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Mathematik I (für Informatiker, ET und IK) Oliver Ernst Professur Numerische Mathematik Wintersemester 2013/14

Mathematik I - (für Informatiker, ET und IK) · Organisatorisches Sie Studiengang SWS Klausurzeit LP AS Studenten B_AI Informatik 4V+2Ü 120 9 270 18 B_AI AngewandteInformatik 4V+2Ü

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Mathematik I(für Informatiker, ET und IK)

Oliver Ernst

Professur Numerische Mathematik

Wintersemester 2013/14

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 2 / 367

OrganisatorischesWir

Vorlesung

Prof. Oliver Ernst Mo 9:15Do 11:30

Übungen

Dipl.-Math. Ingolf Busch Fr 13:45 : B_AI, B_In, M_IGDipl.-Math. Hansjörg Schmidt Mi 15:30 : B_InDipl.-Math. Björn Sprungk Mi 11:30 : B_BT, B_ET, B_IK

Mo(1) 13:45Dr. Roman Unger Mo 11:30 : B_EM, B_ET, B_RE

Fr(2) 13:45

Webseitewww.tu-chemnitz.de/mathematik/numa/lehre/mathematik-I-2013

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OrganisatorischesSie

Studiengang SWS Klausurzeit LP AS StudentenB_AI Informatik 4V+2Ü 120 9 270 18B_AI Angewandte Informatik 4V+2Ü 120 9 270 25B_BT Biomedizinische Technik 4V+3Ü 180 8 240 34B_EM Elektromobilität 4V+3Ü 120 8 240 2B_ET Elektrotechnik 4V+3Ü 120 8 240 25B_IK Informations und Kommunikationstechnik 4V+3Ü 120 9 240 4B_RE Regenerative Energietechnik 4V+3Ü 120 8 240 8M_IG Informatik f. Geistes- u. Soz.-Wiss.) 4V+2Ü 120 9 270 12

(laut Modulbeschreibungen Mathematik I bzw. Höhere Mathematik I)

AS = Gesamtarbeitsaufwand in StundenLP = Leistungspunkte

Neben der Präsenzzeit von 4,5 bzw. 5,25 h/Woche (= 67.5 bzw. 78,75 h gesamt) entfällt also einerheblicher Anteil auf Selbststudium:

Vor- und Nachbereitung von Lehrveranstaltungen,Literaturstudium,Lösen von Übungsaufgaben,Prüfungsvorbereitung.

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OrganisatorischesPrüfung

Klausurarbeit am Ende des Wintersemesters (Umfang laut Tabelle).Termin wird bekanntgegeben sobald von zentraler Prüfunsplanung verkündet.Zugelassene Hilfsmittel: Ausdruck dieser Folien, Randnotizen hierauf,Formelsammlung. (kein Taschenrechner).

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Organisatorisches

Inhalt:

reelle und komplexe ZahlenFolgen und ReihenDifferential- und Integralrechnung einer reellen Variablenelementare lineare Algebra

Ziele: Die Studierenden sollendas elementare technische Reservoir der Mathematik (Grundlagen lineareAlgebra und Infinitesimalrechnung einer Variablen) kennen und beherrschen,Verständnis des „mathematischen Sprache“ entwickelt haben,einfache mathematische Modelle aus den Naturwissenschaften analysierenkönnen.

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OrganisatorischesEmpfehlungen

Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit.

Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sichUnklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den„roten Faden“ verloren haben.Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausurenselbstständig.Nehmen Sie an den Übungen teil.Bilden Sie Arbeitsgruppen. Wer über Mathematik spricht, versteht diesebesser und kann Probleme besser identifizieren.Lesen Sie dem Stand der Vorlesung entsprechende Kapitel in der Literatur,um andere Aspekte kennenzulernen.Versuchen Sie Freude, Ausdauer und sportlichen Ehrgeiz beim Lösen derProbleme zu entwickeln.Nehmen Sie sich von Anfang an genügend Zeit.

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OrganisatorischesEmpfehlungen

Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit.Arbeiten Sie die Vorlesungen nach.

Stellen Sie Fragen, wenn sichUnklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den„roten Faden“ verloren haben.Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausurenselbstständig.Nehmen Sie an den Übungen teil.Bilden Sie Arbeitsgruppen. Wer über Mathematik spricht, versteht diesebesser und kann Probleme besser identifizieren.Lesen Sie dem Stand der Vorlesung entsprechende Kapitel in der Literatur,um andere Aspekte kennenzulernen.Versuchen Sie Freude, Ausdauer und sportlichen Ehrgeiz beim Lösen derProbleme zu entwickeln.Nehmen Sie sich von Anfang an genügend Zeit.

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OrganisatorischesEmpfehlungen

Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit.Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sichUnklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den„roten Faden“ verloren haben.

Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausurenselbstständig.Nehmen Sie an den Übungen teil.Bilden Sie Arbeitsgruppen. Wer über Mathematik spricht, versteht diesebesser und kann Probleme besser identifizieren.Lesen Sie dem Stand der Vorlesung entsprechende Kapitel in der Literatur,um andere Aspekte kennenzulernen.Versuchen Sie Freude, Ausdauer und sportlichen Ehrgeiz beim Lösen derProbleme zu entwickeln.Nehmen Sie sich von Anfang an genügend Zeit.

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OrganisatorischesEmpfehlungen

Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit.Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sichUnklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den„roten Faden“ verloren haben.Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausurenselbstständig.

Nehmen Sie an den Übungen teil.Bilden Sie Arbeitsgruppen. Wer über Mathematik spricht, versteht diesebesser und kann Probleme besser identifizieren.Lesen Sie dem Stand der Vorlesung entsprechende Kapitel in der Literatur,um andere Aspekte kennenzulernen.Versuchen Sie Freude, Ausdauer und sportlichen Ehrgeiz beim Lösen derProbleme zu entwickeln.Nehmen Sie sich von Anfang an genügend Zeit.

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OrganisatorischesEmpfehlungen

Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit.Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sichUnklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den„roten Faden“ verloren haben.Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausurenselbstständig.Nehmen Sie an den Übungen teil.

Bilden Sie Arbeitsgruppen. Wer über Mathematik spricht, versteht diesebesser und kann Probleme besser identifizieren.Lesen Sie dem Stand der Vorlesung entsprechende Kapitel in der Literatur,um andere Aspekte kennenzulernen.Versuchen Sie Freude, Ausdauer und sportlichen Ehrgeiz beim Lösen derProbleme zu entwickeln.Nehmen Sie sich von Anfang an genügend Zeit.

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OrganisatorischesEmpfehlungen

Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit.Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sichUnklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den„roten Faden“ verloren haben.Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausurenselbstständig.Nehmen Sie an den Übungen teil.Bilden Sie Arbeitsgruppen. Wer über Mathematik spricht, versteht diesebesser und kann Probleme besser identifizieren.

Lesen Sie dem Stand der Vorlesung entsprechende Kapitel in der Literatur,um andere Aspekte kennenzulernen.Versuchen Sie Freude, Ausdauer und sportlichen Ehrgeiz beim Lösen derProbleme zu entwickeln.Nehmen Sie sich von Anfang an genügend Zeit.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 7 / 367

OrganisatorischesEmpfehlungen

Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit.Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sichUnklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den„roten Faden“ verloren haben.Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausurenselbstständig.Nehmen Sie an den Übungen teil.Bilden Sie Arbeitsgruppen. Wer über Mathematik spricht, versteht diesebesser und kann Probleme besser identifizieren.Lesen Sie dem Stand der Vorlesung entsprechende Kapitel in der Literatur,um andere Aspekte kennenzulernen.

Versuchen Sie Freude, Ausdauer und sportlichen Ehrgeiz beim Lösen derProbleme zu entwickeln.Nehmen Sie sich von Anfang an genügend Zeit.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 7 / 367

OrganisatorischesEmpfehlungen

Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit.Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sichUnklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den„roten Faden“ verloren haben.Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausurenselbstständig.Nehmen Sie an den Übungen teil.Bilden Sie Arbeitsgruppen. Wer über Mathematik spricht, versteht diesebesser und kann Probleme besser identifizieren.Lesen Sie dem Stand der Vorlesung entsprechende Kapitel in der Literatur,um andere Aspekte kennenzulernen.Versuchen Sie Freude, Ausdauer und sportlichen Ehrgeiz beim Lösen derProbleme zu entwickeln.

Nehmen Sie sich von Anfang an genügend Zeit.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 7 / 367

OrganisatorischesEmpfehlungen

Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit.Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sichUnklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den„roten Faden“ verloren haben.Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausurenselbstständig.Nehmen Sie an den Übungen teil.Bilden Sie Arbeitsgruppen. Wer über Mathematik spricht, versteht diesebesser und kann Probleme besser identifizieren.Lesen Sie dem Stand der Vorlesung entsprechende Kapitel in der Literatur,um andere Aspekte kennenzulernen.Versuchen Sie Freude, Ausdauer und sportlichen Ehrgeiz beim Lösen derProbleme zu entwickeln.Nehmen Sie sich von Anfang an genügend Zeit.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 7 / 367

OrganisatorischesSpeziell zur Zeitplanung

Beispiel zur ZeitplanungLaut Modulbeschreibung ist der Selbststudiumsanteil im Modul auf 160–200 h aus-gelegt. Diese könnte man exemplarisch wie folgt aufteilen:

120 h während des Semesters, d. h. durchschnittlich 8 h pro Woche (ggf.könnte man einen Teil dieser Zeit im Tutorium oder in einer Lerngruppeverbringen),40–80 h Prüfungsvorbereitung in der vorlesungsfreien Zeit.

Wie Sie die Zeit aufteilen, ist natürlich Ihre Sache. Wir empfehlen Ihnen jedoch,von vornherein einen Zeitplan zu erstellen und auch konsequent einzuhalten.

Falls das noch nicht reicht. . . ...hilft nur, sich mehr Zeit zu nehmen. Die Modulbeschreibung geht von durchschnitt-lichem Talent und Vorkenntnissen aus.

In den seltensten Fällen ist jemand generell unfähig den Stoff zu verstehen – in derRegel braucht man einfach nur mehr Zeit.

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OrganisatorischesWarnungen

Was sicher schiefgeht. . . ist das Umsetzen verbreiteter „pragmatischer“ Einstellungen wie

Ich kann in Vorlesung/Übung dem Dozenten recht gut folgen, also beherrscheich den Stoff – „Beschallenlassen“ reicht vollkommen.

Die Vorlesung zeigt mir die theoretische Seite des Stoffes – ich brauche aberfür die Klausur nur die Anwendung. Also reicht es, Übung bzw. Tutorium zubesuchen.Mathematische Techniken kann man wie Rezepte auswendiglernen; das reichtfür Anwendung und Klausur. Ein tieferes Verständnis von Inhalten undZusammenhängen benötigen nur Mathematiker.Mein Stundenplan lässt mir nur wenig Zeit. Ich arbeite am Ende desSemesters einfach alles „am Stück“ nach. Ein, zwei Wochen (oder gar Tage)werden schon reichen.Bei der Klausur sind so viele Hilfsmittel zugelassen, dass ich auf Lernen undÜben verzichten kann.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 9 / 367

OrganisatorischesWarnungen

Was sicher schiefgeht. . . ist das Umsetzen verbreiteter „pragmatischer“ Einstellungen wie

Ich kann in Vorlesung/Übung dem Dozenten recht gut folgen, also beherrscheich den Stoff – „Beschallenlassen“ reicht vollkommen.Die Vorlesung zeigt mir die theoretische Seite des Stoffes – ich brauche aberfür die Klausur nur die Anwendung. Also reicht es, Übung bzw. Tutorium zubesuchen.

Mathematische Techniken kann man wie Rezepte auswendiglernen; das reichtfür Anwendung und Klausur. Ein tieferes Verständnis von Inhalten undZusammenhängen benötigen nur Mathematiker.Mein Stundenplan lässt mir nur wenig Zeit. Ich arbeite am Ende desSemesters einfach alles „am Stück“ nach. Ein, zwei Wochen (oder gar Tage)werden schon reichen.Bei der Klausur sind so viele Hilfsmittel zugelassen, dass ich auf Lernen undÜben verzichten kann.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 9 / 367

OrganisatorischesWarnungen

Was sicher schiefgeht. . . ist das Umsetzen verbreiteter „pragmatischer“ Einstellungen wie

Ich kann in Vorlesung/Übung dem Dozenten recht gut folgen, also beherrscheich den Stoff – „Beschallenlassen“ reicht vollkommen.Die Vorlesung zeigt mir die theoretische Seite des Stoffes – ich brauche aberfür die Klausur nur die Anwendung. Also reicht es, Übung bzw. Tutorium zubesuchen.Mathematische Techniken kann man wie Rezepte auswendiglernen; das reichtfür Anwendung und Klausur. Ein tieferes Verständnis von Inhalten undZusammenhängen benötigen nur Mathematiker.

Mein Stundenplan lässt mir nur wenig Zeit. Ich arbeite am Ende desSemesters einfach alles „am Stück“ nach. Ein, zwei Wochen (oder gar Tage)werden schon reichen.Bei der Klausur sind so viele Hilfsmittel zugelassen, dass ich auf Lernen undÜben verzichten kann.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 9 / 367

OrganisatorischesWarnungen

Was sicher schiefgeht. . . ist das Umsetzen verbreiteter „pragmatischer“ Einstellungen wie

Ich kann in Vorlesung/Übung dem Dozenten recht gut folgen, also beherrscheich den Stoff – „Beschallenlassen“ reicht vollkommen.Die Vorlesung zeigt mir die theoretische Seite des Stoffes – ich brauche aberfür die Klausur nur die Anwendung. Also reicht es, Übung bzw. Tutorium zubesuchen.Mathematische Techniken kann man wie Rezepte auswendiglernen; das reichtfür Anwendung und Klausur. Ein tieferes Verständnis von Inhalten undZusammenhängen benötigen nur Mathematiker.Mein Stundenplan lässt mir nur wenig Zeit. Ich arbeite am Ende desSemesters einfach alles „am Stück“ nach. Ein, zwei Wochen (oder gar Tage)werden schon reichen.

Bei der Klausur sind so viele Hilfsmittel zugelassen, dass ich auf Lernen undÜben verzichten kann.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 9 / 367

OrganisatorischesWarnungen

Was sicher schiefgeht. . . ist das Umsetzen verbreiteter „pragmatischer“ Einstellungen wie

Ich kann in Vorlesung/Übung dem Dozenten recht gut folgen, also beherrscheich den Stoff – „Beschallenlassen“ reicht vollkommen.Die Vorlesung zeigt mir die theoretische Seite des Stoffes – ich brauche aberfür die Klausur nur die Anwendung. Also reicht es, Übung bzw. Tutorium zubesuchen.Mathematische Techniken kann man wie Rezepte auswendiglernen; das reichtfür Anwendung und Klausur. Ein tieferes Verständnis von Inhalten undZusammenhängen benötigen nur Mathematiker.Mein Stundenplan lässt mir nur wenig Zeit. Ich arbeite am Ende desSemesters einfach alles „am Stück“ nach. Ein, zwei Wochen (oder gar Tage)werden schon reichen.Bei der Klausur sind so viele Hilfsmittel zugelassen, dass ich auf Lernen undÜben verzichten kann.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 9 / 367

Literatur

Folien

Die in der Vorlesung gezeigten Folien werden auf der Vorlesungswebseite imVoraus zum Herunterladen bereitgestellt.Diese stellen kein Vorlesungsskript dar, sondern sollen lediglich denMitschreibaufwand minimieren. Eigene Ergänzungen bzw. Randnotizen sindunerlässlich.Der Download ersetzt natürlich nicht den Besuch von Vorlesung/Übung undauch nicht die Lektüre von Fachliteratur.

Einige Lehrbücher

M. Schubert: Mathematik für Informatiker. Springer-Vieweg, 2012. EL. Papula: Mathematik für Ingenieure und Naturwissenschaftler.Vieweg+Teubner, Band 1–3, 2009. EW. Preuß, G. Wenisch: Lehr- und Übungsbuch Mathematik für Informatiker:Lineare Algebra und Anwendungen; Verlag: Fachbuchverlag Leipzig, 2002.

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Zu guter letzt

Danksagung: Diese Vorlesung entstand nach Vorlagen meiner ehemaligen KollegenProf. Michael Eiermann und Dr. Mario Helm am Institut für Numerische Mathe-matik und Optimierung, TU Bergakademie Freiberg.

Doch nun . . .lassen Sie uns endlich zur Mathematik kommen! Immerhin eine der ältesten wissen-schaftlichen Beschäftigungen der Menschen überhaupt:

Papyrus Rhind(ca. 1550 v. Chr.)

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Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 12 / 367

Wie sag’ ich’s?

Werfen Sie einen kurzen Blick auf folgende lyrische Einlassung:

f : R→ R stetig in x0

:⇔ (∀ε > 0∃δ > 0 : |x− x0| < δ ⇒ |f(x)− f(x0)| < ε)

Möglicherweise bewegen Sie jetzt Fragen wieWie kann man jemals einen solchen Ausdruck durchblicken?Wozu muss man sich überhaupt derart kompliziert ausdrücken?

Lassen Sie uns dazu ein kleines Experiment durchführen:

Erklären Sie Ihrem Nachbarn in einer Minute, was eine reelle Zahl ist, und warumfür diese das Kommutativgesetz der Addition gilt.

Wahrscheinlich ist Ihnen aufgefallen, dass die Umgangssprache für eine präzise Be-schreibung nicht ausreicht. Wir brauchen eine Fachsprache zur mathematischenKommunikation. Diese muss erst erlernt werden.

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Wie sag’ ich’s?

Werfen Sie einen kurzen Blick auf folgende lyrische Einlassung:

f : R→ R stetig in x0

:⇔ (∀ε > 0∃δ > 0 : |x− x0| < δ ⇒ |f(x)− f(x0)| < ε)

Möglicherweise bewegen Sie jetzt Fragen wieWie kann man jemals einen solchen Ausdruck durchblicken?Wozu muss man sich überhaupt derart kompliziert ausdrücken?

Lassen Sie uns dazu ein kleines Experiment durchführen:

Erklären Sie Ihrem Nachbarn in einer Minute, was eine reelle Zahl ist, und warumfür diese das Kommutativgesetz der Addition gilt.

Wahrscheinlich ist Ihnen aufgefallen, dass die Umgangssprache für eine präzise Be-schreibung nicht ausreicht. Wir brauchen eine Fachsprache zur mathematischenKommunikation. Diese muss erst erlernt werden.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 13 / 367

Wie sag’ ich’s?

Werfen Sie einen kurzen Blick auf folgende lyrische Einlassung:

f : R→ R stetig in x0

:⇔ (∀ε > 0∃δ > 0 : |x− x0| < δ ⇒ |f(x)− f(x0)| < ε)

Möglicherweise bewegen Sie jetzt Fragen wieWie kann man jemals einen solchen Ausdruck durchblicken?Wozu muss man sich überhaupt derart kompliziert ausdrücken?

Lassen Sie uns dazu ein kleines Experiment durchführen:

Erklären Sie Ihrem Nachbarn in einer Minute, was eine reelle Zahl ist, und warumfür diese das Kommutativgesetz der Addition gilt.

Wahrscheinlich ist Ihnen aufgefallen, dass die Umgangssprache für eine präzise Be-schreibung nicht ausreicht. Wir brauchen eine Fachsprache zur mathematischenKommunikation. Diese muss erst erlernt werden.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 13 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen1.1 Elemente der Aussagenlogik1.2 Elemente der Mengenlehre1.3 Die reellen Zahlen1.4 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip1.5 Abbildungen und Funktionen1.6 Komplexe Zahlen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer VariablenOliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 14 / 367

Elemente der Aussagenlogik

Eine Aussage ist ein sprachliches oder formelmäßiges Gebilde, dem man entwederden Wahrheitswert „wahr“ oder „falsch“ zuordnen kann.

Sprechweisen„p ist eine wahre (richtige) Aussage.“, „p gilt.“„p ist eine falsche Aussage.“, „p gilt nicht.“

Insbesondere kann keine Aussage gleichzeitig wahr oder falsch sein.

Sind folgende Konstrukte Aussagen? Was ist ggf. ihr Wahrheitswert?

„Wir sprechen gerade über Aussagenlogik.“;„Wie soll ich bloß die Prüfung schaffen?“;„62 = 36“;„7 =

√48“;

„√

14“;„Rettet den Euro!“;„Wir befinden uns in Dresden oder Chemnitz.“

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 15 / 367

Elemente der Aussagenlogik

Eine Aussagenverknüpfung liefert eine neue Aussage, deren Wahrheitwert sich ausden Wahrheitswerten der verknüpften Aussagen ergibt.

Seien p und q Aussagen, dann heißtp (auch ¬p) Negation von p (sprich: „nicht p“),p ∨ q Disjunktion von p und q (sprich: „p oder q“),p ∧ q Konjunktion von p und q (sprich: „p und q“).

Die Wahrheitswerte werden durch folgende Tabellen festgeschrieben:

p pw ff w

p q p ∨ q p ∧ qw w w ww f w ff w w ff f f f

Beachten Sie den rot markierten Wahrheitswert bei „oder“ – umgangssprachlichmeint man mitunter nicht dasselbe!

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 16 / 367

Elemente der Aussagenlogik

Geben Sie den Wahrheitswert der Aussage

„Wir gehen heute abend ins Kino oder ins Theater“

in Abhängigkeit von der tatsächlich durchgeführten Aktivitäten an. Machen Siesich den Unterschied zur Umgangssprache klar.

Geben Sie die Wahrheitswerte und Negationen zu folgenden Aussagen an:p: „Unsere Vorlesung findet heute am Nachmittag statt.“q: „Unsere Vorlesung findet heute am Abend statt.“

Warum ist q nicht die Negation von p?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 17 / 367

Elemente der AussagenlogikImplikation und Äquivalenz

Ein zentrales Element beim Aufbau mathematischer Theorie ist das logische Schlie-ßen. Dafür benötigen wir zwei weitere Verknüfungen.

Seien p und q Aussagen; dann heißtp⇒ q Implikation („Aus p folgt q“; „Wenn p gilt, so gilt q.“),p⇔ q Äquivalenz („p gilt genau dann, wenn q gilt.“).

Eine Implikation ist genau dann falsch, wenn man auswahren Aussagen die falschenSchlüsse zieht (p wahr, q falsch).Eine Äquivalenz bedeutet, dass p und q immer den gleichen Wahrheitswert besitzen.

Die zugehörige Wahrheitswerttabelle spielt für den Praktiker kaum eine Rolle – diesprachliche Fassung der Begriffe ist handlicher:

p q p⇒ q q ⇒ p p⇔ qw w w w ww f f w ff w w f ff f w w w

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 18 / 367

Elemente der Aussagenlogik

Wichtig sind aber folgende alternative Sprechweisen:für p⇒ q: „p ist hinreichend für q.“ oder “q ist notwendig für p.“für p⇔ q: „p ist hinreichend und notwendig für q.“

und folgender Satz:

Satz 2.1

Seien p und q Aussagen. Dann gilt:(p⇔ q) ⇔ (p⇒ q) und (q ⇒ p)

(p⇒ q) ⇔ (q ⇒ p)

Die zweite Aussage bildet die Grundlage für das indirekte Beweisen („Angenommenq gilt nicht, dann kann auch p nicht gelten.“).

Interpretieren Sie die Aussage „Wenn n gerade ist, so ist auch n2 gerade.“ vor demHintergrund der zweiten Beziehung in Satz 2.1.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 19 / 367

Elemente der Aussagenlogik

Satz 2.2

Es seien p, q und r beliebige Aussagen. Dann gelten immer:p⇔ p (doppelte Verneinung),p ∨ p (Satz vom ausgeschlossenen Dritten),(p ∨ q)⇔ (p ∨ q)(p ∧ q)⇔ (q ∧ p) (Kommutativgesetze),[(p ∨ q) ∨ r]⇔ [p ∨ (q ∨ r)],[(p ∧ q) ∧ r]⇔ [p ∧ (q ∧ r)] (Assoziativgesetze),[p ∧ (q ∨ r)]⇔ [(p ∧ q) ∨ (p ∧ r)],[p ∨ (q ∧ r)]⇔ [(p ∨ q) ∧ (p ∨ r)] (Distributivgesetze),p ∨ q ⇔ (p ∧ q),p ∧ q ⇔ (p ∨ q) (De Morgansche Regeln).

Punkte 1-4 scheinen sofort klar. Im Zweifel erfolgt der Nachweis solcher Äquivalen-zen durch Aufstellen von Wahrheitstabellen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 20 / 367

Elemente der AussagenlogikExkurs: Anwendung in der Digitaltechnik

In der Digitaltechnik gibt es genau zwei Zustände (hohe/niedrige(keine) Spannung;1/0), die man als logisches „wahr“ bzw. „falsch“ interpretiert.

Schaltungen bestehen häufig aus „Logikgattern“ (engl. gates).Diese besitzen z. B. 2 Eingänge (A,B) und einen Ausgang (Y) und reproduzierenlogische Verknüfungen.

Eine wichtige Anwendung von Satz 2.2 liegt in der Analyse und Vereinfachunglogischer Schaltnetzwerke.

Beispiel: Schaltsymbol und Wahrheitstabelle für ein UND-Gatter

&A

B

Y

A B Y1 1 11 0 00 1 00 0 0

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 21 / 367

Elemente der Aussagenlogik

Eine Aussageform ist ein Gebilde, welches eine oder mehrere Variablen enthält,und das nach dem Ersetzen der Variablen durch konkrete Werte in eine Aussageübergeht.

Schreibweise: p(x), falls x als Variable verwendet wird.

Mit p(x) sei die Aussageform x ≤ 1 bezeichnet, wobei x eine reelle Variable sei.Wie lauten die Aussagen p(0) und p(4) und was ist ihr Wahrheitswert?

Eine weitere Möglichkeit, Aussageformen in Aussagen zu überführen, ist die Bindungder Variablen an Quantoren. Die wichtigsten sind:∀ – „für alle . . . gilt . . . “∃ – „es existiert (mindestens) ein . . . , so dass . . . “

Beispiel: „Für alle reellen Zahlen x gilt x > 1.“ „Es gibt eine reelle Zahl x mitx2 = −1.“ (Beide Aussagen sind natürlich falsch.)

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 22 / 367

Elemente der Aussagenlogik

Definition 2.3Sei p(x) eine Aussageform; dann meinen wir mit

der Negation von „Für alle x gilt p(x)“ die Aussage „Es existiert ein x, für dasp(x) nicht gilt“; symbolisch:

∀x : p(x) := (∃x : p(x))

der Negation von „Es existiert ein x, für das p(x) gilt“ die Aussage „Für alle xgilt p(x) nicht“; symbolisch:

∃x : p(x) := (∀x : p(x))

Natürlich erfolgt diese Definition im Einklang mit unserer Intuition - die Intuitionwird lediglich sinnvoll formalisiert.

Formulieren Sie die Negationen von “Für alle reellen Zahlen x gilt x > 1.“, “Es gibteine reelle Zahl x mit x2 = −1.“, “Jeder Haushalt gibt ein Drittel seinesEinkommens für Wohnen aus.“ (SZ, 8.9.12) und “Alle Politiker lügen gelegentlich.“

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 23 / 367

Elemente der AussagenlogikAxiome und Sätze

Gerüstet mit diesen Vorkenntnissen lassen sich die gebräuchlichen Sprachkonstrukteder Mathematik grob typisieren.Ein Axiom ist eine Aussage, die innerhalb einer Theorie nicht begründet oder her-geleitet wird. Axiome werden beweislos vorausgesetzt. WIchtige Eigenschaften vonAxiomensystemen sind Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit.1

Beispiel: Kommutativgesetz für reelle Zahlen, siehe später.

Ein Satz ist eine Aussage, die mittels eines Beweises als wahr erkannt wurde. DenBeweis bildet dabei eine Kette von Schlussfolgerungen, die nur von Axiomen oderbereits bewiesenen Sätzen ausgeht.Beispiel: „

√2 ist keine rationale Zahl.“

Gebräuchliche Ausprägungen von Sätzen sind auchLemma (Hilfssatz) – ein Satz, der als Zwischenstufe in einem Beweis dient,Korollar (Folgerung) – ein Satz, der ohne großen Beweisaufwand aus einemanderen folgt.

Die Abgrenzung zum Satz ist jeweils fließend und subjektiv.1vgl. D. Hofstadter: Gödel, Escher Bach. Basic Books, New York NY 1979

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 24 / 367

Elemente der AussagenlogikDefinitionen

Eine Definition dient zur Festlegung eines mathematischen Begriffs. Hier sind eherWertungen wie „sinnvoll/nicht sinnvoll“ statt „wahr/falsch“ angebracht. SinnvolleDefinitionen erfüllen unter anderem folgende Anforderungen:

Widerspruchsfreiheit,Zirkelfreiheit (das zu Definierende darf nicht selbst Bestandteil der Definitionsein),Angemessenheit (nicht zu eng und nicht zu weit gefasst),Redundanzfreiheit (keine Bestandteile enthalten, die aus anderen logischfolgen).

Häufig schreibt man Definitionen in der Form von Gleichungen oder Äquivalenzenund verwendet die Symbole := und :⇔. Der zu definierende Ausdruck steht immerauf der Seite des Doppelpunkts.

Beispiel: a0 := 1 für a ∈ R.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 25 / 367

Elemente der AussagenlogikZum mathematischen Wahrheitsbegriff

Da in der Mathematik alle Aussagen per logischem Schluss bewiesen werden, ent-steht ein sehr scharfer Wahrheitsbegriff.In den (experimentellen) Naturwissenschaften ist der Wahrheitsbegriff stärker anBeobachtungen gekoppelt und daher weniger scharf.Die Mathematik ist also im logischen Sinne präziser, dies erfordert aber eben aucheine kompliziertere Fachsprache.

Für unsere Vorlesung: Ein strenger Aufbau der Theorie kostet Zeit und ist nichtAufgabe des Anwenders, daher folgender Kompromiss:

Reihenfolge von Axiomen, Sätzen und Definitionen entspricht weitgehenddem strengen Aufbau der Theorie,Beweise und Beweisideen werden dort skizziert, wo sie dem Verständnis desStoffes dienen,„technische“ und aufwändige Beweise werden weggelassen – verwenden Siebei Interesse entsprechende Literatur.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 26 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen1.1 Elemente der Aussagenlogik1.2 Elemente der Mengenlehre1.3 Die reellen Zahlen1.4 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip1.5 Abbildungen und Funktionen1.6 Komplexe Zahlen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer VariablenOliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 27 / 367

Elemente der Mengenlehre

Definition 2.4 („naive“ Mengendefinition, Cantor∗, 1895)Eine Menge M ist eine Zusammenfassung von bestimmten, wohlunterschiedenenObjekten unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen.

Die erwähnten Objekte heißen Elemente dieser Menge M .Schreibweise: x ∈M (bzw. x /∈M).

∗ Georg Cantor (1845-1918),deutscher Mathematiker,lieferte u. a. wichtige Beiträge zur Mengenlehre.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 28 / 367

Elemente der MengenlehreDarstellungsmöglichkeiten für Mengen

aufzählende Darstellung – Elemente werden explizit aufgelistet, z.B.:

A = {Chemnitz; Dresden; Freiberg; Leipzig},B = {2; 3; 5; 7}.

beschreibende Darstellung – Elemente werden durch eine Eigenschaftcharakterisiert, z.B.:

A = {x : x ist sächsische Universitätsstadt.},B = {p : p ist Primzahl und p < 10}.

Die Gesamtheit, die kein Element enthält heißt leere Menge.Symbol: ∅ oder {}.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 29 / 367

Elemente der MengenlehreMengenbeziehungen

Seien A und B Mengen.

A heißt Teilmenge von B, wenn jedes Element von A auch Element von Bist. Schreibweise: A ⊆ B.A und B heißen gleich, wenn jedes Element von A auch Element von B istund umgekehrt (A ⊆ B und B ⊆ A).Schreibweise: A = B.A heißt echte Teilmenge von B, wenn jedes Element von A auch Elementvon B ist, und ein Element von B existiert, das nicht zu A gehört. (A ⊆ Bund A 6= B). Schreibweise: A ⊂ B.

Die Teilmengen einer Menge M können wiederum zur sogenannten Potenzmengezusammengefasst werden:

P(M) := {A : A ⊂M}.

Man gebe die Potenzmenge von A = {1; 2; 4} an.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 30 / 367

Elemente der MengenlehreMengenoperationen

Seien A und B Teilmengen einer Grundmenge X. Dann heißtA ∪B := {x : x ∈ A oder x ∈ B} die Vereinigung von A und B,A ∩B := {x : x ∈ A und x ∈ B} der Durchschnitt von A und B,A \B := {x : x ∈ A und x /∈ B} die (mengentheoretische) Differenz von Aund B (sprich „A ohne B“),A := X \A das Komplement von A in X.

Geben Sie zu A = {1; 2; 3; 4; 5; 6} und B = {0; 4; 5} die Mengen A ∪B, A ∩B,A \B und B \A an.Wie lauten Vereinigung und Durchschnitt der Mengen

C = {p : p ist Primzahl} undD = {p : p ist Primzahl und p < 10}?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 31 / 367

Elemente der MengenlehreVisualisierung

Visualisierung von Mengenoperationen und -beziehungen erfolgt häufig im soge-nannten Venn-Diagramm:

A

B

A ∪B

A

B

A ∩B

A

B

A \B

A

AX

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 32 / 367

Elemente der MengenlehreRechenregeln für Mengenoperationen

Vereinigung (∪), Schnitt (∩) bzw. Komplement wurden letztlich über die logischenJunktoren „oder“(∨), „und“ (∧) bzw. Negation definiert. Daher gelten für Mengen-operationen analoge Regeln zu Satz 2.2:

Satz 2.5 (Regeln für das Operieren mit Mengen)

Es seien A,B,C Mengen. Dann gelten:A ∩B = B ∩A, A ∪B = B ∪A,A ∩ (B ∩ C) = (A ∩B) ∩ C, A ∪ (B ∪ C) = (A ∪B) ∪ C,A ∪ (B ∩ C) = (A ∪B) ∩ (A ∪ C), A ∩ (B ∪ C) = (A ∩B) ∪ (A ∩ C),A ∩A = A, A ∪A = A,A ∩ ∅ = ∅, A ∪ ∅ = A,A \B = A⇔ A ∩B = ∅, A \B = ∅ ⇔ A ⊆ B,A \ (B ∩ C) = (A \B) ∪ (A \ C),A \ (B ∪ C) = (A \B) ∩ (A \ C).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 33 / 367

Elemente der MengenlehreKartesisches Produkt

Seien A und B Mengen. Dann heißt die Menge aller geordneten Paare (a, b) mita ∈ A und b ∈ B kartesisches Produkt von A und B, kurz

A×B := {(a, b) : a ∈ A und b ∈ B}

Analog definiert man für Mengen A1, A2, . . . , An

A1 ×A2 × · · · ×An := {(a1, a2, . . . , an) : a1 ∈ A1, a2 ∈ A2, . . . , an ∈ An}

und schreibt im Falle der Gleichheit aller Ai kürzer

An := A×A× · · · ×A (n Faktoren).

Als wichtigste Beispiele werden uns R2 und R3 begegnen – das sind die Entspre-chungen von Anschauungsebene und -raum.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 34 / 367

RelationenÄquivalenzrelationen

Mit Relationen werden Beziehungen zwischen Objekten ausgedrückt. Eine (binäre)Relation R auf einer Grundmenge M ist eine Teilmenge des kartesischen ProduktsM ×M , also

R ⊆M ×M.

Wichtige Eigenschaften von Relationen sind(a) Reflexivität. ∀x ∈M : (x, x) ∈ R.(b) Symmetrie. ∀x, y ∈M : (x, y) ∈ R⇒ (y, x) ∈ R.(c) Transitivität. ∀x, y, z ∈M : (x, y) ∈ R ∧ (y, z) ∈ R⇒ (x, z) ∈ R.Eine Relation, die alle drei Eigenschaften erfüllt, heißt Äquivalenzrelation.

Eine Partition P einer Menge M bezeichnet eine Zerlegung in disjunkte Teilmen-gen, d.h.

M =⋃

T∈P

T und S ∩ T = ∅ für je zwei verschiedene S, T ∈P.

Jede Partition einer Menge erzeugt eine Äquivalenzrelation auf ihr und umgekehrt.Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 35 / 367

RelationenOrdnungsrelationen

Weitere wichtige Eigenschaften von Relationen:(d) Antisymmetrie. ∀x, y ∈M : xRy ∧ yRx⇒ x = y.(e) Asymmetrie. ∀x, y ∈M : xRy ⇒ ¬(yRx).Eine Relation aufM heißt Ordnungsrelation, wenn sie reflexiv, antisymmetrisch undtransitiv ist.

Besipiel: ≤, ⊆.

Eine Ordnungsrelation auf M heißt vollständig oder linear, falls für alle x, y ∈ Mgilt: xRy ∨ yRx.

Eine Relation auf M heißt strenge Ordnungsrelation, wenn sie asymmetrisch undtransitiv ist.

Beispiel: <.

Eine strenge Ordnungsrelation heißt vollständig, wenn für alle x, y ∈M mit x 6= ygilt xRy ∨ yRx.Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 36 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen1.1 Elemente der Aussagenlogik1.2 Elemente der Mengenlehre1.3 Die reellen Zahlen1.4 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip1.5 Abbildungen und Funktionen1.6 Komplexe Zahlen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer VariablenOliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 37 / 367

Die reellen Zahlen

Erinnern Sie sich an unser Experiment in der allerersten Stunde?Obwohl jeder von uns schon seit Jahren reelle Zahlen verwendet, fällt es uns extremschwer, das Wesen der Zahl in Worte zu fassen.

Es lohnt sich also eine nähere Betrachtung – gerade auch weil Messwerte für vielephysikalische Größen als reelle Zahlen aufgefasst werden können.

Einen (eher historisch interessanten) Anfangspunktliefert uns folgendes berühmte wie umstrittene Zitat:“Die natürlichen Zahlen hat Gott gemacht, allesandere ist Menschenwerk.“

(Leopold Kronecker, deutscher Mathematiker, 1823-1891)

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 38 / 367

Die reellen ZahlenZahlbereichserweiterungen

Skizzieren wir zunächst das klassische Vorgehen über Zahlbereichserweiterungen.

Wir starten mitN := {1, 2, 3, . . .} – natürliche Zahlen (“hat Gott gemacht“ oder werden überPeano-Axiome beschrieben)N0 := N ∪ {0} = {0, 1, 2, 3, . . .}

Nach Einführung der Addition stellt man fest, dass Gleichungen wie x + 9 = 1 inN nicht lösbar sind, daher Erweiterung zu

Z := {. . . ,−2,−1, 0, 1, 2, . . .} – ganze ZahlenNimmt man die Multiplikation hinzu, sind wiederum Gleichungen wie (−2) · x = 1in Z nicht lösbar, daher Erweiterung zu

Q :={pq | p, q ∈ Z, q 6= 0

}– rationale Zahlen (alle endlichen und

periodischen Dezimalbrüche)Wählt man die Zahlengerade als Modell, so kann man mit den rationalen Zahlenzumindest beliebig feine Einteilungen realisieren.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 39 / 367

Die reellen ZahlenLücken in Q

Aber: Bereits Euklid (ca. 360-280 v. Chr.) überlieferte uns den Beweis zu

Satz 2.6√

2 6∈ Q, d.h.√

2 ist keine rationale Zahl.

Die rationalen Zahlen erfassen also nicht die gesamte Zahlengerade.Erst durch “Vervollständigen“ gelangt man zu den reellen Zahlen R.

-0 1 2-1-7/4 -1/

√2 1/2 π/2

Jedem Punkt der Zahlengeraden entspricht genau eine reelle Zahl.

Die erste exakte Formulierung dieses Vervollständigungsprozessesstammt übrigens nicht aus der Antike. Dies gelang erst KarlWeierstraß (deutscher Mathematiker, 1815-1897).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 40 / 367

Die reellen ZahlenModerner axiomatischer Ansatz

Klassische Zahlbereichserweiterungen sind anschaulich, erweisen sich aber im Detailals kompliziert, z. B. bei

Einführung von Addition und Multiplikation sowie der damit verbundenenRechengesetze,Einführung einer Ordnungsrelation („größer/kleiner“),Ausformulieren des Vervollständigungsschritts.

Moderne Ansätze definieren daher R direkt über Axiome, die unmittelbar die Re-chengesetze liefern. Man benötigt:

Körperaxiome (liefern Rechengesetze),Anordnungsgesetze (liefern Ordnungsrelation),Vollständigkeitsaxiom.

N,Z und Q werden als entsprechende Teilmengen von R aufgefasst.Wir verzichten auf eine formale Angabe der Axiome, geben aber die unmittelbarresultierenden Gesetze an.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 41 / 367

Die reellen ZahlenDie arithmetischen Gesetze in R

(1) (a+b)+c = a+(b+c) ∀a, b, c ∈ R (Assoziativgesetz der Addition),(2) a+ 0 = a ∀a ∈ R (neutrales Element der Addition),(3) a+ (−a) = 0 ∀a ∈ R (inverse Elemente der Addition),(4) a+ b = b+ a ∀a, b ∈ R (Kommutativgesetz der Adddition),(5) (ab)c = a(bc) ∀ a, b, c ∈ R (Assoziativgesetz der Multiplikation),(6) a · 1 = a ∀a ∈ R (neutrales Element der Multiplikation),(7) a 1

a = 1 ∀a ∈ R, a 6= 0 (inverse Elemente der Multiplikation),(8) ab = ba ∀a, b ∈ R (Kommutativgesetz der Multiplikation),(9) a(b+ c) = ab+ ac ∀a, b, c ∈ R (Distributivgesetz).

Diese Gesetze korrespondieren mit den Körperaxiomen.Eine Menge die die Körperaxiome erfüllt, heißt (Zahl-)Körper.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 42 / 367

Die reellen ZahlenDie arithmetischen Gesetze in R

Wir definieren für a ∈ R und n ∈ N:an := a · a · . . . · a (n Faktoren), a0 := 1

und, falls a > 0:

a−n :=1

an.

Dann folgen aus den arithmetischen Gesetzen weitere Rechenregeln:

Satz 2.7

Für alle a, b ∈ R geltena · 0 = 0,ab = 0 ⇒ a = 0 oder b = 0,a2 = b2 ⇔ a = b oder a = −b,−(−a) = a, −(a+ b) = −a− b,(−a)b = a(−b) = −ab, (−a)(−b) = ab,anam = an+m ∀m,n ∈ Z (falls a 6= 0),anbn = (ab)n ∀n ∈ Z (falls a, b 6= 0).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 43 / 367

Die reellen ZahlenBinomische Formeln

Weiterhin lassen sich mit den arithmetischen Gesetzen folgende wohlbekannte Aus-sagen beweisen:

Satz 2.8 (Binomische Formeln)

Für alle a, b ∈ R gilt(a+ b)2 = a2 + 2ab+ b2,(a− b)2 = a2 − 2ab+ b2,(a+ b)(a− b) = a2 − b2.

Natürlich kann man auch Binome höheren Grades so auswerten. Z. B. gilt

(a± b)3 = a3 ± 3a2b+ 3ab2 ± b3.

Einen allgemeingültige Formel für (a+ b)n, n ∈ N, finden Sie in der Literatur unterdem Namen „Binomischer Lehrsatz“.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 44 / 367

Die reellen ZahlenDie Ordnungsrelation in R

(10) Zwischen zwei reellen Zahlen a und b besteht immer genau eine der folgendendrei Größenbeziehungen:a < b (a kleiner b), a = b (a gleich b), a > b (a größer b).

(11) (a < b und b < c) ⇒ a < c ∀a, b, c ∈ R (Transitivität),(12) a < b ⇔ a+ c < b+ c ∀a, b, c ∈ R (Monotonie der Addition),(13) (a < b und 0 < c) ⇔ ac < bc ∀a, b, c ∈ R

(Monotonie der Multiplikation).

Definition:a ≤ b (a kleiner oder gleich b) bedeutet a < b oder a = b.a ≥ b (a größer oder gleich b) bedeutet a > b oder a = b.

Diese Gesetze korrespondieren mit den Anordnungsaxiomen.Körper, die die Anordnungsaxiome erfüllen, heißen geordnete Körper. Beispiele sindR, aber auch Q.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 45 / 367

Die reellen ZahlenDie Ordnungsrelation in R

Aus den Anordnungsaxiomen folgen weiterhin die Regeln für den Umgang mit Un-gleichungen:

Satz 2.9

Für a, b, c, d ∈ R gelten:a ≤ b und c ≤ d ⇒ a+ c ≤ b+ d,a ≤ b und c < 0 ⇒ ac ≥ bc und a

c ≥ bc ,

a ≤ b ⇒ −b ≤ −a,0 < a ≤ b ⇒ 0 < 1

b ≤ 1a ,

a ≤ b < 0 ⇒ 1b ≤ 1

a < 0,a < 0 < b ⇒ 1

a < 0 < 1b .

Finden Sie die Lösungen der Ungleichung x−1x+3 < 2 (x 6= −3).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 46 / 367

Die reellen Zahlen

Definition 2.10 (Obere und untere Schranken)Sei M 6= ∅, eine Teilmenge der reellen Zahlen.

M heißt nach oben beschränkt , wenn es eine Zahl C ∈ R gibt mit

x ≤ C für alle x ∈M.

Jede solche Zahl C heißt obere Schranke von M . Die kleinste obere Schrankeeiner nach oben beschränkten Menge M heißt Supremum von M(Schreibweise: supM).M heißt nach unten beschränkt , wenn es eine Zahl C ∈ R gibt mit

x ≥ C für alle x ∈M.

Jede solche Zahl C heißt untere Schranke von M . Die größte untereSchranke einer nach unten beschränkten Menge M heißt Infimum von M(Schreibweise: inf M).

M heißt beschränkt, wenn M sowohl nach oben wie auch nach unten beschränktist. Gilt supM ∈M [inf M ∈M ], so heißt supM [inf M ] auch Maximum[Minimum] von M .

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 47 / 367

Die reellen Zahlen

Beispiele:

Ist die Menge

M1 :=

{1

n: n ∈ N

}⊂ R

beschränkt? Geben Sie falls möglich obere und untere Schranken, Supremum undInfimum sowie Maximum und Minimum an.

Betrachten wir weiterhin

M2 := {q ∈ Q : q2 < 2} ⊂ Q.

Offenbar ist M2 nach oben beschränkt, denn 42 ist obere Schranke. Ein Supremumbesitzt die Menge in den rationalen Zahlen jedoch nicht, da

√2 /∈ Q.

In den reellen Zahlen ist die Angabe des Supremums jedoch unproblematisch:supM2 =

√2.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 48 / 367

Die reellen ZahlenVollständigkeit

Das letzte Beispiel liefert den Schlüssel für den noch fehlenden Vervollständigungs-schritt bei der Konstruktion von R.

(14) Jede nach oben beschränkte Menge reeller Zahlen besitzt ein Supremum in R.

Folgerungen:Jede nach unten beschränkte Menge reeller Zahlen besitzt ein Infimum in R.Jede beschränkte Menge reeller Zahlen besitzt ein Supremum und einInfimum in R.

Damit ist die axiomatische Konstruktion von R komplett. Kurz zusammenfassenkann man (1)-(14) in folgendem Satz:

R ist ein ordnungsvollständiger geordneter Körper.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 49 / 367

Die reellen ZahlenIntervalle

Intervalle sind „zusammenhängende“ Teilmengen von R. Es wird dabei nach Inklu-sion der Randpunkte unterschieden.

Für a, b ∈ R mit a ≤ b:

[a, b] := {x ∈ R : a ≤ x ≤ b} (abgeschlossenes Intervall),(a, b] := {x ∈ R : a < x ≤ b} (halboffenes Intervall),[a, b) := {x ∈ R : a ≤ x < b} (halboffenes Intervall),(a, b) := {x ∈ R : a < x < b} (offenes Intervall),[a,∞) := {x ∈ R : a ≤ x},(a,∞) := {x ∈ R : a < x},(−∞, b] := {x ∈ R : x ≤ b},(−∞, b) := {x ∈ R : x < b},(−∞,∞) := R.

Auf dem Zahlenstrahl lassen sich Intervalle als zusammenhängende Bereiche dar-stellen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 50 / 367

Die reellen ZahlenBetrag

Der Betrag von a ∈ R ist durch

|a| :={

a, für a ≥ 0,−a, für a < 0

definiert.

Satz 2.11 (Rechnen mit Beträgen)

Für a, b ∈ R, c ≥ 0 gelten|a| ≥ 0, wobei |a| = 0 ⇔ a = 0,|a| = c ⇒ a = c oder a = −c,|a| = |− a| und |a− b| = |b− a|,|ab| = |a||b|,|a+ b| ≤ |a|+ |b| (Dreiecksungleichung),|a| ≤ c ⇔ −c ≤ a ≤ c.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 51 / 367

Die reellen ZahlenBetrag und Abstand

Für den Betrag gibt es eine einfache, aber wichtige Interpretation am Zahlenstrahl.Für a, b ∈ R

gibt |a| den Abstand von a zur Null an,gibt |a− b| = |b− a| den Abstand zwischen a und b an.

0x ab

|x| |b− a|

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 52 / 367

Die reellen Zahlenπ = 3.2 per Gesetz? The „Indiana Pi Bill“.

Zum Abschluss dieses Kapitels ein Kuriosum aus der mathematischer Unterhal-tungsliteratur. Es geht um eine Gesetzesvorlage vom Ende des 19. Jahrhunderts.

ab 1892 veröffentlicht der Arzt Edward J. Goodwin mehrere Arbeiten zurQuadratur des Kreises. Eine Behauptung: π = 3.2

1897 Gesetzesvorlage für Parlament von Indiana zur Festlegungvon π. Zweck: Vermeidung von Gebühren an UrheberEntwurf passiert Repräsentantenhaus nach 3 Lesungen mit 67:0 StimmenMathematiker Clarence A. Waldo interveniert im Senat, dieser verweistEntwurf in Ausschuss, welcher diesen befürwortetSenat vertagt Entscheidung auf unbestimmte Zeit (Wert der Vorlage nichteinschätzbar, Sache aber nicht für Gegenstand der Gesetzgebung gehalten)

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 53 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen1.1 Elemente der Aussagenlogik1.2 Elemente der Mengenlehre1.3 Die reellen Zahlen1.4 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip1.5 Abbildungen und Funktionen1.6 Komplexe Zahlen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer VariablenOliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 54 / 367

Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip

Ausgehend von den reellen Zahlen findet man leicht folgende Charakterisierung dernatürlichen Zahlen:

Die natürlichen Zahlen sind die kleinste Teilmenge von R, die sowohl die Zahl 1und mit jeder Zahl n auch deren Nachfolger n+ 1 enthält.

Visualisierung am Zahlenstrahl:

1 2 3 4 5 6 7

Daraus können wir nun ein wichtiges Beweisprinzip ableiten.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 55 / 367

Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip

Satz 2.12 (Prinzip der vollständigen Induktion)

Eine Aussageform A(n) ist genau dann für alle n ∈ N wahr, wennA(1) wahr ist („Induktionsanfang“),aus der Gültigkeit von A(n) für ein beliebiges n ∈ N stets die Gültigkeit vonA(n+ 1) folgt („Induktionsschritt“).

Der Induktionsschritt sichert also folgende „Kette“ von Implikationen:

A(1)⇒ A(2)⇒ A(3)⇒ . . .⇒ A(n)⇒ A(n+ 1)⇒ . . .

Man ist natürlich nicht zwingend auf den Startwert 1 festgelegt. Man kann imInduktionsanfang auch bei einem beliebigen n0 ∈ Z starten, muss dann aber auchden Induktionsschritt für n ≥ n0 beweisen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 56 / 367

Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip

Beispiel 2.13 (Bernoullische Ungleichung)

Man beweise folgende Ungleichung mittels vollständiger Induktion:

(1 + x)n ≥ 1 + nx für alle x ∈ R, x ≥ −1, n ∈ N. (2.1)

Wir führen eine vollständige Induktion über n aus.

Induktionsanfang:

Für n = 1 gilt(1 + x)n = 1 + x = 1 + n · x,

d. h. die Aussage ist für alle x ≥ −1 wahr.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 57 / 367

Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip

Induktionsschritt:

Angenommen, (2.1) ist für ein n ∈ N wahr, d. h.

(1 + x)n ≥ 1 + nx (x ≥ −1) (Induktionsvoraussetzung, IV).

Dann gilt

(1 + x)n+1 = (1 + x)n(1 + x)

≥ (1 + nx)(1 + x) (nach IV)= 1 + (n+ 1)x+ nx2

≥ 1 + (n+ 1)x (da nx2 ≥ 0).

Aus der Gültigkeit von (2.1) für n folgt also die Gültigkeit für n+ 1.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 58 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen1.1 Elemente der Aussagenlogik1.2 Elemente der Mengenlehre1.3 Die reellen Zahlen1.4 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip1.5 Abbildungen und Funktionen1.6 Komplexe Zahlen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer VariablenOliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 59 / 367

Abbildungen und Funktionen

Hier sollen nur die grundlegenden Begriffe bereitgestellt/wiederholt werden. Eineintensive Beschäftigung mit der Materie erfolgt später.

Definition 2.14 (Funktion)

Seien A und B Mengen. Eine Abbildung oder Funktion f : A→ B ist eineVorschrift, durch die jedem x ∈ A genau ein y = f(x) ∈ B zugeordnet wird.

A heißt Definitionsbereich von f und f(A) := {f(x) : x ∈ A} ⊆ B heißtWertebereich oder Bild von f .

Für x ∈ A heißt y = f(x) Bild von x unter f oder Funktionswert von f an derStelle x.

Zwei Funktionen f : Df → B, x 7→ f(x), und g : Dg → C, x 7→ g(x), heißengleich (f = g), wenn Df = Dg und f(x) = g(x) für alle x ∈ Df = Dg gelten.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 60 / 367

Abbildungen und Funktionen

Schreibweisen:f : A→ By = f(x)

oder f : A→ Bx 7→ f(x)

.

Beschreibung von Funktionen

Eine Funktion f : A→ B kann man auf verschiedene Weisen beschreiben:

analytisch, d.h. durch Angabe der Zuordnungsvorschrift,tabellarisch, d.h. durch eine Wertetabelle,graphisch, d.h. durch Visualisierung der Menge

Graph(f) := {(x, f(x)) : x ∈ A} ⊆ A×B,

des sogenannten Graphen von f .(Für f : R→ R ist der Graph von f eine „Kurve“ im R2.)

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 61 / 367

Abbildungen und Funktionen

Definition 2.15

Sei f : A→ B eine Funktion. Zu einer Menge A′ ⊆ A heißt

f(A′) := {f(x) : x ∈ A′} ⊆ B

das Bild von A′ unter f . Zu einer Menge B′ ⊆ B heißt

f−1(B′) := {x ∈ A : f(x) ∈ B′}

das Urbild von B′ unter f .

Man bestimme f([1, 2]) und f−1([1, 4]) für f : R→ R, f(x) = x2.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 62 / 367

Abbildungen und FunktionenUmkehrbarkeit von Abbildungen

Definition 2.16

Eine Funktion f : A→ B heißtinjektiv (eineindeutig), wenn für alle x1, x2 ∈ A mit x1 6= x2 stetsf(x1) 6= f(x2) gilt,surjektiv, wenn es zu jedem y ∈ B ein x ∈ A gibt mit y = f(x),bijektiv, wenn f injektiv und surjektiv ist.

Ist f bijektiv, so existiert die Umkehrfunktion

f−1 : B → A, f−1(y) = x :⇔ y = f(x).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 63 / 367

Abbildungen und FunktionenUmkehrbarkeit von Abbildungen

A1 B1

f1

A2 B2

f2

A3 B3

f3

surjektiv, nicht injektiv injektiv, nicht surjektiv bijektiv

Ist die Funktion f1 : R→ R, f1(x) = x2 injektiv/surjektiv/bijektiv?Wie verhält es sich mit

f2 : N→ N, f2(x) = x2,f3 : [0,∞)→ R, f3(x) = x2,f4 : [0,∞)→ [0,∞), f4(x) = x2?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 64 / 367

Abbildungen und FunktionenUmkehrbarkeit von Abbildungen

Beispiel 2.17 (n−te Wurzel)Die Funktion f : [0,∞)→ [0,∞), f(x) = xn ist für alle n ∈ N bijektiv. DieUmkehrfunktion ist die n−te Wurzel:

f−1 : [0,∞)→ [0,∞), x 7→ n√x.

Beachten Sie: die n−te Wurzel ist für negative Zahlen nicht definiert. Statt 2√x

schreibt man kurz√x.

0 1 2 3 40

1

2

3

4

f(x)=x2

g(x)=x1/2

Situation für n = 2. Wie bei allen reellen Funktionenentsteht der Graph von f−1 durch Spiegeln des Graphenvon f an der Geraden y = x.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 65 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen1.1 Elemente der Aussagenlogik1.2 Elemente der Mengenlehre1.3 Die reellen Zahlen1.4 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip1.5 Abbildungen und Funktionen1.6 Komplexe Zahlen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer VariablenOliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 66 / 367

Komplexe ZahlenMotivation

Erinnern Sie sich an die Zahlbereichserweiterungen? Unser Ziel war dabei, bestimmteGleichungstypen uneingeschränkt lösen zu können.

Z. B. hatte x + 5 = 2 in N keine Lösung. Erweitert man den Zahlbereich zu Z, solässt sich eine Lösung angeben (x = −3).

In den reellen Zahlen sind quadratische Gleichungen nicht immer lösbar: x2 = 1hat in R zwei Lösungen (x1/2 = ±1), dagegen hat x2 = −1 in R keine Lösung.

Um diesen „Mangel“ zu beheben, kann man eine weitere Zahlbereichserweiterungdurchführen. Der initiale Schritt ist dabei das Hinzufügen einer neuen Zahl i, diei2 = −1 erfüllt.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 67 / 367

Komplexe ZahlenDefinition

Definition 2.18 (Komplexe Zahl)Eine komplexe Zahl z ist ein Ausdruck der Form

z = a+ ib mit a, b ∈ R,

Die Zahl i (mit der Eigenschaft i2 = −1) heißt imaginäre Einheit.

a =: Re z heißt Realteil von z,b =: Im z heißt Imaginärteil von z.

Zwei komplexe Zahlen sind genau dann gleich, wenn sowohl die Realteile als auchdie Imaginärteile übereinstimmen.

Die Menge aller komplexen Zahlen wird mit C bezeichnet.

Statt x+i0 schreibt man x, d.h. reelle Zahlen sind komplexe Zahlen mit Imaginärteil0. In diesem Sinne gilt also R ⊆ C.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 68 / 367

Komplexe ZahlenGaußsche Zahlenebene

Definition 2.19

Sei z = a+ ib (a, b ∈ R) eine komplexe Zahl. Dann heißtz := a− ib die zu z konjugiert komplexe Zahl.|z| :=

√a2 + b2 der Betrag von |z|.

Re z

Im z

a

b

−b

0

z = a + ib

z = a− ib

Eine komplexe Zahl z veranschaulicht man sichals Punkt der Gaußschen Zahlenebene mit denKoordinaten (Re z, Im z).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 69 / 367

Komplexe ZahlenRechenregeln

Rechenoperationen in CFür z = a+ ib, w = c+ id ∈ C (a, b, c, d ∈ R) definiert man

z + w := (a+ c) + i(b+ d),

z − w := (a− c) + i(b− d),

zw := (ac− bd) + i(ad+ bc),zw := ac+bd

c2+d2 + i bc−adc2+d2 (w 6= 0).

Diese Operationen sind so definiert, dass man die gewohnten Vorstellungen von denreellen Zahlen unter Beachtung von i2 = −1 direkt übertragen kann.

Die Division lässt sich als „Erweitern“ mit dem Konjugiert-Komplexen des Nennersauffassen:

z

w=

(a+ ib)(c− id)

(c+ id)(c− id)=

(a+ ib)(c− id)

c2 + d2=

zw

|w|2 .

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 70 / 367

Komplexe ZahlenAddition und Subtraktion in der Gaußschen Zahlenebene

Man gebe zu z1 = 1, z2 = −i, z3 = −3 + 2i, z4 = 1 + i Real- und Imaginärteilan und zeichne die zugehörigen Punkte in die Gaußschen Zahlenebene. Manberechne z3 + z4, z3 − z4, z3 · z4 sowie z3/z4.Wie lautet die kartesische Form der Zahl 1

i ?

Re z

Im z

0

z1z1 + z2

z2Re z

Im z

0

z1

z1 − z2

z2

−z2

Beachten Sie die Analogie zur Vektorrechnung!Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 71 / 367

Komplexe ZahlenGeometrische Interpretation des Betrags

In der Gaußschen Zahlenebene charakterisiert|z| den Abstand einer Zahl z zum Koordinatenursprung|z1 − z2| = |z2 − z1| den Abstand zwischen z1 und z2 in der GaußschenZahlenebene.die Menge M = {z ∈ C : |z − z0| ≤ r} für r > 0 und z0 ∈ C eineKreisscheibe um z0 mit Radius r.

Re z

Im z

0

z1

z1 − z2

z2

−z2 |z1|

|z2|

|z1 − z2|Re z

Im z

0

z0

rM

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 72 / 367

Komplexe ZahlenC als Zahlkörper

Mit der eingeführten Addition und Multiplikation bildet C einen Zahlkörper. Kon-sequenzen sind:

Die arithmetischen Gesetze der reellen Zahlen (vgl. S. 42) gelten auch fürkomplexe Zahlen.

Satz 2.20Die Rechenregeln für reelle Zahlen (Satz 2.7) sowie die binomischen Formeln undderen Verallgemeinerungen (vgl. S. 44) gelten auch für komplexe Zahlen.

Wie gewohnt schreiben wir dabei für z ∈ C, n ∈ N

zn := z · z · . . . · z (n Faktoren), z0 := 1, z−n :=1

zn(z 6= 0).

Finden Sie die komplexen Lösungen der Gleichung z2(z + 1)(z − 4 + i) = 0.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 73 / 367

Komplexe ZahlenRechenregeln für z und z

Satz 2.21Für z, w ∈ C gelten

¯z = z,z ± w = z ± w, z · w = z · w,

(zw

)= z

w ,zz = |z|2, |z| = |z|,Re z = 1

2 (z + z), Im z = 12i (z − z),

z = z ⇔ z ∈ R.

Beweisen Sie einige dieser Regeln.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 74 / 367

Komplexe ZahlenRechenregeln für Beträge

Satz 2.22Für z, w ∈ C gelten|z| ≥ 0, wobei |z| = 0 ⇔ z = 0,|z| = |− z|,|zw| = |z||w|,|z + w| ≤ |z|+ |w| (Dreiecksungleichung).

Warum lassen sich die Regeln|a| = c ⇒ a = c oder a = −c,|a| ≤ c ⇔ −c ≤ a ≤ c.

für a ∈ R, c ≥ 0 nicht auf komplexe Zahlen anwenden?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 75 / 367

Komplexe ZahlenDie Polarform einer komplexen Zahl

Eine komplexe Zahl z 6= 0 ist auch über ihre Polarkoordinaten in der GaußschenZahlenebene eindeutig charakterisiert:

Re z

Im z

0

b

a

r

ϕ

z

Dabei istr = |z| der Abstand von z zu 0,ϕ der „Drehwinkel“ des Ortsvektors zu z, gemessen von der reellen Achse imGegenuhrzeigersinn.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 76 / 367

Komplexe ZahlenDie Polarform einer komplexen Zahl

Mir den klassischen Definitionen von Sinus und Kosinus am Einheitskreis gilt alsofür z = a+ ib:

z = r cosϕ+ i · r sinϕ = |z|(cosϕ+ i sinϕ).

Definition 2.23 (Polarform)

Für z = a+ ib (a, b ∈ R), z 6= 0, heißt ϕ = arg(z) Argument von z, falls

|z| cosϕ = a und |z| sinϕ = b. (2.2)

Die Darstellungz = |z|(cosϕ+ i sinϕ).

heißt Polarform von z.

Das Argument ist nur bis auf ganzzahlige Vielfache von 2π festgelegt. Man wählthäufig ϕ ∈ [0, 2π), um Eindeutigkeit zu erhalten, und spricht dann vom Hauptwertdes Arguments.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 77 / 367

Komplexe ZahlenUmwandlungsarbeiten

Von der Polarform z = |z|(cosϕ+ i sinϕ) zur kartesischen Form gelangt mandurch Ausmultiplizieren.Von der kartesischen Form z = a+ ib zur Polarform gelangt man mit|z| =

√a2 + b2 und (2.2).

Zur Bestimmung des Arguments kann man auch

tanϕ =b

a(a 6= 0)

benutzen, muss dabei aber auf Quadrantenbeziehungen achten(der Fall a = 0 ist trivial).

Wie lautet die Polarform von 2i,−1,−3 + 2i?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 78 / 367

Komplexe ZahlenDie komplexe Exponentialfunktion

Die Zahl eiϕ (ϕ ∈ R) spielt im Zusammenhang mit der Polarform eine wichtigeRolle. Da uns noch keine Potenzreihen zur Verfügung stehen, definieren wir sievorläufig mittels

Eulersche Formeleiϕ := cosϕ+ i sinϕ (ϕ ∈ R)

Damit kann man jede komplexe Zahl z 6= 0 schreiben als

z = |z|(cosϕ+ i sinϕ) = |z|eiϕ (ϕ = arg(z)).

Diese Darstellung nennt man Eulersche, Exponential- oder einfach wieder Polar-darstellung von z.

Im Einklang mit den Potenzgesetzen schreiben wir ferner ez = eaeib für eine be-liebige komplexe Zahl z = a + ib (a, b ∈ R). Auch dies wollen wir vorläufig alsDefinition verstehen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 79 / 367

Komplexe ZahlenDie komplexe Exponentialfunktion

Es lässt sich zeigen, dass die komplexe Exponentialfunktion ähnlichen Gesetzengenügt, wie die reelle:

Satz 2.24Für z, w ∈ C, n ∈ N gelten:

ez+w = ez · ew, ez−w =ez

ew, (ez)n = enz,

insbesondere also für ϕ,ψ ∈ R:

ei(ϕ+ψ) = eiϕ · eiψ, ei(ϕ−ψ) =eiϕ

eiψ, (eiϕ)n = einϕ.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 80 / 367

Komplexe ZahlenDie komplexe Exponentialfunktion

Die Eulersche Formel eiϕ = cosϕ+i sinϕ (ϕ ∈ R) liefert den Schlüssel für folgendeBeobachtung:

eiϕ ist die komplexe Zahl auf dem Einheitskreis, deren Argument ϕ ist.

Re z

Im z

0 1

1

ϕ

eiϕ

Bild rechts: Leonhard Euler (1707-1783), Schweizer Mathematiker.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 81 / 367

Komplexe ZahlenMultiplikation und Division in der Polarform

Für zwei komplexe Zahlen z, w 6= 0 mit den Polardarstellungenz = |z| eiϕ = |z|(cosϕ+ i sinϕ),

w = |w| eiψ = |w|(cosψ + i sinψ) (ϕ,ψ ∈ R)

erhält manz · w = |z||w| eiϕeiψ

= |zw| ei(ϕ+ψ)

= |zw|(cos(ϕ+ ψ) + i sin(ϕ+ ψ)),

z

w=

|z| eiϕ|w| eiψ

=∣∣∣ zw

∣∣∣ ei(ϕ−ψ)

=∣∣∣ zw

∣∣∣ (cos(ϕ− ψ) + i sin(ϕ− ψ)),

d.h. arg(zw) = arg(z) + arg(w) und arg( zw ) = arg(z)− arg(w)

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 82 / 367

Komplexe ZahlenGeometrische Darstellung von Multiplikation und Division

Re z

Im z

0

z

w

|z|

|w||wz|

wz

ϕϕ ψ

Re z

Im z

0

z/w

w

|z/w|

|w||z|

z

ϕψ

ψ

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 83 / 367

Komplexe ZahlenPotenzen und Wurzeln

Für eine komplexe Zahl z 6= 0 mit Polardarstellung z = |z| eiϕ und n ∈ N giltweiterhin

zn = |z|n (eiϕ)n = |z|neinϕ = |z|n(cos(nϕ) + i sin(nϕ)).

Bei der Ermittlung der Lösungen von wn = z zu einer gegebenen komplexenZahl z = |z| eiϕ ist zu beachten, dass ϕ 7→ eiϕ im Gegensatz zum reellen Fall2π−periodisch ist, d.h.

eiϕ = ei(ϕ+2kπ) (k ∈ Z).

Somit liefert die (formale) Anwendung der Potenzgesetze

wn = |z| eiϕ ⇔ w = |z| 1n eiϕ+2kπn = n

√|z| ei(ϕn+ 2kπ

n ).

Auch die Periode 2π wird also durch n geteilt, wodurch n verschiedene „n-teWurzeln“ von z entstehen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 84 / 367

Komplexe ZahlenPotenzen und Wurzeln

Wir fassen unsere Vorüberlegung folgendermaßen zusammen:

Satz 2.25 (Potenzieren und Radizieren in C)

Sei n ∈ N, dann gilt:Die n−te Potenz von z = |z|eiϕ = |z|(cosϕ+ i sinϕ) (ϕ ∈ R) ergibt sich zu

zn = |z|neinϕ = |z|n(cos(nϕ) + i sin(nϕ)).

Insbesondere gilt die de Moivresche Formel

(cosϕ+ i sinϕ)n = cos(nϕ) + i sin(nϕ).

Für jede Zahl z = |z|eiϕ besitzt die Gleichung wn = z genau n verschiedeneLösungen

wk = n√|z| ei(ϕn+ 2kπ

n ) = n√|z|(cos(

ϕ

n+

2kπ

n) + i sin(

ϕ

n+

2kπ

n))

mit k = 0, . . . , n− 1.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 85 / 367

Komplexe ZahlenGeometrische Darstellung der n−ten Wurzeln

Die n−ten Wurzeln von |z|eiϕ liegen auf einem Kreis mit Radius n√|z| um den

Nullpunkt und bilden ein regelmäßiges n−Eck.

0 2

2

Re z

Im z

π π/8

Illustration am Beispiel der 8-ten Wurzeln von −256 = 256eiπ.Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 86 / 367

Komplexe ZahlenExkurs: Mehrfachwinkelformeln und Additionstheoreme

Mit Hilfe der Eulerschen und der de Moivreschen Formel lassen sich Beziehungenfür trigonometrische Funktionen zeigen, z. B.

sin(x± y) = sinx cos y ± cosx sin y,cos(x± y) = cosx cos y ∓ sinx sin y,sin 2x = 2 sinx cosx,cos 2x = cos2 x− sin2 x (sinn x := (sinx)n, analog für cos)sin 3x = 3 sinx− 4 sin3 x,cos 3x = 4 cos3 x− 3 cosx.

Beweisen Sie einige dieser Beziehungen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 87 / 367

Komplexe ZahlenExkurs: Komplexe Polynome

Bei der Bestimmung n−ter Wurzeln wurden Gleichungen der Form zn − a = 0gelöst. Wir wollen die Frage der Lösbarkeit algebraischer Gleichungen allgemeineruntersuchen. Folgende Terminologie:

Eine Abbildung der Form

p : C→ C, p(z) = anzn + an−1z

n−1 + . . .+ a1z + a0

mit festen Zahlen („Koeffizienten“) a0, a1, . . . , an ∈ C heißt komplexes Polynomvom Grad deg(p) = n.

Eine Zahl w ∈ C heißt Nullstelle von p, falls p(w) = 0.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 88 / 367

Komplexe ZahlenAbspalten von Linearfaktoren, Existenz von Nullstellen

Besitzt ein Polynom p vom Grad n ≥ 1 eine Nullstelle w, so lässt sich p ohne Restdurch (z − w) teilen, d.h. es gibt ein Polynom q von Grad n− 1 mit

p(z) = (z − w) q(z) (z ∈ C).

Anders als in R gilt in den komplexen Zahlen folgende Aussage:

Satz 2.26 (Fundamentalsatz der Algebra)

Jedes Polynom vom Grad n ≥ 1 besitzt mindestens eine komplexe Nullstelle.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 89 / 367

Komplexe ZahlenZerlegung in Linearfaktoren

Von jedem Polynom p mit Grad n ≥ 1 kann man also einen Linearfaktor abspalten.Ist der verbleibende Rest mindestens vom Grad 1, kann man dies natürlich erneuttun usw. . .Wir halten fest:

Folgerung 2.27

Das Polynom p : C→ C sei gegeben durch

p(z) = anzn + an−1z

n−1 + . . .+ a1z + a0.

Dann existieren komplexe Zahlen w1, . . . , wn mit

p(z) = an(z − w1)(z − w2) . . . (z − wn). (2.3)

Jedes komplexe Polynom hat also sogar n Nullstellen (Vielfachheiten mitgezählt)und zerfällt vollständig in Linearfaktoren.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 90 / 367

Komplexe ZahlenQuadratische Gleichungen

Die Berechnung der Nullstellen gemäß Satz 2.26 und Folgerung 2.27 ist i. Allg. nurnumerisch möglich. Ausnahmen bilden n-te Wurzeln oder quadratische Gleichungenmit reellen Koeffizienten:

Satz 2.28

Die komplexen Lösungen der quadratischen Gleichung

z2 + pz + q = 0, p, q ∈ R,

sind gegeben durch

z1,2 =

−p2 ±√

p2

4 − q, falls p2

4 − q ≥ 0,

−p2 ± i√q − p2

4 , falls p2

4 − q < 0.

Verifizieren Sie den zweiten Fall durch Modifikation der bekannten Herleitung derp–q–Formel. Geben Sie die komplexen Lösungen von z2 − 4z + 5 = 0 an.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 91 / 367

Komplexe ZahlenNullstellen reeller Polynome

Das Auftreten konjugiert komplexer Zahlen in der p-q-Formel lässt sich verallgemei-nern:

Satz 2.29

Sind die Koeffizienten des Polynoms

p : C→ C, p(z) = anzn + an−1z

n−1 + . . .+ a1z + a0.

allesamt reell, so sind die Nullstellen reell (λj ∈ R) oder treten in konjugiertkomplexen Paaren (αj ± iβj , αj , βj ∈ R) auf. Es existiert eine Zerlegung der Form

p(z) = an

k∏

j=1

(z − λj)m∏

j=1

((z − αj)2 + β2j ), (2.4)

wobei k + 2m = n. Jedes reelle Polynom lässt sich also als Produkt vonLinearfaktoren und quadratischen Polynomen schreiben.

Geben Sie Zerlegungen von p(z) = z3 + z gemäß (2.3) und (2.4) an.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 92 / 367

Komplexe ZahlenExkurs: Komplexe Wechselstromrechnung

In der Wechselstromtechnik treten häufig sinus-/cosinusförmige Spannungs- bzw.Stromverläufe auf:

i(t) = Im cos(ωt)

u(t) = Um cos(ωt+ ϕ)

(Im, Um Amplituden, t Zeit, ω = 2πf Kreisfrequenz, f Frequenz (Netz in D:f = 50Hz))

Der Winkel ϕ charakterisiert die i.A. auftretende Phasenverschiebung zwischenStrom und Spannung.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 93 / 367

Komplexe ZahlenExkurs: Komplexe Wechselstromrechnung

Ursache für die Phasenverschiebung sind verschiedene „Arten“ von Widerständenim Wechselstromkreis:

Ohmscher Widerstand R:Um = RIm, keine Phasenverschiebung,

Induktivität L (Spule):Um = ωLIm, Phasenverschiebung π

2 ,Hintergrund Selbstinduktion/Lenzsches Gesetz,

Kapazität C (Kondensator):Um = 1

ωC Im, Phasenverschiebung -π2 ,Hintergrund: fortwährende Ladungs-/Entladungsvorgänge.

Es müssen also nicht nur die reellen Proportionalitätsfaktoren, sondern auch diePhasenverschiebungen beachtet werden.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 94 / 367

Komplexe ZahlenExkurs: Komplexe Wechselstromrechnung

Trick: Verwende zur Berechnung komplexe Ströme und Spannungen und interpre-tiere dabei nur den Realteil:

i(t) = Imeiωt, u(t) = Ume

i(ωt+ϕ).

Mit folgenden komplexen Widerständen R gilt dann das Ohmsche Gesetz u(t) =R i(t) auch hier:

Ohmscher Widerstand R ∈ R:

u(t) = Umeiωt = RIme

iωt = Ri(t),

Induktiver Widerstand RL = iωL:

u(t) = Umei(ωt+π

2 ) = iωL Imeiωt = RLi(t) (beachte i = ei

π2 )

Kapazitiver Widerstand RC = −i 1ωC :

u(t) = Umei(ωt−π2 ) = − i

ωCIme

iωt = RCi(t) (beachte − i = e−iπ2 )

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 95 / 367

Komplexe ZahlenExkurs: Komplexe Wechselstromrechnung

Für einen komplexen Widerstand R bezeichnet man ReR als Wirk- und ImR alsBlindwiderstand. Ohmsche Widerstände sind reine Wirkwiderstände, kapazitiveund induktive reine Blindwiderstände.

Vorteile der komplexen Wechselstromrechnung:

Das Ohmsche Gesetz gilt wie gewohnt (für die Realteile gilt es nicht!),Phasenverschiebung argR und Scheinwiderstand |R| = Um/Im werdengleichzeitig erfasst,Die Kirchhoffschen Gesetze und ihre Folgerungen gelten damit auch imWechselstromkreis, z. B.

R = R1 +R2 bzw.1

R=

1

R1+

1

R2

für Reihen-/Parallelschaltung zweier Widerstände.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 96 / 367

Komplexe ZahlenWeitere Anwendungen

Weitere Anwendungen der komplexen Zahlen finden sich an verschiedenstenStellen. Einige werden Sie im Laufe ihres Studiums sicher kennenlernen, z.B.

Die mit bestimmten Differentialgleichungen verknüpften „Eigenwerte“ sindkomplexe Zahlen. Standardanwendungen sind Federschwinger oderFadenpendel.In der Signal- oder Bildanalyse verwendet man oft die komplexwertigeFouriertransformierte, um Frequenzanalysen oder -filterungen durchzuführen.In der Quantenmechanik werden Teilchen durch ihre komplexwertigeZustandsfunktion beschrieben. Interpretiert wird nur deren Quadrat(„Ortsauffindungswahrscheinlichkeitsdichte“)

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 97 / 367

Ziele erreicht?

Sie sollten nun (bzw. nach Abschluss der Übungen/Nacharbeiten des Stoffes):sicher mit reellen Zahlen, Gleichungen und Ungleichungen umgehen können,sicher mit komplexen Zahlen umgehen können (Arithmetik in kartesischerund Polarform, Potenzen und Wurzeln, einfache Gleichungen,Veranschaulichungen in der Gaußschen Zahlenebene),einfache bis mäßig schwierige logische Zusammenhänge und Schlüsse erfassenkönnen,Überblickswissen über den Aufbau mathematischer Theorie im allgemeinenbesitzen,eine grobe Vorstellung vom axiomatischen Aufbau von Zahlenbereichenhaben,erste Vorstellungen entwickelt haben, wozu man das bisher vermittelteWissen in der Informatik/Elektrotechnik braucht.

Sie sind sich nicht sicher oder meinen „nein“? Dann werden Sie aktiv!

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 98 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 99 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen3.1 Folgen3.2 Grenzwerte und Konvergenz3.3 Unendliche Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 100 / 367

Folgen

Betrachten Sie folgende Liste von Zahlen:

1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, . . .

Erkennen Sie ein Gesetz, mit dem man die Liste sinnvoll fortsetzen kann?

Ist die Regel einmal erkannt, so können Sie mit diesem Gesetz zu jeder vorgegebenenPosition das zugehörige Element der Liste ausrechnen.

Jeder natürlichen Zahl („Position“) wird dabei eine reelle Zahl („Listenelement“)zugeordnet – es entsteht eine Abbildung

a : N→ R.

Solche Abbildungen heißen Zahlenfolgen. Sie spielen in vielen Anwendungen einegroße Rolle und liefern uns den Schlüssel zum Verständnis des Grenzwerts - deswohl wichtigsten Begriffs der Analysis.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 101 / 367

Folgen

Definition 3.1 (Zahlenfolge)

Eine Abbildung a, die jeder natürlichen Zahl n eine reelle Zahl an zuordnet, heißt(unendliche reelle) Zahlenfolge.

Statt a : N→ R schreibt man (an)n∈N oder kurz (an).an = a(n) heißt n-tes Folgenglied dieser Zahlenfolge.

Anmerkung: Wie schon beim Induktionsprinzip kann man als Indexmenge auchjede andere Menge der Form {n ∈ Z : n ≥ n0} für festes n0 ∈ Z benutzen.Insbesondere ist N0 zulässig.

Notation für diesen Fall: (an)n≥n0.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 102 / 367

FolgenBildungsgesetze

Die Beschreibung von Folgen erfolgt in der Regel durch Angabe von Bildungsgeset-zen.

Explizites Bildungsgesetz: Der Wert an wird mittels einer Gleichung in Abhän-gigkeit von n angeben (Funktionsvorschrift).

Beispiel: Die Bildungsvorschrift an = (−1)n 1n2 erzeugt die Folge

−1,1

4,−1

9,

1

16,− 1

25,

1

36,− 1

49,

1

64, . . .

Das 42-te Glied kann man direkt berechnen: a42 = (−1)42 1422 = 1

1764 .

Man gebe die ersten 7 Glieder der Folgen ( 12n ) und (n

√n) (ggf. näherungsweise)

an. Wie lautet das 1000-te Folgenglied?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 103 / 367

FolgenBildungsgesetze

Rekursionsvorschrift: Der Wert an+1 wird in Abhängigkeit von an und n ausge-drückt. Zusätzlich wird a1 angegeben (vgl. Induktionsprinizip).

Beispiel: Die Rekursionsvorschrift an+1 = an + n erzeugt die Folge

1, 2, 4, 7, 11, 16, 22, 29, . . .

Das Glied a42 = 903 über diese Vorschrift zu berechnen ist mühsam. (Später werdenwir sehen, wie dies explizit besser geht).

Man gebe die ersten 7 Glieder der durch an+1 = an2 und a1 = 1 gegebenen Folge

an. Können Sie eine explizite Bildungsvorschrift finden?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 104 / 367

FolgenBildungsgesetze

Gelegentlich greift man in Rekursionsformeln auch auf mehrere vorhergehende Glie-der zurück. Drückt man dabei an+m über an, . . . , an+m−1 aus, muss man m Start-werte angeben.

Beispiel: Die Rekursionsvorschrift für die Fibonacci-Zahlen

an+2 = an+1 + an, n ≥ 1, a1 = 1, a2 = 1,

erzeugt die Folge1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144, . . .

Diese Folge wurde von Leonardo da Pisa (Fibonacci), ca. 1180–1241, bei der ma-thematischen Modellierung einer Kaninchenpopulation entdeckt. Fibonacci gilt alseiner der bedeutendsten Mathematiker des Mittelalters.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 105 / 367

FolgenExkurs: Fibonacci-Zahlen in der Natur

Fibonacci-Zahlen finden sich häufig an Pflanzenteilen wieder. Grund ist die damiterreichbare hohe Lichtausbeute:

Die Anzahl von Blütenblättern ist oft eine Fibonacci-Zahl (Ringelblume 13,Aster 21, Sonnenblume, Gänseblümchen 21/34/55/89)Die Anzahl gewisser Spiralen in Blütenkörbchen (Sonnenblumen- kerne) oderbei Zapfen (Kiefer) ist häufig eine Fibonacci-Zahl

Bilder alle aus Wikimedia Commons, links: André Karwath aka Aka, Mitte: KENPEI,rechts: Dr. Helmut Haß, Koblenz / Wolfgang Beyer

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 106 / 367

FolgenBildungsgesetze

Anmerkung: Die Umwandlung von expliziter in rekursive Vorschrift und zurückkann schwierig sein. Es gibt Folgen, bei denen nur eine Form oder sogar gar keinBildungsgesetz bekannt ist.

Beispiel: Folge der Primzahlen

2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, . . .

Die Bestimmung z. B. des 42-ten Folgenglieds (181) ist hier ohne eine betreffendeListe sehr aufwändig.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 107 / 367

FolgenVisualisierung von Folgen

Darstellung des Graphen in der Ebene:

Der Graph einer Zahlenfolge (an) bestehtaus den diskret liegenden Punkten

(n, an), n ∈ N.

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 100

0.2

0.4

0.6

0.8

1

Mitunter ist es auch zweckmäßig, ledig-lich die Folgenglieder auf dem Zahlen-strahl darzustellen: −2 0 2 4 6

b1b2 b3b4 b5b6

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FolgenBeschränktheit und Monotonie

Definition 3.2

Eine Folge (an) heißt beschränkt, wenn es eine reelle Zahl C ≥ 0 gibt, so dass

|an| ≤ C für alle n ∈ N.

Eine Folge (an) heißt(streng) monoton wachsend, wenn an ≤ an+1 (bzw. an < an+1) für allen ∈ N,(streng) monoton fallend, wenn an ≥ an+1 (bzw. an > an+1) für alle n ∈ N,(streng) monoton, falls sie (streng) monoton wachsend oder fallend ist.

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FolgenBeschränktheit und Monotonie

Beispiele( 1n ) ist streng monoton fallend und beschränkt (C = 1).

( (−1)n

n ) ist nicht monoton, aber beschränkt (C = 1).(− 4

5 + 110n) ist streng monoton wachsend und unbeschränkt.

Bilder zu den drei Folgen:

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FolgenHinweis zum Rechnen

Oft ist es sinnvoll, statt an ≤ an+1 für monotones Wachstum eine der äquivalentenUngleichungen

an+1 − an ≥ 0 oderan+1

an≥ 1

zu verwenden (letztere nur, wenn alle an positiv sind!). Für monoton fallendeFolgen analog mit umgekehrtem Relationszeichen.

Untersuchen Sie die Folge(

2n

5n+2

)auf Monotonie und Beschränktheit. Führen Sie

die Monotonieuntersuchung mit beiden o. a. Ungleichungen durch.

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FolgenSpezielle Folgen

Definition 3.3 (Arithmetische Folge)

Eine Folge (an) heißt arithmetische Folge, falls die Differenz zweieraufeinanderfolgender Glieder immer den gleichen Wert ergibt, d.h.

an+1 − an = d

für eine Konstante d ∈ R.

Satz 3.4

Sei (an) eine arithmetische Folge mit an+1 − an = d (n ∈ N). Dann lautet dieexplizite Bildungsvorschrift:

an = a1 + (n− 1)d. (3.1)

Eine arithmetische Folge ist also durch Angabe des ersten Folgenglieds a1 und derDifferenz d eindeutig bestimmt.

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FolgenBeispiel

Mit a1 = 3 und d = −2 erhält man die Folge

3, 1,−1,−3,−5,−7,−9, . . .

Die zugehörige Bildungsvorschrift lautet

an = 3 + (n− 1) · (−2) = 5− 2n.

Geben Sie eine explizite Bildungsvorschrift zur arithmetischen Folge

2, 7, 12, 17, 22, 27, . . .

an. Berechnen Sie damit das 2013-te Folgenglied.

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FolgenSpezielle Folgen

Graphische Darstellung: Nach Satz 3.4 kann man eine arithmetische Folge alsEinschränkung der affin linearen Funktion

f : R→ R, f(x) = a1 + d(x− 1) = a1 − d+ dx

auf die natürlichen Zahlen auffassen. Die Punkte des Graphen liegen somit auf einerGeraden mit Anstieg d:

a1 = − 710, d = 1

10a1 = 2

5, d = 0 a1 = 1, d = − 1

6

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FolgenSpezielle Folgen

Definition 3.5 (Geometrische Folge)

Eine Folge (an) heißt geometrische Folge, falls der Quotient zweieraufeinanderfolgender Glieder immer den gleichen Wert ergibt, d.h.

an+1

an= q

für eine Konstante q ∈ R, q 6= 0.

Satz 3.6

Sei (an) eine geometrische Folge mit an+1/an = q (n ∈ N). Dann lautet dieexplizite Bildungsvorschrift:

an = a1qn−1. (3.2)

Eine geometrische Folge ist also durch Angabe des ersten Folgenglieds a1 und desQuotienten q eindeutig bestimmt.

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FolgenBeispiel

Mit a1 = 1 und q = 12 erhält man die Folge

1,1

2,

1

4,

1

8,

1

16,

1

32,

1

64, . . .

Die zugehörige Bildungsvorschrift lautet

an = 1 ·(

1

2

)n−1

=1

2n−1.

Wie lautet die explizite Bildungsvorschrift zur geometrischen Folge

2

3,

4

3,

8

3,

16

3,

32

3,

64

3, . . .?

Handelt es sich bei an = 4·3n−4

7n+1 (n ∈ N) um eine geometrische Folge?

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FolgenSpezielle Folgen

Graphische Darstellung: Nach Satz 3.6 kann man für q > 0 eine geometrischeFolge als Einschränkung der Funktion

f : R→ R, f(x) = a1qx−1 =

a1

qqx

auf die natürlichen Zahlen auffassen. Die Punkte des Graphen liegen für q > 0 somitauf dem Graphen einer Exponentialfunktion mit Basis q.

a1 = 1, q = 12(·) a1 = 1

10, q = 1.25 (·) a1 = 1, q = − 2

3

a1 = −1, q = 34(+) a1 = − 1

10, q = 1.2 (+)

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FolgenFolgen und Wachstumsprozesse

Arithmetische Folgen werden häufig verwendet, wenn es um einen konstanten Zu-wachs (lineares Wachstum) geht.

Geometrische Folgen benutzt man, wenn das Wachstum proportional zur Grund-menge erfolgt (exponentielles Wachstum).Ein typisches Beispiel ist die Zinseszinsformel Kn = K0(1 + p)n

(K0 Anfangskapital, p Zinssatz, Kn Kapital nach n Jahren).

An einer für Mitteleuropa typischen Stelle beträgt die Temperatur in 25m Tiefeetwa 10◦C. Schätzen Sie die Temperatur in 10 km Tiefe, indem Sie von einemZuwachs von 3K pro 100m ausgehen.

In einer Nährlösung befinden sich 1000 Einzeller, bei denen es durchschnittlich alle20min zur Teilung kommt. Schätzen Sie die Zahl der Einzeller nach 24 h beiungebremstem Wachstum ohne Tod.

Aufgaben auf diesem Frame frei nach Bigalke/Köhler: Mathematik, Band 1, Analysis.

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Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen3.1 Folgen3.2 Grenzwerte und Konvergenz3.3 Unendliche Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen

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Grenzwerte und Konvergenz

In einigen unserer Beispiele konnten wir feststellen, dass sich die Folgenglieder fürgroße n immer weiter an eine feste Zahl annähern. Mathematisch wird dies mit denBegriffen „Konvergenz“ und „Grenzwert“ gefasst.

Konvergenz ist ein grundlegendes Prinzip der Analysis. Der Grenzwertbegriff in sei-ner modernen Form wurde erstmals durch A.-L. Cauchy formuliert.

Augustin-Louis Cauchy (1789-1857),französischer Mathematiker,entwickelte u. a. die durch Leibniz und Newtonaufgestellten Grundlagen der Analysis weiter.

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Grenzwerte und KonvergenzDefinition

Definition 3.7 (Grenzwert)

Eine Zahl a heißt Grenzwert der Folge (an), wenn zu jedem ε > 0 ein Indexn0 ∈ N existiert, so dass

|an − a| < ε für alle n ≥ n0.

Besitzt die Folge (an) einen Grenzwert, so heißt sie konvergent, anderenfallsdivergent.

Schreibweisen:a = limn→∞ an

an → a für n→∞, oder kürzer: an → a.

Zum besseren Verständnis: Denken Sie vor allem an beliebig kleine ε > 0.

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Grenzwerte und KonvergenzGraphische und sprachliche Illustration des Begriffs

aa+ ε

a− ε

n0 = n0(ε)

Für hinreichend großes n liegen die Folgenglieder an beliebig nahe am Grenzwert a.

(Bild unten: Wikimedia Commons; Matthias Vogelgesang (Youthenergy))

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Grenzwerte und KonvergenzBeispiele, Eindeutigkeit

Beispiele:an = c → c: Sei ε > 0 gegeben. Dann gilt |an − c| = 0 < ε für alle n.an = 1

n → 0: Sei ε > 0 gegeben. Wähle ein n0 ∈ N mit n0 > 1/ε, dann gilt:

|an − 0| = |an| =1

n<

11ε

= ε für n ≥ n0.

an = n2+1n2 → 1: Sei ε > 0 gegeben. Wähle ein n0 ∈ N mit n0 > 1/

√ε, dann

gilt:

|an − 1| =∣∣∣∣n2 + 1

n2− 1

∣∣∣∣ =1

n2<

1(

1√ε

)2 = ε für n ≥ n0.

Satz 3.8Der Grenzwert einer konvergenten Zahlenfolge ist eindeutig bestimmt.

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Grenzwerte und KonvergenzNullfolgen

Definition 3.9 (Nullfolge)

Eine Folge (an) heißt Nullfolge, wenn an → 0 für n→∞.

Nullfolgen können für eine weitere Charakterisierung von Grenzwerten benutzt wer-den:

Satz 3.10Eine Folge (an)n∈N ist genau dann konvergent, wenn (an − a)n∈N eine Nullfolgeist.

Dabei vereinbaren wir, dass arithmetische Operationen auf Folgen immer gliedweisezu verstehen sind.

Beispiel: an = n+1n → 1, denn an − 1 = n+1

n − 1 = 1n → 0.

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Grenzwerte und KonvergenzCauchy-Folgen

Eng im Zusammenhang mit konvergenten Folgen steht folgender Begriff:

Definition 3.11 (Cauchy-Folge)

Eine Folge (an) heißt Cauchy-Folge, wenn zu jedem ε > 0 ein n0 ∈ N existiert, sodass

|an − am| < ε für alle n,m ≥ n0. (3.3)

Bei einer Cauchy-Folge liegen also die Glieder für hinreichend große Indizes beliebigeng beisammen.

Der Bezug zur Konvergenz von reellen Zahlenfolgen lautet:

Satz 3.12 (Cauchysches Konvergenzkriterium)

Eine reelle Zahlenfolge ist genau dann konvergent, wenn sie eine Cauchy-Folge ist.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 125 / 367

Grenzwerte und KonvergenzCauchy-Folgen

Die Konvergenz von Cauchy-Folgen in R resultiert aus der Vollständigkeit. Dieumgekehrte Aussage benötigt jedoch nur die Definition des Grenzwerts:

Zeigen Sie, dass jede konvergente Zahlenfolge (an) die Cauchy-Eigenschaft (3.3)besitzt.

Der Nutzen von Satz 3.12 liegt nicht in der konkreten Berechnung von Grenzwer-ten, sondern eher in theoretischen Betrachtungen und Entscheidungen über dasKonvergenzverhalten einer Folge an sich.

Begründen Sie mit Satz 3.12, dass eine arithmetische Folge mit d 6= 0 nichtkonvergent sein kann.

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Grenzwerte und KonvergenzBezug zu Monotonie und Beschränktheit

Satz 3.13

Jede konvergente Folge ist beschränkt.Jede beschränkte monotone Folge ist konvergent.

Finden Sie eine Folge die konvergent, aber nicht monoton ist.

Beweisen Sie Satz 3.13. Sie benötigen nur die Grenzwertdefinition und dieTatsache, dass jede beschränkte Menge in R ein Supremum besitzt.

Begründen Sie mit Satz 3.13, dass die Folge (qn)n∈N für q > 1 divergiert.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 127 / 367

Grenzwerte und KonvergenzRechnen mit konvergenten Folgen

Wir beginnen mit einigen Vergleichskriterien für Grenzwerte.

Satz 3.14Gilt an → a, bn → b, und ist fast immer an ≤ bn (d. h. durchweg ab einembestimmten Index), so gilt auch a ≤ b.

Achtung: Aus an < bn folgt dagegen i. a. nicht die strenge Beziehung a < b.Betrachte zum Beispiel die Folgen an = 1− 1

n und bn = 1 + 1n .

Folgerung 3.15 (Sandwichsatz)

Gilt an → a und bn → a, und gilt ferner fast immer an ≤ cn ≤ bn, so gilt auchcn → a.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 128 / 367

Grenzwerte und KonvergenzRechnen mit konvergenten Folgen

Folgerung 3.16

Ist (bn) Nullfolge und gilt fast immer |an| ≤ |bn|, so ist auch (an) eine Nullfolge.

Visualisierungen zu Folgerung 3.15 und 3.16:

bn

cn

an

|bn|

|an|

Für Nullfolgen gilt noch ein weiteres Ergebnis:

Satz 3.17Ist (an) Nullfolge und (bn) beschränkt, so ist (anbn) wieder eine Nullfolge.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 129 / 367

Grenzwerte und KonvergenzRechnen mit konvergenten Folgen

Für die Berechnung von Grenzwerten hilft meist auch folgender Satz:

Satz 3.18 (Rechenregeln für Grenzwerte)

Seien (an) und (bn) Zahlenfolgen mit an → a und bn → b. Dann gilt(1) an + bn → a+ b,(2) an − bn → a− b,(3) anbn → ab,(4) λan → λa für jede Konstante λ ∈ R.Ist weiterhin b 6= 0, so gibt es ein n0 ∈ N, so dass bn 6= 0 (n ≥ n0). Die Folge(bn)n≥n0

konvergiert mit(5) an

bn→ a

b .

Beispiel: Aus 1n → 0 folgt z. B. 2 + 5

n − 3n3 → 2 + 5 · 0− 3 · 03 = 2.

Man beweise Aussage (1) mit Hilfe der Grenzwertdefinition.Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 130 / 367

Grenzwerte und KonvergenzBestimmte Divergenz

Definition 3.19

Eine Folge (an) heißt bestimmt divergent gegen +∞ (Schreibweise an →∞ oderlimn→∞ an = +∞), wenn zu jeder Zahl C ∈ R ein n0 ∈ N existiert, so dass

an ≥ C für n ≥ n0.

Entsprechend heißt (an) bestimmt divergent gegen −∞ (Schreibweise an → −∞oder limn→∞ an = −∞), wenn zu jeder Zahl C ∈ R ein n0 ∈ N existiert, so dass

an ≤ C für n ≥ n0.

Beispiele: Es gilt n+ 4→ +∞ und −n2 + 3n→ −∞ für n→∞.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 131 / 367

Grenzwerte und KonvergenzBestimmte Divergenz

Einige Rechenregeln aus Satz 3.18 lassen sich teilweise auf bestimmt divergenteFolgen übertragen. Dazu definiert man:

c+∞ =∞+∞ =∞ für c ∈ R,c−∞ = −∞−∞ = −∞ für c ∈ R,c · ∞ =∞ ·∞ = (−∞) · (−∞) =∞ für c > 0,c · ∞ = (−∞) · ∞ =∞ · (−∞) = −∞ für c < 0,c · (−∞) = −∞ für c > 0,c · (−∞) =∞ für c < 0,c±∞ = 0 für c ∈ R.

Achtung: Ausdrücke wie ∞−∞, −∞+∞, ±∞±∞ , 0 · (±∞), ±∞0 sind unbestimmtund können nicht sinnvoll definiert werden.

Man finde Beispiele für Folgen vom Typ „0 · ∞“ mit Grenzwert 0, 1,−42,bestimmter Divergenz in beide Richtungen sowie nicht bestimmter Divergenz.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 132 / 367

Grenzwerte und KonvergenzBestimmte Divergenz

Wichtige Beispiele

Für αk, βl 6= 0 gilt

k∑j=0

αjnj

l∑j=0

βjnj=α0 + α1n+ . . .+ αkn

k

β0 + β1n+ . . .+ βlnl→

0, falls k < l;αkβl, falls k = l;

∞, falls k > l, αkβl > 0;−∞, falls k > l, αkβl < 0.

Beweisen Sie die Aussage, indem Sie jeweils die höchste in Zähler und Nennervorkommende Potenz von n ausklammern und dann die Grenzwertsätze anwenden.

Wie lauten die Grenzwerte der Folgen ( n+3n2+4n−1 ), ( n2+3

5n2−4n+1 ) und ( 4n3+1−8n+1 )?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 133 / 367

Grenzwerte und KonvergenzGeometrische Folge

Geometrische Folge:

qn →

0, für |q| < 1;1, für q = 1;+∞, für q > 1.

Für q ≤ −1 ist die Folge (qn) divergent, aber nicht bestimmt divergent (alternie-rendes Vorzeichen).

Man führe den Beweis für 0 < q < 1 mit Hilfe der Bernoulli-Ungleichung (vgl.S. 49) aus.

Für |q| < 1 gilt im übrigen sogar nkqn → 0 für alle k ∈ N. Das polynomielleWachstum von nk ist also schwächer als das exponentielle Abklingen von qn.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 134 / 367

Grenzwerte und KonvergenzGeometrische Folge

Weitere Beispiele:

nr →{

+∞, falls r > 0;0, falls r < 0.

n√c→ 1 für jede Zahl c > 0,

n√n→ 1,

(1 + 1n )n → e = 2.71828 . . .

(1 + xn )n → ex.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 135 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen3.1 Folgen3.2 Grenzwerte und Konvergenz3.3 Unendliche Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 136 / 367

Unendliche Reihen

Addieren wir von einer gegebenen Zahlenfolge (ak) die jeweils ersten Glieder, soentstehen Partialsummen (oder Teilsummen):

s1 = a1,

s2 = a1 + a2,

s3 = a1 + a2 + a3,...

sn = a1 + a2 + . . .+ an =

n∑

k=1

ak,

...

Diese Partialsummen bilden eine neue Folge (sn) und führen uns zum Begriff der(unendlichen) Reihe.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 137 / 367

Unendliche ReihenDefinition

Definition 3.20 (Reihe)

Sei (ak)k∈N eine Zahlenfolge. Dann heißt sn :=∑nk=1 ak die n-te Partialsumme

von (ak).

Die Folge (sn)n∈N wird Reihe mit den Gliedern ak genannt. Man verwendet für siedie Schreibweise

∑∞k=1 ak.

Eine Reihe∑∞k=1 ak heißt konvergent, wenn die zugehörige Partialsummenfolge

konvergiert, andernfalls divergent.

Gilt sn → s für n→∞, so schreibt man∞∑

k=1

ak = s

und bezeichnet s auch als Wert oder Summe der Reihe∑∞k=1 ak.

Anmerkung: Wie bei Folgen ist man bei den Indizes auch hier nicht auf den Start-wert 1 festgelegt.Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 138 / 367

Unendliche ReihenBeispiel: geometrische Reihe

Die Reihe∑∞k=1

12k

konvergiert gegen 1, wie folgende geometrische Betrachtungdeutlich macht:

12

14

18

116

132

Man schreibt also∑∞k=1

12k

= 1.

Es handelt sich hierbei um einen Spezialfall der geometrischen Reihe, die uns späternoch beschäftigen wird.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 139 / 367

Unendliche ReihenBeispiel

Die Partialsummen zur Folge (ak) mit ak = 1k(k+1) sind gegeben durch

sn = a1 + a2 + . . .+ an =1

1 · 2 +1

2 · 3 + . . .+1

n(n+ 1)= 1− 1

n+ 1.

Damit gilt sn → 1 für n→∞; wir schreiben also

∞∑

k=1

1

k(k + 1)= 1.

Beweisen Sie die Formel für die Partialsummen mittels vollständiger Induktion(Hausaufgabe).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 140 / 367

Unendliche ReihenBeispiel

Die zur Reihe∞∑

k=0

(−1)k = 1− 1 + 1− 1 + 1− 1 + . . . (3.4)

gehörige Partialsummenfolge ist (1, 0, 1, 0, 1, 0, 1, . . .) und die Reihe damit diver-gent.

Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass Reihen nicht einfach als „unendliche Sum-men“ aufgefasst werden können:

Paarweises Zusammenfassen benachbarter Glieder (1− 1 = 0) in (3.4) könnte zumBeispiel zu völlig falschen Schlüssen führen!

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 141 / 367

Unendliche ReihenBeispiel Dezimaldarstellung als Reihe

Seit Ihrer frühen Schulzeit verwenden Sie für reelle Zahlen auch die Dezimaldarstel-lung. Betrachtet man zum Beispiel die Zahl π, so gilt:

π = 3, 141529265 . . . = 3 +1

10+

4

102+

1

103+

5

104+ . . .

Allgemein lässt sich die Zifferndarstellung einer Dezimalzahl mit einer Vorkommas-telle und Ziffernfolge (zk) (zk ∈ {0, 1, . . . , 9}) als folgende Reihe auffassen:

z1, z2z3z4z5 . . . =z1

100+

z2

101+

z3

102+

z4

103+ . . . =

∞∑

k=1

zk10k−1

.

Die Basis 10 ist übrigens willkürlich gewählt (Anzahl der Finger).

Computer verwenden intern zumeist die Basis 2 (Dualzahlen), in Babylon verwen-dete man 60; bei den Indianern Südamerikas waren4, 8 und 16 als Basis gebräuchlich (Rechnen ohne Daumen).

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Unendliche ReihenPartialsummen arithmetischer Folgen

Erinnerung: Eine arithmetische Folge ist gekennzeichnet durch immer gleiche Dif-ferenz ihrer Folgenglieder.

Satz 3.21Sei (ak) eine arithmetische Folge mit ak+1 − ak = d (also mit ak = a1 + (k− 1)d,vgl. Satz 3.4). Dann gilt

sn =

n∑

k=1

ak =n

2(a1 + an) = n

(a1 +

1

2(n− 1)d

). (3.5)

Die zugehörige Reihe∑nk=1 ak ist daher immer divergent – mit Ausnahme des Falles

ak = 0 (k ∈ N) (d.h. a1 = 0 und d = 0).

Bei arithmetischen Folgen sind also nur die Partialsummen, aber nicht deren Grenz-werte interessant.

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Unendliche ReihenExkurs: Gaußsche Summenformel

Einen Spezialfall von (3.5) bildet die Formel („Kleiner Gauß“):n∑k=1

k =1

2n(n+ 1).

Sie war bereits den Babyloniern bekannt und wurde vom 9-jährigen C.F. Gauß bei der Schulaufgabe,die natürlichen Zahlen von 1 bis 100 zu addieren, wiederentdeckt.

Schema:1 2 3 4 . . . 99 100

100 99 98 97 . . . 2 1101 101 101 101 . . . 101 101

⇒100∑i=1

i =1

2· 100 · 101 = 5050.

Carl Friedrich Gauß (deutscher Mathematiker, Astronom,Geodät und Physiker, 1777-1855).U. a. ermöglichte die von ihm entwickelte Ausgleichsrechnungdie Wiederentdeckung des Kleinplaneten Ceres (1801).

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Unendliche ReihenGeometrische Reihe

Die Reihe zur geometrischen Folge ist eine der wichtigsten in der Mathematik über-haupt. Auch hier beginnen wir wieder mit einer Aussage über die Darstellung derPartialsummen:

Satz 3.22

Sei (ak) eine geometrische Folge mit ak+1/ak = q (also mit ak = a1qk−1, vgl.

Satz 3.6). Dann gilt

sn =

n∑

k=1

ak =

{a1

qn−1q−1 , falls q 6= 1;

na1, falls q = 1.(3.6)

Man beweise Satz 3.22 mittels vollständiger Induktion über n.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 145 / 367

Unendliche ReihenGeometrische Reihe

Mittels Grenzübergang n→∞ erhält man aus Formel (3.6):

Satz 3.23 (Geometrische Reihe)

Eine Reihe der Form∑∞k=1 a1q

k−1 heißt geometrische Reihe. Die geometrische Reihekonvergiert für |q| < 1, in diesem Falle gilt

∞∑

k=1

a1qk−1 = a1

1

1− q . (3.7)

Für |q| ≥ 1 ist die Reihe divergent.

Man berechne die Summen der Reihen∑∞k=1

37k−1 und

∑∞k=1

12k.

Bemerkung: In Tafelwerken finden Sie auch häufig die Formeln∞∑k=1

a1qk = a1

q

1− qund

∞∑l=0

a0ql = a0

1

1− q.

Diese erhält man aus (3.7) durch Multiplikation von a1 mit q bzw. durchIndexverschiebung l = k − 1.

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Unendliche ReihenHarmonische Reihe

Eine Reihe der Form∑∞k=1

1kα mit α > 0 wird harmonische Reihe genannt. Es

gilt: ∑∞k=1

1kα ist konvergent für alle α > 1.∑∞

k=11kα = +∞, d. h. die Reihe divergiert, für alle α ≤ 1.

Insbesondere sind also die Reihen∑∞k=1

1k und

∑∞k=1

1√kdivergent, während

∑∞k=1

1k2

konvergiert.

Die Divergenz von∑∞k=1

1k erfolgt dabei extrem langsam; hier einige Zahlenwerte

zur Illustration:

n 1 2 5 10 100 104 108

sn 1 1.5 2.2833 2.9290 5.1874 9.7876 18.9979

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Unendliche ReihenExkurs zur Divergenz der harmonischen Reihe

Die Divergenz von∑∞k=1

1k zeigt man durch Abschätzung der

Partialsummen für n = 2m:

s2m = 1+1

2+

(1

3+

1

4

)+

(1

5+

1

6+

1

7+

1

8

)+. . .+

(1

2m−1 + 1+. . .+

1

2m

)≥ 1+

1

2+

(1

4+

1

4

)︸ ︷︷ ︸

2 mal

+

(1

8+

1

8+

1

8+

1

8

)︸ ︷︷ ︸

4 mal

+. . .+

(1

2m+. . .+

1

2m

)︸ ︷︷ ︸

2m−1 mal

= 1 +1

2m →∞ für m→∞.

Die Partialsummenfolge enthält also eine divergente Teilfolge und ist damit selbstdivergent.

Dieser Beweisansatz findet sich übrigens bereits in mittelalterlicher Literatur (NicoleOresme, Frankreich, ≈ 1350).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 148 / 367

Unendliche ReihenRechnen mit konvergenten Reihen

Wendet man die Grenzwertsätze (Satz 3.18) auf Partialsummenfolgen an, erhältman:

Satz 3.24

Sind∑∞k=1 ak und

∑∞k=1 bk beide konvergent, so gilt:∞∑

k=1

(ak + bk) =

∞∑

k=1

ak +

∞∑

k=1

bk,

∞∑

k=1

(ak − bk) =

∞∑

k=1

ak −∞∑

k=1

bk,

∞∑

k=1

(λak) = λ

∞∑

k=1

ak für λ ∈ R.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 149 / 367

Unendliche ReihenAbsolute Konvergenz

Berechnen Sie den Grenzwert der Reihe∑∞k=1

(15k

+ 43k

)

Machen Sie sich anhand der Partialsummen klar, dass Aussagen analog zu Satz3.24 für

∑∞k=1(ak · bk) nicht gelten können.

Definition 3.25 (Absolute Konvergenz)

Eine Reihe∑∞k=1 ak heißt absolut konvergent, wenn

∑∞k=1 |ak| konvergiert.

Absolut konvergente Reihen sind besonders komfortabel – zum Beispiel darf mannur bei ihnen die Glieder beliebig umordnen, ohne den Grenzwert zu verändern.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 150 / 367

Unendliche ReihenAbsolute Konvergenz

Der folgende Satz liefert den Bezug zur „gewöhnlichen“ Konvergenz:

Satz 3.26

Eine absolut konvergente Reihe∑∞k=1 ak ist erst recht konvergent. Für sie gilt die

verallgemeinerte Dreiecksungleichung∣∣∣∣∣∞∑

k=1

ak

∣∣∣∣∣ ≤∞∑

k=1

|ak|.

Beispiele:∑∞k=1

(−1)k+1

k ist konvergent (Nachweis später), aber nicht absolut

konvergent. Es gilt∑∞k=1

(−1)k+1

k = ln 2.∑∞k=1

(−1)k+1

k2 ist absolut konvergent. Es gilt

0 ≤∑∞k=1(−1)k+1

k2 = π2

12 ≤ π2

6 =∑∞k=1

1k2 .

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 151 / 367

Unendliche ReihenKonvergenzkriterien

Mitunter stellt man lediglich die Frage nach der Konvergenz einer Reihe, ohne derenkonkreten Grenzwert berechnen zu wollen. Hierbei sind eine Reihe von Konvergenz-kriterien hilfreich.

Einen ersten Satz erhalten wir aus dem Cauchy-Kriterium für die Partialsummen-folge zu einer konvergenten Reihe

∑∞k=1 ak. Es gilt

|an| = |sn − sn−1| < ε für großes n

und daher

Satz 3.27 (Notwendiges Konvergenzkriterium)

Bei einer konvergenten Reihe∑∞k=1 ak bilden die Glieder eine Nullfolge, d. h.

ak → 0 für k →∞.

Kann die Reihe∑∞k=1

k2k+1 konvergieren? Gilt die Umkehrung von Satz 3.27?

Wenn nicht, finden Sie Gegenbeispiele.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 152 / 367

Unendliche ReihenAlternierende Reihen

Für alternierende Reihen (d. h. mit wechselndem Vorzeichen der Glieder) ist dasfolgende Kriterium häufig hilfreich:

Satz 3.28 (Leibniz-Kriterium)

Eine alternierende Reihe∑∞k=1(−1)kak konvergiert, wenn (ak) eine monotone

Nullfolge ist.

Was lässt sich über die Konvergenz der Reihen∑∞k=1

(−1)k√k

,∑∞k=1

(−1)k+1

k und∑∞k=1

(−1)k

2k3 sagen? Konvergieren diese Reihen auch absolut?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 153 / 367

Unendliche ReihenMajorantenkriterium

Nach Satz 3.13 ist eine Reihe mit nichtnegativen Gliedern genau dann konvergent,wenn ihre Partialsummenfolge beschränkt ist. Daraus folgen:

Satz 3.29 (Majorantenkriterium)

Ist∑∞k=1 bk eine konvergente Reihe mit nichtnegativen Gliedern, und gilt fast

immer |ak| ≤ bk, so konvergiert∑∞k=1 ak, und zwar sogar absolut.

Die Reihe∑∞k=1 bk wird dabei Majorante von

∑∞k=1 ak genannt.

Beispiel:∑∞k=1

1k2+k konvergiert, denn 1

k2+k ≤ 1k2 für alle k ∈ N, und

∑∞k=1

1k2

konvergiert.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 154 / 367

Unendliche ReihenMinorantenkriterium

Satz 3.30 (Minorantenkriterium)

Ist∑∞k=1 bk eine divergente Reihe mit nichtnegativen Gliedern, und gilt fast

immer ak ≥ bk, dann ist auch∑∞k=1 ak divergent.

Die Reihe∑∞k=1 bk wird dabei Minorante von

∑∞k=1 ak genannt.

Beispiel:∑∞k=1

1k+√kdivergiert, denn 1

k+√k≥ 1

k+k = 12k für alle k ∈ N,

und∑∞k=1

12k divergiert (harmonische Reihe).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 155 / 367

Unendliche ReihenQuotientenkriterium

Durch Verwendung von geometrischen Reihen als Majoranten bzw. Minoranten er-hält man zwei Kriterien, die häufig bei Reihengliedern mit Quotienten-/Potenzstrukturgreifen:

Satz 3.31 (Quotientenkriterium)

Gilt mit einer festen positiven Zahl q < 1 fast immer∣∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣∣ ≤ q,

so konvergiert die Reihe∑∞k=1 ak, und zwar sogar absolut. Gilt jedoch fast immer

∣∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣∣ ≥ 1,

so ist∑∞k=1 ak divergent.

Dabei ist natürlich vorauszusetzen, dass fast immer ak 6= 0 ist.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 156 / 367

Unendliche ReihenWurzelkriterium

Satz 3.32 (Wurzelkriterium)

Gilt mit einer festen positiven Zahl q < 1 fast immerk√|ak| ≤ q,

so konvergiert die Reihe∑∞k=1 ak, und zwar sogar absolut. Gilt jedoch fast immer

k√|ak| ≥ 1,

so ist∑∞k=1 ak divergent.

Achtung: Es reicht nicht, lediglich k√|ak| < 1 bzw.

∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣ < 1 nachzuweisen, umauf Konvergenz zu schließen!

Testen Sie dies am Beispiel∑∞k=1

k+1k .

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 157 / 367

Unendliche ReihenQuotienten- und Wurzelkriterium

Folgende Version von Quotienten- und Wurzelkriterium ist besonders handlich undwird in der Praxis am häufigsten verwendet:

Folgerung 3.33 (Quotienten- und Wurzelkriterium)

Konvergiert die Quotientenfolge (∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣) oder die Wurzelfolge ( k√|ak|) gegen

einen Grenzwert α, so ist die Reihe∑∞k=1 ak

(absolut) konvergent, wenn α < 1,divergent, wenn α > 1.

Bemerkung: Im Falle α = 1 liefern die Kriterien kein Ergebnis. Eine nähere Unter-suchung wird notwendig.

Warum ist Folgerung 3.33 eine unmittelbare Konsequenz der Sätze 3.31 und 3.32?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 158 / 367

Unendliche ReihenBeispiele zu Konvergenzkriterien

∑∞k=1

k2

2kkonvergiert, denn

∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣ = (k+1)2

k22k

2k+1 = 12 (1+ 1

k )2 → 12 .

∑∞k=1

kkk

konvergiert, denn k

√∣∣ kkk

∣∣ =k√kk → 0 (da k

√k → 1).

∑∞k=0

1k! konvergiert, denn

∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣ = k!(k+1)! = 1

k+1 → 0.

Dabei ist k! := 1 · 2 · . . . · k(k ∈ N), 0! := 1 (“k-Fakultät“).

Es konvergiert sogar∑∞k=0

xk

k! für beliebiges x ∈ R, denn∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣ =∣∣∣xk+1

xk· k!

(k+1)!

∣∣∣ = |x|k+1 → 0.

Wir werden diese Reihe später nutzen, um damit die Exponentialfunktion zudefinieren: ex :=

∑∞k=0

xk

k! .

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 159 / 367

Unendliche ReihenAusblick: Anwendungen in den Naturwissenschaften

In den Naturwissenschaften tauchen Reihen häufig in der Gestalt von Potenz- undFourierreihen auf (mehr dazu später).

Desweiteren werden wir im Kapitel Differentialrechnung den Satz von Taylor ken-nenlernen, welcher mit solchen Reihenentwicklungen im Zusammenhang steht.

Diese Sätze begründen u. a. folgende häufig verwendeten Näherungen für betrags-mäßig kleine x ∈ R:

sinx ≈ tanx ≈ x,cosx ≈ 1− 1

2x2,

11−x ≈ 1 + x, 1

1+x ≈ 1− x.

Zum Beispiel führt die erstgenannte Näherung auf die typischen Sinusschwingungenbeim Fadenpendel. Die Näherungen in der letzten Zeile beruhen auf geometrischenReihen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 160 / 367

Unendliche ReihenExkurs: Achilles und die Schildkröte

. . . ist ein bekannter Trugschluss (Paradoxon) des griechischen Philosophen Zenonvon Elea (ca. 490-430 v. Chr.).

Es wird behauptet, dass der Läufer Achilles niemals eine Schildkröte einholen kann,wenn sie einmal einen gewissen Vorsprung hat.

Folgende Argumentation:Wenn Achilles den Startpunkt der Schildkröte erreicht hat, hat diese einenneuen (kleineren) Vorsprung gewonnen,Wenn Achilles diesen neuen Vorsprung aufgeholt hat, ist die Schildkrötewieder ein Stück weiter vorn usw.

Was Zenon damit zeigen wollte, ist auch aufgrund der Quellenlage unklar. Fakt ist,dass die Vorstellungen von Grenzwert und Unendlichkeit in der Antike noch nichtgut ausgeprägt waren.

Lösen Sie das Paradoxon mit Ihrem neu erworbenen Wissen über Reihen auf.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 161 / 367

Ziele erreicht?

Sie sollten nun (bzw. nach Abschluss der Übungen/Selbststudium):wissen, was man unter Folgen und Reihen versteht,die Grenzwertdefinition tiefgehend verstanden haben und beherrschen(auswendig!),Grenzwerte von Folgen mit Hilfe der Grenzwertsätze sicher berechnen können,an einfachen Beispielen Vergleichskriterien anwenden können(gilt für Folgen und Reihen),über die Konvergenzeigenschaften von geometrischer und harmonischer Reihebescheidwissen,anhand von Konvergenzkriterien das Konvergenzverhalten von Reihenanalysieren können (mit besonderem Schwerpunkt auf den Sätzen 3.27 und3.28 sowie Folgerung 3.33).

Sie sind sich nicht sicher oder meinen „nein“? Werden Sie aktiv!

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 162 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 163 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen4.1 Grundlegende Eigenschaften4.2 Grenzwerte reeller Funktionen4.3 Stetigkeit4.4 Elementare Funktionen

PolynomeRationale FunktionenWurzel- und PotenzfunktionenExponential- und LogarithmusfunktionenTrigonometrische Funktionen und ArkusfunktionenHyperbel- und Areafunktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 164 / 367

Reelle Funktionen

In den nächsten Kapiteln werden wir uns mit Funktionen

f : Df →Wf

auseinandersetzen, bei denen sowohl der Definitions- als auch der WertebereichTeilmengen der reellen Zahlen sind (Df ,Wf ⊂ R).

Diese Funktionen nennen wir kurz reelle Funktionen.

Bereits in Abschnitt 1.5 hatten wir uns mit dem Funktionsbegriff auseinanderge-setzt. Alle dort bereits erarbeiteten Begriffe gelten natürlich auch für reelle Funk-tionen.

Allerdings ermöglichen die reellen Zahlen auch speziellere Strukturen. Erste Beiträgeliefert dieser Abschnitt.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 165 / 367

Reelle FunktionenMaximaler Definitionsbereich

Eine erste Konvention werden wir bezüglich der Notation treffen:

Ist zu einer reellen Funktion f lediglich die Bildungsvorschrift

x 7→ f(x)

angegeben, so wählen wir den Definitionsbereich Df ⊂ R so groß wie möglich.

Die so gewählte Menge Df heißt maximaler Definitionsbereich von f .

Man identifiziere die maximalen Definitionsbereiche für

f(x) = 4√x− 1,

g(x) = x7,

und h(x) =2x− 3 sinx

(x2 − 1)(x− 4).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 166 / 367

Reelle FunktionenMonotonie

Da Funktionswerte reeller Funktionen vergleichbar sind, lässt sich auch für reelleFunktionen Monotonie definieren:

Definition 4.1 (monotone Funktion)

Eine reelle Funktion f : Df → R heißt auf einem Intervall I ⊂ Df

(streng) monoton wachsend, wenn für alle x, y ∈ I mit x < y stets

f(x) ≤ f(y) (bzw. f(x) < f(y))

gilt,(streng) monoton fallend, wenn für alle x, y ∈ I mit x < y stets

f(x) ≥ f(y) (bzw. f(x) > f(y))

gilt,(streng) monoton, wenn sie (streng) monoton wachsend oder fallend ist.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 167 / 367

Reelle FunktionenGraphische Darstellung

Die graphische Darstellung reeller Funktionen erfolgt in der x-y-Ebene (Graph(f)ist eine Teilmenge von R2).

Beispiele:

I = Df

f

I = Dg

g

f ist auf Df streng monoton wachsend und g auf Dg monoton fallend (allerdingsnicht streng).Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 168 / 367

Reelle FunktionenUmkehrfunktion

Ist die reelle Funktionf : Df →Wf

bijektiv, dann existiert die Umkehrfunktion (auch inverse Funktion genannt)

f−1 : Wf → Df , f−1(y) = x :⇔ y = f(x).

Offenbar gilt(x, y) ∈ Graph(f) ⇔ (y, x) ∈ Graph(f−1),

weshalb der Graph von f−1 aus dem Graphen von f durch Spiegelung an der erstenWinkelhalbierenden y = x hervorgeht.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 169 / 367

Reelle FunktionenUmkehrfunktion

Beispiele:

Graphen von f : [0,∞)→ [0,∞), f(x) = x2 und h : (0,∞)→ (0,∞), h(x) = 1x

sowie der entsprechenden Umkehrfunktionen:

0 1 2 3 40

1

2

3

4

f(x)=x2

g(x)=x1/2

0 0.5 1 1.5 20

0.5

1

1.5

2

h(x)=1/x

Warum ist im Bild rechts nur ein Graph zu sehen?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 170 / 367

Reelle FunktionenUmkehrfunktion

Satz 4.2 (Monotonie und Umkehrfunktion)

Ist f : I → R streng monoton auf dem Intervall I, so ist f : I → f(I) bijektiv.Die Umkehrfunktion f−1 ist streng monoton wachsend (fallend), wenn f strengmonoton wachsend (fallend) ist.

Nach Satz 4.2 besitzt f(x) = x3 auf ganz R eine Umkehrfunktion. Wie lautetdiese? Zeichnen Sie die Graphen beider Funktionen.

Anmerkung: Die Umkehrfunktion in der Situation von Satz 4.2 ist sogar stetig(Stetigkeitsbegriff folgt noch).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 171 / 367

Reelle FunktionenOperationen mit Funktionen

Da uns in R die gewohnten Rechenoperationen zur Verfügung stehen, sind folgende„punktweisen“ Konstruktionen möglich:

Definition 4.3

Es seien f, g : D → R reelle Funktionen und α ∈ R.Wir definieren neue Funktionen

αf : D → R, (αf)(x) := αf(x),f ± g : D → R, (f ± g)(x) := f(x)± g(x),fg : D → R, (fg)(x) := f(x)g(x),f/g : D1 → R, (f/g)(x) := f(x)/g(x)

mit D1 = {x ∈ D : g(x) 6= 0}.

Achtung: f−1 und 1f sind nicht dasselbe.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 172 / 367

Reelle FunktionenOperationen mit Funktionen

Definition 4.4

Sind f : Df → R und g : Dg → R mit Wf ⊆ Dg, dann definieren wir dieKomposition oder Verkettung („g nach f “) von f mit g durch

g ◦ f : Df → R, (g ◦ f)(x) := g(f(x)).

Symbolische Skizze:

f g

g ◦ f

x

f(x)g(f(x))

Wfg(Wf)

Df

Dg Wg

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 173 / 367

Reelle FunktionenOperationen mit Funktionen

Achtung: Im allgemeinen ist g ◦ f 6= f ◦ g.

Beispiel: Für f(x) = x2 und g(x) = sinx ist(f ◦ g)(x) = f(g(x)) = (sinx)2 =: sin2 x (Bild links),(g ◦ f)(x) = g(f(x)) = sin(x2) (Bild rechts).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 174 / 367

Reelle FunktionenOperationen mit Funktionen

Der Übergang von x 7→ f(x) nach x 7→ f(x)+c bewirkt eine vertikale Verschiebungdes Graphen von f um c. Der Übergang von x 7→ f(x) nach x 7→ f(x− c) bewirkteine horizontale Verschiebung des Graphen um c.

−1 −0.5 0 0.5 1−1

−0.5

0

0.5

1

1.5

2

y=f(x)

y=f(x)+c

−1 −0.5 0 0.5 1 1.5−1

−0.5

0

0.5

1

y=f(x) y=f(x−c)

Formulieren Sie die beiden neu entstandenen Funktionen als Kompositionen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 175 / 367

Reelle FunktionenBeschränkte Funktionen

Definition 4.5

Eine reelle Funktion f : Df → R heißt nach oben (unten) beschränkt, wenn ihrWertebereich Wf ⊂ R nach oben (unten) beschränkt ist.

Eine Funktion heißt beschränkt, wenn sie sowohl nach oben als auch nach untenbeschränkt ist.

Für beschränkte Funktionen existiert also eine Konstante c > 0, so dass

|f(x)| ≤ c für alle x ∈ Df .

Sind die Funktionen f1(x) = x2, f2(x) = (x− 2)3,

f3(x) =1

x, f4(x) = sin(2x),

(nach oben/unten) beschränkt?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 176 / 367

Reelle FunktionenGerade und ungerade Funktionen

Definition 4.6

Eine reelle Funktion f : Df → R, für die mit jedem x ∈ Df auch −x ∈ Df gilt,heißt

gerade, wennf(x) = f(−x) für alle x ∈ Df ,

ungerade, wenn

f(x) = −f(−x) für alle x ∈ Df .

Graphisch äußern sich die Eigenschaften alsSpiegelsymmetrie bzgl. der y-Achse (gerade Funktionen),Punktsymmetrie am Ursprung (ungerade Funktionen).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 177 / 367

Reelle FunktionenGerade und ungerade Funktionen

Beispiele:

f(x) = |x| ist gerade (Bild links),g(x) = sinx ist ungerade (Bild rechts).

Sind die folgenden Funktionen gerade/ungerade?f1(x) = cosx, f2(x) = x5, f3(x) = x3 + 1, f4(x) = x2 − 1.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 178 / 367

Reelle FunktionenPeriodische Funktionen

Definition 4.7

Eine reelle Funktion f : Df →Wf heißt periodisch, wenn es eine Zahl a > 0 gibt(„Periode“), so dass mit jedem x ∈ Df auch x+ a ∈ Df gilt, und

f(x+ a) = f(x) für x ∈ Df . (4.1)

Aus (4.1) folgt sofort, dass auch

f(x+ na) = f(x) für alle x ∈ Df , n ∈ N,

gilt. Mit a ist also gleichzeitig auch na Periode.

Im Falle der Existenz gibt man daher häufig die kleinste Periode a > 0 an, um dasVerhalten der Funktion f möglichst gut zu beschreiben („primitive Periode“).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 179 / 367

Reelle FunktionenGraphische Darstellung

Funktion mit primitiver Periode P

Bild: Oleg Alexandrov, Wikimedia Commons

Sind folgende Funktionen periodisch? Wenn ja, geben Sie eine Periode, wennmöglich die primitive Periode an.

f1(x) = cos(2x), f2(x) = |x|, f3(x) = sinx+ cosx, f4(x) = 42.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 180 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen4.1 Grundlegende Eigenschaften4.2 Grenzwerte reeller Funktionen4.3 Stetigkeit4.4 Elementare Funktionen

PolynomeRationale FunktionenWurzel- und PotenzfunktionenExponential- und LogarithmusfunktionenTrigonometrische Funktionen und ArkusfunktionenHyperbel- und Areafunktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 181 / 367

Grenzwerte reeller Funktionen

Betrachten wir folgende drei Funktionen:

f1(x) = x2, f2(x) = sin( 1x

) (x 6= 0), f3(x) = 1x

(x 6= 0).

Offenbar zeigen die Funktionen bei Annäherung der x-Werte an den Nullpunkt völligverschiedenes Verhalten. Wir wollen ein mathematisches Instrument entwickeln, diesnäher zu beschreiben.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 182 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenHäufungspunkte

Definition 4.8

Eine Zahl ξ ∈ R heißt Häufungspunkt der Menge M ⊂ R, wenn es eine Folge(xn) mit Gliedern aus M gibt mit

xn → ξ für n→∞ und xn 6= ξ für alle n ∈ N.

Einem Häufungspunkt kann man sich also innerhalb der Menge M beliebig weitnähern, ohne ihn selbst zu erreichen.

Ein Häufungspunkt kann selbst zur Menge gehören, muss es aber nicht.

M ξ1ξ2

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 183 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenHäufungspunkte

Beispiele: Die für uns relevanten Beispiele für M sind vor allem Intervalle.

Die Menge der Häufungspunkte des offenen Intervalls (a, b) ist zum Beispiel dasabgeschlossene Intervall [a, b] (vgl. Skizze S. 183)

Man bestimme die Häufungspunkte der Mengen

M1 = (−∞, 42),

M2 = [a, b),

und M3 =

{1

n: n ∈ N

}⊂ R.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 184 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenInnere Punkte

Definition 4.9

Eine Zahl x ∈M heißt innerer Punkt der Menge M ⊂ R, wenn es ein ε > 0 gibt,so dass (x− ε, x+ ε) ⊂M .

a bM = [a, b]

x x+εx−ε

Von einem inneren Punkt aus kann man sich also ein kleines Stück „nach rechtsund nach links bewegen“, ohne die Menge M zu verlassen.

Man bestimme die inneren Punkte der Mengen

M1 = (a, b), M2 = [a, b] (mit a < b) und M3 =

{1

n: n ∈ N

}⊂ R.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 185 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenIsolierte Punkte

Definition 4.10

Eine Zahl x ∈M heißt isolierter Punkt der Menge M ⊂ R, wenn es ein ε > 0gibt, so dass (x− ε, x+ ε) ∩M = {x} gilt.

Mx1 x2

Isolierte Punkte gehören also selbst zur Menge, haben aber zum Rest derselbeneinen positiven Abstand.

Man bestimme, falls vorhanden, die isolierten Punkte der Mengen

M1 = (a, b), M2 =

{1

n: n ∈ N

}⊂ R,

N ⊂ R, Q ⊂ R.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 186 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenGrenzwertbegriff

Nun können wir das Verhalten einer Funktion bei Annäherung an einen Häufungs-punkt des Definitionsbereichs näher beschreiben.

Definition 4.11 (Grenzwert einer Funktion)

Sei f : Df → R eine reelle Funktion und ξ ∈ R Häufungspunkt desDefinitionsbereichs Df .

Die Zahl a heißt Grenzwert von f für x gegen ξ, wenn für alle Folgen (xn) ⊂ Df

mitxn → ξ für n→∞ und xn 6= ξ für alle n ∈ N (4.2)

gilt:f(xn)→ a für n→∞.

Schreibweise: limx→ξ

f(x) = a oder f(x)→ a für x→ ξ.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 187 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenSkizze zur Definition

f

ξ

a

f(ξ)

(xn)

(f(xn))

a = limx→ξ

f (x)

Definition 4.11 lässt sich problemlos auf die Fälle x→ ±∞ und a = ±∞ erweitern.In letzterem Fall sprechen wir von bestimmter Divergenz.Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 188 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenBeispiele

limx→2

x2 = 4, denn für jede Folge (xn) mit xn → 2 [also auch für die mit

xn 6= 2 (n ∈ N)] gilt x2n → 4.

limx→0

1x2 = +∞, denn für alle Folgen (xn) mit xn → 0 und xn 6= 0 (n ∈ N)

gilt x2n > 0 und x2

n → 0, d.h. 1x2n→∞.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 189 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenBeispiele

limx→0

sin( 1x ), existiert nicht. Beispielsweise gelten für xn = 1

(n+ 12 )π

die

Beziehungen xn → 0 und sin( 1xn

) = sin(n+ 12 )π = (−1)n.

Achtung: Das heißt nicht, dass keine konvergenten Folgen vonFunktionswerten im Kontext von Definition 4.11 existieren. Für xn = 1

nπgelten z. B. xn → 0 und sin( 1

xn) = sinnπ = 0→ 0.

Es reicht aber ein Gegenbeispiel, um die Konvergenz auszuschließen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 190 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenWeitere Beispiele

Existieren folgende Grenzwerte? Wenn ja, bestimmen Sie sie.

limx→−1

(x3 + 2x2 + 1),

limx→2

1x2−4 , lim

x→0

1x2−4 ,

limx→0

1x ,

limx→−1

x2−1x+1 .

Man zeichne Skizzen der betreffenden Funktionsgraphen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 191 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenEinseitige Grenzwerte

Lässt man in Definition 4.11 in (4.2) statt Folgen (xn) mit xn 6= ξ nur Folgen mitxn > ξ (bzw. xn < ξ) zu, so entsteht ein rechtsseitiger (linksseitiger) Grenzwert.

Schreibweise: Für den rechtsseitigen Grenzwert:

limx→ξ+

f(x) = a oder f(x)→ a für x→ ξ + .

bzw. für den linksseitigen Grenzwert:

limx→ξ−

f(x) = a oder f(x)→ a für x→ ξ − .

Dabei ist vorauszusetzen, dass man sich dem Punkt ξ von rechts (links) aus Df

heraus nähern kann, d. h. dass ξ Häufungspunkt von Df ∩ (ξ,∞) (bzw. Df ∩(−∞, ξ)) ist.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 192 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenEinseitige Grenzwerte

Einseitige Grenzwerte sind somit einfach die Grenzwerte der auf Df ∩ (ξ,∞) bzw.Df ∩ (−∞, ξ) eingeschränkten Funktion f .

f

ξ

a

a = limx→ξ+

f (x)

fb

ξ

b = limx→ξ− f (x)

Bei der Untersuchung einseitiger Grenzwerte lässt man also jeweils den im grauschraffierten Teil liegenden Teil der Funktion unbeachtet.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 193 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenEinseitige Grenzwerte

Beispiele:limx→0+

1x = +∞, denn für jede Folge (xn) mit xn → 0 mit xn > 0 (n ∈ N) gilt

1xn→ +∞,

limx→0−

1x = −∞, denn für jede Folge (xn) mit xn → 0 mit xn < 0 (n ∈ N) gilt

1xn→ −∞,

limx→2+

x2 = limx→2−

x2 = limx→2

x2 = 4.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 194 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenEinseitige Grenzwerte

Weitere Beispiele:

Existieren die folgenden einseitigen Grenzwerte? Wenn ja, wie lauten sie?limx→0+

1√x,

limx→0+

|x|, limx→0−

|x|,

limx→0+

sgn(x), limx→0−

sgn(x).

Dabei bezeichnet sgn : R→ R die sogenannte Signum- oder Vorzeichenfunktion:

sgn(x) :=

−1, für x < 0;0, für x = 0;1, für x > 0.

Zeichnen Sie wieder Bilder der Funktionsgraphen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 195 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenEinseitige Grenzwerte

Zwischen dem Grenzwert und den einseitigen Grenzwerten gibt es eine Beziehung,die sofort einleuchtet:

Satz 4.12

Sei f : Df → R und ξ ein Häufungspunkt sowohl von Df ∩ (ξ,∞) als auch vonDf ∩ (−∞, ξ). Dann gilt:

Der Grenzwert limx→ξ

f(x) existiert genau dann, wenn die beiden Grenzwerte

limx→ξ+

f(x) und limx→ξ−

f(x) existieren und übereinstimmen.

Existiert limx→0|x|, und was ergibt sich ggf. für ein Wert? Argumentieren Sie mit

Satz 4.12 und den Erkenntnissen vom Beispiel auf Seite 195.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 196 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenRechnen mit Grenzwerten

Da Grenzwerte von Funktionen auf Grenzwerte von Folgen zurückführen, übertragensich die Grenzwertsätze aus Abschnitt 2.

Satz 4.13 (Grenzwertsätze für reelle Funktionen)

Unter Vorraussetzung der Existenz der betreffenden Grenzwerte gelten jeweils fürx→ ξ die Regeln:

lim(cf)(x) = c lim f(x) für alle c ∈ R,lim(f ± g)(x) = lim f(x)± lim g(x),lim(f · g)(x) = (lim f(x)) · (lim g(x))

lim( fg )(x) = lim f(x)lim g(x) , falls lim g(x) 6= 0,

f ≤ g ⇒ lim f(x) ≤ lim g(x).Hierbei ist auch ξ = ±∞ erlaubt. Für einseitige Grenzwerte gelten die Regeln inanaloger Weise.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 197 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenRechnen mit Grenzwerten

Mit den auf Seite 132 getroffenen Definitionen (∞ +∞ = ∞, ∞ · ∞ = ∞ etc.)gelten die Aussagen von Satz 4.13 auch für den Fall bestimmter Divergenz.

Wie schon bei den Folgen muss aber darauf geachtet werden, dass die entstehendenAusdrücke sinnvoll definiert sind.

Bestimmen Sie (falls existent) folgende Grenzwerte:limx→2

(x3 + x),

limx→∞

(2x+ 1x ),

limx→−1

(cos(πx) + x2−1x+1 ),

limx→0

(x sin 1x ),

Argumentieren Sie beim Kosinus mit der graphischen Darstellung.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 198 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenSprungstellen

Definition 4.14

Existieren zu einer reellen Funktion die beiden Grenzwerte limx→ξ+

f(x) und

limx→ξ−

f(x), und sind sie endlich aber verschieden, so nennt man ξ eine

Sprungstelle von f .

f

ξ

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 199 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenSprungstellen

Ein bemerkenswertes Ergebnis gilt nun für monotone Funktionen:

Satz 4.15

Seien I = (a, b) ein Intervall, f : I → R monoton auf I und ξ ∈ I. Dannexistieren limx→ξ− f(x) und limx→ξ+ f(x) und es gelten

−∞ < limx→ξ−

f(x) ≤ f(ξ) ≤ limx→ξ+

f(x) <∞,

wenn f monoton wachsend ist, und

∞ > limx→ξ−

f(x) ≥ f(ξ) ≥ limx→ξ+

f(x) > −∞,

wenn f monoton fallend ist.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 200 / 367

Grenzwerte reeller FunktionenUnendlichkeitsstellen

Gilt für eine reelle Funktion f mindestens eine der Beziehungen limx→ξ+

f(x) = ±∞oder lim

x→ξ−f(x)±∞, so nennt man ξ eine Unendlichkeitsstelle von f .

Vor allem bei rationalen Funktionen f(x) = p(x)q(x) , wobei p und q Polynome sind,

spricht man auch von Polstellen.

f(x) = 1x(links)

g(x) = 1x2

(rechts)

Achtung: Der Sprachgebrauch in der Literatur ist, was Unendlichkeits- und Pol-stellen betrifft, nicht einheitlich.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 201 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen4.1 Grundlegende Eigenschaften4.2 Grenzwerte reeller Funktionen4.3 Stetigkeit4.4 Elementare Funktionen

PolynomeRationale FunktionenWurzel- und PotenzfunktionenExponential- und LogarithmusfunktionenTrigonometrische Funktionen und ArkusfunktionenHyperbel- und Areafunktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 202 / 367

Stetigkeit

In vielen naturwissenschaftlichen Modellen führen kleine Änderungen an den Da-ten (z.B. durch Rundungs-/Messfehler) auch nur zu kleinen Änderungen in denErgebnissen nach Anwendung des Modells.

Mathematisch wird dieser Zusammenhang durch das Konzept der Stetigkeit erfasst.

Dieses geht auf Augustin-Louis Cauchy (1789-1857) und Bernard Bolzano (1781-1848) zurück und wurde später von Karl Weierstraß (1815-1897) präzisiert (v.l.n.r.).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 203 / 367

StetigkeitDefinition

Definition 4.16 (Stetigkeit)

Eine reelle Funktion f : Df → R heißt stetig an der Stelle ξ ∈ Df , wenn für alleFolgen (xn) ⊂ Df mit xn → ξ die zugehörigen Funktionswerte konvergieren mitf(xn)→ f(ξ).

f heißt stetig in M ⊆ Df , wenn f an jeder Stelle ξ ∈M stetig ist.

Als Abgrenzung zum Grenzwertbegriff (Def. 4.11) beachte man, dass hier ξ ∈ Df

gelten muss, und auch Folgenglieder mit xn = ξ zugelassen sind.

BeispielDie Funktion f(x) = x2 ist stetig an der Stelle ξ = 2, denn für jede Folge(xn) mit xn → 2 gilt: f(xn) = x2

n → 4 = f(2).

Die Funktion f(x) = x2 ist sogar stetig auf ganz R, denn für beliebiges(festes) ξ ∈ R und jede Folge (xn) mit xn → ξ gilt:f(xn) = x2

n → ξ2 = f(ξ).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 204 / 367

StetigkeitStetigkeit und Grenzwert

Ein sorgfältiger Vergleich der Definitionen 4.16 und 4.11 liefert folgenden Zusam-menhang zwischen Stetigkeit und Grenzwert:

Satz 4.17

Sei f : Df → R eine reelle Funktion und ξ ∈ Df ein Häufungspunkt∗ von Df .Dann gilt:

f ist stetig in ξ ⇔ limx→ξ

f(x) = f(ξ). (4.3)

Der Grenzwert von f für x → ξ muss also mit dem Funktionswert an der Stelle ξübereinstimmen.

∗) Anmerkung:In isolierten Punkten des Definitionsbereichs sind Funktionen dagegen immer stetig. Für die Praxisist dies jedoch belanglos.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 205 / 367

StetigkeitStetigkeit und Grenzwert

In der Praxis verwendet man zum Testen auf Stetigkeit statt (4.3) auch häufig dieBeziehung

limx→ξ−

f(x) = f(ξ) = limx→ξ+

f(x)

die durch Kombination von (4.3) mit Satz 4.12 entsteht.

Man untersuche die Funktion f(x) = |x| auf Stetigkeit im Punkt ξ = 0. Was lässtsich über die Stetigkeit von f auf R sagen?

Für welche Wahl des Parameters α ∈ R ist die folgende Funktion stetig?

f(x) =

{1 + αx, für x < 0;x2 + α2, für x ≥ 0.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 206 / 367

Stetigkeitε-δ-Definition

Häufig wird die Stetigkeit auch über eine zu Definition 4.16 äquivalente Formulie-rung eingeführt:

Satz 4.18 (ε-δ-Version der Stetigkeit)

Eine reelle Funktion f : Df → R ist genau dann stetig in ξ ∈ Df , wenn zu jedemε > 0 ein δ > 0 existiert, so dass

x ∈ Df und |x− ξ| < δ ⇒ |f(x)− f(ξ)| < ε.

Für konkrete Rechnungen sind Definition 4.16 oder Satz 4.17 häufig bequemer(überzeugen Sie sich am Beispiel von S. 204 selbst).

Allerdings vermittelt uns Satz 4.18 die bessere Vorstellung, was Stetigkeit praktischbedeutet.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 207 / 367

StetigkeitGraphische und sprachliche Interpretation

f(ξ)f(ξ) + ε

f(ξ)− ε

ξ ξ + δξ − δ

f

(Hinreichend) kleine Änderungen an den Argumenten führen zu (beliebig)kleinen Änderungen an den Funktionswerten.Die Funktionswerte lassen sich durch hinreichend feines „Justieren“ derArgumente beliebig fein „einstellen“.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 208 / 367

StetigkeitEine weitere anschauliche Interpretation

Der Graph einer auf einem Intervall stetigen Funktion bildet eine zusammenhän-gende Kurve. (Achtung: Zusammenhang mathematisch zu definieren ist gar nichtso einfach!)

Daher wird manchmal salopp geschrieben, dass man Funktionsgraphen stetigerFunktionen zeichnen kann, „ohne den Stift abzusetzen“.

Dies ist unmathematisch, unsauber (es gibt zusammenhängende Kurven, die mannicht zeichnen kann, vgl. Bild rechts), und erfasst auch nicht das gesamte Wesender Stetigkeit. Trotzdem liefert es uns eine gewisse Vorstellung.

f(x) = sin x.

g(x) =

{x sin( 1

x ), x 6= 0;0, x = 0.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 209 / 367

StetigkeitEigenschaften stetiger Funktionen

Der folgende Satz ergibt sich durch Kombination der Grenzwertsätze für Funktionen(Satz 4.13) mit Definition 4.16.

Satz 4.19

Sind f, g stetig in ξ, dann sind auch f + g, f − g, fg stetig in ξ. Gilt g(ξ) 6= 0,dann ist auch f/g stetig in ξ.

Ist f stetig in ξ und ist g stetig in f(ξ), so ist g ◦ f stetig in ξ.

Beispiel: Die Funktionen f1(x) = x2, f2(x) = |x| und f3(x) = 42 sind auf ganz Rstetig. Daher sind beispielsweise auch g1(x) = 42 · |x| · x2 und g2(x) = 1

42 |x|+ x2

und g3(x) = x6 stetig auf R.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 210 / 367

StetigkeitStetigkeit der Umkehrfunktionen, Zwischenwertsatz

Für Umkehrfunktionen gilt:

Satz 4.20

Sei I ⊆ R ein Intervall. Die Funktion f : I → R besitze eine Umkehrfunktionf−1 : f(I)→ I. Ist f stetig in I, so ist f(I) ein Intervall und f−1 stetig in f(I).

Da – wie eben bemerkt – das Bild eines Intervalls unter einer stetigen Funktionwieder ein Intervall ist, ergibt sich sofort:

Satz 4.21 (Zwischenwertsatz)

Ist f : [a, b]→ R stetig, dann gibt es zu jedem w, das zwischen f(a) und f(b)liegt, ein z ∈ [a, b] mit f(z) = w.

Anders ausgedrückt: Eine stetige Funktion f nimmt jeden Wert zwischen f(a) undf(b) an.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 211 / 367

StetigkeitNullstellensatz

Ein Spezialfall von Satz 4.21 ist:

Folgerung 4.22 (Nullstellensatz)

Ist f : [a, b]→ R stetig, und gilt f(a) > 0 und f(b) < 0 (bzw. f(a) < 0 undf(b) > 0), so hat f mindestens eine Nullstelle in (a, b).

Visualisierungen

f

a b

f(a)

f(b)

w

z

f

a

bf(a)

f(b)

Zwischenwertsatz Nullstellensatz

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 212 / 367

StetigkeitExkurs: Intervallhalbierungsverfahren

Sei f : [a, b] → R stetig mit f(a)f(b) < 0 (verschiedenes Vorzeichen). Nach demNullstellensatz gibt es in (a, b) eine Nullstelle z von f .

Algorithmus:

Setze a1 = a und b1 = b.Für n = 1, 2, . . .

h = (an + bn)/2.Ist f(h) = 0, so haben wir eine Nullstelle von f gefunden.Ist f(h)f(an) > 0, setze an+1 = h, bn+1 = bn.Ist f(h)f(an) < 0, setze an+1 = an, bn+1 = h.

Die entstehenden Folgen (an) und (bn) konvergieren gegen einen gemeinsamenGrenzwert z, der eine Nullstelle von f ist.

Überlegen Sie sich, warum das so ist.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 213 / 367

StetigkeitBeispiel

Gesucht ist eine Lösung der Gleichung −x = ex, d. h. eine Nullstelle vonf(x) = x+ ex. Eine Lösung durch Umstellen nach x ist hier unmöglich.

Wir verwenden das Intervallhalbierungsverfahren. Da f(0) = 1 und f(−1) =−0.6321 . . ., können wir mit a = −1 und b = 0 starten. Natürlich wird man dasVerfahren auf einem Rechner implementieren.

Ergebnisse:

n an bn bn − an1 −1 0 12 −1 −0.5 1

2= 0.5

......

......

11 −0.56738281 . . . −0.56640625 1210≈ 9.77 · 10−4

......

......

21 −0.56714344 . . . −0.56714248 . . . 1220≈ 9.54 · 10−7

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 214 / 367

StetigkeitExtremalwerte stetiger Funktionen

Satz 4.23

Ist f : [a, b]→ R stetig, dann gibt esein xmax ∈ [a, b] mit f(xmax) ≥ f(x) für alle x ∈ [a, b]

ein xmin ∈ [a, b] mit f(xmin) ≤ f(x) für alle x ∈ [a, b].

Anders ausgedrückt: Jede auf [a, b] stetige Funktion nimmt auf [a, b] Maximum undihr Minimum an.

Vorsicht: Die Aussage wird falsch, wenn der Definitionsbereich von f nicht abge-schlossen oder unbeschränkt ist.

An welchen Stellen nimmt die Funktion f : [−2, 4]→ R, f(x) = x2 Maximumund Minimum an? Wie ändert sich die Situation, wenn man f stattdessen auf(−2, 4), (−2, 4] oder [−2, 4) betrachtet?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 215 / 367

StetigkeitUnstetigkeitsstellen

Eine Stelle ξ ∈ Df , an der eine Funktion f : Df → R nicht stetig ist, heißtUnstetigkeitsstelle von f .

Handelt es sich dagegen bei ξ um eine Definitionslücke, kann man lediglich überstetige Fortsetzbarkeit von f entscheiden.

Beispiel:f : R \ {0} → R, f(x) = 1

x , ist auf dem ganzen Definitionsbereich stetig,aber in 0 nicht stetig fortsetzbar.

f : R→ R, f(x) =

{1x , (x 6= 0);42, (x = 0). ist dagegen unstetig in 0 und sonst

stetig.

Achtung: In der Literatur werden die Begriffe „unstetig“ und „nicht stetig fortsetz-bar“ mitunter unschön vermengt.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 216 / 367

StetigkeitTypische Vertreter von Unstetigkeitsstellen

Sprungstellen: u. a. Vorkommen bei Ein- und Ausschaltvorgängen oderModellierung von Materialparametern an Materialgrenzen,Unendlichkeitsstellen/Pole: u.a. Vorkommen bei der Beschreibung vonKräften und deren Potentialen, bspw. bei Gravitations- und Coulomb-Kraft(F (r) = c1r

−2, V (r) = c2r−1).

(Dies sind jedoch keineswegs die einzigen Arten von Unstetigkeiten.)

Regel: Tritt in einem mathematischen Modell eine Unstetigkeit (oder fehlende ste-tige Fortsetzbarkeit) auf, sollte sich auch der Praktiker immer Gedanken über evtl.Auswirkungen machen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 217 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen4.1 Grundlegende Eigenschaften4.2 Grenzwerte reeller Funktionen4.3 Stetigkeit4.4 Elementare Funktionen

PolynomeRationale FunktionenWurzel- und PotenzfunktionenExponential- und LogarithmusfunktionenTrigonometrische Funktionen und ArkusfunktionenHyperbel- und Areafunktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 218 / 367

Elementare FunktionenPolynome

Wir werden in diesem Abschnitt ein Standardrepertoire von Funktionen zur Verfü-gung stellen, die in Mathematik und Naturwissenschaften häufig benötigt werden.

Bei all diesen Beispielen handelt es sich um stetige Funktionen.

Polynome: Eine Funktion der Form

x 7→ f(x) = a0 + a1x+ a2x2 + · · ·+ an−1x

n−1 + anxn,

a0, a1, . . . , an−1, an ∈ R, an 6= 0, heißt ganzrational oder Polynom. Die Zahlen aiheißen Koeffizienten von f , die Zahl n heißt Grad von f (Abkürzung: grad(f)).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 219 / 367

Elementare FunktionenLineare Funktionen

Polynome vom Grad 1,f(x) = a0 + a1x,

heißen (affin) lineare Funktionen. Der Graph von f ist eine Gerade durch (0, a0)mit Anstieg a1.

In Vorbereitung auf die Differentialrechnung bemerken wir:Zu gegebenem Punkt (x0, f(x0)) und Anstieg a1 erhält man die lineareFunktion

f(x) = f(x0) + a1(x− x0).

Durch zwei verschiedene gegebene Punkte (x0, f(x0)) und (x1, f(x1))„führt“ die lineare Funktion

f(x) = f(x0) +f(x1)− f(x0)

x1 − x0(x− x0).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 220 / 367

Elementare FunktionenQuadratische Funktionen

Polynome vom Grad 2,

f(x) = a0 + a1x+ a2x2 = a2

(x+

a1

2a2

)2

+

(a0 −

a21

4a2

),

heißen quadratische Funktionen.

Sie besitzen als Graph eine Parabel mit Scheitel (x0, y0),

x0 = − a1

2a2, y0 = a0 −

a21

4a2,

die für a2 > 0 nach oben und für a2 < 0 nach unten offen ist.

Lineare und quadratische Funktionen wurden intensiv in Vorkurs und Schulebehandelt. Schließen Sie evtl. Lücken selbständig.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 221 / 367

Elementare FunktionenNullstellen von Polynomen

Nach dem Fundamentalsatz der Algebra (Sätze 1.26/29) existiert zu einem Polynomvom Grad n eine Faktorisierung

f(x) = an

k∏

j=1

(x− λj)µjm∏

j=1

(x2 + pjx+ qj

)νj, (4.4)

wobei∑kj=1 µj +2

∑mj=1 νj = n. Die quadratischen Faktoren besitzen keine reellen

Nullstellen, und die Ausdrücke in den Klammern sind paarweise verschieden.

Die Zahlen λj sind gerade die Nullstellen von f . Die Zahl µj heißt Vielfachheit derNullstelle λj .

Jedes Polynom von ungeradem Grad besitzt somit mindestens eine Nullstelle. EinPolynom vom Grad n besitzt höchstens n Nullstellen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 222 / 367

Elementare FunktionenVerhalten von Polynomen im Unendlichen

Wenn grad(f) > 0, so gilt

limx→∞

f(x) =

{∞, falls an > 0,−∞, falls an < 0

sowie

limx→−∞

f(x) =

∞, falls n gerade und an > 0oder falls n ungerade und an < 0,

−∞, falls n ungerade und an > 0oder falls n gerade und an < 0.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 223 / 367

Elementare FunktionenRationale Funktionen

Eine Funktion der Form

f(x) =a0 + a1x+ · · ·+ amx

m

b0 + b1x+ · · ·+ bnxn=pm(x)

qn(x)(4.5)

(mit am 6= 0, bn 6= 0) heißt (gebrochen) rationale Funktion.

pm(x) = a0 + a1x+ · · ·+ amxm heißt Zählerpolynom von f,

qn(x) = b0 + b1x+ · · ·+ bnxn heißt Nennerpolynom von f.

Rationale Funktionen sind bis auf die Nullstellen des Nennerpolynoms qn (Pole,Lücken) überall definiert.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 224 / 367

Elementare FunktionenNull- und Polstellen rationaler Funktionen

Wir setzen im weiteren voraus, dass Zählerpolynom p und Nennerpolynom q keinegemeinsamen Nullstellen haben∗.

Die Nullstellen von f sind dann gerade die Nullstellen des Zählerpolynoms p.

Ist x0 ∈ Df eine Nullstelle (mit Vielfachheit k) des Nennerpolynoms q, so heißtx0 Pol (k-ter Ordnung) von f . Es gilt

limx→x0

| f(x) | =∞.

Dabei hat f bei x0

einen Vorzeichenwechsel, wenn k ungerade ist,keinen Vorzeichenwechsel, wenn k gerade ist.

∗) Andernfalls kann man die betreffenden Linearfaktoren kürzen und „füllt“ ggf.die Definitionslücke „auf“. Betrachte z. B. f(x) = x2−1

x−1=

(x−1)(x+1)x−1

.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 225 / 367

Elementare FunktionenNull- und Polstellen rationaler Funktionen

Interpretieren Sie das folgende Schaubild der Funktion

f(x) =5x2 − 37x+ 54

x3 − 6x2 + 9x=

5(x− 2)(x− 27/5)

x(x− 3)2

im Hinblick auf die gewonnenen Erkenntnisse über Null- und Polstellen.

−8 −4 0 4 8−8

−4

0

4

8

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 226 / 367

Elementare FunktionenVerhalten rationaler Funktionen im Unendlichen

Seien m der Grad des Zählerpolynoms p und n der Grad des Nennerpolynoms q.Dann gilt mit am, bn aus (4.5):

limx→−∞

f(x) = limx→∞

f(x) =

{0, falls m < n,am/bn, falls m = n.

Falls m ≥ n, so gibt es Polynome s und t mit grad(s) = m − n und grad(t) < n,so dass

f(x) =p(x)

q(x)= s(x) +

t(x)

q(x). (4.6)

Insbesondere gilt für m > n, dass

limx→−∞

|f(x)− s(x)| = limx→∞

|f(x)− s(x)| = 0.

Man sagt, s ist Asymptote von f für |x| → ∞; die Graphen von f und s kommensich im Unendlichen beliebig nahe.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 227 / 367

Elementare FunktionenVerhalten rationaler Funktionen im Unendlichen

Interpretieren Sie das folgende Schaubild(blau) der Funktion

f(x) =x3 − x2 + 5

5x− 5=

1

5x2 +

1

x− 1

im Hinblick auf die Asymptotik imUnendlichen und an den Polen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 228 / 367

Elementare FunktionenExkurs: Polynomdivision/Euklidscher Algorithmus

Die Polynome s und t in (4.6) können mit dem Euklidschen Algorithmus berechnetwerden. Diesen lernt man am besten am Beispiel:

(3x4 + 7x3 + x2 + 5x+ 1) : (x2 + 1) = 3x2 + 7x− 23x4 + 3x2

7x3 − 2x2 + 5x+ 17x3 + 7x

− 2x2 − 2x+ 1−2x2 − 2

− 2x+ 3

Ergebnis:

3x4 + 7x3 + x2 + 5x+ 1

x2 + 1= (3x2 + 7x− 2) +

−2x+ 3

x2 + 1.

Allerdings sind in modernen Zeiten auch Computeralgebrasysteme (CAS) für solcheZwecke zuverlässige und empfehlenswerte Helfer.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 229 / 367

Elementare FunktionenWurzel- und Potenzfunktionen

Für alle n ∈ N ist die Potenzfunktion f(x) = xn eine bijektive Abbildung von[0,∞) auf [0,∞). Ihre Umkehrfunktion

g : [0,∞)→ [0,∞), x 7→ n√x = x1/n,

heißt n-te Wurzel von x.

Für n ∈ N definieren wir

x−n :=1

xn(x 6= 0).

Allgemeiner erhalten wir Potenzfunktionen mit rationalem Exponenten über

g : [0,∞)→ [0,∞), x 7→ n√xm =: xm/n (m ∈ Z, n ∈ N).

Wie man die Funktion x 7→ xr für beliebiges reelles r erklärt, werden wir imnächsten Abschnitt erfahren.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 230 / 367

Elementare FunktionenWurzel- und Potenzfunktionen, Graphische Darstellung

0 1 2 3 40

1

2

3

4

x3

x2.5

x2

x1/2

x2/5

x1/3

Dargestellt sind einige Potenzfunktionen mit den zugehörigen Umkehrungen (jeweilsgleiche Farbe).Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 231 / 367

Elementare FunktionenExponential- und Logarithmusfunktionen

Die Exponentialfunktion ist durch

f : R→ R, x 7→∞∑

n=0

xn

n!

definiert und wird mit f(x) = ex oder f(x) = exp(x) bezeichnet.

Wichtigste Eigenschaften:

ex+y = exey, (ex)y = exy für alle x, y ∈ R,ex > 0 für alle x ∈ R,f(x) = ex ist streng monoton wachsend auf R,limx→∞

ex =∞ und limx→−∞

ex = 0.

Die Exponentialfunktion spielt eine zentrale Rolle in Wachstums- modellen und beider Lösung linearer Differentialgleichungen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 232 / 367

Elementare FunktionenExponential- und Logarithmusfunktionen

Die Umkehrfunktion der Exponentialfunktion

ln : (0,∞)→ R, x 7→ ln(x),

heißt natürlicher Logarithmus oder Logarithmus zur Basis e.

Wichtigste Eigenschaften:

ln(ex) = x (für x ∈ R) und eln(x) = x (für x > 0),ln(x) ≥ 0 für x ≥ 1 und ln(x) < 0 für 0 < x < 1,ln(xy) = ln(x) + ln(y), ln(xy) = y ln(x),x 7→ ln(x) ist streng monoton wachsend auf R,limx→∞

ln(x) =∞, limx→0+

ln(x) = −∞.

Logarithmen werden häufig benutzt, wenn Beobachtungsgrößen über viele Grö-ßenordnungen variieren. (Schalldruckpegel, pH-Wert, Richter-Skala, Leuchtstärke,Sternhelligkeiten, . . . )Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 233 / 367

Elementare FunktionenBeispiel: Hertzsprung-Russell-Diagramm

Dargestellt ist der Logarithmusder Leuchtkraft über dem B-V-Farbindex.

Unten: Farb- und Größenvergleichfür Hauptreihensterne.

Bilder: Richard Powell und Kieff,Wikimedia Commons

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 234 / 367

Elementare FunktionenExponential- und Logarithmusfunktionen, graphische Darstellung

Exponentialfunktion (blau) und natürlicher Logarithmus (rot)

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 235 / 367

Elementare FunktionenPotenzen mit reellem Exponenten

Für a > 0 und b ∈ R definieren wir nun

ar := er ln(a). (4.7)

Damit können wir nun z. B. die Potenzfunktion

f : (0,∞)→ R, x 7→ xr := er ln(x),

für beliebige reelle Exponenten r erklären. Desweiteren eröffnet sich die Möglichkeit,Funktionen vom Typ

f(x) = ax (a > 0)

zu definieren.

Machen Sie sich klar, dass Definition (4.7) für rationale r mit der bereitsbekannten übereinstimmt.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 236 / 367

Elementare Funktionen(Allgemeine) Exponentialfunktion

Für a > 0, a 6= 1, ist

f : R→ (0,∞), x 7→ ax := ex ln(a),

die allgemeine Exponentialfunktion oder Exponentialfunktion zu Basis a.

Aus den Eigenschaften der Exponentialfunktion ergeben sich:ax+y = axay, (ax)y = axy, (ab)x = axbx,ax > 0,x 7→ ax ist auf R streng monoton wachsend, falls a > 1,x 7→ ax ist auf R streng monoton fallend, falls 0 < a < 1,limx→∞

ax =∞, limx→−∞

ax = 0 (wenn a > 1),

limx→∞

ax = 0, limx→−∞

ax =∞ (wenn 0 < a < 1).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 237 / 367

Elementare FunktionenLogarithmen

Die Umkehrfunktion von f(x) = ax heißt Logarithmus zur Basis a:

loga : (0,∞)→ R, x 7→ loga(x),

Für a = 10 schreibt man oft lg(x), für a = e (siehe oben) ln(x) und für a = 2auch ld(x).

Es geltenloga(x) = ln(x)/ ln(a) (x > 0),

loga(xy) = loga(x) + loga(y), loga(xy) = y loga(x),x 7→ loga(x) ist streng monoton wachsend für a > 1,limx→∞

loga(x) =∞ für a > 1,

limx→0+

loga(x) = −∞ für a > 1.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 238 / 367

Elementare FunktionenLogarithmen, graphische Darstellung

−2 −1 0 1 2−2

−1

0

1

2

4x

ex

2x

log4(x)

ln(x)

log2(x)

Dargestellt sind Exponentialfunktionen zu verschiedenen Basen mit den zugehörigenUmkehrungen (jeweils gleiche Farbe).Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 239 / 367

Elementare FunktionenSinus und Kosinus

Bei der sauberen analytischen Definition der Sinus- und Kosinusfunktion geht derMathematiker wie folgt vor:

Erweitere den Definitionsbereich der Exponentialfunktion auf komplexeZahlen:

exp : C→ C, exp(z) =

∞∑

n=0

zn

n!

Definiere Sinus und Kosinus gemäß

sin : R→ [0, 1], sin(x) = Re(eix),

cos : R→ [0, 1], cos(x) = Im(eix).(4.8)

Damit ergeben sich unmittelbar auch Reihendarstellungen zu Sinus und Kosinus,doch dazu später.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 240 / 367

Elementare FunktionenSinus und Kosinus

Zeigt man nun noch, dass eiϕ für ϕ ∈ R in der auf S. 81 beschriebenen Weise aufdem Einheitskreis liegt (kein leichtes Unterfangen!), so erhält man die gewohnteDarstellung am Einheitskreis.

1

1

cosϕ

sinϕeiϕ

0

ϕ

ϕ

Für die meisten Zwecke ist diese Vorstellung ausreichend. Durch Skalieren erhältman die klassischen Winkelbeziehungen im rechtwinkligen Dreieck.Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 241 / 367

Elementare FunktionenEigenschaften von Sinus und Kosinus

sin(x+ 2π) = sin(x), cos(x+ 2π) = cos(x),d. h. Sinus und Kosinus sind 2π-periodisch,

sin(−x) = − sin(x), cos(−x) = cos(x),d. h. der Sinus ist ungerade, der Kosinus gerade,

sin(x) = cos(π/2− x) und cos(x) = sin(π/2− x),d. h. die Graphen sind um π/2 gegeneinander verschoben,

sin2(x) + cos2(x) = 1 (Satz des Pythagoras),

sin(x) = 0 ⇔ x = kπ mit k ∈ Z undcos(x) = 0 ⇔ x = (k + 0.5)π mit k ∈ Z,sin(x) ist auf [−π/2, π/2] streng monoton wachsend undcos(x) ist auf [0, π] streng monoton fallend.

Desweiteren gelten die in Abschnitt 1.6 (S. 87) kennengelernten Additionstheoremeund Mehrfachwinkelformeln.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 242 / 367

Elementare FunktionenSinus und Kosinus, graphische Darstellung

−1

0

1

−1

0

1

−2π

−π 0 π 2π

−2π −π 0 π 2π

Sinus

Kosinus

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 243 / 367

Elementare FunktionenTangens und Kotangens

Der Tangens von x ist definiert durch

f : R \{(k + 1

2

)π : k ∈ Z

}→ R, x 7→ tan(x) :=

sin(x)

cos(x).

Der Kotangens von x ist definiert durch

f : R \ {kπ : k ∈ Z} → R, x 7→ cot(x) :=cos(x)

sin(x).

Im Gebrauch ist vor allem der Tangens.

Wichtige Eigenschaften:

tan und cot sind π-periodische Funktionen,tan(−x) = − tan(x) und cot(−x) = − cot(x), d. h. beide Funktionen sindungerade,tan ist auf (−π/2, π/2) streng monoton wachsend undcot ist auf (0, π) streng monoton fallend.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 244 / 367

Elementare FunktionenTangens und Kotangens, graphische Darstellung

−4

−2

0

2

4

−2π −π 0 π 2π

Tangens Kotangens

−1 0 1−1

0

1cot(x)

cos(x)

sin(x)

x

tan(x)

Dargestellt sind die Graphen von Tangens und Kotangens sowie die graphischeInterpretation am Einheitskreis.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 245 / 367

Elementare FunktionenArkusfunktionen

Die Umkehrfunktionen der trigonometrischen Funktionen nennt man Arkusfunktio-nen.

Da die trigonometrischen Funktionen auf R nicht bijektiv sind, muss man Einschrän-kungen auf bestimmte Intervalle betrachten.

Man schränkt Kosinus und Kotangens auf [0, π] sowie Sinus und Tangens auf[−π2 , π2

]ein, und erhält die Umkehrfunktionen

arcsin : [−1, 1]→[−π2 , π2

], y = arcsin(x) :⇔ x = sin y, y ∈ [−π2 , π2 ],

arccos : [−1, 1]→ [0, π] , y = arccos(x) :⇔ x = cos y, y ∈ [0, π],arctan : R→

[−π2 , π2

], y = arctan(x) :⇔ x = tan y, y ∈ [−π2 , π2 ],

arccot : R→ [0, π] , y = arccot(x) :⇔ x = cot y, y ∈ [0, π].

mit Namen Arkussinus, Arkuscosinus, Arkustangens und Arkuskotangens.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 246 / 367

Elementare FunktionenArkusfunktionen, graphische Darstellung

−1 0 1−π/2

0

π/2

π

arcsin

arccos

−4 −2 0 2 4

π

π/2

0

−π/2

arctan

arccot

Graphen sämtlicher Arkusfunktionen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 247 / 367

Elementare FunktionenHyperbel- und Areafunktionen

Die Funktionen

f : R→ R, x 7→ sinh(x) :=1

2

(ex − e−x

),

f : R→ R, x 7→ cosh(x) :=1

2

(ex + e−x

),

f : R→ R, x 7→ tanh(x) :=ex − e−xex + e−x

=sinh(x)

cosh(x)

heißen Sinus hyperbolicus, Kosinus hyperbolicus und Tangens hyperbolicus.

Ihre Umkehrfunktionen heißen Areasinus, Areakosinus und Areatangens. (cosh mussdafür auf [0,∞) eingeschränkt werden.)

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 248 / 367

Elementare FunktionenHyperbel- und Areafunktionen, graphische Darstellung

Bild: Wikimedia Commons, Geek3

Beachten Sie die sich aus den Definitionen erge-bende Asymptotik.

Hyperbelfunktionen treten mitunter bei der Lö-sung von Differentialgleichungen auf.

Z.B. kann ein durchhängendes Seil über den Ko-sinus hyperbolicus beschrieben werden.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 249 / 367

Ziele erreicht?

Sie sollten nun (bzw. nach Abschluss der Übungen/Selbststudium):Begriffe wie Monotonie, Periodizität, gerade und ungerade Funktion sicherbeherrschen und anwenden können,den Grenzwertbegriff für Funktionen tiefgreifend verstanden haben und fürviele Funktionen bereits Grenzwerte berechnen können,den Begriff der Stetigkeit (beide Versionen) und seine mathematischenKonsequenzen tiefgreifend verstanden haben,Funktionen anhand von Definition 4.16 auf Stetigkeit untersuchen können,einen Überblick über elementare Funktionen gewonnen haben und mit denwichtigsten sicher umgehen können (Schwerpunkte: Polynome, Potenz- undWurzelfunktionen, Exponentialfunktion und natürlicher Logarithmus,trigonometrische Funktionen).

Sie sind sich nicht sicher oder meinen “nein“? Sie wissen schon. . .

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 250 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 251 / 367

Differentialrechnung

Die „Infinitesimalrechnung“ ist ein weiteres großes analytisches Konzept, ohne dasmoderne Naturwissenschaften undenkbar sind.

Die Entwicklung erfolgte unabhängig voneinander durch Gottfried Wilhelm von Leib-niz (1646-1716, links) und Sir Isaac Newton (1643-1727, rechts).

Die unabhängige Leistung gilt heute als gesichert, damals allerdings kam es zumbekanntesten Prioritätsstreit der Wissenschaftsgeschichte.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 252 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen5.1 Differenzierbarkeit5.2 Differentiationsregeln5.3 Ableitungen elementarer Funktionen5.4 Extrema, Wachstum und Krümmung differenzierbarer Funktionen5.5 Verschiedene Anwendungen

KurvendiskussionNewton-VerfahrenDie Regel von de l’HospitalTotales Differential und Fehlerfortpflanzung

5.6 Der Satz von Taylor

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 253 / 367

DifferenzierbarkeitGrundidee

Diese ist sehr einfach: Ersetzt man eine Funktion f nahe einer Stelle x0 durch ihreTangente t(x), so macht man in der Nähe von x0 nur kleine Fehler.

ft

x0

Die Tangente ist dabei als lineare Funktion viel leichter zu handhaben, als die Funk-tion f selbst.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 254 / 367

DifferenzierbarkeitGrundidee

Definition 5.1 (Ableitung)

Sei f : Df → R eine reelle Funktion und x0 ∈ Df ein innerer Punkt von Df .Dann heißt f differenzierbar an der Stelle x0, wenn der Grenzwert

f ′(x0) := limx→x0

f(x)− f(x0)

x− x0= limh→0

f(x0 + h)− f(x0)

h

existiert. f ′(x0) heißt erste Ableitung von f an der Stelle x0.

Ist f an jeder Stelle x0 ∈M ⊆ Df differenzierbar, so heißt f in M differenzierbar.Man nennt die Funktion

f ′ : M → R, x 7→ f ′(x),

dann die Ableitung von f .

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 255 / 367

DifferenzierbarkeitGeometrische Interpretation

x0 x0 + h

f(x0)

f(x0+h)f (x)

s(x)t(x)

s(x) = f (x0)+f(x0+h)−f(x0)

h (x−x0)

t(x) = f (x0) + f ′(x0)(x−x0)

︸ ︷︷ ︸

h→ 0

Für h→ 0 geht die Sekante s(x) durch (x0, f(x0)) und (x0 +h, f(x0 +h)) in eineTangente t(x) über.

Die Ableitung f ′(x0) ist also der Anstieg der Tangente t an f im Punkt x0.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 256 / 367

DifferenzierbarkeitHöhere Ableitungen

Ist zu einer Funktion f die Ableitung f ′ in x0 ebenfalls differenzierbar, so heißt

f ′′(x0) := (f ′)′(x0)

die zweite Ableitung von f an der Stelle x0.

Entsprechend wird (für n ∈ N) die n-te Ableitung

f (n)(x0) = (f (n−1))′(x0)

von f an der Stelle x0 definiert. (Dabei ist f (0)(x0) := f(x0) zu setzen.)

Notation:

Für die ersten drei Ableitungen schreibt man f ′, f ′′ und f ′′′.Ab n = 4 schreibt man zumeist f (n).

Zudem sind in der Physik auch f(t) und f(t) für die ersten zwei Ableitungen üblich,wenn das Argument t eine Zeit darstellt.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 257 / 367

DifferenzierbarkeitLeibniz-Notation

Auf Leibniz geht die folgende Schreibweise für Ableitungen zurück:

f ′(x0) =df

dx(x0) =

d

dxf(x0),

f ′′(x0) =d2f

dx2(x0) =

d2

dx2f(x0) =

df ′

dx(x0),

...

f (n)(x0) =dnf

dxn(x0) =

dn

dxnf(x0) =

df (n−1)

dx(x0).

Diese Schreibweise ist noch heute weit verbreitet, da man damit manche Rechenre-geln (z. B. Kettenregel) sehr eingängig fassen kann, und die Variable, nach der mandifferenziert, eindeutig gekennzeichnet ist.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 258 / 367

DifferenzierbarkeitLeibniz-Notation

Leibniz hatte damals die vage Vorstellung, dass sich die erste Ableitung f ′(x0) alsQuotient „infinitesimal kleiner Elemente“ dy und dx schreiben lässt.

Er betrachtete dazu den Differenzenquotienten

∆y

∆x=y − y0

x− x0=f(x)− f(x0)

x− x0

und machte gedanklich die Größen ∆y und ∆x „unendlich klein“.

In Anlehnung an den Differenzenquotienten verwendete er für die erste Ableitungden Ausdruck dy

dx .

Die lediglich formale Quotientenform der Leibniz-Notation lässt sich mit dem Dif-ferentialbegriff (siehe später) mathematisch unterlegen. Manchmal nennt man dieAbleitung daher auch Differentialquotient.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 259 / 367

DifferenzierbarkeitBeispiele

Die konstante Funktion f1(x) = c (c ∈ R) ist differenzierbar mit f ′1(x) = 0,denn

f1(x+ h)− f1(x)

h=c− ch

= 0→ 0 (h→ 0).

Die Funktion f2(x) = ax (a ∈ R) ist differenzierbar mit f ′2(x) = a,denn

f2(x+ h)− f2(x)

h=a(x+ h)− ax

h=ah

h= a→ a (h→ 0).

Die Funktion f3(x) = x2 ist differenzierbar mit f ′3(x) = 2x, denn

f3(x+h)−f3(x)

h=

(x+ h)2−x2

h=

2hx+h2

h= 2x+ h→ 2x (h→ 0).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 260 / 367

DifferenzierbarkeitWeitere Beispiele

Ohne Beweis geben wir hier noch einige weitere Funktionen mit ihren Ableitungenan:

Für f1(x) = xn (n ∈ N) gilt f ′1(x) = nxn−1.

Für f2(x) = ex gilt f ′2(x) = f2(x) = ex.

Für f3(x) = sinx gilt f ′3(x) = cosx.

Für f4(x) = cosx gilt f ′4(x) = − sinx.

Mit Hilfe der Ableitungsdefinition bestimme man die erste Ableitung vonf(x) = 1

x .

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 261 / 367

DifferenzierbarkeitBeispiel für eine nicht differenzierbare Funktion

Die Funktion f(x) = |x| ist in x0 = 0 nicht differenzierbar, denn

limh→0+

f(0+h)−f(0)h = lim

h→0+

h−0h = 1, aber

limh→0−

f(0+h)−f(0)h = lim

h→0−−h−0h = −1 6= 1.

Der Differenzenquotient besitzt also keinen Grenzwert für h→ 0.

Der bei x0 = 0 auftretende „Knick“ ist typisch für Funktionen, die stetig, aber nichtdifferenzierbar sind. Es ist offensichtlich, dass man in diesem Punkt keine eindeutigbestimmte Tangente finden kann.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 262 / 367

DifferenzierbarkeitBezug zur Stetigkeit

Satz 5.2

Ist f : Df → R in x0 ∈ Df differenzierbar, dann ist f in x0 auch stetig.

Beweisidee:

f(x)− f(x0) =f(x)− f(x0)

x− x0︸ ︷︷ ︸→f ′(x0)

(x− x0)︸ ︷︷ ︸→0

→ 0 (x→ x0).

Achtung: Wie das Beispiel f(x) = |x| zeigt, gibt es sehr wohl stetige Funktionen,die nicht differenzierbar sind. Die Umkehrung von Satz 5.2 ist also falsch!

Differenzierbarkeit ist in diesem Sinne eine stärkere Eigenschaft als Stetigkeit.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 263 / 367

DifferenzierbarkeitPräzisierung des Linearisierungsgedankens

Wir wollen noch einmal den Bezug der Funktion f zu ihrer Tangente t nahe x0

aufgreifen. Dabei hilft folgende alternative Charakterisierung der Differenzierbarkeit:

Satz 5.3

Eine reelle Funktion f : Df → R ist genau dann in x0 ∈ Df differenzierbar, wennes eine Zahl a ∈ R und eine Funktion φ : Df → R gibt mit

f(x) = f(x0) + a(x− x0) + φ(x), (5.1)

wobei φ(x)x−x0

→ 0 für x→ x0. In diesem Fall gilt a = f ′(x0).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 264 / 367

DifferenzierbarkeitPräzisierung des Linearisierungsgedankens

Mit der Tangentenfunktion t(x) = f(x0) + f ′(x0)(x− x0) liest sich (5.1) für einedifferenzierbare Funktion f als

f(x) = t(x) + φ(x) mitφ(x)

x− x0→ 0 für x→ x0.

Grob gesprochen: „Funktion = Tangente + Restterm, wobei der Restterm für x→x0 schneller als linear gegen Null geht“.

Visualisierung:

x0 x

f

t

|ϕ(x)|

Überzeugen Sie sich, dass mit φ(x)x−x0

→ 0erst recht φ(x)→ 0 für x→ x0 gilt.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 265 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen5.1 Differenzierbarkeit5.2 Differentiationsregeln5.3 Ableitungen elementarer Funktionen5.4 Extrema, Wachstum und Krümmung differenzierbarer Funktionen5.5 Verschiedene Anwendungen

KurvendiskussionNewton-VerfahrenDie Regel von de l’HospitalTotales Differential und Fehlerfortpflanzung

5.6 Der Satz von Taylor

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 266 / 367

Differentiationsregeln

Satz 5.4 (Regeln für die Ableitung)

Seien f, g : D → R differenzierbar in x0 ∈ D.Dann sind auch cf(c ∈ R), f ± g, fg und f/g (falls g(x0) 6= 0) in x0

differenzierbar.

Dabei gelten folgende Regeln:

(cf)′(x0) = cf ′(x0), c ∈ R,

(f ± g)′(x0) = f ′(x0)± g′(x0) (Summenregel),

(fg)′(x0) = f ′(x0)g(x0) + f(x0)g′(x0) (Produktregel),

(f

g

)′(x0) =

f ′(x0)g(x0)− f(x0)g′(x0)

g(x0)2(Quotientenregel).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 267 / 367

DifferentiationsregelnBeispiele

Finden Sie die Ableitungen von

f1(x) = 7x2 + 4x− 8,

f2(x) = (x+ 1)ex,

f3(x) = ex

x ,

f4(x) = 1x2 ,

f5(x) = 1xn für n ∈ N, ausgehend von (xn)′ = nxn−1.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 268 / 367

DifferentiationsregelnKettenregel

Satz 5.5 (Kettenregel)

Ist f : Df → R in x0 ∈ Df differenzierbar und g : Dg → R in f(x0) ∈ Dg

differenzierbar, dann ist (g ◦ f) ebenfalls in x0 differenzierbar mit

(g ◦ f)′(x0) = g′(f(x0)) · f ′(x0). (5.2)

Die Multiplikation mit f ′(x0) in (5.2) nennt man auch „Nachdifferenzieren“.

Außerdem sind für g′ und f ′ die Begriffe „äußere“ und „innere“ Ableitung gebräuch-lich.

In Leibniz-Notation schreibt man für (5.2) mitunter kurz dgdx = dg

df ·dfdx .

Man bestimme die Ableitung von f(x) = e3x2+1.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 269 / 367

DifferentiationsregelnAbleitung der Umkehrfunktion

Satz 5.6

Die reelle Funktion f : Df →Wf sei in x0 ∈ Df differenzierbar und besitze dieUmkehrfunktion f−1 : Wf → Df . Ist f ′(x0) 6= 0 und ist f−1 stetig in f(x0),dann ist f−1 in f(x0) differenzierbar mit

(f−1)′(f(x0)) =1

f ′(x0)bzw. (f−1)′(y0) =

1

f ′(x0)für y0 = f(x0).

Leibniz-Notation:

dx

dy=

1dydx

für y = f(x) bzw. x = f−1(y)

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 270 / 367

DifferentiationsregelnAbleitung der Umkehrfunktion, Beispiel

Für

y = f(x) = sinx, x ∈(−π

2,π

2

),

gilt f ′(x) = cosx 6= 0. Desweiteren ist f−1(y) = arcsin y stetig. Damit gilt nachSatz 5.6:

arcsin′(y) =1

sin′(x)=

1

cosx=

1√1− sin2 x

=1√

1− y2.

Bestimmen Sie auf diese Weise die Ableitungen von f1(x) = lnx und f2(x) =√x.

Wie lässt sich die Ableitung einer beliebigen Potenzfunktionf(x) = xr (x > 0, r ∈ R) bestimmen?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 271 / 367

DifferentiationsregelnLogarithmisches Differenzieren

Die Kettenregel liefert für positive differenzierbare Funktionen f die Gleichung

(ln(f(x)))′ =f ′(x)

f(x)

bzw.f ′(x) = (ln(f(x)))′f(x).

Dieser „Trick“ erleichtert manchmal die Berechnung der Ableitung.

Beispiel: Für f(x) = xx (x > 0) gilt

(xx)′ = (ln(xx))′xx = (x lnx)′xx = (1 + lnx)xx.

Man bestimme die Ableitung der Funktion f(x) =√

x−1(x−2)(x−3) .

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 272 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen5.1 Differenzierbarkeit5.2 Differentiationsregeln5.3 Ableitungen elementarer Funktionen5.4 Extrema, Wachstum und Krümmung differenzierbarer Funktionen5.5 Verschiedene Anwendungen

KurvendiskussionNewton-VerfahrenDie Regel von de l’HospitalTotales Differential und Fehlerfortpflanzung

5.6 Der Satz von Taylor

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 273 / 367

Ableitungen elementarer Funktionen

Mit Hilfe von Definition 5.1 und der Regeln aus Abschnitt 2 lassen sich zu vielengebräuchlichen Funktionen Ableitungen gewinnen.

Die folgenden Tabellen (betrifft vor allem diese Seite) sollten Sie am besten aus-wendig lernen.

Potenz- und Exponentialfunktionen, Logarithmen

f(x) xr (r ∈ R) ex lnx ax (a > 0) loga(x)f ′(x) rxr−1 ex 1

x ax ln a 1x ln a

Trigonometrische Funktionen

f(x) sinx cosx tanx cotxf ′(x) cosx − sinx 1

cos2 x = 1 + tan2 x − 1sin2 x

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 274 / 367

Ableitungen elementarer Funktionen

Arkusfunktionen

f(x) arcsinx arccosx arctanx arccotxf ′(x) 1√

1−x2− 1√

1−x2

11+x2 − 1

1+x2

Hyperbelfunktionen

f(x) sinhx coshx tanhx cothxf ′(x) coshx sinhx 1

cosh2 x− 1

sinh2 x

Areafunktionen

f(x) arsinhx arcoshx artanhx arcothxf ′(x) 1√

x2+11√x2−1

, x > 1 11−x2 , |x| < 1 1

1−x2 , |x| > 1

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 275 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen5.1 Differenzierbarkeit5.2 Differentiationsregeln5.3 Ableitungen elementarer Funktionen5.4 Extrema, Wachstum und Krümmung differenzierbarer Funktionen5.5 Verschiedene Anwendungen

KurvendiskussionNewton-VerfahrenDie Regel von de l’HospitalTotales Differential und Fehlerfortpflanzung

5.6 Der Satz von Taylor

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 276 / 367

ExtremaDefinition

Mit der Differentialrechnung steht uns nun ein sehr mächtiges Instrument zur Unter-suchung reeller Funktionen zur Verfügung. Wir beginnen mit etwas Begriffsbildung.

Definition 5.7 (Lokale Extrema)

Sei f : Df → R eine reelle Funktion. Ein Punkt x0 ∈ Df heißt lokales Maximum[lokales Minimum] von f , wenn es ein ε > 0 gibt, so dass

f(x0) ≥ f(x) [f(x0) ≤ f(x)] für alle x ∈ Df ∩ (x0 − ε, x0 + ε). (5.3)

x0 heißt lokales Extremum von f , wenn x0 ein lokales Maximum oder ein lokalesMinimum von f ist.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 277 / 367

ExtremaGlobal vs. lokal

Bei einem lokalen Extremum x0 betrachtet man also nur das Verhalten der Funktionf sehr nahe bei x0.

Das Gegenstück sind globale Extrema, bei denen die Beziehung f(x0) ≥ f(x) bzw.f(x0) ≤ f(x) aus (5.3) für alle x ∈ Df gelten muss.

Zeichnen Sie die Graphen der Funktionen

f : R→ R, f(x) = 2 cos 2x,g : [0,∞)→ R, g(x) = 1

1+x cosx

(qualitativ reicht), und machen Sie sich den Unterschied zwischen „global“ und„lokal“ auch graphisch klar.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 278 / 367

ExtremaNotwendige Bedingung

Bei differenzierbaren Funktionen ist die Suche nach lokalen Extrema eher einfach:

Satz 5.8 (Notwendige Bedingung für lokale Extrema)

Ist x0 ein lokales Extremum der differenzierbaren Funktion f : (a, b)→ R, danngilt

f ′(x0) = 0. (5.4)

Mit Satz 5.8 kann man also die „Kandidaten“ finden, die für ein lokales Extremumüberhaupt in Frage kommen.

Nur für diese wird man dann einen konkreten Nachweis versuchen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 279 / 367

ExtremaGraphische Darstellung

x0

f

t

An einem Extremalstelle x0 besitzt die Funktion f aus Satz 5.8 eine horizontaleTangente.

Finden Sie die Beweisidee von Satz 5.8. Betrachten Sie dafür das Vorzeichen desDifferenzenquotienten in x0 für h > 0 und h < 0.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 280 / 367

ExtremaHinreichende Bedingung

Hat man mittels Satz 5.8 Kandidaten für lokale Extrema gefunden, prüft man häufigfolgende Bedingung:

Satz 5.9 (Hinreichende Bedingung für lokale Extrema)

Sei f : (a, b)→ R zweimal differenzierbar mit f ′(x0) = 0 für ein x0 ∈ (a, b). Dannist x0

Stelle eines lokalen Minimums, wenn f ′′(x0) > 0,Stelle eines lokalen Maximums, wenn f ′′(x0) < 0.

Bestimmen Sie die lokalen und globalen Extrema von f(x) = x2e−x.

Analysieren Sie das Verhalten von f(x) = xn (n = 2, 5, 6) im Hinblick auf dieSätze 5.8 und 5.9 und das tatsächliche Auftreten von Extrema.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 281 / 367

MittelwertsatzSatz von Rolle

Wir fahren mit einem Ergebnis fort, das für den Anwender eher den Charakter einesLemmas hat, aber an vielen Stellen von zentraler Wichtigkeit ist.

Wir beginnen mit einem einfachen Spezialfall:

Satz 5.10 (von Rolle∗)

Ist f : [a, b]→ R stetig und in (a, b) differenzierbar, und gilt f(a) = f(b), danngibt es ein ξ ∈ (a, b) mit f ′(ξ) = 0.

∗) Michel Rolle, frz. Mathematiker, 1652-1719

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 282 / 367

MittelwertsatzSatz von Rolle, graphische Darstellung

a bξ

f

Beweisidee:f nimmt auf [a, b] Maximum und Minimum an. (Warum?)Liegen Maximum und Minimum auf dem Intervallrand, so ist f(x) = 0 auf[a, b], d,h f ′(x) = 0 für alle x ∈ (a, b)

Ansonsten gibt es ein lokales Extremum ξ ∈ (a, b). Für dieses gilt f ′(ξ) = 0nach Satz 5.8.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 283 / 367

Mittelwertsatz

Die Voraussetzung f(a) = f(b) = 0 kann durch folgende Modifikation entferntwerden:

Satz 5.11 (Mittelwertsatz)

Ist f : [a, b]→ R stetig und in (a, b) differenzierbar, dann gibt es ein ξ ∈ (a, b) mit

f ′(ξ) =f(b)− f(a)

b− a . (5.5)

Beweisidee: Anwendung des Satzes von Rolle auf

F (x) := f(x)−(f(a) +

f(b)− f(a)

b− a (x− a)

)

︸ ︷︷ ︸Sekante

.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 284 / 367

MittelwertsatzGraphische Darstellung

a bξ ξ

f (a)

f (b)

s

f

Die Funktion nimmt an mindestens einer Zwischenstelle ξ den Anstieg der Sekantes durch (a, f(a)) und (b, f(b)) an.

Hat ein Autofahrer, der eine Tempo-30-Zone mit durchschnittlich 38 km/hdurchfährt, eine Ordnungswidrigkeit begangen? Lässt sich ggf. der exakte Ort derTempoüberschreitung bestimmen?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 285 / 367

MittelwertsatzMonotonie

Mit dem Mittelwertsatz lässt sich sofort ein Ergebnis zur Bestimmung des Mono-tonieverhaltens einer differenzierbaren Funktion herleiten:

Folgerung 5.12

Sei f : [a, b]→ R stetig und differenzierbar in (a,b).Ist f ′(x) = 0 für alle x ∈ (a, b), so ist f konstant.Ist f ′(x) ≥ 0 (bzw. f ′(x) ≤ 0) für alle x ∈ (a, b), so ist f monoton wachsend(bzw. fallend).Ist f ′(x) > 0 (bzw. f ′(x) < 0) für alle x ∈ (a, b), so ist f streng monotonwachsend (bzw. fallend).

Führen Sie den Beweis für einen Punkt Ihrer Wahl aus.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 286 / 367

MittelwertsatzEin altes Problem neu diskutiert

Die Funktion f(x) = x3 ist, wie in Kapitel 4 diskutiert, streng monotonwachsend, da aus x < y immer x3 < y3 folgt.

Versuchen Sie sich an einem Nachweis mittels Folgerung 5.12.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 287 / 367

KrümmungsverhaltenKonvex und konkav

Definition 5.13

Eine reelle Funktion f : Df → R heißt konvex [konkav] im Intervall I ⊂ Df , wennfür alle x, y ∈ I und alle λ ∈ (0, 1)

f(λx+ (1− λ)y) ≤ λf(x) + (1− λ)f(y)

[f(λx+ (1− λ)y) ≥ λf(x) + (1− λ)f(y)] (5.6)

gilt.

Veranschaulichung: Die Sekante durch (x, f(x)) und (y, f(y)) verläuft in [x, y]oberhalb [unterhalb] des Graphen von f .

Machen Sie sich klar, warum diese Veranschaulichung korrekt ist.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 288 / 367

KrümmungsverhaltenKonvex und konkav, graphische Darstellung

Bild einer konvexen (links) und einer konkaven Funktion (rechts).

Die bei Bewegung “von links nach rechts“ auftretende Links- und Rechtskrümmungist typisch; insbesondere wenn in (5.6) die strengen Ungleichungsrelationen gelten.

Finden Sie ein Beispiel für eine auf R konvexe [konkave] Funktion.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 289 / 367

KrümmungsverhaltenZusammenhang mit Ableitungen

Wie folgende Sätze zeigen, wird die Untersuchung der Krümmung leichter, wennman Ableitungen zur Verfügung hat.

Satz 5.14

Ist die Funktion f : (a, b)→ R differenzierbar, so definieren wir für jedes z ∈ (a, b)die „Tangentenfunktion“

tz : x 7→ f(z) + f ′(z)(x− z).

f ist in (a, b) genau dann konvex [konkav], wenn

f(x) ≥ tz(x) [f(x) ≤ tz(x)]

für alle z ∈ (a, b) und alle x ∈ (a, b) gilt.

Vereinfacht: Jede Tangente an f verläuft unterhalb [oberhalb] des Graphen von f .

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 290 / 367

KrümmungsverhaltenZusammenhang mit Ableitungen

Satz 5.15

Ist die Funktion f : (a, b)→ R differenzierbar, dann ist f genau dann konvex[konkav] in (a, b), wenn f ′ in (a, b) monoton wachsend [fallend] ist.

Ist f zweimal differenzierbar, dann ist f in (a, b) genau dann konvex [konkav],wenn

f ′′(x) ≥ 0 [f ′′(x) ≤ 0]

für alle x ∈ (a, b) gilt.

Untersuchen Sie das Krümmungsverhalten der Funktionen f1(x) = xn (n ∈ N),f2(x) = ex, f3(x) = lnx und f4(x) = sinx mit Hilfe von Satz 5.15.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 291 / 367

KrümmungsverhaltenZusammenhang mit Ableitungen, graphische Darstellung

f f

z

tz

Situation der Sätze 5.14 und 5.15 am Beispiel einer konvexen (links) und einerkonkaven Funktion (rechts).

Machen Sie sich die Aussagen von Satz 5.14 und 5.15 noch einmal anhand derBilder plausibel.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 292 / 367

KrümmungsverhaltenWende- und Sattelpunkt

Definition 5.16 (Wende- und Sattelpunkt)

Ein Punkt (x0, f(x0)) des Graphen, an dem sich das Krümmungsverhalten einerFunktion f ändert, heißt Wendepunkt von f . Die Stelle x0 heißt Wendestelle.

Die Tangente in einem Wendepunkt heißt Wendetangente. Einen Wendepunkt mithorizontaler Tangente nennt man auch Sattelpunkt.

f(x) = sinx mit Wendepunkt (0, 0) g(x) = x3 mit Sattelpunkt (0, 0)Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 293 / 367

KrümmungsverhaltenWende- und Sattelpunkt

Ist Differenzierbarkeit gegeben, ist die Bestimmung von Wendepunkten wieder ein-facher:

Satz 5.17

Ist f : (a, b)→ R zweimal differenzierbar und (x0, f(x0)) ein Wendepunkt von f ,dann ist f ′′(x0) = 0.

Ist f : (a, b)→ R dreimal differenzierbar und gilt für ein x0 ∈ (a, b) sowohlf ′′(x0) = 0 als auch f ′′′(x0) 6= 0, dann ist (x0, f(x0)) ein Wendepunkt von f .

Man bestätige das Vorliegen eines Wende-/Sattelpunkts in den Beispielen vonFolie 293 mit Hilfe von Satz 5.17.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 294 / 367

KrümmungsverhaltenWende- und Sattelpunkt, zusammenfassende graphische Darstellung

0 1 2 3 4 5−3

−2

−1

0

1

2

3konkav konvex

monotonwachsend

monotonfallend

monotonwachsend

f

f’

f’’

Dargestellt ist eine Funktion f , ihre Ableitungen f ′ und f ′′, sowie die resultierendenMonotonie- und Krümmungsbereiche.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 295 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen5.1 Differenzierbarkeit5.2 Differentiationsregeln5.3 Ableitungen elementarer Funktionen5.4 Extrema, Wachstum und Krümmung differenzierbarer Funktionen5.5 Verschiedene Anwendungen

KurvendiskussionNewton-VerfahrenDie Regel von de l’HospitalTotales Differential und Fehlerfortpflanzung

5.6 Der Satz von Taylor

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 296 / 367

Verschiedene AnwendungenKurvendiskussion

Eine Kurvendiskussion setzt sich aus den folgenden Teilaufgaben zusammen:

Definitionsbereich. Auf welcher (möglichst großen) Menge Df ist dieFunktion f definiert?

Wertebereich. Welche Werte kann f(x) (x ∈ Df ) annehmen?

Symmetrien. Ist f gerade oder ungerade?

Nullstellen. Löse f(x) = 0.

Extrema. Bestimme die Lösungen xE von f ′(x) = 0. Istf ′′(xE) > 0, dann ist (xE , f(xE)) ein lokales Minimum von f . Istf ′′(xE) < 0, dann ist (xE , f(xE)) ein lokales Maximum von f .Wendepunkte. Bestimme die Lösungen xW von f ′′(x) = 0. Istf ′′′(xW ) 6= 0, dann ist (xW , f(xW )) ein Wendepunkt von f .

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 297 / 367

Verschiedene AnwendungenKurvendiskussion

Verhalten an Polstellen. Ist f eine rationale Funktion, bestimme die PolexP von f (Nullstellen des Nennerpolynoms) und berechne lim

x→xP−f(x) sowie

limx→xP+

f(x).

Verhalten im Unendlichen. Berechne limx→∞

f(x) sowielim

x→−∞f(x).

Monotoniebereiche. Untersuche Vorzeichen von f ′(x).

Krümmungsverhalten. Untersuche Vorzeichen von f ′′(x).

Graphische Darstellung.

Führen Sie eine Kurvendiskussion für f(x) = e−x2

durch. Erinnern Sie sich aneinen Geldschein, auf dem der Funktionsgraph zu finden war?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 298 / 367

Verschiedene AnwendungenNewton-Verfahren

In Abschnitt 5.3 hatten wir das Intervallhalbierungsverfahren zur Lösung von Glei-chungen der Form

f(x) = 0 (5.7)

kennengelernt.

Mit dem Newton-Verfahren behandeln wir nun ein Verfahren für differenzierbareFunktionen f , welches im Allgemeinen wesentlich schneller ist.

Ziel ist die Bestimmung einer Lösung x∗ von (5.7) – ausgehend von einem Startwertx0, der möglichst in der Nähe von x∗ liegt.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 299 / 367

Verschiedene AnwendungenNewton-Verfahren: Idee

x∗x1x0 x2

f

Man berechnet im n-ten Schritt die Nullstelle xn der Tangente t an f in xn−1.Diese wird als neue Näherung für x∗ verwendet.

Natürlich wird man zu Beginn einen Startwert x0 wählen müssen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 300 / 367

Verschiedene AnwendungenNewton-Verfahren: Herleitung der Verfahrensvorschrift

x∗xnxn−1

f

t

Wir stellen die Bedingung

t(xn) = f(xn−1) + f ′(xn−1)(xn − xn−1)!= 0.

Umstellen nach xn führt auf die Verfahrensvorschrift des Newton-Verfahrens:

xn = xn−1 −f(xn−1)

f ′(xn−1)(n = 1, 2, . . .). (5.8)

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 301 / 367

Verschiedene AnwendungenNewton-Verfahren: Numerisches Experiment

Für das Beispiel f(x) = x+ ex aus Abschnitt 5.3 liefert (5.8) die Vorschrift

xn = xn−1 −xn−1 + exn−1

1 + exn−1.

Ausgehend vom Startwert x0 = 0 liefert Matlab folgende Werte:

n xn |f(xn)|1 −0.500000000000000 1.06 · 10−1

2 −0.566311003197218 1.30 · 10−3

3 −0.567143165034862 1.96 · 10−7

4 −0.567143290409781 4.55 · 10−15

5 −0.567143290409784 1.11 · 10−16

Für 14 Nachkommastellen benötigt man gerade 4 Schritte. Das Intervallhalbierungs-verfahren hätte dagegen 48 Schritte gebraucht!

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 302 / 367

Verschiedene AnwendungenNewton-Verfahren: Konvergenzeigenschaften

Wenn das Newton-Verfahren konvergiert, dann wesentlich schneller als das Inter-vallhalbierungsverfahren (Faustformel: in jedem Schritt Verdopplung der Anzahlkorrekter Dezimalstellen).

Voraussetzung für Konvergenz ist aber, dass der Startwert x0 „genügend nahe“ beix∗ liegt („lokal konvergentes Verfahren“).

Ist f : R → R dagegen zweimal stetig differenzierbar (d.h. f ′′ ist stetig) sowiekonvex, und besitzt f eine reelle Nullstelle, so konvergiert die Newton–Folge fürjeden Startwert x0 mit f ′(x0) 6= 0.

Man mache sich die letzten beiden Aussagen an den Beispielen f1(x) = x2 − 1und f2(x) = x2e−x graphisch klar.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 303 / 367

Verschiedene AnwendungenDie Regeln von Bernoulli und de l’Hospital

Bei der Berechnung von Grenzwerten der Form limx→ξ

f(x)g(x) waren wir bei

unbestimmten Ausdrücken wie „ 00 “ oder „∞∞ “ auf Probleme gestoßen.

Solche Probleme werden häufig leichter, wenn Differenzierbarkeit gegeben ist.

Das betreffende Ergebnis wurde von Johann Bernoulli (1667-1748, links) entwi-ckelt, und vom Marquis de l’Hospital (1661-1704, rechts) im ersten Lehrbuch derDifferentialrechnung (1696) veröffentlicht.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 304 / 367

Verschiedene AnwendungenDie Regeln von Bernoulli und de l’Hospital

Satz 5.18 (De l’Hospital-Regel)

Seien f, g : (a, b)→ R differenzierbare Funktionen mit g′(x) 6= 0 für alle x ∈ (a, b)und sei entweder

limx→b−

f(x) = limx→b−

g(x) = 0 oder

limx→b−

f(x) = limx→b−

g(x) = ±∞

Dann gilt

limx→b−

f(x)

g(x)= limx→b−

f ′(x)

g′(x),

wenn der zweite Grenzwert existiert. Hierbei ist b =∞ erlaubt.

Entsprechende Aussagen gelten für rechtsseitige und beidseitige Grenzwerte.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 305 / 367

Verschiedene AnwendungenPlausibilitätsargument zu Satz 5.18

Nahe einer Stelle x0 mit f(x0) = g(x0) = 0 gilt f(x) ≈ f ′(x0)(x − x0) undg(x) ≈ g′(x0)(x− x0). Damit also f(x)

g(x) ≈f ′(x0)g′(x0) .

Beispielelimx→0

sin xx = lim

x→0

cos x1 = 1,

limx→−∞

x3

exp(−x) = limx→−∞

3x2

− exp(−x) = limx→−∞

6xexp(−x) = lim

x→−∞6

− exp(−x) =0.

Man berechne die Grenzwerte limx→0

x−sin(x)x sin(x) und lim

x→∞eαx

x für α > 0.

Wie kann man aus letzterem einem Aussage über limx→∞eαx

xβfür α, β > 0

gewinnen?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 306 / 367

Verschiedene AnwendungenAnmerkung zur l’Hospital-Regel

Die Bedeutung der l’Hospitalschen Regeln wird vom Anfänger oft überschätzt undendet in nervenaufreibenden Rechnungen ohne Ergebnis.

Betrachten Sie dazu zum Beispiel

limx→∞

ex − e−xex + e−x

(= limx→∞

1− e−2x

1 + e−2x= 1

).

Häufig ist es günstiger, bei der Grenzwertberechnung für unbestimmte Ausdrückewie „ 0

0 “ oder „∞∞ “ auf Potenzreihen zurückzugreifen.

Doch diese Betrachtungen verschieben wir auf später.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 307 / 367

Verschiedene AnwendungenTotales Differential und Fehlerfortpflanzung

Wir kommen noch einmal auf die Leibniz-Schreibweise

y′(x0) =dy

dx(x0)

zurück und wollen die Ausdrücke dx und dy näher fassen.

Definition 5.19 (Totales Differential)

Sei f : Df → R eine in x0 differenzierbare Funktion. Für eine beliebige Zahldx = x− x0 heißt

dy := f ′(x0) dx = f ′(x0)(x− x0)

totales Differential von f bei x0.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 308 / 367

Verschiedene AnwendungenTotales Differential: geometrische Deutung

x0 x

f (x0)

f (x) f

dx

dy∆y

dy ist die Änderung der Funktionswerte der Tangente bei Änderung des Argumentsum dx.

Idee für FehlerfortpflanzungApproximiert man f nahe x0 durch die Tangente, so gilt näherungsweise

f(x)− f(x0) =: ∆y ≈ dy = f ′(x0) dx.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 309 / 367

Verschiedene AnwendungenTotales Differential: Praktische Anwendung

In Experimenten ist häufig der Einfluss des Fehlers ∆x einer Messgröße x auf denFehler ∆y einer berechneten Zielgröße y = f(x) von Interesse.

Mit dem totalen Differential und der eben beschriebenen Idee ergibt sich die Nähe-rungsformel

|∆y| ≈ |f ′(x)| · |∆x|.

Durch Messung der Parallaxe p eines Fixsterns (in ′′) lässt sich mittels

r(p) = 1/p

der Abstand des Sterns zu Erde errechnen (in Pc; 1 Pc≈ 3.262 ly). Die ersteParallaxe wurde 1838 am Stern 61Cyg von F.W.Bessel mitp = (0.3483± 0.0095)′′ gemessen.

Welcher Abstand zur Erde ergibt sich? Wie genau ist das Ergebnis?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 310 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen5.1 Differenzierbarkeit5.2 Differentiationsregeln5.3 Ableitungen elementarer Funktionen5.4 Extrema, Wachstum und Krümmung differenzierbarer Funktionen5.5 Verschiedene Anwendungen

KurvendiskussionNewton-VerfahrenDie Regel von de l’HospitalTotales Differential und Fehlerfortpflanzung

5.6 Der Satz von Taylor

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 311 / 367

Verschiedene AnwendungenDer Satz von Taylor

Mit der ersten Ableitung waren wir in der Lage, Funktionen nahe einer Stelle x0

linear zu approximieren.

Statt linearer Funktionen kann man auch Polynome höherer Ordnung verwendenund damit ggf. noch bessere Ergebnisse erreichen.

Der betreffende Satz trägt den Namen des englischen Mathematikers Brook Taylor(1685-1731).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 312 / 367

Verschiedene AnwendungenDer Satz von Taylor: Illustration der Idee am Beispiel

Die Funktion f(x) = cosx (blau) lässt sich nahe x0 = 0 durch die Tangentet(x) = 1 approximieren (grün).

Besser ist jedoch die Approximation durch T2(x) = 1− 12x

2 (rot).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 313 / 367

Verschiedene AnwendungenDer Satz von Taylor

Satz 5.20 (Satz von Taylor)

Sei f : I → R eine auf dem offenen Intervall I (n+ 1)-mal differenzierbareFunktion; x0, x ∈ I. Dann gibt es eine Zahl ξ zwischen x und x0, so dass

f(x) = Tn(x) +Rn(x)

mit dem Taylor-Polynom n-ter Ordnung

Tn(x) =n∑k=0

f (k)(x0)

k!(x− x0)k

= f(x0)+f ′(x0)(x− x0)+f ′′(x0)

2(x− x0)2+. . .+

f (n)(x0)

n!(x− x0)n

und dem Lagrangeschen Restglied

Rn(x) =f (n+1)(ξ)

(n+ 1)!(x− x0)n+1.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 314 / 367

Verschiedene AnwendungenDer Satz von Taylor: Beispiel

Für f(x) = sinx und x0 = 0 gilt

f ′(x) = cosx, f ′′(x) = − sinx, f ′′′(x) = − cosx, f (4) = f, f (5) = f ′, . . .

Somit ergibt sich

f(x0) = 0, f ′(x0) = 1, f ′′(x0) = 0, f ′′′(x0) = −1, f (4)(x0) = 0, . . .

Die ersten 6 Taylor-Polynome lauten alsoT1(x) = 0 + 1(x− 0) = x,T2(x) = 0 + 1(x− 0) + 0

2 (x− 0)2 = x,T3(x) = 0 + 1(x− 0) + 0

2 (x− 0)2 − 16 (x− 0)3 = x− 1

6x3,

T4(x) = x− 16x

3,T5(x) = T6(x) = x− 1

6x3 + 1

120x5.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 315 / 367

Verschiedene AnwendungenDer Satz von Taylor: Bild zum Beispiel

f(x) = sinx (blau) mit den Taylorpolynomen T1(x) = T2(x) (grün), T3(x) = T4(x)(rot) und T5(x) = T6(x) (türkis) im Entwicklungspunkt x0 = 0.

Schätzen Sie den relativen Fehler∣∣ sin x−x

sin x

∣∣ der “Physiker-Näherung“ sinx ≈ x (|x|klein) für |x| < 0.1 mit dem Lagrangeschen Restglied ab.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 316 / 367

Verschiedene AnwendungenTaylor-Reihen

Verhält sich das Restglied „gutartig“, so approximieren die Taylorpolynome Tn dieFunktion f mit größer werdendem n nahe x0 immer besser.

Im günstigsten Fall lässt sich f in einer Umgebung von x0 durch eine Taylor-Reihedarstellen:

f(x) =

∞∑

n=0

f (n)(x0)

n!(x− x0)n für alle x mit |x− x0| < ε.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 317 / 367

Verschiedene AnwendungenTaylor-Reihen

Wichtige Taylor–Reihen:

(1− x)−1∞∑n=0

xn |x| < 1 arctan(x)∞∑n=0

(−1)nx2n+1

2n+ 1|x| ≤ 1

exp(x)∞∑n=0

xn

n!x ∈ R sinh(x)

∞∑n=0

x2n+1

(2n+ 1)!x ∈ R

sin(x)∞∑n=0

(−1)nx2n+1

(2n+ 1)!x ∈ R cosh(x)

∞∑n=0

x2n

(2n)!x ∈ R

cos(x)

∞∑n=0

(−1)nx2n

(2n)!x ∈ R artanh(x)

∞∑n=0

x2n+1

2n+ 1|x| < 1

ln(1 + x)

∞∑n=1

(−1)n+1xn

nx ∈ (−1, 1] (1 + x)a

∞∑n=0

(an

)xn |x| < 1

mit(a0

):= 1 und

(an

):=

a(a−1)···(a−n+1)n!

für alle n ∈ N und alle a ∈ R.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 318 / 367

Verschiedene AnwendungenTaylor-Reihen

Warnung Es soll aber vor dem Trugschluss gewarnt werden, der Satz von Taylor

garantiere die Entwickelbarkeit jeder unendlich oft differenzierbaren Funktion in eineTaylor-Reihe. Vielmehr gilt:

Es gibt Fälle, in denen die Taylor-Reihe für x 6= x0 überhaupt nichtkonvergiert.Es gibt Fälle, in denen die Taylor-Reihe für x 6= x0 konvergiert, aber mit dereigentlichen Funktion f nichts zu tun hat.

Zum Beispiel gilt für

f(x) =

{e−

1x2 , x 6= 0;

0, x = 0

die Beziehung Tn(x) = 0 für alle n ∈ N.

Informationen über die Konvergenz erhält man mit Hilfe des Restglieds. Dies sollhier aber nicht weiter diskutiert werden.Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 319 / 367

Ziele erreicht?

Sie sollten nun (bzw. nach Abschluss der Übungen/Selbststudium):

den Ableitungsbegriff und die Idee der linearen Approximation tiefgreifendverstanden haben,Funktionen sicher auf Differenzierbarkeit untersuchen und deren Ableitungmit Diffenzenquotient oder Ableitungsregeln sicher bestimmen können,alle Punkte einer Kurvendiskussion sicher ausführen können,Taylor-Polynome sicher berechnen können und wissen was man unter einerTaylor-Reihe versteht,über Newton-Verfahren und Fehlerfortpflanzung grob Bescheid wissen.

Sie sind sich nicht sicher oder meinen „nein“? Sie wissen schon. . .

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 320 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 321 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen6.1 Der Riemannsche Integralbegriff6.2 Integrationstechniken

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 322 / 367

Der Riemannsche Integralbegriff

Die Integralrechnung bildet das Gegenstück zur Differentialrechnung.Sie wurde parallel zu dieser von I. Newton und G.W. v. Leibniz entwickelt und spätervon A. L. Cauchy präzise gefasst.

Der hier vorgestellte Integralbegriff geht (zumindest sinngemäß) auf den deutschenMathematiker Bernhard Riemann (1826-1866) zurück.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 323 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffMotivierende Problemstellung

Gesucht ist der Flächeninhalt zwischen dem Graphen einer beschränkten Funktionf : [a, b]→ R und der x-Achse:

a b

f

Im Allgemeinen ist die Fläche krummlinig begrenzt; Formeln für elementare geome-trische Objekte scheiden also zur Lösung aus.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 324 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffLösungsstrategie

Das Problem ist einfach für stückweise konstante Funktionen, da sich dann derFlächeninhalt aus Rechtecken zusammensetzt.

Daher schachtelt man die Fläche unter dem Graphen von f von oben und untenmit Rechteckflächen ein und gewinnt so obere und untere Schranken.

Können sich die grauen und grünen Rechteckflächen von oben und unten beliebigweit derselben Schranke nähern, so ist diese die gesuchte Fläche.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 325 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffIntegral für Treppenfunktionen

Wir beschreiben diesen Zugang nun mathematisch exakt.

Definition 6.1Wir nennen t : [a, b]→ R eine Treppenfunktion, wenn es eine Zerlegung

a = x0 < x1 < x2 < · · · < xn = b

des Intervalls [a, b] gibt, so dass t auf jedem der (offenen) Teilintervalle (xi, xi+1)konstant ist, d. h.

t(x) = ξi für alle x mit xi < x < xi+1.

Für eine solche Treppenfunktion t setzt man∫ b

a

t(x) dx :=

n−1∑

i=0

ξi (xi+1 − xi).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 326 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffGeometrische Interpretation

x0 x1 x4x2x3 x5 x6

++

+

−+

ξ0

ξ1

ξ2

ξ3

ξ4

ξ5

∫ bat(x) dx entspricht dem gewichteten Flächeninhalt zwischen dem Graph von t

und der x-Achse. Dabei werden Flächen oberhalb der x–Achse positiv, Flächenunterhalb der x-Achse negativ gezählt.

Berechnen Sie∫ 1

−2sgn(x) dx (vgl. S. 195).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 327 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffOber- und Unterintegral

Zu jeder beschränkten Funktion f : [a, b]→ R können wir nun zwei Zahlen definie-ren, nämlich das Oberintegral

If := inf

{∫ b

a

t(x) dx : t Treppenfunktion auf [a, b] mit t ≥ f}

und das Unterintegral

If := sup

{∫ b

a

t(x) dx : t Treppenfunktion auf [a, b] mit t ≤ f}.

Diese beiden Größen helfen uns, die „Einschachtelung“ der Fläche unter dem Gra-phen von f mit Rechteckflächen mathematisch zu erfassen.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 328 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffDefinition

Definition 6.2 (Riemann-Integral)

Eine auf [a, b] beschränkte Funktion f heißt auf [a, b] Riemann-integrierbar, fallsdas Ober- und das Unterintegral übereinstimmen, d. h. falls If = If =: I.

Der gemeinsame Wert wird bestimmtes Riemann-Integral von f über [a, b]genannt und mit ∫ b

a

f(x) dx

bezeichnet. a heißt untere und b obere Integrationsgrenze, und [a, b] wirdIntegrationsintervall genannt. x heißt Integrationsvariable und f(x) Integrand.

Konventionen∫ aaf(x) dx := 0 und

∫ abf(x) dx := −

∫ baf(x) dx (falls a < b).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 329 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffRechenregeln I

Definition 6.2 liefert zwar kaum Anhaltspunkte für die konkrete Berechnung vonIntegralen, aber bereits einige Rechenregeln:

Satz 6.3 (Rechenregeln für die Integration I)

Sind f, g : [a, b]→ R integrierbar, so auch max{f, g}, min{f, g}, |f |, f ± g undfg.

Es gelten die folgenden Integrationsregeln:∫ b

a

(f ± g)(x) dx =

∫ b

a

f(x) dx±∫ b

a

g(x) dx,

∫ b

a

(λf)(x) dx = λ

∫ b

a

f(x) dx für alle λ ∈ R.

Machen Sie sich eine der Formeln zumindest für Treppen- funktionen klar. (Die„Vererbung“ der Eigenschaften an integrierbare Funktionen soll hier nichtdiskutiert werden.)

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 330 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffRechenregeln II

Satz 6.4 (Rechenregeln für die Integration II)

Seien f, g : [a, b]→ R integrierbar. Dann gilt∫ b

a

f(x) dx =

∫ c

a

f(x) dx+

∫ b

c

f(x) dx für alle c ∈ (a, b).

Falls f ≤ g auf (a, b) gilt, so folgt∫ b

a

f(x) dx ≤∫ b

a

g(x) dx.

Insbesondere folgt aus c ≤ f(x) bzw. f(x) ≤ C für alle x ∈ (a, b) :

c(b− a) ≤∫ b

a

f(x) dx bzw.∫ b

a

f(x) dx ≤ C(b− a).

Außerdem gilt ∣∣∣∣∣

∫ b

a

f(x) dx

∣∣∣∣∣ ≤∫ b

a

|f(x)|dx.

Interpretieren Sie einige dieser Aussagen geometrisch.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 331 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffKlassen integrierbarer Funktionen

Satz 6.5

Ist f auf [a, b] stetig oder monoton, so ist f auch integrierbar auf [a, b].

Natürlich gehört aber bei weitem nicht jede auf [a, b] integrierbare Funktion in einedieser beiden Klassen.

Aus dem Zwischenwertsatz für stetige Funktionen folgt desweiteren:

Satz 6.6 (Mittelwertsatz der Integralrechnung)

Ist f : [a, b]→ R stetig, dann gibt es ein ξ ∈ [a, b] mit∫ b

a

f(x) dx = f(ξ) (b− a).

Interpretieren Sie diese Aussage geometrisch.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 332 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffStammfunktionen und der HDI

Bislang haben sind wir noch gar nicht darauf eingegangen, wie man denn Integralekonkret berechnet.

Dazu benötigen wir den Begriff der Stammfunktion sowie den Hauptsatz der Differen-tial- und Integralrechnung.

Letzterer besagt, dass das Integrieren – unter gewissen Voraussetzungen und sehrgrob gesprochen – die „Umkehrung“des Differenzierens ist.

Das Ergebnis ist so berühmt und wichtig, dass es sogar eine Vertonung als Kantategibt.2

2(F. Wille, 1935-1992). Eine schöne Aufführung von Würzburger Gymnasiasten inclusiveanimierter Skizzen finden Sie unter http://www.youtube.com/watch?v=4n6aB4aasyg.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 333 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffStammfunktionen

Definition 6.7

Sei f : [a, b]→ R eine reelle Funktion. Man nennt eine differenzierbare FunktionF : [a, b]→ R eine Stammfunktion von f , wenn

F ′(x) = f(x) für alle x ∈ [a, b].

Beispiel: F (x) = x2 ist Stammfunktion von f(x) = 2x, denn F ′ = f .

Können Sie Stammfunktionen zu f(x) = ex und g(x) = cosx finden? Vielleichtsogar mehrere?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 334 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffIntegrationskonstanten und unbestimmtes Integral

Sind F1 und F2 Stammfunktionen von f , dann gibt es eine Konstante c ∈ R mit

F1(x) = F2(x) + c für alle x ∈ [a, b].

(Warum?) Stammfunktionen sind also bis auf Konstanten eindeutig bestimmt.

Stammfunktionen werden auch unbestimmte Integrale genannt und häufig in derForm

F (x) =

∫f(x) dx+ c

geschrieben. Die Konstante c heißt Integrationskonstante.

Was verstehen wir also unter den unbestimmten Integralen∫ex dx und∫

cosx dx?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 335 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffHauptsatz I

Zu stetigen Funktionen erhält man eine Stammfunktion wie folgt:

Satz 6.8 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, Teil I)

Sei f : [a, b]→ R stetig, dann ist die durch

F : [a, b]→ R, x 7→∫ x

a

f(s) ds

definierte Funktion F in [a, b] differenzierbar, und es gilt

F ′(x) =d

dx

(∫ x

a

f(s) ds

)= f(x).

Sämtliche Stammfunktionen einer stetigen Funktionen sind konsequenterweise vonder Bauart

F (x) =

∫ x

a

f(s) ds+ c. (6.1)

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 336 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffGraphische Darstellung

a x b

f

f (x)

F (x)

Dargestellt ist eine stetige Funktion f und ihre Stammfunktion F als Maß derschraffierten Fläche gemäß Satz 6.8.

Erarbeiten Sie sich die Beweisidee anhand der Skizze selbst. Nutzen Sie ggf. auchdie Literatur oder die Hauptsatzkantate.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 337 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffStammfunktionen spezieller Funktionen

Wegen der Beziehung F ′ = f liegt für die Bestimmung von Stammfunktionenzunächst das „Rückwärtslesen“ der Tabellen für Ableitungen (S. 274 f.) nahe.

Lernen Sie am besten folgende Stammfunktionen elementarer Funktionen auswen-dig:

f F Bemerkungenxn xn+1/(n+ 1) n 6= −11/x ln |x| x 6= 0eax eax/a a 6= 0lnx x lnx− x x > 0sinx − cosxcosx sinx

Prüfen Sie die Beispiele auf ihre Richtigkeit.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 338 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffRegeln für Stammfunktionen

Aus den Regeln für Ableitungen ergeben sich schließlich folgende Regeln für Stamm-funktionen (bis auf Integrationskonstanten):

∫λf(x) dx = λ

∫f(x) dx (λ ∈ R),

∫(f(x) + g(x)) dx =

∫f(x) dx+

∫g(x) dx.

Es ist anzumerken, dass die Berechnung von Stammfunktionen im Allgemeinenviel schwieriger ist als Differenzieren. Daher gibt es z. T. Hunderte Seiten dickeIntegraltafeln.

Deren Bedeutung hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten mit der Verfügbar-keit von PC und numerischen Verfahren deutlich relativiert.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 339 / 367

Der Riemannsche IntegralbegriffHauptsatz II

Kommen wir nun zur konkreten Berechnung der Integrale über Stammfunktionen:

Satz 6.9 (HDI, Teil II)

Sei f : [a, b]→ R stetig und F eine (beliebige) Stammfunktion von f , dann gilt:

∫ b

a

f(x) dx = F (x)∣∣ba

:= F (b)− F (a).

Man mache sich klar, warum Satz 6.9 aus (6.1) und Satz 6.8 folgt.

Man berechne∫ 2

1dxx mit Hilfe von Satz 6.9.

Man berechne ddx

∫ x−1te2t dt.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 340 / 367

Inhalt

1 Vorbemerkungen

1 Grundlagen

3 Folgen und Reihen

4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen

5 Differentialrechnung in einer Variablen

6 Integralrechnung in einer Variablen6.1 Der Riemannsche Integralbegriff6.2 Integrationstechniken

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 341 / 367

IntegrationstechnikenPartielle Integration

Wir nennen eine Funktion f : Df → R stetig differenzierbar, wenn sie auf Df

differenzierbar, und die Ableitung f ′ stetig ist.

Wir wollen hier wenigstens einige elementare Techniken zur Bestimmung von Inte-gralen/Stammfunktionen behandeln. Der folgende Satz entsteht z. B. durch „Inte-grieren“ der Produktregel:

Satz 6.10 (Partielle Integration)

Seien f, g : [a, b]→ R stetig differenzierbar. Dann gelten:∫f ′(x)g(x) dx = f(x)g(x)−

∫f(x)g′(x) dx (6.2)

und ∫ b

a

f ′(x)g(x) dx = f(x)g(x)∣∣∣b

a−∫ b

a

f(x)g′(x) dx. (6.3)

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 342 / 367

Integrationstechniken

Beispiel:∫xex dx = xex −

∫ex dx = (x− 1)ex + c.

Hierbei wurde in (6.2) f ′(x) = ex und g(x) = x gewählt, d. h. f(x) = ex undg′(x) = 1.

Das Beispiel ist typisch: Bei Produkten von Polynomen mit trigonometrischen Funk-tionen (sin, cos, exp) ist die partielle Integration Mittel der Wahl.

Man berechne folgende Integrale mittels partieller Integration:∫ π

0x sinx dx,

∫lnx dx,

∫cos2 x dx.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 343 / 367

Integrationstechniken

Durch „Integrieren“ der Kettenregel entsteht folgender Satz:

Satz 6.11 (Substitutionsregel)

Sei I ⊂ R ein Intervall, f : I → R stetig und ϕ : [a, b]→ I stetig differenzierbar.Dann gelten: ∫

f(ϕ(t))ϕ′(t) dt =

∫f(x) dx (6.4)

und ∫ b

a

f(ϕ(t))ϕ′(t) dt =

∫ ϕ(b)

ϕ(a)

f(x) dx. (6.5)

Die Formeln (6.4) und (6.5) merken sich besonders gut in Leibniz-Notation, wennman x = ϕ(t) und dx = ϕ′(t) dt setzt.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 344 / 367

IntegrationstechnikenBeispiele

Substituiert man in ∫ 2

1

cos(ln(t))

tdt

x = ϕ(t) = ln t, so gilt ϕ′(t) = 1t und daher mit (6.5):

∫ 2

1

cos(ln t)

tdx =

∫ ln 2

0

cosx dx = sinx∣∣∣ln 2

0= sin(ln 2) ≈ 0.639.

In Leibniz-Notation würde man x = ln t schreiben und dxdt = 1

t in dt = t dx„umformen“. Einsetzen ins Integral liefert dann ebenso

∫ 2

1

cos(ln t)

tdt =

∫ ln 2

0

cosx

CtCtdx = . . . = sin(ln 2).

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 345 / 367

IntegrationstechnikenBeispiele

Entscheidend ist das Erkennen der Struktur f(ϕ(t))ϕ′(t). Haben Sie diese Struktureinmal erfasst, führt die Substitution auch zum Ziel.

Zusätzliche Konstanten im Integranden sind wegen der Linearität des Integrals un-problematisch.

Besonders einfach sind Integranden der Form f(at + b). Kennt man eine Stamm-funktion von f , führt die Substitution x = at+ b zum Ziel.

Berechnen Sie∫tet

2+1 dt und∫ 1

01√

3t+1dt.

Welche Substitutionen sind in folgenden Integralen zweckmäßig:

∫sin(2t−5) dt,

∫t

17cos(t2+4) dt,

∫e1+√t

√t

dt,

∫dt

t2 + 2t+ 2?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 346 / 367

IntegrationstechnikenBeispiele

Für eine invertierbare Funktion ϕ liefert (6.5) desweiteren

∫ b

a

f(x) dx =

∫ ϕ−1(b)

ϕ−1(a)

f(ϕ(t))ϕ′(t) dt.

Auch dies lässt sich geschickt nutzen. Mit x = ϕ(t) = sin t erhält man für −1 ≤a < b ≤ 1 zum Beispiel

∫ b

a

√1− x2 dx =

arcsin b∫

arcsin a

√1− sin2 t cos t dt =

arcsin b∫

arcsin a

cos2 t dt.

Das letztere Integral hatten wir bereits auf S. 343 ausgewertet. Es ergibt sich

∫ b

a

√1− x2 dx =

1

2(x+ sinx cosx)

∣∣∣arcsin b

arcsin a.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 347 / 367

IntegrationstechnikenWeitere nützliche Regeln

Seien f : [a, b]→ R stetig differenzierbar, r ∈ R (r 6= −1) undfr auf [a, b] definiert. Dann gilt

∫f ′(x)(f(x))r dx =

1

r + 1(f(x))r+1 + c.

Sei f : [a, b]→ R stetig differenzierbar mit f(x) 6= 0 für alle x ∈ [a, b]. Danngilt ∫

f ′(x)

f(x)dx = ln(|f(x)|) + c.

Machen Sie sich die beiden Aussagen mit Hilfe geeigneter Substitutionen klar.

Berechnen Sie∫

sin3(x) cos(x) dx und∫ 3

2dx

x ln(x) .

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 348 / 367

IntegrationstechnikenIntegration rationaler Funktionen

Erinnerung: Rationale Funktionen sind von der Form

f(x) =p(x)

q(x),

wobei p und q Polynome sind. Falls grad(p) ≥ grad(q) erhält man mittels Poly-nomdivision eine Zerlegung

f(x) =p(x)

q(x)= s(x) +

t(x)

q(x),

mit Polynomen s und t, wobei grad(t) < grad(q).

Somit gilt∫f(x) dx =

∫p(x)

q(x)dx =

∫s(x) dx+

∫t(x)

q(x)dx.

Die Integration von s ist einfach, daher konzentrieren wir uns auf den „echt“ gebro-chen rationalen Anteil tq .Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 349 / 367

IntegrationstechnikenPartialbruchzerlegung

Für die Integration des echt gebrochen rationalen Anteils benötigt man eine soge-nannte Partialbruchzerlegung.

Dafür beschafft man sich zunächst die Faktorisierung des Nennerpolynoms

q(x) = a0 + a1x+ . . .+ anxn

= an

k∏

j=1

(x− λj)µjm∏

j=1

(x2 + pjx+ qj

)νj, (6.6)

(wobei n =grad(q) und∑kj=1 µj + 2

∑mj=1 νj = n, λj und (pj , qj) paarweise

verschieden, vgl. Satz 2.29 und S. 222).

Für die Integration noch günstiger schreibt man (6.6) mittels quadratischer Ergän-zung als:

q(x) = an

k∏

j=1

(x− λj)µjm∏

j=1

((x− αj)2 + βj

)νj

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 350 / 367

IntegrationstechnikenPartialbruchzerlegung

Der folgende Satz hilft uns nun, g(x) := t(x)q(x) in eine für die Integration geeignete

Struktur zu bringen:

Satz 6.12

Unter diesen Voraussetzungen und mit diesen Bezeichnungen gibt es eindeutigbestimmte reelle Zahlen

ηj,t (j = 1, 2, . . . , k, t = 1, 2, . . . , µj)

σj,s (j = 1, 2, . . . , `, s = 1, 2, . . . , νj)

τj,s (j = 1, 2, . . . , `, s = 1, 2, . . . , νj),

so dass g die folgende Partialbruchzerlegung besitzt:

g(x) =

k∑

j=1

µj∑

t=1

ηj,t(x− λj)t

+∑

j=1

νj∑

s=1

σj,s + τj,sx

((x− αj)2 + β2j )s

. (6.7)

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 351 / 367

IntegrationstechnikenPartialbruchzerlegung

Möglicherweise finden Sie folgende Darstellung von (6.7) übersichtlicher:

g(x) =η1,1

x− λ1+

η1,2

(x− λ1)2+ . . .+

η1,µ1

(x− λ1)µ1

+ . . .

+ηk,1

x− λk+

ηk,2

(x− λk)2+ . . .+

ηk,µk(x− λk)µk

+σ1,1 + τ1,1x

(x− α1)2 + β21

+σ1,2 + τ1,2x

((x− α1)2 + β21)2

+ . . .+σ1,ν1 + τ1,ν1x

((x− α1)2 + β21)ν1

+ . . .

+σ`,1 + τ`,1x

(x− α`)2 + β2`

+σ`,2 + τ`,2x

((x− α`)2 + β2` )2

+ . . .+σ`,ν` + τ`,ν`x

((x− α`)2 + β2` )ν`

Im konkreten Beispiel kann man auf die Doppelindizierung verzichten und für dieUnbekannten ηj,t, σj,s und τj,s eingängigere Bezeichnungen (z. B.A,B,C, . . .) wäh-len.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 352 / 367

IntegrationstechnikenPartialbruchzerlegung

Bei der Konstruktion einer Partialbruchzerlegung wählt man also den passendenAnsatz nach Satz 6.12 und muss dann die Koeffizientenηj,t, σj,s und τj,s bestimmen.

Dafür multipliziert man beide Seiten von (6.7) mit q(x) und gleicht dann die Koef-fizienten der links und rechts stehenden Polynome ab.

Eine noch günstigere Variante ist häufig, nach Multiplikation mit q(x) genau nverschiedene Werte für x einzusetzen und das entstehende lineare Gleichungssystemzu lösen.

Eine besonders günstige Wahl für die einzusetzenden Werte sind dabei die Nullstellenλj von q.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 353 / 367

IntegrationstechnikenPartialbruchzerlegung

Am leichtesten erlernt man die Partialbruchzerlegung anhand von Beispielen:

Man bestimme eine Partialbruchzerlegung von

f(x) =5x2 − 37x+ 54

x3 − 6x2 + 9x.

Welche Ansätze sind für die Partialbruchzerlegungen folgender Funktionen zuwählen?

g(x) =42

x3(x+ 1)2, h(x) =

1

(x+ 1)2(x2 + 1).

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IntegrationstechnikenPartialbruchzerlegung

Die Funktionen aus (6.7) besitzen folgende Stammfunktionen:

f(x) F (x) =∫f(x) dx

1x−λ ln(|x− λ|) λ ∈ R

1(x−λ)k

− 1k−1

1(x−λ)k−1 k ∈ N, t > 1

1(x−α)2+β2

1β arctan

(x−αβ

)α, β ∈ R, β 6= 0

x(x−α)2+β2

12 ln

((x−α)2+β2

)+ α

β arctan x−αβ

Die verbleibenden Integrale müssen rekursiv berechnet werden:∫x dx

((x−α)2+β2)k=

−1

2(k−1) ((x− α)2+β2)k−1+ α

∫dx

((x− α)2+β2)k,∫

dx

((x−α)2+β2)k=

x− α2(k−1)β2 ((x−α)2+β2)k−1

+2k − 3

2(k−1)β2

∫dx

((x−α)2+β2)k−1

für k ∈ N, k > 1.

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IntegrationstechnikenPartialbruchzerlegung

Wir fassen die Schritte zur Integration einer rationalen Funktion f(x) = p(x)q(x) noch

einmal zusammen:

Spalte mittels Polynomdivision den echt gebrochen rationalen Anteil ab:

f(x) = s(x) +t(x)

q(x)mit grad(t) < grad(q)

Berechne für g(x) = t(x)q(x) eine Partialbruchzerlegung und integriere die

entstehenden Summanden mit Hilfe der Formeln und Tabellen auf Seite 355.Das verbleibende Integral über s(x) ist einfach.

Man bestimme auf diese Weise∫ b

a

2x4 − 12x3 + 23x2 − 37x+ 54

x3 − 6x2 + 9xdx.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 356 / 367

Uneigentliche Integrale

Bisher können wir nur beschränkte Funktionen und beschränkte Intervalle behan-deln. Wir erweitern den Integralbegriff daher ein wenig.

Definition 6.13 (Uneigentliches Integral)

Sei b ∈ R ∪ {∞} und f : [a, b)→ R auf jedem Intervall [a, r] mit a < r < b,Riemann-integrierbar. Falls

limr→b−

∫ r

a

f(x) dx =:

∫ b

a

f(x) dx

existiert, so heißt f auf [a, b) uneigentlich Riemann-integrierbar.Man sagt auch,

∫ baf(x) dx ist konvergent.

Analog für f(a, b]→ R oder f : (a, b)→ R mit a ∈ R ∪ {−∞}.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 357 / 367

Uneigentliche Integrale

Von besonderem Interesse sind häufig folgende Fälle:

der Integrand ist bei Annäherung an eine der Integrationsgrenzenunbeschränkt (links),das Integrationsintervall ist unbeschränkt (rechts).

a br

f

a r

f

Bestimmen Sie∞∫1

dxx2 sowie

42∫0

dx√x.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 358 / 367

Uneigentliche IntegraleWeitere Beispiele

Für r > 1 und a > 0 gilt∫ ∞

a

dx

xr=

1

(r − 1) ar−1.

Dagegen existiert∫∞a

dxxr für r ≤ 1 nicht.

In der Stochastik benötigt man häufig∫ ∞

−∞exp(−x2) dx =

√π.

Zu welchem Ergebnis aus dem Kapitel Reihen erkennen Sie im ersten BeispielParallelen?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 359 / 367

Volumenberechnung bei Rotationskörpern

Für die Berechnung krummflächig berandeter Körper benötigt man eigentlich mehr-dimensionale Integrale.

Bei Körpern, die durch Rotation eines Funktionsgraphen um die x-Achse entstehen,reichen jedoch eindimensionale Integrale aus.

Man nennt solche Körper Rotationskörper.

f

x

dxdxdxa b

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 360 / 367

Volumenberechnung bei Rotationskörpern„Herleitung“ der Volumenformel in Leibniz-Notation

Die Größe dx wird als „infinitesimal“ kleine Zahl interpretiert; das Integral als Sum-me (beachte stilistische Ähnlichkeit von „

∫“ und „S“).

Für das Volumen der grau markierte Scheibe gilt für sehr kleine dx

VScheibe ≈ π[f(x)]2 dx.

Damit ergibt sich für das Volumen VK des Rotationskörpers

VK = π

∫ b

a

[f(x)]2 dx

(Natürlich steckt hinter dieser „Herleitung“ eigentlich wieder ein Grenzwertprozess.)

Welches Volumen hat der Körper, der durch Rotation des Graphen vonf : [1, r]→ R, f(x) = 1

x , um die x-Achse entsteht?

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 361 / 367

Quadraturformeln – ein erster Einblick

Nur die wenigsten Integrale kann man geschlossen auswerten; in den allermeistenFällen ist man auf numerische Näherungsverfahren – sogenannte Quadraturverfah-ren – angewiesen.

Prominente Integrale, die sich nachweislich nicht durch elementare Stammfunktio-nen bestimmen lassen, sind zum Beispiel

Φ(x) :=2√π

∫ x

0

e−s2

ds (x ∈ R).

Die entstehende Funktion x 7→ Φ(x) heißt Fehlerfunktion.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 362 / 367

Quadraturformeln – ein erster Einblick

Als Vorbetrachtung ersetzen wir eine stetige Funktion f : [a, b]→ R näherungsweisedurch ihre Sekante s durch (a, f(a)) und (b, f(b)).

f

a b

s

Damit erhalten wir die Näherungsformel∫ b

a

f(x) dx ≈ 1

2(b− a)(f(a) + f(b)). (6.8)

Schon anschaulich wird klar, dass diese Formel im Allgemeinen nur sehr grobeNäherungen liefern kann.Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 363 / 367

Quadraturformeln – ein erster Einblick

Wesentlich bessere Ergebnisse erhält man aber, wenn man [a, b] in N gleichlangeTeilintervalle [xi, xi+1] unterteilt mit

xi = a+ ih (i = 0, 1, . . . , N) mit h = (b− a)/N.

und die einfache Trapezregel (6.8) über jedem Teilintervall anwendet:

∫ b

a

f(x) dx ≈N−1∑

i=0

1

2h (f(xi) + f(xi+1)) (6.9)

= h

[1

2f(x0)+f(x1)+f(x2)+. . .+f(xN−1)+

1

2f(xN )

].

Wir bezeichnen den Ausdruck auf der rechten Seite als Trapezsumme Tf (h) unddie Formel (6.9) als zusammengesetzte Trapezregel.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 364 / 367

Quadraturformeln – ein erster Einblick

Alternativ kann man f lokal auch durch quadratische Polynome ersetzen, und da-durch eine noch bessere Approximation erreichen:

Dieser Ansatz führt letztlich auf die zusammengesetzte Simpsonregel:∫ b

af(x) dx ≈

h

3[f(x0)+4f(x1)+2f(x2)+4f(x3)+2f(x4)+. . .+4f(xN−1)+f(xN )] .

Dabei ist N gerade zu wählen. Den Term auf der rechten Seite bezeichnen wir mitSf (h).Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 365 / 367

Natürlich will man wissen, wie groß der resultierende Fehler bei Verwendung einerQuadraturformel ist. Dabei hilft uns:

Satz 6.14 (Quadraturfehler Trapez- und Simpsonregel)

Ist f auf [a, b] zweimal stetig differenzierbar, dann gilt∣∣∣∣∣

∫ b

a

f(x) dx− Tf (h)

∣∣∣∣∣ ≤b− a

12h2 max

a≤x≤b|f ′′(x)|.

Ist f auf [a, b] viermal stetig differenzierbar, dann gilt∣∣∣∣∣

∫ b

a

f(x) dx− Sf (h)

∣∣∣∣∣ ≤b− a180

h4 maxa≤x≤b

|f (4)(x)|.

Welche der beiden Regeln ist für genügend kleine h genauer? Approximieren Sieein bekanntes Integral Ihrer Wahl mit beiden Quadraturformeln für mehreregeeignete Werte von h.

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 366 / 367

Ziele erreicht?

Sie sollten nun (bzw. nach Abschluss der Übungen/Selbststudium):

den Begriff des Riemann-Integrierbarkeit tiefgreifend verstanden haben,den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung beherrschen undIntegrale mit Hilfe der Stammfunktion berechnen können,die Stammfunktionen zu den gängigen elementaren Funktionen kennen (ambesten auswendig),einige Integrationstechniken sicher anwenden können (part. Integration,Substitution, einfache Fälle der Partialbruchzerlegung),uneigentliche Integrale und das Volumen von Rotationskörpern sicherberechnen können,über Quadraturformeln grob bescheidwissen.

Sie sind sich nicht sicher oder meinen “nein“? Naja, . . .

Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 367 / 367