten, so erreicht man nur, dass alle Arbeiter, die unterhalb der Mindest-löhne noch weiter beschäftigt werden könnten, statt dessen ganz entlassen werden müssen, und statt eines vorübergehend knappen Lohnes gar keinen bekommen: gesetzlich erzwungene Arbeitslosigkeit als der sozialpolitischen Weisheit letzter Schluss! Die Arbeitslosenunterstützung wirkt sich ja schon automatisch als Mindestlohngrenze aus. Zwangsversicherung gegen Arbeitslosigkeit, Aufbringung dieser Arbeitslosenunter-stützungen nach dem Versicherungsprinzip durch teilweise Abschöpfung der Überlöhne bei Hochkonjunktur (was zugleich im Sinne eines wohltätigen Konjunkturausgleichs wirkt). Selbstverständlich energische Konzentration aller öffentlichen Aufträge auf die Tiefkonjunktur, dazu langer Hand und planmässig vorbereitete öffentliche Arbeiten wie Meliorationen, Aufforstungen, Flussregulierungen, Wegebauten, Landschaftspflege usw. Öffentliche gemeinnützige Arbeitsvermittlung, verbunden mit einer vor der Berufswahl einsetzenden Berufsberatung, und Schulungs-, Umschulungs- und Umsiedlungshilfen,

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um die innere und äussere Anpassungsfähigkeit des Arbeiters an den Arbeitsmarkt auf die für das Funktionieren der Marktgesetze erforderliche Höhe zu bringen. Entsprechend strukturelle Lösung struktureller Teilkrisen durch Zurverfügungstellung staatlicher Umstellungs-, Umsiedlungs- und Rationalisierungshilfen. Kaltblütigkeit und Ruhe gegenüber zyklischen konjunkturellen Gesamtkrisen, die, wie die Friedenserfah-rungen beweisen, ohne Verschärfung durch Staatseingriffe ein durchaus erträgliches Mass nicht überschreiten, vorausgesetzt, dass für die Sicherung des Existenzminimums der Arbeiter auf dem Versicherungswege gesorgt ist. Denn das einzig wirklich Gefähr-liche an der normalen zyklischen Krise sind die Gegenmassnahmen, zu denen sich, in-folge des Wehgeschreis kurzsichtiger Interessenten und der Irrlehren smarter Theore-tiker, die Regierungen verleiten lassen. In der Aussenhandelspolitik war, gedeckt durch nationalistische Schlagworte und autar-kistische Ideologien, die pluralistische Zersetzung so weit gediehen, dass Handelsver-tragsverhandlungen im Grunde von den Interessenten der beiden Länder in Form eines komplizierten Kuhhandels geführt wurden, wobei die Regierungsvertreter im wesent-lichen nur noch als Huissiers, Protokollführer und Clearingagenten tätig waren. Dem gegenüber muss die Handelspolitik rückhaltlos der Souveränität des Staates als des berufenen Wahrers der ihm anvertrauten Gesamtinteressen überlassen bleiben. Was insbesondere Deutschland betrifft, wo die von Bismarck inaugurierte, durch Gross-grundbesitz und Schwerindustrie pluralistisch erzwungene Schutzzollpolitik eine beson-ders verhängnisvolle Rolle gespielt hat, so scheint mir da das Ei des Kolumbus der Vorschlag meines Freundes Röpke, die Freihandelspolitik, die von unabhängigen deutschen Patrioten und Nationalökonomen aus rein innerdeutschen Gründen von jeher gefordert wurde, zu einer Friedensbedingung zu machen, und sich dadurch zugleich alle gehässigen Repressiv- und Kontrollmassnahmen gegen die Rückkehr kriegsvorbereiten-der Autarkietendenzen zu ersparen. Vitalstruktur: Alle Änderungen der Wirtschaftsstruktur, die wir ins Auge fassten, stehen im Dienst einer veränderten Struktur des Lebens und der Gesellschaft, die wir erstreben. Welches aber ist denn nun die von uns erstrebte Struktur des Lebens und des Zusam-menlebens ? Schon seit der Romantik, und mit neu verstärkter Intensität seit der Jugendbewegung, lautet die Antwort: Gemeinschaft! Fort von der blossen Gesellschaft mit ihrer Kälte, Vereinzelung, Erstarrung, hin zur wahren Gemeinschaft mit ihrer Wärme, Nähe, Leben-digkeit! Aus nichts stärker als aus diesem Drang spricht der immanente Gesundungswille unserer Zeit. Trotzdem liegt auch hier eine schwere Gefahr, die so typische und immer wiederkehrende Gefahr der Gegenübertreibung aus berechtigtem Widerspruch. Weil sich Mensch und Mensch zu fern gerückt waren, meint man nun, sie könnten einander gar nicht nah genug sein. Weil die soziale Atmosphäre so kalt geworden war, meint man nun, sie könne gar nicht warm genug sein. Weil man sich in nichts mehr einig war, meint man nun, man müsse unbedingt in allem und jedem einig sein. Vor dieser dringenden Gefahr, aus einem Extrem ins andere zu fallen, oder auch, infolge solcher augenfälligen Übertreibungen, die Menschen gar nicht von der Berechtigung der

Forderung als solcher überzeugen zu können, tut es vor allem weiteren not, auch hier der Mahnung zur Mesotes eingedenk zu sein, auch hier sich darüber klar zu werden, dass es in Wahrheit, wie in so vielen anderen Fällen, keineswegs um das Maximum, sondern um das Optimum sozialer Nähe geht. Es gibt nicht nur die Gefahr der Beziehungslosigkeit, sondern ebenso auch die entgegen-gesetzte der Distanzlosigkeit, die infolge allzu grosser und krampfhaft erzwungener Nähe auf die Dauer nur Reibungen, Entzündungen und explosiv sich entladende Abszesse erzeugt. Es handelt sich um die rechte Mitte zwischen beiden Extremen, um das rechte Gleichgewicht zwischen Selbständigkeit des Einzelnen und genossenschaftlicher Verbun-denheit, um einen Abstand, der weder zu gross noch zu klein ist. [...] Das Muster solcher ungeselligen Geselligkeit, solcher Verbindung von Nähe und Abstand, ist die Sozial-struktur gesunden Bauerntums. Das ist einer der vielen Vorzüge bäuerlicher Lebens-lage, aber bei weitem nicht der einzige. Im Gegensatz zum Bauerntum hat das moderne Grossstadtleben seinen Sinn nicht mehr in sich selber, und die eben deshalb massenhaft angebotenen Ersatzbefriedigungen, die in Wirklichkeit meist auf blosse Betäubungen hinauskommen, machen es schliesslich nur immer noch sinnleerer. Töricht freilich ist jene Einstellung, welche die "Landflucht" auf eine schuldhafte Charakterschwäche gegenüber den sündigen Verlockungen des Stadtlebens zurückführen möchte. Die so genannte Landflucht ist vielmehr eine zwangsläufige Folge aller Fort-schritte der Produktionstechnik, infolge deren für die landwirtschaftliche Produktion der Nahrungsmittel ein immer geringerer Prozentteil des Gesamtarbeitsaufwandes in An-spruch genommen wird. [...] Stellt man aber, wie wir es ja tun, der bäuerlichen Lebenslage als entgegengesetztes Extrem die proletarische oder proletarisierte Lebenslage gegenüber, so gibt es noch andere soziologische Gruppen, die, ohne bäuerlich zu sein, doch auf andere Weise in hohem Grade unproletarisch und von den spezifischen Nachteilen der Proletarisierung frei sind. Dahin gehört vor allem das gesamte öffentliche und private Beamtentum, das ja für die Weltanschauung des Sozialismus das eigentliche Gegenideal zum Proletariertum bildet. Ferner die höheren und mittleren Angestellten und wohl noch manche andere. Bei einer Weltstatistik unter diesem Gesichtspunkt müsste man also eigentlich das Proletariat allen übrigen nichtproletarisierten Sozialgruppen gegenüberstellen. Die Proletarisierung des Industriearbeiters, seine Verstädterung, die Unterstellung seines Arbeitstages unter fremdes Kommando, seine Kasernierung in riesigen Fabrik-sälen - das waren die eigentlichen Ursachen seiner tiefen vitalen Unbefriedigung, die sich auch durch noch so hohe Löhne und noch so weitgehende Arbeitszeitverkürzung nicht wettmachen lassen. (Da die Wirtschaft um des Menschen willen da ist, und nicht der Mensch um der Wirtschaft willen, so ist die Vitalsituation des wirtschaftenden Menschen ein überwirtschaftlicher Wert. Die Wirtschaft ist Mittel, die Vitalsituation aber Zweck. Diese grundlegende Wahrheit gehört zu denen, die der alte soziologieblinde Vulgärliberalismus übersah. [...] Die tiefe Unzufriedenheit des modernen Industriear-beiters ist bedingt durch seine unmenschliche und menschenunwürdige Vitalsituation, die Unnatur und Naturferne der Grossstadt, die Schrumpfung des Familienlebens, das

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Wohnen in Mietskasernen und Strassenschluchten, die herdenhafte Fabrikarbeit in Arbeitskasernen und nach Kommando, die sinnferne Teilhaftigkeit dieser Arbeit, ihr gehetztes Tempo, und die nicht geringere Hetze und betäubende Sinnlosigkeit gross-städtischer Vergnügungen und Zerstreuungen.) Man betrachtete sie im 19. Jahrhundert als unabwendbare Folgen des technischen Fortschrittes. Man meinte, es sei die Maschine, die den Arbeiter von der Scholle reisst und in die Stadt saugt. Wir wissen heute, dass es nicht die Maschine an sich, sondern nur eine bestimmte, inzwischen schon überholte Form der Maschine war, die diese verhängnisvolle Wirkung hatte, nämlich die über Welle und Riemen von einer zentralen Kolbendampfmaschine her angetriebene Arbeitsmaschine, eine Anordnung, die technisch dazu zwang, eine mög-lichst grosse Zahl von Arbeitsplätzen möglichst dicht zusammenzupferchen, weil mit der Länge der Welle die technischen Schwierigkeiten und die Energieverluste erheblich zu-nahmen. Ein erster und äusserst folgenreicher Schritt in entgegensetzter Richtung war 1830 die Erfindung der Nähmaschine durch den Franzosen Thimonier, dem dann 1845 in USA Howe und Singer folgten. Sie hat bis zum heutigen Tage das gesamte Bekleidungs-gewerbe vor der Elephantiasis- Infektion, vor der Tendenz zum Grossbetrieb, geschützt und eine der wichtigsten und verbreitetsten gewerblichen Betätigungen dem Bereich der Familie erhalten. Eine von sozialistischen Vorurteilen freie Sozialgeschichte der Näh-maschine wäre vielleicht eine besonders dankbare Aufgabe monographischer Behand-lung. Auf dem Gebiete des Verkehrswesens hat eine ähnlich dekonzentrierende Wirkung ge-habt der Übergang von der Eisenbahn zum Automobil, dem das Fahrrad vorausgegangen war und das Motorrad folgte. Aber auch für die eigentliche Fabrikation selber ist diese technische Notwendigkeit inzwischen längst durch den modernen elektrischen Einzelantrieb (z. T. auch durch den Kleinmotor) überwunden. Er gibt uns weitgehend die Möglichkeit, dem Arbeiter seine Maschine ins Haus zu stellen. Soweit hierbei etwa höhere Nebenkosten entstehen, die den Lohn bis zu gewissem Grade belasten, wird in den meisten Fällen dieser Nachteil durch die unmittelbaren vitalen Vorteile bei weitem überkompensiert werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Lohn doch nicht Selbstzweck ist, sondern nur ein Mittel, um dem Arbeiter die vitalen Möglichkeiten zu geben, die er sich mit seiner Hilfe verschaffen kann. Kann er sich bei geringerem Lohn eine befriedigendere Vitalsituation schaffen, so ist er offenbar nicht schlechter, sondern besser daran. [...] Durch alle derartigen Massnahmen würde die Verstädterung zwar fühlbar und wohltätig gemildert, aber natürlich keineswegs aufgehoben werden. Infolgedessen sind alle die Fortschritte, die in den letzten Jahrzehnten in Richtung Stadtplanung und Stadthygiene gemacht worden sind, von grosser Wichtigkeit. Sie werden noch wesentlich gesteigert werden können in dem Masse, als wir es lernen, das Problem der Stadt und ihrer vitalen Funktion noch unter sehr viel weitere soziologische und weltgeschichtliche Gesichts-punkte zu stellen. Wesentliche Gründe für Entstehung und Wachstum der Städte haben mehr oder weniger zwangsläufigen Charakter und gelten grösstenteils auch noch heute. Die Stadt hat sich

entwickelt als der naturgemässe und sachnotwendige Standort für die Hervorbringung der Hochkulturen. Das begründet den Anspruch der Stadt auf eine kategoriale menschliche Würde und Bedeutung, die sich in ihrer Art durchaus neben die des Bauerntums stellen darf. Die Stadt ist mehr als etwa bloss ein notwendiges Übel. Wie es den "ewigen Bauern" gibt, so gibt es auch die "ewige Stadt". Wer die Hochkultur bejaht, kann nicht die Stadt verneinen. Die seit einiger Zeit in gewissen Kreisen Mode gewordene Stadt-verachtung ist ein kurzsichtiger Snobismus, soweit sie nicht einfach auf dem Ressenti-ment agrarischer Egoismen beruht. Und die im Zusammenhang damit weithin durch-gedrungene abschätzige Bedeutung von Bürger und Bourgeois beruht auf einer ebenso seltsamen wie interessanten Mischung von altem feudalem und neuem sozialistischen Ressentiment. Dass die Stadt, im Gegensatz zum statischen Beharren des Bauerntums, das dynamische Element des Fortschrittes verkörpert, gerade das gibt ihr ja ihren Sonder-platz und ihr polares Eigenrecht gegenüber dem Bauerntum. [...] Die Fortschritte der Verkehrstechnik haben, ganz entsprechend der Werkstattaussiede-lung, eine Stadtaussiedelung möglich gemacht, wie sie ja auch vielfach schon im Gange ist. Die Atombombe hat diesem Problem eine düstere Aktualität und Dringlichkeit ver-liehen. Aber damit allein ist es natürlich bei weitem noch nicht getan, und es ist sogar zu bedenken, dass eine hemmungslose Durchführung dieses Prinzips in den europäischen Ländern mit grosser durchschnittlicher Bevölkerungsdichte die Folge haben würde, dass es bald überhaupt kein "Land" mehr geben wird, sondern die gesamte Fläche von einer aufgelockerten Stadt bedeckt ist, wie heute schon etwa im rheinisch-westfälischen In-dustriegebiet oder in Teilen Belgiens und Englands. Das Grundproblem ist eben das der absoluten Übervölkerung. Eine der schlimmsten Krankheitserscheinungen unserer modernen Vermassung ist der völlige Verlust der Bodenständigkeit. Der moderne Städter, fortwährend von einer Mietswohnung in die andere "umziehend", von einer Stadt in die andere "versetzt" oder aus irgendwelchen wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen wechselnd, er weiss schon längst nicht mehr, was "Heimat" ist, was eine Landschaft, was ein Stück Erde, was ein eigenes Haus dem sein kann und sein soll, der da seit Generationen bodenständig und verwurzelt ist, der an dieser selben Stelle geboren ist und einmal sterben wird, der unter Bäumen sitzt, die der Grossvater oder Urgrossvater gepflanzt hat, und der Bäume pflanzt, die seinen Enkeln und Urenkeln Frucht und Schatten geben werden. [...] Für den Bauern und bäuerlichen Handwerker ist die erbliche Sesshaftigkeit des Ein-familienhauses selbstverständlich, und ebenso auch noch für den halb bäuerlichen Heim-arbeiter oder Fabrikarbeiter. Aber schon bei diesem letzteren beginnt eine Problematik, die für den reinen Industriearbeiter in voller Schärfe gilt, nämlich die Antinomie zwischen dem Ideal der Sesshaftigkeit und der Forderung grösstmöglicher Umstel-lungsbeweglichkeit, die eines der wichtigsten Mittel der Krisenüberwindung bildet; solche Umstellung macht zwar nicht immer, aber doch sehr häufig, Ortswechsel un-möglich, und wir hatten oben aus krisenpolitischen Gründen sogar tunlichste Erleich-terung und Beschleunigung solcher Umstellung und solchen Ortswechsels gefordert. Hier liegt nun zwar eine jener leider recht zahlreichen "Antinomien der Gesellschaft" vor, die sich aber bei näherem Zusehen als nicht so schroff entpuppt, als es auf den ersten Blick

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scheinen könnte. Denn die krisenpolitische Forderung möglichster Umstellungsbe-weglichkeit richtet sich ja zu 90 Prozent oder mehr an städtische Industriearbeiter, bei denen in dieser Hinsicht ohnedies nichts mehr zu verderben ist, die ohnedies gewohnt sind, ihre unerfreuliche Mietswohnung auch bei gleich bleibender Arbeitsstelle fort-während zu wechseln, und auf die also Wechsel auch der Stadt meist eher als erwünschte Abwechslung wirken wird. Wirklich antinomisch wird die Lage erst bei den halbbäuer-lichen Arbeitern, aber da diese ja ohnehin eben infolge ihrer Halbbäuerlichkeit weit krisenfester sind, so wird es bei ihnen in aller Regel möglich sein, zu Gunsten der Orts-festigkeit zu entscheiden. [...] Startgerechtigkeit: Je mehr man die soziale Einkommensverteilung, unter vernünftiger Sicherung einer unteren Mindestgrenze, dem Walten eines streng überwachten fairen Leistungswettbewerbs und seiner Marktgesetzlichkeit überlässt, desto mehr muss sich natürlich die Forderung sozialer Gerechtigkeit auf den individuellen Start in diesem Wettlauf konzentrieren. Offenbar entspricht es nicht den Grundsätzen eines fairen, allein auf die Leistung abgestellten Wettbewerbs, wenn in ihm ein Wettbewerber nur dadurch einen wesentlichen und vielleicht uneinholbaren Vorsprung hat, dass er bei der Wahl seiner Eltern die nötige Vorsicht walten liess und als Sohn eines reichen Vaters startete. Und zwar erstreckt sich die dem gegenüber zu erhebende Forderung der Startgerechtig-keit im wesentlichen auf zwei Dinge: auf Bildung und auf Vermögen. Von diesen beiden Forderungen ist die nach gerechter Gleichheit der Bildung vielleicht die wichtigste und überdies die am leichtesten zu erfüllende. Die traditionelle herr-schaftliche Überlegenheit der Oberschicht gründete sich in späteren Stadien der Ent-wicklung nicht zuletzt auf ihr Bildungsmonopol, das im Laufe der Zeit immer mehr plutokratische Formen annahm. Gerade in dieser plutokratischen Form war aber die Ungerechtigkeit und Unzweckmässigkeit des Bildungsmonopols so unzweideutig, dass sich seine zunehmende Durchlöcherung nicht hatte vermeiden lassen. Wessen es aber heute bedarf, das ist seine völlige Beseitigung. Grundsätzlich dürfte Niemandem aus pekuniären Gründen eine Ausbildung vorenthalten bleiben, für welche die Fähigkeit und der Wille vorhanden sind. In dieser Richtung haben ja schon von jeher Freiplätze, Stipendien und ähnliche Einrichtungen gewirkt. Es handelt sich da also weder grundsätzlich noch praktisch um etwas völlig Neues. Die vorhandenen Ansätze müssten nur modernisiert und verallgemeinert werden. Eine allgemeine Soziali-sierung der Bildung ist dazu keineswegs vonnöten, im Gegenteil könnte man dann mit um so besserem sozialem Gewissen in strenger Staffelung nach oben hohe geistige und menschliche Ansprüche stellen. Auch braucht niemand von einer höheren Bildung ge-waltsam ausgeschlossen zu werden, soweit die Kosten voll von ihm selbst bzw. seinen Eltern getragen werden, und nicht, wie bisher, zu erheblichem Teil von der Allgemein-heit. Entspricht diese Ausbildung nicht seinen Fähigkeiten, so wird sie für ihn bei freier Leistungskonkurrenz im Kampf des Lebens eher ein unnützer Ballast als ein Vorteil sein. Und die schon jetzt sehr spürbare Tendenz, seinen Kindern lieber eine ihren wirklichen Fähigkeiten und Neigungen angemessene, als eine "standesgemässe" Ausbildung zu geben, wird sich noch wesentlich verstärken.

[...] Mit welcher Erziehung und Vorbildung, mit welchem Wissen und Können jemand in den Konkurrenzkampf des Lebens eintritt, ist noch weit wichtiger als mit welchem Ver-mögen. Zudem ist Leistungsfähigkeit ein weit sicherer Besitz als Vermögen, das, noch dazu unter heutigen Verhältnissen, nur allzu leicht verloren geht; durch sie und nur durch sie kann Einkommen und Vermögen jeder Zeit und jeden Orts neu erworben werden. Das sieht man ja besonders deutlich jetzt, wo der Zweite Weltkrieg mit seinen Folgen so viele Vermögen vernichtet hat, und die früheren Besitzer und deren Kinder allein auf ihr Können und das, was sie gelernt haben, angewiesen sind. [...] So leicht und zweifelsfrei die Berechtigung und Bedeutung der Forderung wirtschaft-licher Startgerechtigkeit einzusehen und zu begründen ist, so überraschend und un-verhältnismässig gross schienen die Schwierigkeiten aller Art zu sein, die sich ihrer Durchführung in den Weg stellten. Denn das bisher, wie es scheint, allein in Betracht gezogene Mittel war entweder das einer konfiskatorischen Erbschaftsteuer, das nach und nach einen immer grösseren Teil der Wirtschaft in die öffentliche Hand bringen und schliesslich zur Vollsozialisierung führen müsste, oder aber eben die sofortige Vollsozi-alisierung, was dann schon einfacher und folgerichtiger wäre - wenn auch in Wirklichkeit mit dem gerade entgegen gesetzten Erfolg eines Rückfalls in primitivere und wesentlich schroffere Formen sozialer Ungleichheit. Ich glaube aber, dass es einen individualisti-schen, nicht kollektivistischen Weg gibt, um bei voller Aufrechterhaltung von Markt-wirtschaft und Wettbewerbsfreiheit dennoch volle wirtschaftliche Startgleichheit zu erreichen und zu sichern. [Gedankenexperiment Bauernhöfe: Wir brauchen nur zu be-stimmen, dass kein Bauernsohn mehr als einen Hof erben darf, und dass die dadurch oder sonst überzählig werdenden Höfe an hoflose Bauernsöhne ausgeben werden.] Dies Gedankenexperiment zeigt bereits, dass das Problem der Startgleichheit aufs engste zusammenhängt mit dem Problem der Betriebsgrösse. Soweit in der Wirtschaft der Bereich des Kleinbetriebs, des Familienbetriebs, sich erstreckt, ist das Problem ohne weiteres lösbar. Das ergibt einen neuen, höchst gewichtigen Grund für den Kleinbetrieb, für dessen wirtschaftspolitische Förderung und Bevorzugung sich uns ja bereits eine Fülle anderer überwirtschaftlicher Gründe ergeben hatten. Für die verbleibenden Grossbetriebe aller Art ist das Problem schwieriger zu lösen. In Frage kommt die genossenschaftliche Betriebsform, bei der jeder Arbeiter an seinem Teil Miteigentümer des Betriebes ist. [...] Als weiterer Ausweg bei verbleibenden Grossbetrieben käme in Betracht eine ent-sprechende Stückelung der Eigentumstitel, etwa so, dass der Wert jedes Stücks dem Wert eines durchschnittlichen Bauernhofes entspricht (Geschäftsanteile, Aktien, Kuxe usw.), und Anwendung der gleichen erbrechtlichen Bestimmungen wie für Bauernhöfe und Handwerksbetriebe auf diese Eigentumsanteile. Selbstverständlich würden hier die Durchführungsvorschriften wesentlich komplizierter und schwieriger werden, aber grundsätzlich liegen Lösungsmöglichkeiten auch hier vor. Da diese wirtschaftliche Startgleichheit bei dem Einzelnen frühestens erst im Lebensalter der Mündigkeit ein-setzen kann, so ist ihre Ergänzung durch die Startgerechtigkeit der Erziehung und Ausbildung umso wichtiger. Erst die entschiedene Bejahung des Ideals der Startgerechtigkeit wird uns das gute Ge-wissen gegenüber den Gerechtigkeitsforderungen des Sozialismus geben können, das

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bisher in so verhängnisvoller Weise fehlte und fehlen musste. Nicht freie Marktwirtschaft als solche führt zu sozialer Armut und Verelendung als Massenerscheinung, auch nicht Marktwirtschaft mit Privateigentum, sondern nur Marktwirtschaft mit einer ganz be-stimmten (und zwar feudaloiden) institutionellen Regelung des privaten Erbrechtes, eben derjenigen, die zur erblichen Startungleichheit führt. In dem Masse, in dem gerechte Gleichheit des Starts an die Stelle der ungerechten erb-lichen Ungleichheit tritt, und wirtschaftliche Vorteile nur im offenen Leistungswettbe-werb zu erringen sind, werden sich die sozialen und wirtschaftlichen Massstäbe von Beurteilung und Wertung, wird sich die Atmosphäre der Wirtschaft und das in ihr vor-waltende Lebensgefühl grundlegend ändern. Jeder ist dann seines Glückes Schmied. Jeder hat dann selbst die Wahl, ob er es vorzieht, mehr zu schlafen oder mehr zu essen, ob ihm gemächliche Bescheidenheit oder angestrengtes Vorwärtskommen erstrebens-werter scheint, ob er sich im Leben als Spaziergänger oder als Hochtourist betätigen will, was ja beides seine Vor- und Nachteile hat. Wenn bescheidenes Einkommen mit Ge-mächlichkeit, höheres Einkommen mit Anstrengung gekoppelt erscheint, so wird sich niemand mehr über das Ergebnis seiner eigenen Wahl zu beklagen haben; sozialer Neid wird keinen Ansatzpunkt mehr finden. [...] Wenn man dem hier umrissenen Programm vorwerfen sollte, dass es utopisch sei, so ist es doch gewiss nicht utopischer, als es das Programm des Kommunismus vor hundert Jahren war. Jede Idee als Idee, jedes Programm als Programm, ist zunächst utopisch, erst allmählich kann es durch intensive Arbeit schrittweise der Wirklichkeit und ihrer Kom-plikationen angenähert werden. Trotzdem braucht man keineswegs zu warten, bis diese Arbeit geleistet ist, vielmehr gibt es eine ganze Reihe von Schritten in Richtung auf unser Ziel, die schon sofort getan werden können. Die erbliche Startungleichheit ist das wesentlichste institutionelle Strukturelement, durch das der Feudalismus in der Marktwirtschaftsgesellschaft fortlebt und sie zur Plutokratie, zur Reichtums-Herrschaft, macht. Die sehr verbreitete Gewissensverhärtung gegenüber dieser grundlegenden gesellschaftlichen Ungerechtigkeit ist ein wesentlicher unterbe-wusster Bestandteil der fortwirkenden feudalen Ideologie. Es ist für jeden Einzelnen grundlegend wichtig, an diesem empfindlichen Punkt in sch selber Sauberkeit zu schaffen. Die bisherige Entschuldigung, dass das dann ja aber zum Sozialismus und also zu einem noch grösseren Übel führen würde, besteht jetzt, nach Aufweisung des dritten Weges, nicht mehr. (F.A. von Hayek stellt sich auf die Seite der traditionellen erbrecht-lichen Familienform, obwohl er doch so gut wie wir alle wissen sollte, auf welche Weise sowohl die alten feudalen als auch die modernen kapitalistischen Grossvermögen in aller Regel entstanden sind. Wir wollen uns doch keine frommen Kindermärchen vorerzählen.) Klima: Wir kennen die freie Konkurrenz der Marktwirtschaft nur in derjenigen Form, in der sie sich im 19. Jahrhundert verwirklicht hatte, die zwar rein wirtschaftlich ausser-ordentlich erfolgreich war, umso unsympathischer und unliebenswürdiger aber in ihrer menschlichen Haltung. Eugen Schmalenbach: "Sieht man genauer zu, so besteht der tiefste Grund der grossen Erfolge, die mit der freien Marktwirtschaft verbunden waren, in der ganz ausserordentlichen Rücksichtslosigkeit dieser Wirtschafsform; in ihrer gross-

artigen, vorher selten da gewesenen und nicht leicht wiederkehrenden Unbekümmertheit, mit der sie alles, was nicht wirtschaftskräftig war, niedertrat, und es ohne Erbarmen um-kommen liess; in der robusten Selbstverständlichkeit - man möchte es fast Taktlosigkeit nennen -, mit der sie den Wirtschaftskräftigen an die Oberfläche trug. Das 19. Jahr-hundert mit seiner freien Wirtschaft wird sich, wie ich vermute, auf ewige Zeiten unter den Wirtschaftsepochen durch diese seine naturhafte Rücksichtslosigkeit von allen anderen Wirtschaftsepochen abheben. Dieses Jahrhundert wird seine eigene, keinem anderen Jahrhundert eigentümliche Berühmtheit bekommen, nicht so sehr wegen seiner grossen technischen und wirtschaftlichen Erfolge, sondern vielmehr deshalb, weil die Wirtschaft dieses Jahrhunderts mehr als jede andere der Natur selbst verwandt war. Genau so, wie die Natur im Wettkampf der Individuen und Arten das Tüchtige sich ungehemmt entwickeln und das Untüchtige mitleidlos sterben lässt; mit den gleichen Mitteln der Organisation arbeitete das 19. Jahrhundert. Es kann gar nicht anders sein, als dass das 19. Jahrhundert späteren Generationen einmal ein grossartiges Schauspiel bieten muss". Der wirtschaftliche Wettbewerb, die Konkurrenz, kann in sehr verschiedenen Einstellun-gen und Gesinnungen geführt werden, und welche dieser Gesinnungen sich durchsetzt, hängt wesentlich ab: 1. von der Abgrenzung des Marktbereichs 2. von der Gestaltung des Marktrandes und von dessen Integrationskräften. Die wünschenswerte und sachangemessene Wettbewerbsgesinnung ist die des fairen Sportes. Sie setzt voraus die Einschränkung des Marktbereichs auf Leistungskonkurrenz (d. h. die strenge Ausschliessung jeder Behinderungs- und Vernichtungskonkurrenz) und eine kameradschaftliche, gemeinschaftsnahe Gestaltung des Randes. Keine dieser Bedingungen war im 19. Jahrhundert erfüllt. Der Rand, der aussenwirt-schaftliche Lebensbereich, war weithin von den zersetzenden Kräften der Atomisierung und Vermassung beherrscht, und die manchesterliche Freigabe auch er schädlichen und gehässigen Formen der Konkurrenz liess die wirtschaftliche Vernichtung oder Unter-jochung des Konkurrenten und die Aufrichtung einer eigenen monopolistischen Herrschaftsstellung von Anfang an als das eigentliche Ziel wirtschaftlicher Betätigung erscheinen. Dadurch artete das Wirtschaftsleben des 19. Jahrhunderts vielfach in einen Kampf Aller gegen Alle aus und verwirklichte so zum ersten Mal jene finstere Vor-stellung des bellum omnium contra omnes, die Hobbes im 17. Jahrhundert der Urzeit angedichtet hatte. Darwins Vorstellung vom struggle for live mit dem Ziel des survival of the fittest war dann nichts anderes, als eine Projektion dieser Wirtschafts- und Sozial-struktur des 19. Jahrhunderts von der Menschen- auf die Tierwelt: lupus lupo homo - was in Wirklichkeit bekanntlich keineswegs zutrifft. Die barbarische Brutalität, die die Signatur der Konkurrenz des späten 19. Jahrhunderts bildete, erreichte ihren Höhepunkt in der Degeneration dieser Konkurrenz zu Pluralis-mus, Monopolismus, Subventionismus, Protektionismus. Gerade dieser Übergang der Krankheit in das akute Stadium schärft uns aber den Blick dafür, wie sehr sie auch schon vorher latent vorhanden war, und wie sehr sie von Anfang an bedingt war durch das Fehlen jeder öffentlichsozialen Eingrenzung und marktpolizeilichen Überwachung

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durch eine starke und unabhängige Staatsgewalt. Sind diese im 19. Jahrhundert fehlen-den Voraussetzungen erfüllt, so wird der von uns erstrebte vollständige Wettbewerb des Dritten Weges ein wesentlich anderes Bild bieten und von einer wesentlich anderen menschlichen Atmosphäre getragen sein. Sie wird sich sehr weit vielmehr jenem menschenfreundlichen Charakter nähern, den der Optimismus des harmoniefreudigen 18. Jahrhunderts ursprünglich von der Durchführung der Wirtschaftsfreiheit erwartet hatte. Wilhelm Röpke: Die Lehre von der Wirtschaft (1937) 1. Das Problem 1. Geordnete Anarchie 2. Weitere Rätsel der Wirtschaft 3. Der Grenznutzen 4. Auswahl und Begrenzung als Wesen der

Wirtschaft

6. Märkte und Preise 1. Der freie Preis räumt den Markt 2. Elastizität von Angebot und Nachfrage 3. Preise und Kosten 4·Das Monopol

2. Grundtatsachen der Wirtschaft 1. Die sittliche Grundlage (Geschäfts- prinzip) 2. Was sind Kosten? 3. Die möglichen Abstimmungssysteme 3. Das Gewebe der Arbeitsteilung 1. Die Bedeutung der Arbeitsteilung 2. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Rolle des Geldes 3. Die Voraussetzungen intensiver Arbeits- teilung 4. Arbeitsteilung und Menschenzahl (Bevölkerungsproblem) 5. Die Gefahren und Grenzen der Arbeits- teilung 4. Geld und Kredit 1. Was ist Geld? 2. Vom Ochsengeld zur Banknote 3, Geld und Banksystem . 4. Inflation und Deflation 5. Die Kaufkraft des Geldes und ihre Messung 5. Güterwelt und Produktionsstrom 1. Sozialprodukt und Volkseinkommen 2. Das Wesen der Produktion 3. Der Wirtschaftsprozess im ganzen 4. Die Produktionsfaktoren . 5. Die Kombination der Produktions- faktoren

5·Der Zusammenhang der Preise 6. Aussenhandel und internationale Preisbildung 7. Arm und Reich 1. Die Einkommensverteilung 2. Die Einkommensverteilung als Preisbildungsproblem 3.·Abschaffung von Kapitalzins und Grundrente? 4.·Die Änderung der Einkommens- verteilung 8. Die Störungen des wirtschaftlichen Gleichgewichts 1. Die Störungsquellen 2. Stabilisierungspolitik 9. Wirtschaftsverfassung, Weltkrise und Nationalökonomie 1. Struktur und Mechanismus unseres Wirtschaftssystems 2. Die kollektivistische Alternative 3. Der dritte Weg

Wilhelm Röpke: Die Lehre von der Wirtschaft Kp. 7: Arm und Reich I. Die Einkommensverteilung Wenn der Nationalökonom den Mechanismus unseres Wirtschaftssystems auseinander-setzt, so verfällt er leicht in die Sprache von Generalstabsberichten, in denen die Kriegs-bewegungen in einer harten, unpersönlichen Weise beschrieben werden und es der Phantasie der Menschen überlassen bleibt, sich die Summe menschlicher Entschlüsse,

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Taten und Leiden, die dahinter steht, lebendig vorzustellen. Wir machen es uns bequem und sprechen z. B. von der Kaufkraft des Geldes, obwohl wir genau wissen, dass das Geld sich nicht allein auf den Markt begibt, sondern von einzelnen Menschen mit ihren Erwägungen, Schwächen und Leidenschaften ausgegeben wird. Und so haben wir auch von der Nachfrage nach einem Gute gesprochen und sie fast wie ein physikalisches Quantum behandelt, in der sicheren Erwartung, der Leser werde in keinem Augenblick vergessen, dass es sich auch hier um eine abgekürzte Ausdrucksweise handelt. In Wahr-heit setzt sich ja die Nachfrage nach einem Gute aus der Nachfrage aller Einzelnen zusammen, die sich bei einem bestimmten Preise entschliessen, einen bestimmten Teil ihres Einkommens für den Kauf dieses Gutes zu verwenden. Diese einzelnen Nachfrage-portionen pflegen jedoch von ganz verschiedener Grösse zu sein, nicht nur wegen der Verschiedenheit des Geschmacks, sondern auch wegen der Ungleichmässigkeit der Einkommen. Damit haben wir in unserer Darstellung denjenigen Punkt erreicht, der die grosse Mehr-heit der Menschen wohl zu allen Zeiten unter allen Fragen der Nationalökonomie am meisten interessiert hat. Der Gegensatz zwischen Arm und Reich, zwischen Hütte und Palast, zwischen Besitzenden und Besitzlosen, das ist die grosse Frage, die die Menschen seit Jahrtausenden bald stärker, bald schwächer bewegt. [...] Aber nicht nur durch die verschiedene Höhe, sondern auch durch die Verschiedenheit des Ursprungs und der Natur der Einkommen werden immer wieder Zweifel an der Gerech-tigkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung erweckt. Während das eine Einkommen aus handgreiflicher und die Anstrengung sichtbar verratender Arbeit fliesst und daher an Gesundheit und Leben des Beziehers geknüpft ist, setzt sich das andere aus Zinsen, Dividenden, Renten, Gewinnen und Vergütungen zusammen, die keine sichtbare und oft auch keine unsichtbare Arbeit widerspiegeln und von der Gesundheit des Beziehers unabhängig sind. Und schliesslich: Das höhere Einkommen gewährt nicht nur grössere Verfügungsgewalt über Sachen, sondern auch grössere Macht über Menschen, Ansehen, Einfluss und Bildung. Indem wir uns nunmehr einer wissenschaftlichen Betrachtung der Einkommensverteilung zuwenden, müssen wir davon ausgehen, dass es folgende Möglichkeiten der Einkom-mensbildung gibt: 1. Die ausserökonomische Einkommensbildung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie ohne Rücksicht auf eine entsprechende Leistung, d. h. ohne jeden Zusammenhang mit dem Produktionsprozess erfolgt, sei es durch Gewalt oder List, sei es durch autoritär-karitative Verteilung (Wohlfahrtsrenten, Unterstützungen, Geschenke und die "Verteilung nach den Bedürfnissen", wie sie von radikalen Kommunisten für, die ganze Gesellschaft gefordert wird). 2. Die ökonomische Einkommensverteilung, die sich aus der Beteiligung jedes einzelnen am Wirtschaftsprozess, d. h. aus dem Verkauf von Gütern, Diensten und Leistungen aller Art ergibt. Auf diese Weise kommt es zur Bildung jenes Einkommens, das an einer frühe-ren Stelle als ursprüngliches Einkommen bezeichnet wurde. Obwohl die ausserökonomi-sche Einkommensbildung auch in unserem Wirtschaftssystem anzutreffen ist, ist es doch

allein die ökonomische, die es charakterisiert und das Interesse des Nationalökonomen auf sich lenkt. 2. Die Einkommensverteilung als Preisbildungsproblem Wir können nun die ökonomische Einkommensverteilung nach zwei Richtungen hin untersuchen. Einmal können wir nämlich fragen, wie es denn kommt, dass die eine Person ein Einkommen in dieser Höhe, die andere ein Einkommen in jener Höhe bezieht. Wir betrachten dann die Einkommensverteilung im landläufigen Sinne der sogenannten personellen Einkommensverteilung. Wir können aber auch so vorgehen, dass wir das Einkommen in einzelne Haupttypen oder Kategorien zerlegen und nun das auf jede Mass-einheit dieser Typen (z. B. 100 Franken Kapital) entfallende Einkommen betrachten, ohne Rücksicht darauf, wieviele Einheiten der einzelne Einkommensbezieher besitzt. Wir fragen also jetzt, wonach sich die Höhe des Arbeitslohnes pro Kopf, der Grundrente pro Hektar oder des Kapitalzinses pro Hundert bestimmt (funktionelle oder, besser, katego-riale Einkommensverteilung). Im Gegensatz dazu steht die personelle Einkommens-verteilung, bei der uns die Tatsache interessiert, dass A aus diesen verschiedenen Ein-kommenskategorien ein Einkommen von 2000 Franken, B ein solches von 20000 Franken und C ein solches von 1 Million Franken bezieht. Die Hauptkategorien, die wir bei einer Theorie der kategorialen Einkommensverteilung bilden, sind der Arbeitslohn, die Grundrente und der Kapitalzins, die den uns bekannten Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital entsprechen. Wenn wir so vorgehen, so gelangen wir schliesslich zu einer Theorie der Preisbildung der Produktionsfaktoren. Die Lehre von der kategorialen Einkommensverteilung löst sich damit in eine Anwendung der allgemeinen Grundsätze der Preistheorie auf. Dies ist in der Tat der Weg, den die moderne Theorie der Einkom-mensverteilung (Distributionslehre) genommen hat. Lassen wir die grossen Fragen der personellen Einkommensverteilung einstweilen noch auf sich beruhen, und suchen wir aus der modernen Auffassung der kategorialen Einkommensverteilung das Wesentliche herauszuschälen. Wer einmal das Distributionsproblem als Preisproblem erkannt hat, kann sich nicht länger darüber täuschen, dass die Einkommensverteilung ein nicht heraus zu lösendes Stück des gesamten Wirtschaftsprozesses darstellt und denselben Gesetzmässigkeiten unterworfen ist wie seine übrigen Bestandteile. [...] Dass sich die Preise der Produktionsfaktoren jeweils in einer bestimmten Höhe festsetzen, ist eine wesentliche Bedingung des wirt-schaftlichen Gesamtgleichgewichts, in unserem wie in einem anderen Wirtschaftssystem. Wer diese Preise ändern will - und welcher Nationalökonom wünschte nicht ein mög-lichst hohes Lohn- und ein möglichst niedriges Zins- und Rentenniveau? -, dem sind gewiss die Hände nicht gebunden. Aber anstatt sich durch vages Verlangen nach einem "gerechten" Lohn, durch Verdammung der "Zinsknechtschaft" und temperamentvolle Ausfälle gegen rentenschluckende "Agrarier" und "Terrainspekulanten" den billigen Ruf eines "sozial denkenden Mannes" zu erwerben und anstatt die Einwendungen derjenigen, die etwas von der Sache verstehen, als "liberalistisch" beiseite zu schieben, leistet man seinem Volke einen besseren Dienst, wenn man die verwickelten Zusammenhänge der Wirtschaft unvoreingenommen studiert, um zu erfahren, welches die vorgelagerten

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Faktoren sind, auf die man Einfluss gewinnen muss, um die Distribution mit Erfolg, d. h. ohne eine die Gesamtheit schädigende Störung des Gleichgewichts, ändern zu können. Das ist zwar schwerer, undankbarer und entsagungsvoller, aber dies sind nun einmal die Anforderungen, die wahre soziale Gesinnung und wahrer Patriotismus an uns stellen. Und es soll wirklich unmöglich sein, die Arbeiterlöhne auf Kosten des Kapitaleinkommens gewaltsam zu erhöhen? Unmöglich ist das gewiss nicht, nur entsteht bei jedem Versuch dieser Art. eine Lage, die sich nach kurzer Zeit als unhaltbar erweist und den Arbeitern selbst schwere Nachteile bringt. Dabei ist vorauszuschicken, dass diejenigen, die sich durch Übertragung des Besitzeinkommens auf die Arbeiterschaft viel versprechen, einer optischen Täuschung unterliegen. Die Grosseinkommen fallen sehr in die Augen, aber die meisten vergessen nachzurechnen, dass bei der geringen Zahl der Grosseinkommensbezieher auf den einzelnen aus der Riesenzahl der Kleineinkommens-bezieher bei einer Verteilung nicht viel entfallen kann. Dies umso weniger - und damit kommen wir zum entscheidenden Punkte -, als eine solche gewaltsame Übertragung zu schweren Störungen führen muss, die schliesslich auf den Arbeiter zurückfallen. Um nur einige der wichtigsten Störungen anzudeuten, so ist anzunehmen, dass durch eine solche Lohnpolitik die Kapitalversorgung der Volkswirtschaft und die für den Beschäftigungs-grad wichtige Investitionstätigkeit schwer in Mitleidenschaft gezogen werden. Das Kapitaleinkommen fliesst ja in der Regel Leuten zu, die nur einen kleinen Teil davon verbrauchen und den grösseren Teil der Produktion als neues Kapital zur Verfügung stellen. Es ist sehr zweifelhaft, ob dieses Einkommen nunmehr in der Hand der Arbeiter in gleichem Umfange gespart und investiert werden wird. Hinzu kommt, dass der Sturz der Effektenkurse, der von einer solchen Politik zu erwarten ist, einen der empfindlichs-ten, aber von den meisten wenig verstandenen Punkte des verwickelten Apparates der volkswirtschaftlichen Kapitalversorgung aufs schwerste treffen und gleichzeitig einen Druck auf die gesamte Konjunktur des Landes ausüben wird. Alle diese Wirkungen zusammen lassen Depression und Arbeitslosigkeit auf der ganzen Linie erwarten. Dass die Rücksichtnahme auf die volkswirtschaftliche Kapitalversorgung und Investitions-tätigkeit einer gewaltsamen Lohnerhöhung Schranken entgegensetzt, ist nicht etwa eine teuflische Beson-, derheit unseres Wirtschaftssystems, sondern auch im sozialistischen Staate eine sachliche Notwendigkeit. Jedenfalls ist noch nichts davon bekannt geworden, dass die russische Regierung die Löhne so hoch festgesetzt hätte, dass in ihren Händen kein Überschuss verbleibt, noch dass sie sich für die Kapitalversorgung auf die frei-willigen Ersparnisse der Arbeiter verliesse. Ein weiterer Punkt, der bei einer nicht durch die Marktlage gerechtfertigten Lohnerhöhung zu beachten ist, tritt deutlich hervor, wenn wir uns klarmachen, dass eine willkürliche Preiserhöhung auf dem Arbeitsmarkt, ent-sprechend willkürlichen Preiserhöhungen auf anderen Märkten, einen Teil der "Ware" unverkäuflich machen, d. h. Arbeitslosigkeit hervorrufen wird. Werden die Arbeitslosen nicht vom Staate unterhalten, so werden sie mit voller Gewalt so lange auf den Lohnsatz drücken, bis er wieder die Gleichgewichtslage erreicht hat. Werden die Arbeitslosen aber vom Staat unterhalten, so wird der von ihnen ausgehende Lohndruck allerdings weit-gehend abgefangen, dafür aber stehen sich jetzt die zu hohen Lohnsätzen Beschäftigten und die zu äusserster Armut verurteilten Arbeitslosen sowie die Steuer zahlenden anderen

Schichten so schroff gegenüber, dass nicht von einer Hebung der Lage der Arbeiterklasse insgesamt, sondern nur von einer Besserung der Lage der einen Arbeiterschicht auf Kosten der anderen gesprochen werden kann. Es ist ein grobes Bild, das wir damit gezeichnet haben. In Wahrheit liegen die Dinge wie immer weit verwickelter, und je kleiner die gewaltsame Lohnerhöhung ist, umso beding-ter und vorsichtiger muss unser Urteil sein, umso mehr müssen wir mit Umständen rechnen, die es gestatten, dass die Lohnerhöhung ohne Schaden von der Volkswirtschaft verdaut wird. Wir dürfen ja auch niemals vergessen, dass unser Wirtschaftsmechanismus immer mit einem mehr oder weniger grossen "Spiel" arbeitet, innerhalb dessen freie Bewegungen möglich sind, ohne Gegenbewegungen auszulösen. Anderseits gilt auch hier, dass je makroskopischer die Verhältnisse sind, d. h. je grössere Gewalt den Löhnen angetan wird, umso unerbittlicher sich die Störung des volkswirtschaftlichen Gleich-gewichts rächen wird. Es gibt einen Punkt, den eine gewaltsame Lohnerhöhung nicht überschreiten kann, ohne schliesslich in Inflation und Bürgerkrieg auszumünden. Das zu leugnen, ist eine Demagogie, die ein sozialistischer Staat am allerwenigsten dulden würde. Oder nehmen wir den anderen Fall einer gewaltsamen Herabsetzung des Zinsfusses. Obwohl in diesem Falle, wo wir es zugleich mit schwierigen geldtheoretischen Fragen zu tun haben, die Zusammenhänge eher noch verwickelter sind als in dem eben behandelten Falle einer Vergewaltigung des Lohnes, kann auch hier über das Wesentliche kein Zweifel bestehen. Auch hier sind Rückwirkungen zu erwarten, die die Rache des ver-gewaltigten Wirtschaftsprozesses darstellen. Zunächst wird eine Herabsetzung oder gar eine Abschaffung des Zinses durch Staatsdekret wahrscheinlich dazu führen, dass der Kapitalverkehr Wege suchen wird, die sich der Kontrolle des Staates und der Öffent-lichkeit entziehen. Auf vielfach verschlungene Weise wird sich ein illegaler Zinssatz durchsetzen, der nicht nur dem tatsächlichen Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Kapitalmarkte entspricht, sondern noch um die Kosten des verwickelteren Ge-schäftsverkehrs und um den Betrag einer Vergütung für das Risiko der Gesetzesübertre-tung erhöht sein wird. Wenn wir aber den wenig wahrscheinlichen Fall setzen, dass der dekretierte Höchstsatz sich durchsetzen lässt, so werden sich früher oder später unhalt-bare Verhältnisse auf dem Kapitalmarkt ergeben. Wie in jedem Falle der Höchstpreis-wirtschaft wird ein Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Kapital-markte eintreten, das schliesslich den Staat zu dem weiteren Schritt einer Rationierung der verfügbaren Kreditmenge drängt. Dies bedeutet aber, dass jetzt der Staat selbst die Funktionen übernimmt, die bisher von der freien Zinsbildung ausgeübt wurden. Können wir das Vertrauen haben, dass er sie befriedigend versehen wird? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns klarmachen, dass der Zinssatz des freien Kapitalmarktes in erster Linie ein Appell an alle Kreditnachfragenden ist, die Dringlich-keit ihrer Nachfrage durch einen Vergleich des Zinses mit dem voraussichtlichen Nutzen der Kapitalverwendung zu überprüfen. Dadurch wirkt der Zins als ein Mechanismus, der für eine vernünftige Verteilung der jeweils knappen Kapitalmenge sorgt. Diese Aufgabe hat jetzt der Staat zu übernehmen. Nichts leichter und besser als das, werden viele sagen. Endlich, so meinen sie, könne das Kapital nach "volkswirtschaftlichen" Gesichtspunkten

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verteilt werden. Wenn sie uns aber sagen sollen, was denn nun eigentlich darunter zu verstehen sei, so werden sie in die grösste Verlegenheit geraten. Das einzig Bestimmte, was wir hören, wird die Meinung sein, dass jeder demjenigen Produktionszweig, der ihm aus ideellen oder materiellen Gründen besonders am Herzen liegt, möglichst viel von dem jetzt so billig gewordenen Kapital zugeschanzt wissen möchte. Wie aber sollen die Staatsorgane gegenüber allen diesen Wünschen entscheiden? Nehmen wir an, sie suchten wirklich nach einem objektiven Massstab und verstopften sich ihre Ohren gegen den Sirenengesang der Interessenten oder der selbsternannten Volksbeglücker, und nehmen wir weiter an, sie stünden vor der konkreten Frage, ob in diesem Augenblick die Schuh-industrie einen grösseren Anspruch auf Kapital hat als die Automobilindustrie, so müss-ten sie offensichtlich von dem Nutzen ausgehen, den die Kapitalverwendung in der einen oder in der anderen Industrie stiften würde. Dieser Nutzen ist allein in Geld messbar und vergleichbar. Das ist aber gerade der Massstab, nach dem sich im Falle unbehinderter Zinsbildung die verfügbare Kapitalmenge verteilen würde. Nur wird man sich auf diese Art der Verteilung trotz aller ihrer grossen Unvollkommenheiten und Schwächen unend-lich mehr verlassen dürfen als auf diejenige Verteilung, die sich ergibt, wenn die Staats-organe nach freiem Ermessen ihre Entscheidung treffen, ohne wie die Schuh- und Automobilfabrikanten für eine falsche Entscheidung mit eigenen wirtschaftlichen Nachteilen einstehen zu müssen. Der Fall liegt noch verhältnismässig einfach, wenn es sich um einen Vergleich zwischen Produktionszweigen handelt, in denen die prozentuale Kapitalverwendung (Kapitalintensität) gleich hoch ist. Es ist aber unerfindlich, wie der Staat eine vernünftige Entscheidung treffen soll, wenn es sich um Produktionszweige mit einem verschiedenen Grade der Kapitalintensität handelt. Ob eine mehr oder eine weniger kapitalintensive Art der Produktion in einem Lande begünstigt werden soll, hängt doch offenbar davon ab, in welcher Menge der Produktionsfaktor Kapital im Vergleich zu den anderen Produktionsfaktoren, Arbeit und Boden, vorhanden ist. Gerade darüber aber gibt allein die freie Zinsbildung im Verein mit der freien Preisbildung der anderen Produk-tionsfaktoren einigermassen zuverlässige Auskunft. Neben Lohn, Grundrente und Kapitalzins gibt es nun allerdings noch eine grosse und wichtige Kategorie des Einkommens, die sich schwer in den Rahmen unserer bisherigen Betrachtungen einfügen lässt. Stellen wir uns nämlich einen Unternehmer vor, der, nachdem er alle bei der Produktion mitwirkenden Produktionsfaktoren in Form von Löhnen an die Arbeiter, von Grundrente an den Bodenbesitzer (unter Umständen also auch an sich selbst) und von Kapitalzins (unter Umständen ebenfalls an sich selbst) entlohnt und sich selbst eine für die Routinearbeit übliche Durchschnittsvergütung (Unternehmerlohn) angerechnet hat, imstande ist, seine Produkte so zu verkaufen, dass ihm ein Überschuss über diese Summe der "Kosten" verbleibt. Diesen Überschuss nennen wir Unternehmergewinn oder Profit im engeren und eigentlichen Sinne. Gewiss ist auch dieses Einkommen ein Ergebnis des Preisbildungsprozesses, da es durch die Preisbildung der Verkaufsprodukte und der Produktionsfaktoren bestimmt wird, aber es unterscheidet sich dadurch von den bisher genannten Einkommensarten, dass es sich um einen blossen Differentialgewinn handelt, nicht aber selbst um einen durch den Markt bestimmten Preis einer verkaufbaren Leistung. Die schwierige Aufgabe einer Theorie des Unternehmerge-

winns besteht nun darin, das Zustandekommen eines solchen Differentialgewinns aus allgemeineren Gesichtspunkten zu erklären, wobei auch der kaum weniger häufige Fall eines Unternehmerverlustes (Differentialverlustes) einzubeziehen ist. Eine solche Theorie hat auch die weitere Frage zu beantworten, ob dem Unternehmergewinn innerhalb unseres Wirtschaftssystems eine bestimmte positive Funktion zukommt oder ob es sich bloss um eine funktionslose Bereicherung handelt. Nun liegt es in der Natur der zu erklärenden Erscheinung selbst, dass eine befriedigende Theorie des Unternehmergewinns nur pluralistisch sein kann und alle die mannigfachen Ursachen berücksichtigen muss, aus denen Differentialgewinne entstehen können (Monopolgewinne, Spekulations- und Konjunkturgewinne, Gewinne aus technischen und organisatorischen Pionierleistungen, Lohndruck, Risikoprämien, Gewinne aus Störungen des Wirtschaftsprozesses usw.). Je nach der Ursache des Differentialgewinns wird auch der Unternehmergewinn entweder positiv als ein funktioneller Leistungsgewinn oder negativ als ein funktionsloser Bereicherungsgewinn zu beurteilen sein. Zwei allgemeine Gesichtspunkte sind jedoch hervorzuheben: - Erstens darf nicht übersehen werden, dass die Möglichkeit des Unternehmergewinns als Lohn einer positiven Leistung für das Funktionieren unseres Wirtschaftssystems ebensowenig entbehrt werden kann wie die Möglichkeit des Unternehmerverlustes als Strafe der Fehlleistung. Wer die Schwungkraft unseres Wirtschaftssystems anerkennt, wird also auch grundsätzlich die Existenz des Unternehmergewinns hinnehmen müssen. Dieser Satz hat besonderes Gewicht, wenn man sich klarmacht, dass eine rege Investitionstätigkeit, von der, wie noch zu zeigen sein wird, das Gleichgewicht der Volkswirtschaft in hohem Grade abhängig ist, nur erwartet werden kann, wenn die Aussicht auf einen vernünftigen Gewinn das hohe Risiko tragbar erscheinen lässt, das jede Fabrikgründung, jede Modernisierung des Betriebes, jede Erweiterung der Produktion, jede Einführung einer Neuheit, ja schon jede Erneuerung der Maschinen mit sich bringen. Es gehört ohnehin schon sehr viel Mut dazu, ein solches Risiko auf sich zu nehmen. Lässt man den Unternehmern aber nur die Verluste, während man ihnen die Gewinne mehr und mehr durch Besteuerung, Lohnerhöhungen und andere Mittel beschneidet, so wird die private Investitionstätigkeit zu einem Spiel, bei dem man schliesslich nur noch verlieren kann. Die Folge ist dann Stagnation, Arbeitslosigkeit und Verarmung. - Zweitens ist zu beachten, dass uns in der Konkurrenz ein überaus wirksa-mes Mittel zur Verfügung steht, um den Unternehmergewinn als funktionslosen Bereiche-rungsgewinn zurückzudrängen und ihn für positive Leistungen zu reservieren. Die Menge sieht nur den erfolgreichen Unternehmer, weiss aber nicht nur wenig davon, was alles zu einem solchen Erfolge gehört, sondern auch davon, wie sich - immer die Konkurrenz vorausgesetzt - mit einer lautlosen Erbarmungslosigkeit fortgesetzt unter den Unternehmern ein Ausscheidungsprozess vollzieht, dem diejenigen Zum Opfer fallen, die auf der Waage des Marktes gewogen und zu leicht befunden wurden. So erscheint der Unternehmer in einer auf echtem Wettbewerb beruhenden Marktwirtschaft im Grunde als ein treuhänderischer Verwalter der ihm anvertrauten Produktionsmittel, als ein - im Vergleich zu seinen Leistungen und im Vergleich zu den Kosten einer bürokratischen Staatswirtschaft im Durchschnitt sehr billiger - Funktionär der Gesellschaft, der seine Haut wirklich zu Markte trägt, während der Politiker nur die Verantwortung vor "Gott

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und der Geschichte" zu übernehmen pflegt. Ein solcher Unternehmer, der die bequemen Krücken der staatlichen Subvention wie diejenigen des Monopols verschmäht, sollte vor jedem Angriff eines vulgären Antikapitalismus gesichert sein. Nach allem, was wir heute wissen, steht es fest, dass im kommunistischen Russland die Einkommensunterschiede zwischen den wirtschaftlich Leitenden und den Arbeitern weit grösser sind als in den kapitalistischen Ländern, während die Bevölkerung von einem Fünfjahrsplan zum ande-ren auf die endliche Einlösung des Versprechens einer merklichen Verbesserung ihrer Versorgung vertröstet wird. Solchen Unternehmern gegenüber ist auch das Schlagwort von den "zweihundert Familien", die im Geheimen die wirtschaftlichen Geschicke eines Landes unverantwortlich leiten sollen, durchaus fehl am Platze. Der Unterschied zwi-schen der Marktwirtschaft und der kollektivistischen Wirtschaft besteht darin, dass sich eben dort die wirtschaftlichen Entscheidungen auf sehr viele "Familien" verteilen und dass sie von der obersten Instanz des Marktes, d. h. letzten Endes von dem Votum der Konsumenten, abhängig sind, im kollektivistischen Staate aber auf eine einzige Familie - gesetzt, der Diktator hat eine solche - konzentrieren und von keiner Instanz mehr ab-hängig sind. Aber wir erinnern daran, dass das nur unter der Voraussetzung gilt, dass der Unternehmer nicht selbst an seiner Funktion irre wird und sich in einen Defaitisten verwandelt, der sich unter das schützende Dach des Monopols oder des Staates zu retten sucht, ohne zu bedenken, dass er sich damit selbst aufgibt. 3. Abschaffung von Kapitalzins und Grundrente? Wir sahen, dass die drei Hauptkategorien des Einkommens - Lohn, Zins und Grundrente - als Preise der ihnen entsprechenden Produktionsfaktoren aufzufassen sind, dass diese Preise durch den Wirtschaftsprozess als Ganzes bestimmt werden und nicht willkürlich verändert werden können, ohne alle Verhältnisse im Wirtschaftsleben in mehr oder weniger folgenschwerer Weise zu verschieben. Obwohl bereits angedeutet wurde, dass damit einer wirklich erfolgreichen Änderung dieser Preise zugunsten des Arbeitslohnes - nämlich durch Einwirkung auf die vorgelagerten Faktoren - in keiner Weise das Tor verschlossen wird, werden sich nicht wenige durch unser Resultat bis aufs Blut gereizt fühlen. Sie lehnen sich dagegen auf, dass Zins und Grundrente überhaupt auf gleichem Fusse mit dem Lohn behandelt werden, statt als höchst ungerechte Formen des arbeits-losen Einkommens kurzerhand abgeschafft zu werden. Haben sie nicht Recht? Und wenn die Abschaffung im Rahmen unseres Wirtschaftssystems nicht möglich ist, wäre das nicht Grund genug, endlich auch mit diesem und seinen vertrackten "Gesetzen" aufzuräumen, von denen die Nationalökonomen so viel Wesens machen? Um hier Klarheit zu schaffen, machen wir jetzt mit Nutzen von der Unterscheidung zwi-schen personeller und kategorialer Einkommensverteilung Gebrauch. Tatsächlich müssen wir streng zwischen der einen Tatsache, dass überhaupt Kapitalzins und Grundrente gezahlt werden, und der anderen unterscheiden, dass sie in so ungleichen Portionen an die einzelnen Personen ausgezahlt werden. Wäre die Besitzverteilung gleichmässiger, als sie heute ist, und würde daher die breite Masse einen grösseren Anteil am Kapital- und Grundeinkommen haben, so würden die Menschen wahrscheinlich im Durchschnitt sehr viel weniger hart über Zins und Grundrente urteilen. Wir haben es hier also mit zwei

verschiedenen Fragen zu tun und beschäftigen uns jetzt nur mit der einen, ob Kapitalzins und Grundrente überhaupt gezahlt werden sollen, d. h. einerlei, an wen und in welchen Portionen. Was aber diese Frage anlangt, so können wir uns unter keinen Umständen darüber hinwegsetzen, dass Zins und Grundrente keine sinnlosen Bereicherungsquellen sind, sondern Einrichtungen, die ihren bestimmten Sinn und ihre bestimmten Funktionen haben. Obwohl von den Funktionen des Zinses bereits im letzten Abschnitt die Rede gewesen ist, erscheint der Punkt bedeutungsvoll genug, um eine ausführlichere und allgemeinere Darlegung zu rechtfertigen. Sie muss uns vor allem auch dazu dienen, die Erkenntnis zu gewinnen, dass hinter Zins und Grundrente Zusammenhänge verborgen sind, die in einem sozialistischen Staate genau so wichtig sind wie in einem "kapitalisti-schen". Wir wissen, dass Zins und Grundrente nichts anderes als Preise sind, die für die Leistun-gen der entsprechenden Produktionsfaktoren gezahlt werden. Diese Produktionsfaktoren sind aber nur in jeweils begrenzter Menge vorhanden, während die Nachfrage nach ihnen eine ins Unendliche sich ausdehnende Staffel aufweist. Die Preisbildung, die in diesem Falle zu den Erscheinungen des Zinses und der Grundrente führt, ist also nur ein (aller-dings ausserordentlich wichtiger) Sonderfall des allgemeinen Abstimmungsprinzips, das, wie wir früher sahen, unser Wirtschaftssystem beherrscht. Jedes wie immer geartete Wirtschaftssystem steht ja vor der Aufgabe, Kapital und Boden auf die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten vernünftig zu verteilen. Diese Aufgabe kann in verschiedener Weise gelöst werden. Unser Wirtschaftssystem unterscheidet sich von anderen nur da-durch, dass es die ewigmenschliche Aufgabe auf seine Weise löst, indem es auf Boden und Kapital Preise setzt und dadurch jeden, der das eine oder das andere verwenden will, zwingt, niemanden zu verdrängen, der dafür eine bessere Verwendung zu haben glaubt. Die Lösung ist gewiss nicht ideal, aber sie ist immerhin eine Lösung, und zwar eine solche, die von niemandem ausgetüftelt worden ist, sondern sich im Laufe der Jahrtausen-de auf natürliche Weise durchgesetzt und in dieser langen Probezeit gezeigt hat, dass sie praktisch ist. Ein sozialistischer Staat müsste dafür irgendeinen Ersatz finden. Er müsste Zins und Grundrente geradezu erfinden, wenn er rationell wirtschaften will, sei es auch nur, um sie sich selber anzurechnen, d. h. er müsste für die Mitwirkung der knappen Produktionsfaktoren Kapital und Boden in der Produktion einen Wertansatz machen, wenn er nicht Gefahr laufen will, sie in seiner Wirtschaftsrechnung als freie Güter wie die atmosphärische Luft zu behandeln und damit der Vergeudung Tür und Tor zu öffnen. Wenn der sozialistische Staat in seiner Wirtschaftsrechnung nicht die Knappheit der Produktionsfaktoren Kapital und Boden durch einen Index zum Ausdruck bringt, so wird sie eben hoffnungslos falsch. Es ist zu befürchten, dass er sich durch Zerschlagung der freien Marktwirtschaft des Mechanismus beraubt haben wird, der allein das Rechen-exempel löst, einen solchen Index einigermassen zuverlässig zu berechnen. Um die Schwierigkeit der von einem sozialistischen Staate zu lösenden Aufgabe recht zu ermessen, muss man sich anschaulich vorstellen, welche Entscheidungen von der Regie-rung täglich und stündlich getroffen werden müssten. Diese Entscheidungen sind ja weit verwickelter, als wir in dem oben ausgeführten Beispiel der Schuh- und Automobilindus-trie angenommen haben. Um diesen Fall ein wenig mehr der Wirklichkeit anzunähern,

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müssten wir uns vorstellen, dass sich gleichzeitig eine Reihe von anderen Industrien mit ihren Kapitalansprüchen melden (z. B. die Grammophonindustrie), dass die Landwirt-schaft über mangelhafte Versorgung mit Mähmaschinen klagt und ausserdem noch die Einstellung eines neuen Lokomotivtyps geplant wird. Entweder - und darauf wird wohl in aller Regel eine sozialistische Planwirtschaft hinauslaufen - entscheidet nun die Regie-rung von sich aus und ganz willkürlich, wo der grössere Nutzen der Kapitalverwendung liegt (vielleicht überwiegen in der Kommission z. B. Leute, die Grammophonmusik abscheulich finden und daher über den Kopf der allein zuständigen Konsumenten hinweg entscheiden, dass der Kapitalbedarf der Grammophonindustrie nicht befriedigt wird). Oder aber die Regierung lässt die Bevölkerung entscheiden, wo der grössere Nutzen der Kapitalverwendung liegt. Dann wendet sie, wie wir sahen, den Massstab an, nach dem sich in unserem Wirtschaftssystem annäherungsweise das Kapital verteilt, aber es besteht Grund, anzunehmen, dass eine solche Entscheidung durch die Bevölkerung im sozialis-tischen Staat unmöglich ist. Damit ist gezeigt, dass der Zins keine dumme und heraus-fordernde Einrichtung zur Ausbeutung der einen und zur Bereicherung der anderen ist, kein Organ, das wir wie den menschlichen Blinddarm ohne Schaden herausschneiden können, sondern ein lebenswichtiges Organ, das eine in jedem Wirtschaftssystem wesent-liche Funktion zu erfüllen hat. Entsprechendes gilt für die Grundrente, deren Existenz durch die Notwendigkeit be-stimmt wird, die Nachfrage nach Boden entsprechend dem Grade der Dringlichkeit zu beschränken und auf den knappen Vorrat abzustimmen. Sie besorgt in unserem Wirt-schaftssystem eine Aufgabe, die in allen Wirtschaftssystemen gelöst werden muss: in die Verwendung des knappen Bodens eine vernünftige Ordnung hineinzubringen. Von dieser Funktion der Grundrente erhalten wir eine sehr lebendige Anschauung, wenn wir vom Flugzeug aus ein Land betrachten: die Aufteilung des Bodens auf Wohn- und Ackerland, auf Wald und Wiese, auf Eisenbahnen und Strassen, die Silhouette der Städte mit den Hochbauten im Zentrum und den Villenvorstädten, - alles dies ist im Grunde das Werk der Grundrente, die durch ihre zahllosen Abstufungen das eine Bodenstück diesem, das andere jenem Zweck zuführt. Wie - um es drastisch auszudrücken - der Kapitalzins dafür sorgt, dass nicht jede Landstadt eine Untergrundbahn baut, so verhütet die Grundrente die Anlage von Kartoffelfeldern in den Geschäftsstrassen der Grossstadt. Die Grundrente ist gleichsam eine Mahnung, dass Boden bestimmter Lage und Qualität knapp ist und deshalb nur denjenigen zukommen soll, die am meisten daraus zu machen verstehen und für ihn die rentabelste Verwendung beabsichtigen. Das allgemeine Regulierungsprinzip, das unser gesamtes Wirtschaftssystem beherrscht, kommt also auch hier voll zur Geltung. Dass der Boden in die Produktionskosten jeder Ware eingerechnet wird, da für seine Nutzung in Form der Grundrente ein Preis gezahlt werden muss, bringt eben zum Aus-druck, dass die Verwendung eines Bodenstücks in dieser Richtung den Verzicht auf eine andere Verwendung in sich schliesst. Dadurch unterscheidet sich die Grundrente in keiner Weise von anderen Kostenelementen. Das schliesst freilich nicht aus, dass die Grundrente gewisse Besonderheiten aufweist, die zwar von früheren Theoretikern weit überschätzt worden sind, aber doch nicht ignoriert werden können. Obwohl es ein Fehler wäre, von einem starren oder gar von einem

monopolisierten Angebot an Boden zu sprechen, so ist eben doch der Vorrat an Boden bestimmter Lage und Fruchtbarkeit mehr oder weniger starr gegeben. Bei steigender Nachfrage besteht also die Tendenz zur Steigerung des Bodenpreises, ohne dass durch die Mehrproduktion ein Ausgleich geschaffen werden könnte. Steigender Wohlstand und steigende Bevölkerung haben also zweifellos eine Tendenz zur Hinauftreibung der Grundrente. Freilich muss man sich hier vor Übertreibungen hüten und nicht glauben, dass den Bodenbesitzern die Grundrente sozusagen im Schlafe als eine sicher reifende Frucht zuwächst. Man vergisst nämlich zu leicht, dass die Grundrente eines konkreten Bodenstücks trotz steigender Bevölkerung und wirtschaftlicher Entwicklung ebenso leicht sinken wie steigen kann, da sich fortgesetzt Verschiebungen in der Nachfrage nach den einzelnen Bodenklassen ergeben. Man kann also am Boden ebenso leicht verlieren wie gewinnen, genau wie bei jeder anderen Kapitalanlage, und so wie eine Aktie nicht gleich der anderen ist, so ist eben auch jedes Stück Boden durch Lage oder Qualität vom anderen verschieden. Oft ergeben sich selbst innerhalb einer rasch wachsenden Gross-stadt starke Verluste durch Fallen der Grundrente in altmodisch gewordenen Bezirken, während sie in anderen bisher vernachlässigten Bezirken stark steigt. Dasselbe gilt für die landwirtschaftliche Grundrente, die gleichfalls trotz Bevölkerungsvermehrung grossen Schwankungen ausgesetzt ist. Muss man sich in allen diesen Richtungen vor Übertrei-bungen hüten, so kommt es freilich oft vor, dass durch die rasche Entwicklung einer Stadt, durch Verbesserung der Verkehrsverbindungen, Bau von Eisenbahnen und Kanä-len die zufälligen Bodenbesitzer ihre Grundrente in einem solchen Masse steigen sehen, dass man hier von einem "unverdienten Wertzuwachs" zu sprechen pflegt. Hier kann eine Sonderbesteuerung gerechtfertigt sein. Doch greifen wir damit bereits einer Erörterung der personellen Einkommensverteilung vor. 4. Die Änderung der Einkommensverteilung Nach einem weiten Umwege sind wir endlich an dem entscheidenden Punkte angelangt, an dem wir zu der brennenden Frage einer gerechteren Einkommensverteilung Stellung nehmen können, ohne von der reissenden Strömung blinder Leidenschaften erfasst zu werden. Sooft wir im bisherigen Verlaufe dieses Buches den Sinn und die Eigenart unse-res Wirtschaftssystems zu erklären hatten, sahen wir uns zu der Feststellung genötigt, dass der geschilderte Abstimmungsmechanismus unter einer bestimmten Voraussetzung arbeitet, die unter den verschiedensten Gesichtspunkten der Kritik ausgesetzt ist, nämlich unter der Voraussetzung der bestehenden und, wie bekannt, ungleichmässigen Einkom-mensverteilung. Man kann zwar den "kapitalistischen" Wirtschaftsprozess mit einem fortgesetzten Plebiszit vergleichen, in dem jede Geldnote einen Stimmschein darstellt und die Konsumenten durch ihre Nachfrage in jedem Augenblick über Art und Umfang der Produktion abstimmen. Aber dieses Stimmrecht der Konsumenten ist von jener "majestä-tischen Gleichheit", wie sie Anatole France im Motto dieses Kapitels so schneidend ironisiert. Die Stimmscheine sind in der Tat recht ungleichmässig verteilt. Es ist richtig, dass der Mechanismus unseres Wirtschaftssystems so beschaffen ist, dass er immer wieder die Produktion auf die Wünsche der Konsumenten abstimmt, und es ist kein stichhaltiger Einwand dagegen, dass die Produzenten diese Wünsche zu beeinflussen

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versuchen, indem sie durch Reklame für ihre Waren Propaganda machen wie die politi-schen Parteien für ihre Programme und Kandidaten. Aber da dabei nur die durch Geld legitimierten Wünsche berücksichtigt werden, haben wir nicht das Recht, das Ergebnis des Konsumentenplebiszits als das schlechthin befriedigende und vollkommene auszu-geben. Unser Abstimmungsmechanismus sorgt zwar dafür, dass auf die Dauer die Wohnungsproduktion derjenigen Nachfrage entspricht, die sich auf der bestehenden Einkommensverteilung aufbaut, aber er verhindert nicht, dass die Wohnungsproduktion hinter dem Bedarf an gesunden und menschenwürdigen Wohnungen zurückbleibt. Deswegen unser Wirtschaftssystem zu verdammen, liegt nun für viele ausserordentlich nahe. Die Überlegungen indessen, die wir bisher angestellt haben, ermöglichen es uns, die Konfusion, die in diesem populären Verdammungsurteil liegt, zu erkennen und einen Weg zu finden, der blindwütige Zerstörungen vermeidet. Auch von den Gegnern unseres Wirtschaftssystems wird im allgemeinen nicht geleugnet, dass seine Leistungen in der Produktionssphäre hohen Respekt verdienen, und einige haben sich wohl selbst durch die jüngste Wirtschaftskrise nicht den Blick dafür trüben lassen, dass unser Wirtschaftssystem in diesem Punkte einem kommunistischen weit überlegen ist. Nur weil es so ungerecht sei, müsse es beseitigt werden. Darauf ist mit aller Entschiedenheit zu erwidern, dass es durchaus möglich und insoweit auch geboten ist, eine Änderung in der Distributionssphäre herbeizuführen, ohne unser Wirtschaftssystem in seinen hohen Leistungen innerhalb der Produktionssphäre zu stören. Dafür bestehen drei Möglichkeiten: 1. Die "organische" Änderung der kategorialen Einkommensverteilung, 2. die Änderung der personellen Einkommensverteilung und 3. die ausserökonomische Korrektur der Einkommensverteilung. Dass es sich bei einer Änderung der kategorialen Einkommensverteilung nicht um eine gewaltsame, sondern nur um eine "organische", d.h. auf die vorgelagerten Faktoren zurückgreifende handeln kann, wurde von uns bereits früher festgestellt. Diese Faktoren im einzelnen zu beschreiben, würde ein umfangreiches Buch für sich allein beanspruchen, und da dabei sehr schwierige Fragen der Lohn-, Zins- und Rententheorie behandelt werden müssten, würde es keine leichtverständliche Lektüre sein. Wir heben hier nur das Allerwesentlichste heraus, indem wir feststellen, dass alle Überlegungen und Erfahrungen auf die Produktivität als den letzten Bestimmungsgrund der durchschnittlichen Lohnhöhe eines Landes hinweisen. Alle nationalen Wohlstandsunterschiede - zwischen den Ver-einigten Staaten und Europa, zwischen Schweden und den Donauländern - lassen sich schliesslich auf diesen einen Punkt zurückführen, und alle Umstände und Massnahmen, die den Wertertrag der Arbeit erhöhen, erhöhen auch das Arbeitseinkommen. Von ent-scheidender Bedeutung ist dabei, dass der Wertertrag der Arbeit (Produktivität) um so grösser ist, je grösser die Kapital- und Bodenmengen sind, mit denen der Produktions-faktor Arbeit durchschnittlich in einem Lande kombiniert werden kann, und dies hängt wiederum von dem Mengenverhältnis der drei Produktionsfaktoren ab, ein Umstand, der uns schon früher in seiner Bedeutung klar wurde. Wir begreifen jetzt doppelt, warum das Lohnniveau in einem Lande hoch ist, in dem der Produktionsfaktor Arbeit im Vergleich zu Kapital und Boden knapp ist: weil die grössere Knappheit auch eine höhere En-

tlohnung bedingt und weil sie durch die Kombination mit einer grösseren Menge von Kapital und Boden die Produktivität der Arbeit steigert. Dabei lässt sich leicht nach-weisen, dass beide Punkte im Grunde auf dasselbe hinauslaufen. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Mengenverhältnis der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, eine Erkenntnis, die die klassische Lohntheorie (Lohnfondstheorie), wenn nicht in ihrer Begründung, so doch in ihrem wichtigsten Ergebnis bestätigt. Gleichzeitig wird uns damit nochmals klar, dass eine hemmungslose Bevölkerungsvermehrung zweifellos die Einkommensverteilung zuungunsten des Arbeitseinkommens der Massen verändert. In der gleichen Richtung wirkt auf die Dauer eine Kapitalvergeudung durch unproduktive Staatsausgaben. Als letzter, aber deshalb nicht weniger wichtiger Punkt muss schliesslich noch der Aussenhandel erwähnt werden. Je freier sich ein Land in die internationale Arbeitsteilung einordnet und damit die Produktionsfaktoren den zweckmässigsten Ver-wendungen zuführt, je günstigere Austauschbedingungen es im internationalen Verkehr erlangen kann und je ungehinderter es die fremden Produkte dort kaufen kann, wo sie am billigsten, und die eigenen dort verkaufen kann, wo sie am teuersten sind, um so höher wird das Lohnniveau des Landes sein. Dies ist ein Faktor, der gerade bei der auffallenden Prosperität einiger kleiner Länder wie der Schweiz und der skandinavischen Länder heute eine besonders grosse Rolle spielt. Wir sind damit zu einem eigentümlichen, aber doch einleuchtenden Ergebnis gelangt. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass die kategoriale Einkommensverteilung umso un-günstiger für das Arbeitseinkommen ist, je ärmer, d. h. je unproduktiver, "proletarischer" und kapitalärmer ein Land ist. Je reicher anderseits ein Land im Durchschnitt ist, umso günstiger pflegt auch die Verteilung auf Arbeits- und Besitzeinkommen zu sein. Onkel Bräsig in Fritz Reuters "Ut mine Stromtid" hatte also doch nicht so ganz unrecht mit seiner berühmten These, dass die Armut von der "Poverteh" komme. Damit ist einer wirklich aussichtsreichen Politik der Hebung des nationalen Lohnniveaus der Weg gewiesen: Vermehrung des Kapitalreichtums (auch durch Kapitaleinfuhr und zweck-mässige kreditorganisatorische Massnahmen), Reservierung der Produktionsfaktoren für die produktivsten Verwendungen, kluge Einordnung in die internationale Arbeitsteilung, Ausnutzung des technischen und organisatorischen Fortschritts, massvolle Bevölkerungs-vermehrung, vernünftige Wirtschaftspolitik in allen Stücken, Frieden, Sicherheit, Vertrau-en und Ordnung, das sind die Punkte, auf die es ankommt. Die Änderung der kategorialen Einkommensverteilung zugunsten des Arbeitslohnes wird sich nun zugleich in einer gleichmässigeren Gestaltung der personellen Einkommens-verteilung auswirken, da sie den Massen der Bezieher von Arbeitseinkommen mehr und mehr die Möglichkeit gibt, durch Vermögensbildung Besitzeinkommen aller Art zu er-zielen. Es tritt jene "Entproletarisierung" ein, die allen am Herzen liegen muss, die keine besitzlosen Massen für ihre politischen Spekulationen brauchen. Dieser Prozess kann nun durch eine Reihe von direkten Massnahmen gefördert werden. Dazu rechnet vor allem eine Wirtschaftspolitik, die darüber wacht, dass die ausgleichende Wirkung des Konkur-renzprinzips nicht durch Manipulationen gestört wird, die zu einer durch keine ent-sprechende Leistung legitimierten Bereicherung einzelner auf Kosten der Masse führen. Bekämpfung der Monopole ist also immer auch gute Einkommenspolitik, ebenso wie die

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Unterdrückung von Auswüchsen des Konkurrenzkampfes. Auch Siedlungspolitik und Förderung der bäuerlichen Wirtschaft, Erleichterung des sozialen Aufstiegs, Pflege des kleingewerblichen Kreditwesens und unzählige andere Massnahmen, die das Über-gewicht des konzentrierten Besitzes ausgleichen helfen, gehören hierher. Als letztes Auskunftsmittel bleibt die ausserökonomische Korrektur der Einkommensverteilung. Sie besteht darin, dass der Staat das Ergebnis der ökonomischen Einkommensverteilung, so wie es sich im Marktprozess niederschlägt, abwartet und dann hinterher durch Besteuerung der Reicheren und durch Ausgaben zugunsten der Ärmeren korrigiert. Tatsächlich besteht ein grosser Teil der öffentlichen Finanzwirtschaft in einer solcher Korrektur, zu der die private Wohltätigkeit ergänzend hinzutritt. Zwar können dabei gewisse Grenzen nicht überschritten werden, wenn nicht lähmende Wirkungen auf den Produktionsprozess entstehen sollen, aber es leuchtet ein, dass man darin umso weiter gehen kann, je geringer die Staatsausgaben für andere Zwecke sind.

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