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BZB September 15 Wissenschaft und Fortbildung 60 „Weisheitszähne sind überflüssig und machen nur Ärger“ – dies galt bis vor Kurzem bei Teilen der Zahnärzteschaft. So wurde in der Vergangen- heit die Indikation zur Entfernung der Weisheits- zähne in der Regel großzügig und früh gestellt. Inzwischen hat jedoch ein Umdenken stattgefun- den. Insbesondere die vorbeugende Operation der dritten Molaren wird nunmehr kritischer be- trachtet. Eine aktuelle Empfehlung zu diesem Sachverhalt findet sich in der „S2k-Leitlinie zur operativen Entfernung von Weisheitszähnen“ aus dem Jahr 2012. Dieser Artikel fasst die aktuellen internationalen Erkenntnisse unter Berücksichti- gung der Leitlinie sowie die Erfahrungen der Auto- ren zusammen. Historie Der Begriff „Weisheitszahn“ oder auch Dens sa- piens/Dens serotinus wurde bereits in den Schrif- ten des Hippokrates erwähnt, ist aber in seiner heutigen Bedeutung vermutlich dem persischen Arzt Avicenna (980 - 1037) zuzuordnen. Er ent- stand in einer Zeit, als die Lebenserwartung der Menschen viel niedriger war als heute. Damals galt man mit 30 Jahren schon als alt und weise. Weil die dritten Molaren erst recht spät durchbre- chen, nannte man sie „Weisheitszähne“. In an- deren Sprachen, wie im Japanischen, Arabischen oder Griechischen, weist der Name ebenfalls einen Bezug zu Alter und/oder Weisheit auf [12]. Anatomie und Evolution Die Variabilität in Anzahl, Form und Durchbruchs- zeitpunkt der Weisheitszähne wird auch als Folge der Evolution gedeutet. Bei 20 bis 23 Prozent der Bevölkerung sind die dritten Molaren nicht ange- legt und stehen damit an Platz eins der potenziell nicht angelegten Zähne, vor den unteren zweiten Prämolaren und den oberen seitlichen Schneide- zähnen [4]. Die dritten Molaren können beim Men- schen als entwicklungsgeschichtliches Rudiment betrachtet werden. Platzproblem Die Eruption der dritten Molaren findet üblicher- weise zwischen dem 18. und 24. Lebensjahr statt. Sie bleiben am häufigsten von allen Zähnen reti- niert oder impaktiert [16,9]. Bei etwa 80 Prozent der jungen Erwachsenen ist mindestens ein Weis- heitszahn im Kiefer retiniert [28]. Die Durchbruchs- rate kann je nach Population und Ethnie variieren. Bei Untersuchungen an Naturvölkern und länd- lich lebenden Populationen zeigt sich, dass diese im Vergleich zur urbanen Bevölkerung weniger oft an Fehlbissen, Zahnengständen und retinier- ten Molaren leiden [41]. Als Ursache für den spä- ten beziehungsweise ausbleibenden Durchbruch der dritten Molaren wird häufig der Platzmangel im Kiefer angeführt. Gründe hierfür können das Missverhältnis zwischen Zahnanzahl/-größe und Kiefergröße sein [27]. Durch die ernährungsbe- dingte funktionelle Minderbeanspruchung des Gebisses kommt es zu einem sagittalen und ver- tikalen Wachstumsverlust des Alveolarfortsatzes sowie zu einem retromolaren Platzmangel bei un- zureichender Mesialdrift der Zähne aufgrund – evo- lutionär betrachtet – zu geringer interproximaler Attrition [7] (Abb. 1). In mehreren Studien wurde anhand kephalometri- scher Studien versucht, die Durchbruchswahrschein- lichkeit der Weisheitszähne mit verschiedenen ana- tomischen Messgrößen in Korrelation zu bringen. Das retromolare Platzangebot der Kiefer [26] sowie das vertikale Wachstumsmuster des Gesichtsschä- Müssen Weisheitszähne immer entfernt werden? Neue Aspekte zu einem „alten“ Thema Ein Beitrag von Dr. Jan Wolff und Prof. Dr. Dr. Martin Gosau, Nürnberg Abb. 1: „Typische“ retinierte Weisheitszähne 18 bis 48, akzessorische impaktierte Molaren 19 und 29

Müssen Weisheitszähne immer entfernt werden? · Sonderfall Fraktur Bei Frakturen des Unterkiefers ist in etwa 25 Pro-zent der Fälle die Region des Kieferwinkels betei-ligt. Hier

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BZB September 15 Wissenschaft und Fortbildung60

„Weisheitszähne sind überflüssig und machennur Ärger“ – dies galt bis vor Kurzem bei Teilender Zahnärzteschaft. So wurde in der Vergangen-heit die Indikation zur Entfernung der Weisheits-zähne in der Regel großzügig und früh gestellt.Inzwischen hat jedoch ein Umdenken stattgefun-den. Insbesondere die vor beugende Operationder dritten Molaren wird nunmehr kritischer be-trachtet. Eine aktuelle Empfehlung zu diesemSachverhalt findet sich in der „S2k-Leitlinie zuroperativen Entfernung von Weisheitszähnen“ ausdem Jahr 2012. Dieser Artikel fasst die aktuelleninternationalen Erkenntnisse unter Berücksichti-gung der Leitlinie sowie die Erfahrungen der Auto-ren zusammen.

HistorieDer Begriff „Weisheitszahn“ oder auch Dens sa-piens/Dens serotinus wurde bereits in den Schrif-ten des Hippokrates erwähnt, ist aber in seinerheutigen Bedeutung vermutlich dem persischenArzt Avicenna (980 − 1037) zuzuordnen. Er ent-stand in einer Zeit, als die Lebenserwartung derMenschen viel niedriger war als heute. Damalsgalt man mit 30 Jahren schon als alt und weise.Weil die dritten Molaren erst recht spät durchbre-chen, nannte man sie „Weisheitszähne“. In an-deren Sprachen, wie im Japanischen, Arabischenoder Griechischen, weist der Name ebenfalls einenBezug zu Alter und/oder Weisheit auf [12].

Anatomie und EvolutionDie Variabilität in Anzahl, Form und Durchbruchs-zeitpunkt der Weisheitszähne wird auch als Folgeder Evolution gedeutet. Bei 20 bis 23 Prozent derBevölkerung sind die dritten Molaren nicht ange-legt und stehen damit an Platz eins der potenziellnicht angelegten Zähne, vor den unteren zweitenPrämolaren und den oberen seitlichen Schneide-zähnen [4]. Die dritten Molaren können beim Men-schen als entwicklungsgeschichtliches Rudimentbetrachtet werden.

PlatzproblemDie Eruption der dritten Molaren findet üblicher-weise zwischen dem 18. und 24. Lebensjahr statt.Sie bleiben am häufigsten von allen Zähnen reti-niert oder impaktiert [16,9]. Bei etwa 80 Prozentder jungen Erwachsenen ist mindestens ein Weis-heitszahn im Kiefer retiniert [28]. Die Durchbruchs-rate kann je nach Population und Ethnie variieren.Bei Untersuchungen an Naturvölkern und länd-lich lebenden Populationen zeigt sich, dass dieseim Vergleich zur urbanen Bevölkerung wenigeroft an Fehlbissen, Zahnengständen und retinier-ten Molaren leiden [41]. Als Ursache für den spä-ten beziehungsweise ausbleibenden Durchbruchder dritten Molaren wird häufig der Platzmangelim Kiefer angeführt. Gründe hierfür können dasMissverhältnis zwischen Zahnanzahl/-größe undKiefergröße sein [27]. Durch die ernährungsbe-dingte funktionelle Minderbeanspruchung desGebisses kommt es zu einem sagittalen und ver-tikalen Wachstumsverlust des Alveolarfortsatzessowie zu einem retromolaren Platzmangel bei un-zureichender Mesialdrift der Zähne aufgrund – evo-lutionär betrachtet – zu geringer interproximalerAttrition [7] (Abb. 1).In mehreren Studien wurde anhand kephalometri-scher Studien versucht, die Durchbruchswahrschein-lichkeit der Weisheitszähne mit verschiedenen ana-tomischen Messgrößen in Korrelation zu bringen.Das retromolare Platzangebot der Kiefer [26] sowiedas vertikale Wachstumsmuster des Gesichtsschä-

Müssen Weisheitszähne immerentfernt werden?Neue Aspekte zu einem „alten“ Thema

Ein Be i t rag von Dr. Jan Wol f f und Prof . Dr. Dr. Mart in Gosau, Nürnberg

Abb. 1: „Typische“ retinierte Weisheitszähne 18 bis 48, akzessorische impaktierteMolaren 19 und 29

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dels [8] und die Angulation der Zähne selbst schei-nen dabei eine Rolle zu spielen [3] (Abb. 2).

Tertiärer EngstandDie vorbeugende Entfernung symptomfreier dritterMolaren beruht im Wesentlichen auf Erfahrungs-grundlagen. Ein positiver Effekt der Weisheitszahn-entfernung auf die Vermeidung eines tertiären Eng-standes der Unterkieferfront nach Abschluss einerkieferorthopädischen Therapie wird nach wie vorkontrovers diskutiert. Während in älteren Unter-suchungen Zusammenhänge gesehen wurden [32,1], konnte dies in neueren Untersuchungen nichtzweifelsfrei nachgewiesen werden. So ergaben sichbeispielsweise Hinweise auf eine Verkürzung dervorderen Zahnbogenlänge beim Belassen der Weis-heitszähne. Ein signifikanter Einfluss auf die Zahn-stellung der Unterkieferfront selbst konnte nichtdargestellt werden [24]. Aktuelle systematische Re-views zum Thema kommen zur Schlussfolgerung,dass die Qualität bisheriger Studien nicht ausreicht,um fundierte Schlüsse zu ziehen [14,25,49].

Gesundheitsökonomische BedeutungDie Weisheitszahnentfernung zählt zu den amhäufigsten durchgeführten ambulanten operati-ven Eingriffen. Etwa eine Million „Achter“ werdenjedes Jahr in Deutschland extrahiert. Hinzu kom-men Behandlungen, die infolge von Komplikatio-nen nach der Entfernung dritter Molaren notwen-dig werden. Auch wenn man im Sinne des Gesund-heitssystems und dessen Belastung durch die Weis-heitszahnentfernung argumentiert, muss man beiseriöser Betrachtung die Kosten für die weiteren kli-nischen und radiologischen Kontrollen sowie fürdie Behandlung der möglichen, zum Teil schwer-wiegenden Komplikationen beim Belassen vonWeisheitszähnen dagegen abwägen.

Aktuelle LeitlinieNach der aktuellen Leitlinie der DGZMK [19] istdie Indikation zur Entfernung dritter Molaren un-ter anderem gegeben, wenn ein Zahn durch akuteoder chronische Infektion symptomatisch gewor-den oder tief zerstört und nicht sinnvoll restaurier-bar ist. Zudem bei assoziierten pathologischen Ver-änderungen (Zysten, Tumoren) oder nicht behan-delbaren periapikalen Prozessen. Im Gegensatzhierzu besteht eine „fakultative“ Indikation, wennbei einer geplanten prothetischen Versorgung einsekundärer Durchbruch zu befürchten ist. Fernerzur Sicherung einer abgeschlossenen kieferortho-

pädischen Behandlung sowie bei zu befürchtendenResorptionen an benachbarten Molaren. Liegt hin-gegen eine fortgeschrittene Resorption am zweitenMolar vor, sollte dieser entfernt und der Weisheits-zahn kieferorthopädisch eingeordnet werden.Weisheitszähne können hingegen belassen werden,wenn bei ausreichendem retromolaren Platzange-bot eine regelrechte Einreihung in die Zahnreihe zuerwarten ist. Ferner, wenn sie ohne wei tere krank-hafte Veränderungen vollständig impaktiert sindund bei ihrer Entfernung ein erhöhtes Risiko für dieSchädigung von Nachbarstrukturen besteht, wieetwa die Verletzung des N. alveolaris inferior. In die-sem Zusammenhang sollte die Studie von Krugeret al. (2001) Erwähnung finden, die zu dem Er-gebnis kam, dass sich rund 30 Prozent der um das18. Lebensjahr zur Entfernung vorgese henen drit-ten Molaren bis zum vollendeten 30. Lebensjahrregulär in die Zahnreihe einstellen [29].Als Sonderfälle sind Weisheitszähne mit manifes-ten pathologischen Veränderungen (Zysten, Tumo-ren) und Zähne im Bruchspalt bei Unterkieferfrak-turen zu betrachten sowie die Weisheitszahnentfer-nung vor einer geplanten Umstellungsosteotomieoder anderen chirurgischen Eingriffen. Ausgenom-men von der Leitlinie sind Zahnentfernungen ausübergeordneten medizinischen Gesichtspunkten,wie etwa vor einer geplanten Bestrahlung, bei Im-munsuppression oder Chemotherapie sowie voroder während der Therapie mit Bisphosphonatenoder anderen den Knochenstoffwechsel beeinflus-senden Substanzen. Hier muss aufgrund der medi-zinischen Komplexität die Entscheidung individu-ell und interdisziplinär getroffen werden. Auf jedenFall sollte vor Beginn einer der oben genanntenTherapien die Indikation zur Entfernung großzü-gig gestellt werden.

Empfehlung internationaler VerbändeDie American Association of Oral and MaxillofacialSurgeons (AAOMS) benennt 20 spezifische Indika-

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Abb. 2: Mesial angulierter, impaktierter Weisheitszahn 38

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tionen zur Entfernung von Weisheitszähnen undbetont den Vorteil einer prophylaktischen Entfer-nung zur Krankheitsvermeidung. Die therapeuti-schen Ziele enthalten „prevention of pathology“,„preservation of periodontal health of adjacentteeth“ und „optimization of prosthetic rehabilita-tion“. Die Entscheidung zur Entfernung oder demBelassen sollte vor der Mitte der dritten Lebens-dekade getroffen werden. Beim Belassen von drit-ten Molaren, die (teilweise) durchgebrochen sind,scheint die Inzidenz, eine Parodontalerkrankungzu erleiden, höher zu sein, als bei der Entfernungselbiger. Die Empfehlung lautet, retinierte Weis-heitszähne, die eine Pathologie aufweisen oder einhohes Risiko besitzen, eine solche zu entwickeln, zuentfernen. Bei jeglicher Abwesenheit einer Patho-logie sollten regelmäßige klinische und radiologi-sche Kontrollen erfolgen [2].Die American Dental Association (ADA) unter-stützt diese Aussagen und betont, dass im Falle desBelassens von Weisheitszähnen eine fortdauerndeKontrolle erfolgen muss, da diese häufiger Problemeverursachen als andere Zähne. Der britische Natio-nal Health Service (NHS) beschränkt im Hinblickauf eine Kostenreduktion im Gesundheitssystemdie Empfehlung zur Weisheitszahnentfernung, ba-sierend auf den Vorschlägen des National Instituteof Clinical Evidence (NICE), wie folgt: „The routinepractice of prophylactic removal of pathology-freeimpacted third molars should be discontinued inthe NHS. Surgical removal of impacted third mo-lars should be limited to patients with evidence ofpathology“ [39].McArdle und Renton (2012) beurteilten die Effekteder „NICE“-Richtlinien und fanden heraus, dassdie Häufigkeit der Weisheitszahnentfernung inGroßbritannien seitdem nicht rückläufig war. Siekamen zu dem Schluss, dass sich nur die Indika-tion zur Entfernung verändert hat. Die Zähne wur-den hauptsächlich aufgrund von Karies, Parodon-

talerkrankungen und Perikoronitiden anstelle vonRetention entfernt. Dies ist auf das geänderte mitt-lere Alter der Patienten zurückzuführen, bei denendie dritten Molaren entfernt wurden [36].

Komplikationen bei der Entfernung von WeisheitszähnenDie Angaben zur Häufigkeit perioperativer Kompli-kationen schwanken zwischen 5,9 und 19 Prozent[43,13]. Wissenschaftlich abgesicherte Daten aufBasis prospektiver Studien fehlen. Potenzielle bezie-hungsweise iatrogen verursachte Komplikationensind unter anderem postoperative Infektionen und/oder Blutungen, Schwellungen, Alveolitiden, Verlet-zungen des N. alveolaris inferior, Kieferfrakturen,Schäden an benachbarten Molaren sowie Dislo-kationen von Weisheitszähnen (zum Beispiel indie Kieferhöhle oder die Weichteile des Mundbo-dens). Zu beachten ist, dass die Häufigkeit sowie derSchweregrad der Komplikationen direkt mit demPatientenalter korrelieren [13,30]. Um die chirurgi-schen Risiken und postoperativen Komplikationenzu minimieren, sollten Weisheitszähne, die einePathologie aufweisen oder nicht genügend Platzzum Durchbruch haben, vor der Mitte der drittenLebensdekade und/oder vor dem Abschluss des Wur-zelwachstums entfernt werden [44]. Die Patientenmüssen aufgeklärt werden, dass bei Weisheitszahn-entfernungen im höheren Lebensalter die Kompli-kationsrate deutlich zunimmt (Abb. 3 bis 4b).

Komplikationen beim Belassen von WeisheitszähnenEine häufige Komplikation bei teilretinierten drittenMolaren ist die perikoronare Infektion aufgrund ei-ner Schmutzwinkelinfektion unter der Schleimhaut-kapuze bei nicht ausreichend möglicher Mund-hygiene in diesem Bereich. Die Folgen können voneinem submukösen Abszess bis hin zu ausgedehn-ten Logenabszessen reichen, die einer stationären

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Abb. 3: Beim Versuch der operativen Entfernung des in die retro-molaren Weichteile luxierten Weisheitszahnes 28

Abb. 4a und b: Inkomplette Kieferwinkelfraktur links fünf Wochen nach Entfernungder Zähne 37 und 38

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Behandlung und Eröffnung zum Teil von extraoralbedürfen. Ferner können benachbarte Zahnwur-zeln (an-)resorbiert sowie parodontale und kariöseLäsionen an Nachbarzähnen begünstigt werden.Auch Störungen der Okklusion können durch Weis-heitszähne entstehen (Abb. 5 und 6). Häufig ste-hen retinierte oder teilretinierte Weisheitszähnein Zusammenhang mit zystischen Läsionen, ins-besondere follikulären Zysten und Tumoren (ke-ratozystischer odontogener Tumor/KZOT, Amelo-blastom) (Abb. 7).In einer Verlaufsbeobachtung von Fernandes et al.(2009) an primär symptomlosen, retinierten unte-ren Weisheitszähnen entwickelten immerhin 15 Pro-zent der Patienten entzündliche Komplikationeninnerhalb eines Jahres, in 23 Prozent der Fälle beiteilretinierten und in 10 Prozent bei vollretiniertenZähnen [20]. In histologischen Untersuchungenan primär symptomlos retinierten Zähnen konn-ten nach deren Entfernung in bis zu 25 Prozent derFälle zystische Veränderungen am Zahnfollikelnachgewiesen werden [51].In einem Literaturreview stellten Bouloux et al.(2015) die Frage „What is the risk of future extrac-tion of asymptomatic third molars?“. Sieben pro-spektive Studien mit einer Patientenanzahl vonjeweils über 50 konnten eingeschlossen werden.

Sie kamen zu dem Ergebnis, dass das kumulierteRisiko, eine Komplikation zu entwickeln (Karies,Parodontalerkrankung, Infektion), mit 3 Prozentpro Jahr so hoch ist, dass eine prophylaktische Ent-fernung weiterhin zu erwägen ist [11]. Im Gegen-satz zu den Komplikationen, die bei der Weisheits-zahnentfernung vorkommen können, sind die Kom-plikationen, die beim Belassen dritter Molaren auf-treten können, weniger gut dokumentiert und wis-senschaftlich untersucht, aber nicht minder wichtig[44]. In einer Cochrane-Analyse konnte keine Evi-denz gefunden werden, ob eine Entfernung bei pa-thologiefreien Weisheitszähnen mehr positive odernegative Konsequenzen hat [37] (Abb. 8a bis 10d).

Sonderfall FrakturBei Frakturen des Unterkiefers ist in etwa 25 Pro-zent der Fälle die Region des Kieferwinkels betei-ligt. Hier verläuft der Frakturspalt häufig in unmit-telbarer Nähe der Weisheitszähne. Oft stellt sichdaher die Frage, ob diese im Rahmen der Fraktur-versorgung entfernt werden müssen. Eine eigeneStudie ergab keine signifikanten Unterschiede hin-sichtlich der postoperativen Komplikationen mitoder ohne Entfernung eines dritten Molars ausdem Bruchspalt [50]. Tendenziell zeigten sich einehöhere Infektionsrate beim Belassen des Zahns imBruchspalt und eine höhere Rate mechanischerKomplikationen (Plattenbruch, Lockerung des Os-teosynthesematerials) als bei Entfernung desselben.Retrospektive Studien zeigen, dass impaktierte un-tere Molaren das Risiko einer Kieferwinkelfrakturerhöhen [22,38] (Abb. 11).

KoronektomieEine nicht selten auftretende Komplikation bei derWeisheitszahnentfernung ist die vorübergehendeoder dauerhafte Schädigung des N. alveolaris in-ferior. Die Literaturangaben zur Häufigkeit reichen

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Abb. 5: Durch den teilretinierten Weisheitszahn 28 bedingte Karies distal 27. Elon-gation 38. Deflektion der Wurzelspitzen und Einengung des Nervkanals regio 48 als Hinweis auf enge Lagebeziehung.

Abb. 6: Beginnende Resorption an der distalen Wurzel von 47

Abb. 7: Ausgedehnter keratozystischer odontogener Tumor am rechten Unterkiefermit Zahn 48 im Zystenlumen

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hier von 0,4 bis 5,3 Prozent [31,5,48]. Bei enger La-gebeziehung zum Nerv empfehlen einige Autorendie Koronektomie als Alternative zur vollständigenEntfernung des Zahns [35,46]. Aktuelle Studienbestätigen, dass bei einer reinen Koronektomie ver-gleichsweise weniger Nervschädigungen auftreten[35]. Häufig kommt es jedoch im Intervall zum„Wandern“ der verbliebenen Wurzelanteile (bis zu85 Prozent der Fälle), was zu erneuten Problemenführen kann. Wird aus diesem Grund eine weitereOperation notwendig, besteht in der Regel auf-grund der veränderten Lagebeziehung zum N. al-veolaris inferior ein geringeres Risiko der iatroge-nen Schädigung. Da die langfristigen Folgen desBelassens von Zahnwurzeln derzeit nur unzurei-chend untersucht sind, wird hierzu in der aktuel-len DGZMK-Leitlinie keine Empfehlung ausgespro-chen. Die Koronektomie kann in Einzelfällen beihohem Schädigungsrisiko des N. alveolaris inferiorals Alternative erwogen werden.

PiezochirurgieDie Verwendung von piezochirurgischen Instrumen-ten ergab gegenüber der Standardmethode mit ro-tierenden Instrumenten in einer aktuellen Studieleichte Vorteile hinsichtlich der Intensität postope-rativer Schmerzen und Schwellungen [34]. Ob dieGefahr einer Verletzung des N. alveolaris inferiordurch Piezochirurgie vermindert werden kann, istbislang noch nicht ausreichend untersucht.

Digitale VolumentomographieEine präoperative DVT kann helfen das Risiko einerintraoperativen Verletzung des N. alveolaris infe-rior abzuschätzen. Bezüglich der Rate tatsächlicherpostoperativer Ausfälle scheint sie hingegen keinewesentliche Verbesserung zu erbringen [23]. DieEmpfehlung lautet, ein DVT anzufertigen, wennsich in der konventionellen Bildgebung Hinweiseauf eine problematische Lagebeziehung zu anato-mischen Strukturen ergeben oder dies für die Ope-

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Abb. 8a bis e: Follikuläre Zyste ausgehend vom impaktierten Weisheitszahn 48. Im Computertomogramm wird die enge Lagebeziehungzum Nervkanal deutlich (a bis c). Intraoperative Darstellung des N. alveolaris inferior (d). Der entfernte Zahn 48 (e).

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rationsplanung notwendig ist. Wenn hingegen inder konventionellen Bildgebung keine Hinweiseauf ein besonderes Risiko vorliegen, ist es nicht er-forderlich, ein DVT anzufertigen. Bestimmte ra-diologische Kriterien im Orthopantomogramm,wie eine veränderte Radioopazität und Deflektionder Wurzelspitzen oder eine Einengung des Nerv-kanals, erleichtern die Entscheidung zur dreidimen-sionalen Bildgebung [47,42].

Perioperatives ManagementNachdem die perioperative Verabreichung vonAntibiotika lange Zeit umstritten war, konntenaktuelle Studien zeigen, dass eine antibiotischeProphylaxe mit einer Verminderung postoperati-ver alveolärer Ostitiden und postoperativer Wund-infektionen verbunden ist [45,33]. Folglich wirdin der aktuellen Leitlinie nun die prophylaktischeperioperative Antibiotikagabe als „single-shot“empfohlen. Eine Wiederholungsdosis kann im Falleeiner länger dauernden Operation (3 bis 4 Stundenoder 2,5 Halbwertszeiten des Wirkstoffes) verab-reicht werden [18]. Es wird auch zur präoperativenDesinfektion der Mundhöhle mit Chlorhexidin-lösung geraten [17]. Ein direktes Einbringen vonChlorhexidingel in die Extraktionsalveole erzieltdagegen keine Vorteile hinsichtlich postoperativer

Wundheilungsstörungen [21,17]. Die Einlage vonDrainagestreifen bei der Entfernung unterer Weis-heitszähne scheint Vorteile bezüglich der Intensitätpostoperativer Schwellungen und Mundöffnungs-behinderungen zu erzielen [15].

Resümee und kritische WertungSymptomatische Weisheitszähne sollten unter Be-rücksichtigung individueller Risikofaktoren immerentfernt werden. Bei zu erwartenden Komplika-tionen, insbesondere bei einer extrem schwierigenLagebeziehung zum N. alveolaris inferior, kannnach aktueller Literaturlage in Einzelfällen die Ko-ronektomie als Alternative erwogen werden. Dieprophylaktische Entfernung symptomloser, voll-ständig retinierter Weisheitszähne ist hingegennach derzeitiger Leitlinie nicht indiziert. Dennochgilt es zu bedenken, dass symptomlose Weisheits-zähne im Laufe des Lebens zu einem relevantenProzentsatz (bis zu 50 Prozent) pathologische Ver-änderungen entwickeln [10,6]. Studien haben ge-zeigt, dass das Risiko perioperativer Komplikatio-nen mit zunehmendem Lebensalter steigt [13].Weiterhin sind Komplikationen bei der Entfernungvon bereits symptomatischen Weisheitszähnen imVergleich zu prophylaktisch extrahierten, asymp-tomatischen Weisheitszähnen nicht nur häufiger,

Wissenschaft und Fortbildung BZB September 15 65

Abb. 9a bis d: Ausgedehnter keratozystischer odontogener Tumor der rechten Kieferhöhle mit Zahn 18 im Zystenlumen (a). Zugang zur Kiefer-höhle über einen facettierten Knochendeckel (b). Entferntes zystisches Gewebe samt Zahn 18 (c). Situs nach Reposition des Knochendeckels (d).

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sondern auch schwerwiegender [30]. Dieses Argu-ment wird auch in Zukunft in der Diskussion umdie elektive Entfernung der Weisheitszähne nichtzu unterschätzen sein.

FazitDie Indikation zur Weisheitszahnentfernung wirdheute zurückhaltender gestellt. Die früher häufigdurchgeführte prophylaktische Entfernung symp-tomfreier Weisheitszähne wird nicht mehr emp-fohlen. Dennoch gilt es zu bedenken, dass die Sa-pientes in vielen Fällen im Laufe des Lebens Kom-plikationen verursachen können und die Entfer-nung dann meist erschwert und mit einer erhöh-ten Komplikationsrate verbunden ist.Es müssen für jeden Patienten individuell Nutzenund Risiko gegeneinander abgewogen werden. Aus-

schlaggebende Kriterien sind hierbei Symptomeeiner Entzündung, die Lage und Angulation derWeisheitszähne, der Grad der Retention, die Lage-beziehung zu anderen Strukturen – insbesonderedes N. alveolaris inferior und der Kieferhöhle –, diePlatzverhältnisse im Kiefer, der übrige Zahnstatus,geplante kieferorthopädische, chirurgische und pro-thetische Behandlungen, Allgemeinerkrankungen,Alter und nicht zuletzt die Wünsche und individu-elle Lebenssituation des Patienten. Im Zweifelsfallist nach Meinung der Autoren die Entfernung demVerbleib vorzuziehen.

Korrespondenzadresse:OA Dr. Jan Wolff

Prof. Dr. Dr. Martin GosauKlinik für Mund-, Kiefer- und plastische Gesichtschirurgie,

Klinikum Nürnberg SüdUniversitätsklinik der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität

Breslauerstraße 201, 90471 Nü[email protected]

Literatur bei den Verfassern

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Abb. 10a bis d: Extrem verlagerter Weisheitszahn 38 mit follikulärer Zyste (a). Darstellung des Zystenbalgs (b). Zahn 38 im Zystenlumen (c)und nach Entfernung (d).

Abb. 11: Vierfache Unterkieferfraktur mit den Weisheitszähnen 38und 48 im Bruchspalt nach osteosynthetischer Versorgung

Hinweis

Prof. Dr. Dr. Martin Gosau referiert beim 56. Bayeri-

schen Zahn ärzte tag. Das ausführliche Programm fin-

den Sie auf Seite 14 f.

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