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Die beseelte, liebende und leidende Frau in Fouqués Undine und Bachmanns Undine geht Zum Frauenbild in der Epoche der Romantik und in der Nachkriegsliteratur An der Universität Zagreb, Philosophische Fakultät, Abteilung für Germanistik, im Masterstudiengang der Kultur- und Literaturwissenschaften eingereichte Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Master of Arts (M. A.) vorgelegt von Lea Talijančić, geboren am 26.03.1990 in Split, Kroatien Eingereicht am 09.12.2013 Mentorin: dr.sc. Milka Car Priji ć Gutachter: dr.sc. Svjetlan Lacko Vidulić, dr.sc. Marijan Bobinac

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Die beseelte, liebende und leidende Frau in Fouqués Undine

und Bachmanns Undine geht

Zum Frauenbild in der Epoche der Romantik und in der

Nachkriegsliteratur

An der Universität Zagreb,

Philosophische Fakultät, Abteilung für Germanistik,

im Masterstudiengang der Kultur- und Literaturwissenschaften eingereichte

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades eines

Master of Arts (M. A.)

vorgelegt von Lea Talijančić,

geboren am 26.03.1990 in Split, Kroatien

Eingereicht am 09.12.2013

Mentorin: dr.sc. Milka Car Prijić

Gutachter: dr.sc. Svjetlan Lacko Vidulić, dr.sc. Marijan Bobinac

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Inhalt

1. Einleitung .................................................................................................................................. 3

2. Mythos ...................................................................................................................................... 4

2.1. Ursprünge und Bearbeitungen des Undine – Mythos ............................................................... 5

3. Friedrich de la Motte Fouqués romantische Wasserfrau ........................................................... 7

4. Undine - Eine Erzählung........................................................................................................... 8

5. Romantisches Frauenbild ........................................................................................................ 11

5.1. Frauenzimmer aus Kants Perspektive .................................................................................... 12

5.2. Jean-Jacques Rousseaus Erziehungskonzept .......................................................................... 14

5.3. Der passive und aktive Geschlechtstrieb nach Fichte ............................................................. 16

6. Analyse des Konzepts der Weiblichkeit bei Fouqués Undine ................................................ 19

6.1. Frau als unmündiges Kind ...................................................................................................... 20

6.2. Frau als Körper........................................................................................................................ 22

6.3. Darstellung der weiblichen Sexualität .................................................................................... 24

6.4. Demütige und dienende Frau .................................................................................................. 25

6.5. Frau als leidendes Subjekt....................................................................................................... 28

6.6. Fazit......................................................................................................................................... 29

7. Das dreißigste Jahr – Erwachen in einer Utopie .................................................................... 29

8. Undine geht ............................................................................................................................. 31

9. Unterschiede zwischen Bachmanns und Fouqués Undine ...................................................... 33

10. Unbehagen der Geschlechter .................................................................................................. 36

11. Undines Gender Trouble ......................................................................................................... 43

11.1. Wahrnehmung der Welt durch die Sprache ......................................................................... 43

11.2. Manipulierbarkeit der menschlichen Sprache ..................................................................... 44

11.3. Sprache und Geschlechteridentität ...................................................................................... 46

11.4. Diagnose der Hans-Gesellschaft ......................................................................................... 48

12. Schlussfolgerung ..................................................................................................................... 50

13. Literaturverzeichnis ................................................................................................................ 52

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You make me feel like a natural woman.

When my soul was in the lost and found

You came along to claim it.1

1. Einleitung

In der vorliegenden Arbeit werden zwei Prosatexte behandelt, die die gleiche mythische

Figur der Wasserfrau Undine zum Thema haben. Undine ist ein Elementarwesen, das der

mythologischen Gattung Nymphe angehört und das alchemistische Naturelement Wasser verkörpert.

Dieses Wasserwesen hat das Äußere einer Frau, jedoch kann dieses die menschliche Seele erst

durch die Heirat mit einem Mann erwerben. Im 16. Jahrhundert wurde Undine vom deutschen

Alchemisten, Arzt und Philosophen Paracelsus zum ersten Mal ausführlicher definiert. Seitdem

erfuhr die Figur zahlreiche künstlerische Bearbeitungen. In den Fokus der vorliegenden Arbeit

kommen zwei Texte, die sich besonders prägend für die Gestaltung und Rezeption des Undine-

Stoffes erwiesen haben. Im ersten Teil der Arbeit soll Undine als eine mythologische Figur

vorgestellt werden. Im zweiten Teil wird die 1811 veröffentlichte romantische Erzählung Undine

von Friedrich de la Motte Fouqué, einem wichtigen Vertreter der deutschen Romantik, analysiert.

Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf der Darstellung der Frauenrolle in Fouqués Werk. Hiermit

wird auf Theorien von den drei deutschen Philosophen, Immanuel Kant, Jean-Jaques Rousseau und

Johann Gottlieb Fichte, eingegangen. Ihre Überlegungen zu Geschlechterverhältnissen finden in

Fouqués Undine eine starke Resonanz und ermöglichen ein besseres Verständnis der Frauenrolle in

der Romantik. Im Mittelpunkt des dritten Teils dieser Arbeit steht eine neuere Version des Undine-

Mythos, und zwar die 1961 von der österreichischen Autorin Ingeborg Bachmann herausgegebene

poetische Erzählung Undine geht. Bachmann veröffentlicht eine feministisch-poetische Bearbeitung

der Wasserfrau-Thematik. Diese Arbeit präsentiert ein neues Undine-Bild mit besonderer

Berücksichtigung der feministischen Komponenten. Bachmanns Erzählung wird parallel zu Judith

Butlers Unbehagen der Geschlechter gelesen. Genauso wie Fichtes, Kants und Rousseaus Texte ein

neues Licht auf Fouqués Wasserfrau werfen, bietet Butlers epochales Werk einen überzeugenden

Rahmen für die Auslegung des von Bachmann gezeichneten Frauenbildes.

1Franklin, Aretha: You Make Me Feel Like a Natural Woman. Album: Lady Soul. CD. Atlantic.1967.

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2. Mythos

„So ist die Literatur, obwohl und sogar sie immer ein Sammelsurium von Vergangenem und

Vorgefundenem ist, immer das Erhoffte, das Erwünschte, das wir ausstatten aus dem Vorrat unseres

Verlangens - so ist sie ein nach vorn geöffnetes Reich von unbekannten Grenzen“2 betonte Ingeborg

Bachmann in ihrer fünften Frankfurter Vorlesung über die Literatur als Utopie. Daraus geht hervor -

aus Literatur wird Literatur geschöpft. Aus alten Stoffen emanzipieren sich neue Motive und

Figuren, die zu Hauptträgern von neuen Texten werden. Mit dem Thema beschäftigte sich auch

Julia Kristeva, die die folgenden Interpretation nahelegte: „Jeder Text baut sich als Mosaik von

Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes.“3 Einen besonders

fruchtbaren Boden für die literarische Bearbeitung stellen die Mythen dar. „Denn am Anfang der

Literatur ist der Mythos, und ebenso am Ende”4, so beschreibt Jorge Luis Borges das Verhältnis

zwischen Literatur und Mythos. Mythen erschaffen eine Datenbasis von Motiven, Charakteren,

Handlungsorten und Geschichten, die von Autoren übernommen, verarbeitet und neu interpretiert

werden. Dieser Wechselbeziehung steht das unerschöpfliche interpretative Potenzial des Mythos

zugrunde. In seiner Abhandlung Arbeit am Mythos hebt Hans Blumenberg die narrative Struktur des

Mythos hervor:

„Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ih res narrativen Kerns und ebenso

ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaften machen Mythen

traditionsgängig: ihre Beständigkeit erg ibt den Reiz, sich auch in bildnerischer oder ritueller Darstellung

wiederzuerkennen, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der

Darbietung“5

In diesem Zusammenhang lässt sich die Wasserfrau Undine als ein mythisches Produkt lesen, das

über Jahrzehnte erfolgreich vom europäischen Publikum rezipiert wurde.

Da sich die Diskussion um den Mythos in unterschiedlichen Bahnen bewegt und dabei keine

einheitliche Definition ergibt, sind verschiedene Begriffsbestimmungen vom Mythos vorzufinden.

Zum Bedarf dieser Arbeit wird kurz das Konzept des literarischen Mythos vorgestellt. „Als

literarischer Mythos tritt der Begriff wiederum als bewegliche Größe auf, die darauf beruht, Mythen

stets umschreiben zu können, wodurch der Aspekt der Varianz in die traditionelle Mythenrezept ion

2Bachmann, Ingeborg: Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung. München: Serie Piper 1980,

S.258. 3Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Ihwe, Jens (Hg.): Literaturwissenschaft und

Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. Frankfurt am

Main: Athenaum Verlag 1972, S. 345. 4 Borges, Jorge Luis: Parabel von Cervantes und Don Quijote. In: Borges, Jorge Louis: Borges und ich. Gedichte und

Prosa. München: Fischer 1969, S.45. 5Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp1984, S.40.

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Eingang findet“ 6 . Ein wichtiger Aspekt des literarischen Mythos ist seine Offenheit für

unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten. In dieser Hinsicht eignet sich der literarische Mythos

gut für neue Umschreibungen, Bearbeitungen und kritische Auseinandersetzungen mit

vorhergehenden Texten. Der literarische Mythos durchläuft stets neue Transformationsprozesse und

erhält dabei neue Inhalte. Seine permanente Aktualisierung geht mit der Intention einher,

gesellschaftliche Phänomene widerzuspiegeln und sie parallel zu kommentieren. Daher lässt sich

der Mythos als ein dichterisches Mittel zur Kritik neuer Begebenheiten anwenden.

Der Undine-Stoff wird in dieser Arbeit als literarischer Mythos betrachtet, der seine

literarische Existenz, Erkennbarkeit und symbolische Kraft dem Zeitalter der Romantik verdankt.

Obgleich Undine als Figur schon im 16. Jahrhundert ins Leben gerufen wurde, fände dieser Mythos

seinen populärsten und folgenreichsten Ausdruck in der Undine-Erzählung von Fouqué, behauptet

Inge Stephan in ihrem einflussreichen Artikel Weiblichkeit, Wasser und Tod, in dem sie sich intensiv

mit dem literarisch-kulturellem Phänomen der Wasserfrau beschäftigte. Stärker als alle anderen

früheren prosaischen oder poetischen Bearbeitungen des Wasserfrau-Mythos kreierte Fouqués Text

„ein Bild von der Frau als Natur- und Elementarwesen, das seinerseits Ausgangspunkt für eine

eigene Traditionslinie werden sollte.“7

2.1. Ursprünge und Bearbeitungen des Undine – Mythos

Die Beschäftigung mit Nymphen und Wasserfrauen reicht zwar auf Platos Zeit zurück, der

Wasserfrau Undine wurde jedoch erst im 1566 veröffentlichten Werk Liber de nymphis, sylphis,

pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus von Paracelsus Name und Charakter erteilt. Der

deutsche Alchemist, Arzt und Philosoph Paracelsus entwarf ein neues Weltkonzept, das sich in vier

Naturelemente, nämlich Erde, Wasser, Luft und Feuer, aufteilen lässt. Den vier Elementen stehen

bestimmte Geisterwesen, bzw. Elementarwesen vor. Die im Wasser wohnhaften Wesen sind

Nymphen, die in der Luft Sylphen, die in der Erde Pygmäen (Zwerge) und im Feuer sind

Salamander zu finden. Menschen und Elementarwesen führen ein relativ harmonisches

Zusammenleben auf der Erde. Die Grenzen zwischen menschlicher Zivilisation und elementarer

Natur sind durchlässig und man verkehrt ununterbrochen miteinander. Ihrem Äußeren nach sind die

6Clemens, Götze: Ich werde weiterleben und richtig gut. Moderne Mythen des 21. Jahrhunderts. Berlin:

Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2011, S.9. 7Stephan, Inge: Weiblichkeit, Wasser und Tod. Undinen Melusinen und Wasserfrauen bei Eichendorff und Fouqué. In:

Berger, Renate; Stephan, Inge: Weiblichkeit und Tod in der Literatur. Köln: Böhlau 1988, S.221.

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Elementarwesen den Menschen ähnlich, sie haben aber keine Seele und bleiben deshalb den

Menschen unterlegen.

So ist es mit den Wasserleuten, sie kommen aus ihren Gewässern heraus zu uns, lassen sich

kennenlernen und handeln und wandeln mit uns, gehen wieder fort in ihr Wasser, kommen wieder, das

alles, damit der Mensch Gottes Werke betrachte. Nun sind sie zwar Menschen, aber nur im Tierischen

(Sinne) ohne Seele. Darauf folgt nun aber, daß sie mit den Menschen verheiratet werden können, also

daß eine Wasserfrau einen von Adam stammenden zum Manne n immt, mit ihm Haus hält und ihm

Kinder gebärt. Was nun die Geburt der Kinder betrifft, so wisset nun, daß sie dem Mann e nachgeraten.

[ . . . ] Nun aber ist auch das mit rechtem Wissen zu erfassen, daß auch solche Frauen eine Seele

empfangen dadurch, daß sie vermählt werden. Also daß sie wie andere Frauen vor Gott und durch Gott

erlöst sind.8

Friedrich de la Motte Fouqué hat das Paracelsische Bild der Wasserfrau Undine in seine

romantische Erzählung vollkommen integriert. Fouqué gestaltet eine weibliche Figur, die dem

Wasser entsprang, um in die Menschenwelt aufzusteigen. Auf der Erde angekommen, strebt sie eine

liebevolle Ehe mit einem Mann an, durch die sie eine Seele erlangen kann. Die bezaubernd hübsche

Undine verliebt sich in den braven Ritter Huldbradt. Die gegenseitige Liebe mündet bald in einer

idyllischen Vermählung. Dennoch wird das harmonische Zusammenleben des Naturwesens und des

Menschen von äußeren und inneren Kräften unterbrochen, was zum Tod des Ehemannes, zu

Undines Rückkehr ins Wasser und zur endgültigen Trennung der zwei Welten führt.

Fouqués Undine erlebte im 19. und 20. Jahrhundert zahlreiche Bearbeitungen in Literatur,

Musik und bildender Kunst, was das große mythologische Potenzial der Undine-Figur beweist.

Fünf Jahre nach der Veröffentlichung Fouqués epochalen Märchens komponierte E.T.A. Hoffmann,

nach Fouqués Grundlage, die romantische Zauberoper Undine. 1845 griff Albert Lortzing das

Undine- Liberetto auf und schuf seine Version der Zauberoper. 1939 wird Undine in Form eines

Theaterstücks auf die Bühne gebracht und später für den Hörfunk adaptiert. Einer der bedeutendsten

deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts Hans Werner Henze bediente sich 1957 Fouqués

Vorlage und wandelte Undines Geschichte in ein Ballett um. 1961 taucht Undine in einer

veränderten Form in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur auf. In Ingeborg Bachmanns

Prosaband Das Dreißigste Jahr bekommt die Liebesgeschichte zwischen der Wassernixe und dem

Ritter eine neue literarische Bedeutung. Nicht nur in motivgeschichtlicher Hinsicht, sondern auch

in Hinsicht auf den philosophischen Kontext erbrachte Bachmann ein vielfältiges Stück. Als

literarische Figur besitzt Undine unverkennbar eine starke literarische Existenz sowie eine dem

Mythos inhärente „hochgradige Beständigkeit seines narrativen Kerns... (und eine) ...ausgeprägte

8 Hohenheim, Theophrast von (Paracelsus): Das Buch von den Nymphen, Sylphen, Pygmaeen, Salamandern und den

übrigen Geistern. Marburg/Lahn: Basilisken-Presse 1996, S.38.

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Variationsfähigkeit“9. Darüber hinaus veranschaulicht Undine mit ihren zahlreichen Interpretationen

eine Fusion von Künsten sowie eine Fusion von Mythos, Kunst und Philosophie, welche über die

Sphäre des Literarischen hinausgeht und ihrer Leserschaft neue Gedankenwege vorschlägt. „Die mit

Mythos fusionierte Kunst kann ihm [dem Mythos] zur Neuaufladung und Wiederherstellung

verhelfen; der mit der Kunst fusionierte Mythos kann ihr [der Kunst] überhistorisches Potenzial

aktivieren“10 Obwohl Undine von einer scheiternden Symbiose zwischen Menschen- und Naturwelt

erzählt, kann sie als ein außerordentliches Beispiel für die erfolgreiche Synergie zwischen Kunst

und Mythos sowie zwischen Philosophie und Literatur verstanden werden.

3. Friedrich de la Motte Fouqués romantische Wasserfrau

Baron Friedrich de la Motte Fouqué galt im frühen 19. Jahrhundert als einer der beliebtesten

und bekanntesten Schriftsteller der Epoche. „Seine Schriften wurden damals mehr gelesen als

diejenigen Goethes, berichtete Eichendorff. Heine bezeichnete ihn als den einzigen epischen

Dichter der romantischen Schule, dessen Romane das ganze romantische Auditorium ansprachen,

wobei E.T.A. Hoffmann Fouqué einen unumschränkten Herrn des Wunderbaren nannte.“ 11 Im

dynamischen intellektuellen Leben Berlins um 1810 nahm Fouqué eine zentrale Stelle ein. Seine

Werke fanden europaweit beträchtliche Anerkennung. Im Ausland wurde der Autor, der zu Hause

schon einen Ruf des Viel- und Erfolgsschreibers hatte, zum Inbegriff der deutschen Romantik.

Seine größten literarischen Erfolge fallen in die Zeit der Napoleonischen Kriege und zeigen die

generelle gesellschaftlich-politische Atmosphäre der Romantik auf. Bei Fouqué fällt ebenso die

Tendenz zur Wiederbelebung der alten germanischen Stoffe und Mythen auf, die zur Steigerung des

nationalen Bewusstseins beitragen sollte. Der Schriftsteller griff gerne auf die alten deutschen

Motive zurück, was ihn als einen der wichtigsten Vertreter der deutschen Romantik etablierte.

Seine Romane, Gedichte, Erzählungen und Dramen übten eine nachhaltige Wirkung auf die

literarische Szene der deutschen Romantik aus. Anregend wirkte er auch auf viele Autoren, was

zahlreiche Bearbeitungen des von ihm bekanntgemachten Undine-Stoffes deutlich zeigen.

9Blumenberg: a.a.O., S.40.

10Cancik, Hubert: Literarischer Mythos. In: Cancik, Hubert; Gladigow, Burkhard; Kohl, Karl-Heinz (Hg.).Handbuch

religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 1998, S.196. 11

Schulz, Gerhard: Fouqué als Erzähler. Nachwort. In: Schulz, Gerhard (Hg.). Friedrich de la Motte Fouqué.

Romantische Erzählungen. Der Zauberring. Ein Ritterroman. München: Winkler Verlag 1984, S.493.

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Nach ihrer Veröffentlichung 1811 wurde die Erzählung zum sofortigen Erfolg. Verschiede ne

Themenkreise, romantische Motive und Bilder ebenso wie Gedanken und zeitgenössische

Philosophie verschmelzen in der Figur der Undine zu einem mythologischen Ganzen. Gerade diese

Vielschichtigkeit kombiniert mit einem märchenähnlichen Schreibstil rief massenhafte Rezeption

und ein großes literarisches Echo der Erzählung hervor. Besonders beliebt war das Stück bei der

weiblichen Leserschaft. Der Germanist Klaus Tieke, der sich mit der Darstellung der Frauen in

Fouqués Undine beschäftigt, zitiert die Autoren aus dem 19. Jahrhundert, die von der breiten

Rezeption Fouqués berichten: „ Die Berliner Damen schwärmten für seine sinnigen, sittigen,

minnigen Jungfrauen, für die ausbündige Tugend seiner Ritter, schmückten ihre Putztische mit

eisernen Kruzifixen und silberbeschlagenen Andachtsbüchern.“12 Angesichts der großen Wirkung

der Undine-Erzählung, die bis in die heutige Zeit hineinreicht, ist die Frage nach dem von Fouqué

geschaffenen Frauenbild von zentraler Bedeutung für die weitere Beschäftigung mit diesem Werk.

Die literarisch-mythologische Figur der Undine rückt ins Zentrum der vorliegenden Analyse. Um

die facettenreiche Wirkung dieser Erzählung verständlich zu machen, bietet die vorliegende Arbeit

erstens eine inhaltliche Zusammenfassung mit der Akzentsetzung auf der Figurenkonstellation.

Anschließend daran wird der historisch-philosophische Hintergrund zum Thema „romantische

Geschlechterrollen“ nahegelegt. Schließlich rundet die komparative Analyse der-Undine Erzählung

und philosophischen Thesen den ersten Teil dieser Arbeit ab.

4. Undine - Eine Erzählung

„Es mögen nun wohl schon viele hundert Jahre her sein, da gab es ein Fischer, der saß eines schönen

Abends vor der Tür und flickte seine Netze(...) Der grüne Boden, worauf seine Hütte gebaut war, streckte

sich weit in einen großen Landsee hinaus, und es schien ebensowohl, die Erdzunge habe sich aus der

Liebe zu der bläulich klaren, wunderhellen Flut in diese hineingedrängt, als auch, das Wasser habe mit

verliebten Armen nach der schönen Aue gegriffen, nach ihren hochschwankenden Gläsern und Blumen

und nach dem erquicklichen Schatten ihrer Bäume“13

Die eröffnenden Worte der Erzählung versetzten den Leser in die märchenhafte Welt der

isolierten Halbinsel, auf der ein altes Fischerpaar und ihre achtzehn Jahre alte Pflegetochter Undine

leben. Die idyllische, geschützte Landzunge ist vom dunklen, unwegsamen Wald umgeben, in dem

wundersame, hinterhältige Kreaturen wohnen. Durch diesen wilden Wald kommt eines Tages der

junge, imposante Ritter Hundbrand zum Fischerpaar, das ihn mit voller Gastfreundlichkeit

12

Tieke, Klaus: Ich war so leicht, so lustig sonst. Zum Frauenbild in Friedrich de la Motte -Fouqués Erzählung Undine.

In: Hass, Gerhard (Hg.): Praxis Deutsch 20. Nr.118. oO.: Friedrich Verlag 1993, S.55. 13

Fouqué, Friedrich de la Motte: Undine. Eine Erzählung. Stuttgart: Reclam Verlag 1953, S.5.

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aufnimmt. Ihre hübsche, aber überraschend freche und wilde Pflegetochter entwickelt sofort eine

starke Neigung dem Ritter gegenüber. Ein heftiges Ungewitter hält den Ritter Huldbrand für längere

Zeit in der Fischerhütte fest. Hier erfährt der Ritter, wie Undine zu den frommen Fischerleuten

gekommen ist. Am selben Tag als ihre kleine Tochter im Meer ertrunken worden ist, kam ein

„wunderschönes Mägdlein von etwa drei, vier Jahren“14 vor seine Tür. Sie wussten nicht, ob es

„vom Monde heruntergekommen sein konnte“15 , beschlossen aber, dem Mädchen ein Zuhause

anzubieten. Im Nachhinein erzählte Huldbrand von seinem aktuellen Ritterturnier und ihm

anvertrauten Auftrag, den mysteriösen Wald in der Nähe von der Landesspitze zu erforschen. Bei

der Erwähnung des Namens der Auftraggeberin Berthalda biss Undine aus Eifersucht dem Ritter in

die Hand. Jedoch hat das kindische Verhalten Undines beim Ritter keine negativen Gefühle

ausgelöst. Ganz im Gegenteil fühlte er sich in der kleinen Fischerhütte fast als Undines Bräutigam.

„Ihm war zumute, als gäbe es keine Welt mehr jenseits dieser umgebenden Fluten, oder als könne

man doch nie wieder da hinüber zur Vereinigung mit anderen Menschen gelangen.“16 Ein neues

Unwetter brachte einen Priester auf die Landspitze, der in den kommenden Tagen das mittlerweile

ineinander stark verliebte Pärchen, Undine und Huldbrand, verheiratete. Undine benahm sich

äußerst kindisch und unruhig während des Hochzeitsabends. Als der Pfarrer sie mahnte, ihre Seele

besser zu stimmen, reagierte sie mit folgenden Worten: “Seele, das kling sehr hübsch und mag auch

für die mehrsten Leute eine gar erbauliche und nutzreiche Regel sein. Aber wenn nun eines gar

keine Seele hat, bitt` Euch, was soll es denn da stimmen? Und so geht es mir“17. Am nächsten

Morgen erwachte Undine in verwandelter Schönheit und einer heiligen Stimmung. Das seelenlose

Kind Undine wurde in der Hochzeitsnacht zur Frau, die auf einmal das Geschenk der Seele spürt.

So entwickelte sich aus einem launenhaften, wild lebenden Naturgeschöpf eine liebende und

hingebungsvolle Frau. Das stürmische Wetter legte sich sofort nach der Hochzeitsnacht und der

Ritter und Undine verließen die Inselspitze. Undine gestand dem Ritter Huldbrand ihre Herkunft

und bekannte sich als Wasserwesen, das von ihrem Wasservater auf die Erde geschickt worden sei,

um durch eine Heirat mit einem Menschen eine Seele zu erwerben.

Wir und unsersgleichen in den anderen Elementen, wir zerstieben und vergehen mit Geist und Leib, dass

keine Spur von uns zurückbleibt, und wenn ihr andern dermaleinst zu einem reinen Leben erwacht, sind

wir geblieben, wo Sand und Funk und Wind und Welle blieb. Darum haben wir auch keine Seelen; das

Element bewegt uns; gehorcht uns oft, solange wir leben.18

Der Ritter, berührt von Undines Herzlichkeit und Ehrlichkeit, schwor ihr seine ewige Liebe. Tag

darauf fuhr das Ehepaar zusammen mit dem Pfarrer in die Stadt, wo Undine zum ersten Mal eine

14

Fouqué: a.a.O., S.16. 15

Ebd. 16

Ebd. S.31. 17

Ebd. S.41. 18

Ebd. S.49.

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städtische Gemeinschaft erleben konnte. In der Stadt lernte sie Berthalda kennen, die hübsche

Pflegetochter des Herzogs, die immer noch Liebesgefühle für den Ritter Huldbrand hatte. Obwohl

eigentlich Konkurrentinnen, empfanden Undine und Berthalda eine unerklärliche Zuneigung für

einander. Jedoch wuchs in Berthalda die Eifersucht, die an Berthaldas Namensfeier eskalierte. In

einer naiv- fröhlichen Weise offenbarte Undine, Berthalda sei die Tochter vom Fischerehepaar, die

als kleines Kind entführt worden wäre. Berthaldas zornige Reaktion auf die Kundgabe ihrer wahren

Herkunft überraschte alle Anwesenden und führte letztlich zu ihrer Ausgrenzung aus der Stadt. Aus

Mitleid und Schuldgefühl heraus bot Undine Berthalda in der Burg Ringstetten Unterkunft an. Auf

der Burg, wo das Ehepaar zusammen mit Berthalda wohnte, begann sich die nahende Katastrophe

anzubahnen. Nachdem Undine Berthalda ihre wahre, nicht-menhscliche Identität enthüllt hatte,

änderte sich dramatisch die Atmosphäre im Schloss. „Huldbrands Gemüt begann, sich von Undinen

ab- und Berthalda zuzuwenden; Berthalda kam dem jungen Mann mit glühender Liebe immer mehr

entgegen und er und sie schienen, die arme Ehefrau als ein fremdartiges Wesen mehr zu fürchten

als zu bemitleiden.“19 Undine spürte die wechselnde Stimmung im Haus und warnte Huldbrand, sie

nie auf einem Wasser oder in der Nähe des Wassers zu beschimpfen. Dadurch würden ihre

Verwandten tiefst beleidigt und würden sie in den Kristallpalast am Meeresboden zurückholen. Auf

einer Donaureise geschieht genau das, was Undine befürchtet hat. Huldbrands Wut brach aus, als

Berthalda ihren Schmuck wegen der Wassergeister verlor. Huldbrand dachte sich still: „Das kommt

davon, wenn gleich sich nicht zu gleich gesellt, wenn Mensch und Meerfräulein ein wunderliches

Bündnis schließen“ 20 Die von ihm verstoßene und beschimpfte Undine begab sich zurück ins

Wasser. Am Ende sagte sie: „ Ach holder Freund, ach lebe wohl! Sie sollen dir nichts tun; nur bleibe

treu, dass ich sie dir abwehren kann. Ach, aber fort muss ich, muss fort auf diese ganze junge

Lebenszeit. O weh, o weh, was hast du angerichtet!“ 21 Trotz intensiver Alpträumen und

Vorwarnungen vor dem baldigen Tod nach seiner zweiten Hochzeit entschied sich Huldbrand, die

Trauung mit der ihm immer näher stehenden Berthalda zu vollziehen. „Man muss alles abwarten.

Zudem ist Trauen und Trauern gar nicht so weit auseinander, und wer sich nicht mutwillig

verblendet, der sieht es wohl ein“22, kommentiert der alte Pfarrer, der eingeladen wurde, um die Ehe

zu schließen. Huldbrands und Berthaldas trotziges Ignorieren von Warnzeichen führte zur

endgültigen Tragödie. Berthalda ließ einen durch Undine verschlossenen Brunnen öffnen, um das

köstliche, hautreinigende Wasser zu trinken. Aus dem Brunnen stieg ein „bleiches,

weißverschleirtes Weibsbild“23 auf. Das Geschöpf begab sich zum Gemach des Ritters, um ihn für

19

Fouqué: a.a.O., S.69. 20

Ebd. S.86. 21

Ebd. S.94. 22

Ebd. S.96. 23

Ebd. S.99.

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seinen Treuebruch zu bestrafen. Weinend tötete es ihn mit einem Kuss und der Ritter verschwand in

ihren wässrigen Tränen. „Noch in späteren Zeiten sollen die Bewohner des Dorfes die Quelle

gezeigt und fest die Meinung gehegt zu haben, dies sei die arme verstoßene Undine, die auf diese

Art noch immer mit freundlichen Armen ihren Liebling umfasste.“24

5. Romantisches Frauenbild Im Fragekontext dieser Arbeit wird Romantik als eine Epoche betrachtet, die vom Ende des

18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein dauerte. Die sozial- literarische Spezifika der

Früh-, Hoch-, und Spätromantik werden an dieser Stelle nicht isoliert analysiert, es wird vielmehr

versucht, die Gemeinsamkeiten dieser Romantikepochen hinsichtlich des gängigen Frauenbildes zu

erforschen. In ihrer Dissertation zum Thema Das Frauenbild der Frühromantik 25 untersucht

Claudia Simon- Kuhlendahl die Weiblichkeitsvorstellungen und die Position der Frauen im frühen

19. Jahrhundert. Als prägend für das romantische Frauenbild sieht die Autorin die Lehre Rousseaus,

Kants, Fichtes, Humboldts und Hippels. Obwohl diese Autoren überwiegend dem 18. Jahrhundert

angehören, übten ihre Theorien einen starken Einfluss auf die Gestaltung der

Geschlechterverhältnisse im frühen 19. Jahrhundert. Im Folgenden werden die Positionen der drei

Philosophen Rousseaus, Kants und Fichtes zur Geschlechterdifferenzierung dargelegt. Humboldts

und Hippels Thesen werden in dieser Arbeit nicht behandelt. Aufgrund ihrer spezifischen

Themenauswahl und Fokussierung auf die Darbietung der Spezifika und Besonderheiten beider

Geschlechter finde ich die Thesen von den anderen drei Autoren relevanter für diese Arbeit.

Immanuel Kant konzentriert sich hauptsächlich auf die Unterteilung zwischen dem schönen-

weiblichen und tiefen-männlichen Verstand. Die ähnliche Ausgangsposition ist bei Jean Jaques

Rousseaus Theorie über die Erziehung der Frauen zu bemerken. Rousseau geht von basischen

Unterschiedlichkeiten der Geschlechter aus und legt seine Version der optimalen we iblichen

Erziehung nahe. Im gleichen Ton beschreibt Johann Gottfried Fichte den passiven, unterwürfigen

Charakter der Frau, der sich durch den mangelnden Geschlechtstrieb vom männlic hen Charakter

unterscheidet. Daher wird in dieser Arbeit die Frage behandelt, welche Rolle die Schriften dieser

Philosophen in der Geschichte der weiblichen Präsentationsformen gespielt haben. Schließlich

werden die drei philosophischen Darlegungen der Geschlechterpositionen mit Fouqués Undine in

24

Fouqué: a.a.O., S.104. 25

Simon-Kuhlendahl, Claudia: Das Frauenbild der Frühromantik. Ubereinstimmung, Differenzen und Widersprüche in

den Schriften von Friedrich Schlegel, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Novalis und Ludwig Tieck. Diss. Kiel:

Universität Kiel 1992, S. 10-205.

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Verbindung gesetzt. Es geht darum, die Bezüge der Philosophen zu dem von Fouqué in seiner

Erzählung Undine geschaffenen Frauenbild herauszuarbeiten. Die Erarbeitung des Frauenbildes

sollte zeigen, welche Implikationen sozialer, gesellschaftlicher und psychologischer Natur eine

literarische Figur in sich enthält und in welchem Ausmaß die Figur die Konventionen und

geschlechtsbezogenen Stereotype ihrer Zeit widerspiegelt und zu ihrer Aufrechterhaltung beiträgt.

5.1. Frauenzimmer aus Kants Perspektive

In Kants philosophischen Schriften tauchen die Geschlechterverhältnisse und

Geschlechterunterschiede häufig als Thema auf. Aufschlussreich für die Untersuchung der

Geschlechtertheorie Kants ist das 1764 veröffentliche Werk Beobachtungen über das Gefühl des

Schönen und Erhabenen. Beobachtungen ist nicht das einzige Werk, das das Thema der

Geschlechterverhältnisse aufgreift, ist aber ein guter Anfangspunkt für die weitere Beschäftigung

mit Kants Anschauungen zu dieser Problematik. Im dritten Kapitel dieses Werkes Von dem

Unterschiede des Erhabenen und Schönen in dem Gegenverhältnis beider Geschlechter werden die

Geschlechtereigenschaften intensiv analysiert. Kant geht davon aus, dass Mann und Frau nicht nur

in ihrer körperlichen Anlage unterschiedlich sind, sondern auch in ihrer Gesinnung und Denkart. Er

betont, dass Frauen sich nicht nur durch ihre feinere und sanfte Gestalt, sondern auch durch ihre

mentalen Prädispositionen von Männern unterscheiden. Im Gemütscharakter des weiblichen

Geschlechts, so Kant, liegen eigentümliche Züge, die Frauen von Männern absondern.

Folgendermaßen äußert sich Kant zu weiblichen Eigenschaften:

Das Frauenzimmer hat ein angeborenes stärkeres Gefühl für alles, was schön, zierlich und geschmückt ist.

Schon in der Kindheit sind sie gerne geputzt und gefallen sich, wenn sie geziert sind. Sie sind rein lich und

sehr zärtlich in Ansehung alles dessen, was Ekel verursacht. Sie lieben den Scherz und können durch

Kleinigkeiten, wenn sie nur munter und lachend sind, unterhalten werden. Sie haben sehr früh ein

sittsames Wesen an sich, wissen sich einen feinen Anstand zu geben und besitzen sich selbst; und dieses

in einem Alter, wenn unsere wohlerzogene männliche Jugend noch unbändig, tölpisch und verlegen ist.

Sie haben viel teilnehmende Empfindungen, Gutherzigkeit und Mitleiden, ziehen das Schöne dem

Nützlichen vor (….) 26

Frauen werden als das schöne Geschlecht geschildert, welches sich nur um Ästhetik und

Annehmlichkeiten des irdischen Lebens schert. Des Weiteren hebt Kant die weibliche Einfalt und

Naivität hervor und gibt an, Frauen seien leichter zu amüsieren und hätten nur einen begrenzten

26

Kant, Immanuel: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. (Erstausgabe 1764) Leipzig: Insel

Verlag 1916, S.37.

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Einblick in die Abläufe dieser Welt. Sie zeichnen sich durch Lauterkeit des Geistes, Einfachheit und

Gutgläubigkeit aus. Durch ihre einfache Art blieb Ihnen der Zugang zu hoher Bildung,

Geschäftsführung und Politik vorenthalten. Die edlen, verantwortungsvollen, kreativen, profit-

orientierten Beschäftigungen wurden nur Männern zugetraut, wobei Frauen auf die Ebene der

Pflege, Kindererziehung und Haushaltsverwaltung beschränkt waren. Die Wahrnehmung des

weiblichen Intellekts lässt sich mit der Wahrnehmung des Intellekts eines Kindes vergleichen.

Infolgedessen wurde der Frau weniger Verantwortung und Kompetenz zugetraut, sie wurde

konsequent bevormundet und klein gemacht. Sittlichkeit und Anständigkeit galten als die größten

Tugenden des weiblichen Geschlechts. Eine Frau sollte sich kompromisslos sittlich, im Einklang

mit den vorgegebenen Normen, ihren „gütigen und wohlwollenden Empfindungen und ihrer

gefälligen Seele“27 verhalten. Ihre persönliche Größe zeigt sich durch Reinlichkeit, Schamhaftigkeit,

zärtliche Sittsamkeit, Bescheidenheit, edle Einfalt und Naivität. Ihnen angeborene „muntere

Gesprächigkeit“ und ihr gutartiges Gemüt sollten nicht mit weltlichen Problemen belastet werden,

meint Kant.

Kants Unterteilung des menschlichen Verstands in die schöne und tiefe Variante macht die

Geschlechterkluft noch prominenter: „Das schöne Geschlecht hat ebensowohl Verstand als das

männliche, nur es ist ein schöner Verstand, der unsrige soll ein tiefer Verstand sein, welches ein

Ausdruck ist, der einerlei mit dem Erhabenen bedeutet.“28 Was genau „tief“ und „schön“ bedeutet,

erklärt Kant im weiteren Verlauf seiner Schrift. Schöner Verstand befasst sich mit Themen, die

keine starken Bemühungen verlangen, die „Leichtigkeit an sich zeigen“ 29 und ohne größere

Schwierigkeiten erarbeitet werden können. Im Gegensatz dazu stehen „tiefes Nachsinnen und eine

lange fortgesetzte Betrachtung, die edel sind, aber schwer, und schicken sich nicht wohl für eine

Person, bei der die ungezwungenen Reize nichts anders als eine schöne Natur zeigen sollen“30. Mit

dem abstrakten Nachdenken oder fleißigem Lernen würde die Frau ihr häusliches Talent nur

verschwenden. Die Wissenschaft der Frauen sei nicht Griechisch, Mathematik, Mechanik oder

abstrakte Spekulationen, sondern vielmehr “der Mensch, und unter den Menschen der Mann; (...)

ihre Weltweisheit ist nicht Vernünfteln, sondern Empfinden”31. Schließlich stellt Kant fest: „Der

schöne Verstand wählt zu seinen Gegenständen alles, was mit dem feineren Gefühl nahe verwandt

ist, und überlässt abstrakte Spekulationen oder Kenntnisse, die nützlich, aber trocken sind, dem

27

Kant: a.a.O., S.40. 28

Ebd. S.37. 29

Ebd. S.37. 30

Ebd. S.37. 31

Ebd. S.37.

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emsigen, gründlichen und tiefen Verstande.“32 Das Frauenzimmer, nach Kants Worten, besitzt keine

große Fähigkeit der Einsicht. Es ist „furchtsam und zu wichtigen Geschäften nicht auferlegt,... sie

ist schön und nimmt ein, und das ist genug.“ 33Dagegen ist der Mann mit intellektuellen und

körperlichen Fähigkeiten ausgestattet, die einer Frau fehlen. Durch die Überlegenheit ihrer Vernunft

füllen die Männer in der ehelichen Gemeinschaft die Lücke der Eigenschaften aus, die bei Frauen in

unzureichendem Masse vorhanden sind. In der Ehe übernimmt der Ehemann die Rolle des

Lehrmeisters. Durch die Körperkraft und den Mut ist er seiner Frau überlegen, die Ehegattin ist

jedoch in der Lage durch ihre Schönheit die Aufmerksamkeit des Mannes zu gewinnen. Durch ihren

äußeren Charme, Sittlichkeit und Bescheidenheit kann die Frau ihren Mann zur Liebe und

Sittlichkeit erziehen. Dieses Polarisieren ins Schöne, sprich das Einfältige, und ins Tiefe, bzw. das

Gründliche und Emsige, ist ein aussagekräftiger Hinweis auf die Wahrnehmung der Kompetenzen

des weiblichen und männlichen Geschlechts zu Kants Zeiten. Die Gesellschaft wurde in zwei klar

abgegrenzte Gruppen unterteilt und jeder Versuch, diesem vorprogrammierten Geschlechterschema

zu entfliehen, ist zum Scheitern verurteilt.

5.2. Jean-Jacques Rousseaus Erziehungskonzept

In diesem Abschnitt sollen Jean-Jacques Rousseau Ansichten zum Thema „Frauenrolle

beleuchtet werden. Dabei wird als Orientierungspunkt Rousseaus Werk Emile oder Über die

Erziehung genommen. Ausschlaggebend für die Interpretation des Rousseauschen Frauenbilds ist

das fünfte Buch des Emils Sophie oder das Weib, in dem der Autor ein geschlechterbedingtes

Erziehungskonzept aufstellt. Zum Beginn des fünften Buchs klärt Jean Jaques Rousseau, nach

welchen Maßstäben Männer und Frauen voneinander unterscheidet werden. Rousseau spricht ihnen

die gleichen Bedürfnisse und Fähigkeiten zu, betont jedoch, dass sich Geschlechter in ihren Rollen

innerhalb der zwischengeschlechtlichen Beziehung unterscheiden.

Aus dieser Verschiedenheit ergibt sich der erste bestimmbare Unterschied beider Geschlechter in

moralischer Beziehung. Das eine soll tätig und stark sein, das andere empfangend und schwach; bei

dem einen muß notwendig Wille und Kraft herrschen, bei dem anderen zarte Nachgiebigkeit.34

Daran knüpft sich folgender Gedanke: die Frau sei dazu geschaffen, dem Mann zu gefallen,

wobei beim Mann dieses Bedürfnis nicht vorhanden sei. Des Weiteren notiert Rousseau die

„Gefallsucht“ bei Frauen, die ihnen angeboren sein sollte. Es gehört zu ihrer natürlichen Berufung,

32

Kant: a.a.O., S. 37. 33

Ebd. S. 54. 34

Rousseau, Jean Jacques: Emile oder Über die Erziehung. Bd.1. Stuttgart: Schöningh UTB 1998, S. 325.

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dem Mann zu gefallen und sich ihm hinzugeben. Natürliche Unterschiede erkennt Rousseau vor

allem in der Körperkraft, im Gemüt und im Geist der Frau. Durch die natürliche körperliche

Überlegenheit sieht der Autor die soziale und politische Herrschaft des Mannes gerechtfertigt.

Politik und Gesellschaft bleiben die männerdominierten Bereiche, Frauen haben jedoch eine

überlegene Rolle im Liebesbereich. Um ihre Macht in der familiären Sphäre ausüben zu können,

sollen Ehre, guter Ruf sowie Keuschheit für eine Frau Priorität sein. „Sie muß sittsam und

zurückhaltend sein und ebenso in den Augen der anderen als in ihrem eigenen Gewissen das

Zeugnis ihrer Tugend bestätigt finden.“35 Frauen fällt eine Pflicht zu, von der Männer befreit sind:

sie müssen ständig auf ihre Haltung, ihre Führung und ihr Benehmen bedacht sein. Durch ihre

Schönheit und ihre Sittlichkeit sind die Frauen in der Lage das unaufhörliche Verlangen des Mannes

nach dem weiblichen Geschlecht zu befriedigen und dadurch Macht über ihn zu gewinnen.

Rousseau stellt fest, dass Mann und Frau in Bezug auf ihren Charakter nicht gleich beschaffen sind

und infolgedessen unterschiedliche Erziehung erhalten sollen. Rousseau zufolge soll sich die

gesamte Erziehung der Frauen um die Männer drehen. Durch ihre Sittlichkeit, Liebe, Gehorsamkeit,

Freude, Schönheit und Zuneigung sollen die Frauen das Glück und die Zufriedenheit ihrer Männer

sichern. In seinem Entwurf der angemessenen weiblichen Erziehung schlägt Rousseau Folgendes

vor:

So muß sich die ganze Erziehung der Frau im Hinblick auf die Männer vollziehen. Ihnen gefallen, ihnen

nützlich sein, sich von ihnen lieben und achten lassen, sie groß ziehen, solange sie jung sind, als Männer

für sie sorgen, sie beraten, sie trösten ihnen ein angenehmes und süßes Dasein bereiten; das sind die

Pflichten der Frau zu allen Zeiten, das ist, was man sie von Kindheit an lehren muß.36

Das Verlangen nach der Befriedigung der männlichen Bedürfnisse sei angeblich genetisch in

der weiblichen Natur angelegt worden. Die geistige Schulung und Erziehung, die die Frau genießt,

sollten dementsprechend auf die Bedürfnisse des Mannes ausgerichtet werden; damit sie den

Wünschen ihres Manns stets nachgehen können, hat die Natur Frauen mit Anmut und Schamgefühl

ausgestattet. Frauen bedienen sich gerne der Kunst der Koketterie, um Männer zu beeinflussen und

schließlich zu beherrschen. Aus diesem Verhältnis ergibt sich eine Abhängigkeit der Frau vom

Mann, die Rousseau folgendermaßen erklärt: „Der Mann hängt von der Frau infolge seiner

Begierden ab, die Frau aber vom Manne nicht allein hierin, sondern auch in ihren Bedürfnissen. Wir

könnten weit eher ohne die Frauen, als die ohne uns bestehen. Ihre Lebensbedürfnisse und

Lebensstellung verdanken sie uns allein.“ 37 Ihr ganzes Leben bleiben die Frauen „einem

beständigen und sehr strengen Zwang unterworfen, nämlich dem der Wohlanständigkeit. Sie

35

Rousseau: a.a.O., S.332. 36

Ebd. S.339. 37

Ebd. S. 338.

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müssen deshalb schon früh an diesen Zwang gewöhnt werden, damit sie sich leicht in denselben

finden lernen: man muß sie beizeiten anhalten, ihre Launen zu beherrschen, um sie dem Willen

anderer unterwerfen zu können.“38In der Beziehung zu einer Frau vertritt der Mann die Position des

starken, klugen Siegers, wohingegen die Frau die freiwillige Unterwerfung, Zurückhaltung und

Ängstlichkeit als ihr Verhaltensmuster annimmt. Dafür plädiert Rousseau, wenn er sagt, dass ein

Geschlecht aktiv und stark sein müsse, das andere eben passiv und schwach. Die klaren Grenzen

zwischen männlichen und weiblichen Eigenschaften sollten nicht überschritten werden. „Sobald

nun eine Frau den sittsamen und züchtigen Ton ihres Geschlechts ablegt und in das Wesen jener

törichten Männer verfällt, entsagt sie ihrem Berufe, statt ihm zu folgen.“39. Was die Verteilung der

Talente und der wissenschaftlichen Vorlieben angeht, bleibt Rousseaus Einstellung genauso

patriarchal: „Geistesgegenwart, Scharfblick, seine Beobachtungsgabe machen das Wissen des

Weibes aus; in der Geschicklichkeit, diese Gaben zur Geltung zu bringen, bekundet sich ihr

Talent.“40 In der Fortsetzung schreibt Rousseau: „Die Erforschung der abstrakten und spekulativen

Wahrheiten, der Prinzipien, der Axiome in den Wissenschaften, kurz alles dessen, was auf die

Verallgemeinerung der Ideen ausgeht, gehört nicht in das Gebiet der Frauen.“ 41 Frauen

spezialisieren sich auf angenehme Kenntnisse, die mit Kindererziehung und Hauswirtschaft zu tun

haben. Sie seien nicht fähig, in wissenschaftlichen Kategorien zu denken und zu forschen. Die Frau

kann nicht aus ihrer Zurückgezogenheit und Häuslichkeit heraustreten. Es ist nicht in ihrer Natur

angelegt, sich in den Domänen zu bewegen, die den Rahmen des häuslichen Denkens sprengen.

Mit seinem Geschlechtermodell festigte Rousseau die schon dominante, binäre Wahrnehmung der

Geschlechterverhältnisse der romantischen Epoche, welche maßgeblich zur Ausgrenzung der

Frauen aus dem öffentlichen Leben beitrugen.

5.3. Der passive und aktive Geschlechtstrieb nach Fichte

Schließlich wird auf die Lehre Johann Gottlieb Fichtes eingegangen. Fichte stellt einen der

bedeutendsten deutschen Philosophen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts dar, der sich

explizit mit Geschlechterverhältnissen auseinandersetzte. Im Werk Grundlage des Naturrechts aus

dem Jahr 1797 äußert sich Fichte zum Konzept der Ehe. In der Formulierung der Liebesehe, die als

38

Rousseau: a.a.O., S. 348. 39

Ebd. S. 340. 40

Ebd. S. 382. 41

Ebd. S. 386.

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eine Wahlverwandtschaft angelegt sein sollte, steht Ficht im Widerspruch zu den herrschenden

Eheauffassungen seiner Zeit. Von einer Institution, die der Vermehrung des Besitzes diente, wandelt

sich die Ehe, so Fichte, in eine private Angelegenheit, die auf dem Liebes- und Vertrauensgefühl

zwischen Mann und Frau beruht. Jedoch gestattet der Philosoph in seiner Erklärung der ehelichen

Pflichten den Frauen nicht dieselben Rechte wie den Männern zu.

„In dem Begriffe der Ehe liegt die unbegrenzteste Unterwerfung der Frau unter den Willen des Mannes;

nicht aus einem juristischen, sondern aus einem moralischen Grunde. Sie muss sich unterwerfen um ihrer

eigenen Ehre willen. - Die Frau gehört nicht sich selbst an, sondern dem Manne.“42

Die Unterlegenheit der Frau durchzieht alle Ebenen ihres Lebens inklusive die Verteilung des

Eigentums nach der Eheschließung.

„Im Begriff der Ehe liegt, dass die Frau, die ihre Persönlichkeit hingibt, dem Manne zugleich das

Eigentum aller ihrer Güter und ihrer ihr im Staate ausschließlich zukommenden Rechte übergebe. Indem

der Staat eine Ehe anerkennt, anerkennt und garantiert er zugleich dem Manne das Eigentum der Güter

seiner Frau.“43

Die eheliche Verbindung beruht daher auf der Bereitschaft der Frau, sich vollkommen ihrem Mann

hinzugeben und auf eigene Rechte zu verzichten. In dieser Bereitschaft äußert sich die Liebe und

der Geschlechtstrieb der Frau. Liebe definiert Fichte folgendermaßen:

Liebe also ist die Gestalt unter welcher der Geschlechtstrieb im Weibe sich zeigt. Liebe aber ist es, wenn

man um des anderen willen, nicht zu folge eines Begriffes, sondern zufolge eines Naturtriebes sich

aufopfert. Bloßer Geschlechtstrieb sollte n ie Liebe genannt werden.(...)Im Manne ist ursprünglich nicht

Liebe sondern Geschlechtstrieb. 44

Liebe sei dem Mann nicht angeboren, sie entwickelte sich im Mann allmählich während einer

Beziehung zu einer liebenden Frau, die mit ihrer Opferbereitschaft und Hingabe in dem Mann

emotionale Zuneigung auslöst. Männliche Liebe sei ein „ nur durch die Verbindung mit einem

liebenden Weib entwickelnder Trieb“45, nicht etwas was Männern inhärent sei. Hier interpretiert

Fichte den Wunsch, sich aufzuopfern, als Grundcharakteristikum der Liebe, die in dieser Form den

Frauen eigen ist. Weibliche Liebe äußert sich im Bedürfnis der Frau, ihren Mann zu befriedigen.

Lieben und Geliebtwerden ist das einzige Bedürfnis der Frau, nach dessen Befriedigung sich eine

Frau ihr lebenslang sehnt. Das Verhalten der Frau wird vom ihr angeborenen „Trieb“, sich dem

Mann hinzugeben, gesteuert. Fichtes Auffassung nach verkörpert Frau einen leidenden

42

Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Angewandtes Naturrecht.

Bd. 2. Erstdruck: 1797. Berlin: Akademie Verlag 2001, S.188. 43

Ebd. S.189. 44

Ebd. S.166. 45

Ebd. S.167.

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Geschlechtstrieb, wobei der Mann einen tätigen Geschlechtstrieb repräsentiert. Auf diese Weise

unterstützt Fichte das klassische patriarchale System des Geschlechterdualismus, der Frauen als

passive Trägerinnen und Männer als aktive Täter darstellt. Dieser Logik zufolge steht der Mann in

seiner Natur eine Stufe über der Frau. Im Mittelpunkt Fichtes Geschlechterkonzeptes steht die

Geschlechtstriebdifferenz zwischen Mann und Frau. Frauen und Männer sind durch

unterschiedliche sexuelle Bedürfnisse gekennzeichnet; aus dem Unterschied im Geschlechtstrieb

gehen alle anderen charakterbezogenen Unterschiede hervor. Während die Auslebung des

Geschlechtstriebes durch eine Frau als unakzeptabel, unedel und tierisch angesehen wird, wird bei

dem Mann das Ausüben dieses Triebs gefördert. Die Ausübung der sexuellen Begierde der Frau

führt unausweichlich zu ihrer gesellschaftlichen und moralischen Herabwürdigung und

Herabstufung. Das Erscheinungsbild der weiblichen Sexualität ist nach Fichte ausschließlich die

leidende Liebe. Die Sexualität ist die männliche Domäne, die die Frau nur betreten darf, um den

Wünschen ihres Mannes nachzugehen.

Letztlich wird die Liebe als „der innigste Viereinigungspunkt der Natur und der Vernunft

(definiert). Sie ist das einzige Glied, wo die Natur in die Vernunft eingreift“46. Aus der Annahme,

Liebe sei eine weibliche Eigenschaft, folgt die Verbindung zwischen Natur und Frau. Die Natur als

etwas Ursprüngliches, Naives wird intensiv mit Weiblich-Sein assoziiert, wohingegen die Vernunft

als männliche Domäne dargestellt wird. Diese Geschlechtertypo logie, die auf den polaren

Unterschieden zwischen dem starken, vom Trieb geleiteten Mann und der gehorsamen, liebevollen

Frau basiert, wurde in der Literatur der Romantik intensiv thematisiert. Fichtes Überlegungen zu

diesem Thema finden ein großes Echo in der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. Seine Erklärung

der Frau als ein Mittel zur Befriedigung des Mannes hat seinen Weg in die Kultur, Kunst und

Literatur gefunden. Obwohl von vielen Autoren in Frage gestellt, hatte die Auffassung der

natürlichen Unterwerfung der Frau eine nachhaltige Auswirkung auf die gesellschaftlich-

geschlechtliche Hierarchie der Romantik.

Die obige Analyse kreist um die Ideen der drei großen Denker des 18. Jahrhunderts. Im

Mittelpunkt der Analyse kommen die Positionen Kants, Fichtes und Rousseaus zum Thema

Geschlechterbilder der Romantik zum Ausdruck. Die Analyse der kanonischen philosophischen

Schriften sollte beleuchten, inwiefern diese drei Autoren die Geschlechterpositionen sowie die

Kultur der Romantik beeinflusst haben. Es lässt sich feststellen, dass die Position der Frauen im

frühen 19. Jahrhundert auf der Geschlechtervormundschaft basierte, die Männer über Frauen

46

Fichte: a.a.O., S.168.

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ausübten. Generell wird die Frau als das von den Männern abhängige Wesen aufgefasst, das ein

ganz anderes Werte- und Rollenbewusstsein besitzt und dementsprechend ganz andere Normen und

Konventionen einhalten muss. Fichte, Kant und Rousseau nach ist die Frau sozial und rechtlich dem

Mann unterlegen. Diese Unterlegenheit basiere vermeintlich auf der Frauen angeborenen geistigen

und körperlichen Inferiorität dem Mann gegenüber. Sie sei hier, um ihm zu dienen und sich um sein

Wohlergehen zu kümmern. Sanftmut, feine Gestalt, muntere Naivität und reizende Freundlichkeit

zeichnen das weibliche Geschlecht aus. Die Eigenschaften wie Infantilität, Verantwortungslosigkeit,

ungenügendes Welt- und Selbstbewusstsein charakterisieren das Frauenbild des 19. Jahrhunderts.

Weibliche Identität basiert auf ihrem Äußeren, ihrer Liebeswürdigkeit und ihrem charmant-

demütigen Charakter. Diese patriarchalen Darlegungen zum Charakter des weiblichen Geschlechts

pflanzten sich im 19. Jahrhundert fort und führten zur Formierung eines binär konstruierten Modells

der Geschlechteridentitäten. Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, wie stark d ie oben genannten

Geschlechterkonzepte die Gestaltung der literarischen Figur Undine beeinflusst haben.

6. Analyse des Konzepts der Weiblichkeit bei Fouqués Undine

Das Motiv der Wasserfrau erfuhr in der Romantik eine starke Wiederbelebung. Die schöne

Nixe reizte die Imagination sowohl der Schriftsteller als auch der Leserschaft. Gerade die Romantik,

die vom Märchenhaften, Mythologischen und Wunderbaren begeisterte Periode, nimmt gerne

sensationelle Gestalten in seinen Literaturkorpus auf, so dass am Beisp iel einer solchen

mythologischen Nixengestalt wie Undine die Konstruktion der Geschlechteridentitäten in der

Romantik analysiert werden kann. Undine wird als Repräsentantin eines binären

Zweigeschlechtermodells betrachtet, in dem die Frau erstens als ein k indliches und unreifes Wesen

und zweitens als das vom Mann abhängige Wesen dargestellt wird. Während weibliche

Entwicklung nach romantischen Vorschriften streng gesteuert wird, wird dem Mann eine

selbstständige Charakterbildung ermöglicht. Diesbezüglich lässt sich Undine als ein

Geschlechterdrama analysieren, das durch die binäre Verteilung der Geschlechterrollen geprägt

wird. Im Einklang mit der romantischen Tradition liefert Friedrich de la Motte Fouqué eine

patriarchal geprägte Narration, die den Fortbestand des oben erklärten binären

Geschlechterdiskurses begünstigt. Seine Überlieferung des Erwachsenwerdens eines weiblichen

Subjekts findet ihre formale Entsprechung in den philosophischen Überlegungen Kants, Fichtes und

Rousseaus. Es fallen nämlich bemerkenswerte Gemeinsamkeiten zwischen der philosophischen

Lehre dieser drei Autoren und Fouqués Darstellung der Undine auf. Im folgenden Text wird

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versucht, anhand der Figur der Undine und einer textnahen Untersuchung ihrer

Charaktereigenschaften das Portfolio der vorgefundenen Geschlechteridentitäten sowie

Geschlechterstereotypen darzulegen, mit dem Ziel das Geschlechterkonzept hinter der romantischen

Version dieser Nixe zu entschlüsseln und dieses mit der späteren Undine-Verarbeitung von Ingeborg

Bachmann vergleichen zu können.

6.1. Frau als unmündiges Kind

„Ein halb verwöhntes, halb scheues Kind (…) mit launisch-dunklem Wesen“47 , so stellt

Fouqué seine mythologische Heldin vor. Schon im ersten Kapitel werden Kindereien, Torheiten,

Schäkereien, sowie die Ungezogenheit Undines in den Vordergrund gestellt. Undine ist kaum zur

Ernsthaftigkeit fähig und treibt ständig ihre Scherze. Durch Plätschern und lautes Spielen mit dem

Wasser versucht sie die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, was, statt Zuneigung, Kritik und Tadel

auslöst. Im ersten Kapitel zeigt sie sich als kindliches, vermännlichtes Mädchen, dessen Verhalten

von naiver Verwirrung und Abenteuerlust geleitet ist. Dies widerspricht den klassischen

Erwartungen an die Geschlechterrolle eines achtzehnjährigen Mädchens und führt zu Wut und

Verzweiflung in Undines Umgebung:

Es ist nämlich unsere Pflegetochter Undine, die sich das kindische Wesen gar nicht abgewöhnen will, ob

sie gleich bereits in ihr achtzehntes Jahr gehen mag“. (Darauf reagierte Fischermanns Frau mit folgenden

Worten:) „Aber sie den ganzen Tag lang am Hals zu haben und kein kluges Wort hören und, statt bei

wachsenden Alter Hilfe im Haushalt zu finden, immer nur dafür sorgen zu müssen, dass uns ihre Torheiten

nicht vollends zugrunde richten, das ist es gar ein anderes. 48

Die Enttäuschung und Kritik der Eltern an Undines törichtes, männliches Verhalten durchzieht den

ersten Teil der Erzählung. Undine schwankt zwischen dem Verhaltensmuster eines Kindes und dem

eines jungen Mannes. In diesem Zusammenhang lässt sich die Verbindung zu Kants Beschreibung

der jungen Männer herstellen: „ Unbändig, tölpisch und verlegen“49

benehmt sich, nach Kant, die

männliche Jugend. Die von Kant ausgewählten Attribute „unbändig, tölpisch und

verlegen“ stimmen mit Fouqués Darstellung Undines anfänglichen Verhaltens überein. Undine

rutscht in den Modus eines törichten Mannes ab und versagt daher an der Erfüllung ihrer

Frauenrolle. Sie wechselt zwischen kindlichen und damals als männlich wahrgenommenen Zügen

47

Fouqué: a.a.O., S.3. 48

Ebd. S.9. 49

Kant: a.a.O., S. 37.

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und wehrt sich stark dagegen, „weibliche“ Attribute wie Sittsamkeit, Zurückgezogenheit und

Schamhaftigkeit aufzunehmen. Undine sind die in der Menschenordnung herrschenden Sitten und

Verhaltensweisen so fremd, dass sie stets dagegen verstößt, ohne die gesellschaftlichen

Zusammenhänge überhaupt zu verstehen. Es wird bald klar, dass Ihre Unbändigkeit,

Tollpatschigkeit und Verlegenheit, eigentlich als ein Zeichen ihrer mangelnden sozialen

Entwicklung, bzw. ihrer mangelnden Seele, zu deuten sind. Sie ist seelenlos und befindet sich daher

immer noch in einer frühen Entwicklungsstufe, in der sie keine klare Geschlechtsidentität zeigt.

Diese Unsicherheit um die geschlechtliche Zugehörigkeit, literarisch verstärkt durch das

Rahmenmotiv der Seelenlosigkeit, markiert die vorverweiblichte Phase in Undines

Persönlichkeitsentwicklung, die eine didaktisch einschlägige Botschaft trägt: so darf sich ein

Mädchen nicht verhalten. Folgende Textausschnitte verdeutlichen Undines anfänglich ungezähmte

Verhaltensweisen. Aus diesen wird deutlich, dass diesem Mädchen eine große Verhaltenswandlung

bevorsteht, durch die Undine ihre klar definierte Geschlechtsidentität erhalten sollte. Undines

unbegründete Flucht in die Nacht folgen Episoden der kindlichen Unberechenbarkeit und Sturheit,

die besonders im Umgang mit dem Ritter Huldbrandt zum Ausdruck kommen:

Undine sprang zornmütig von ihrem Bänchen auf, setzte die schönen Arme in d ie Seiten und rief, sich dicht vor

dem Fischer hinstellend: Er soll nicht erzählen, Vater? Er soll nicht? Ich aber will es! Er soll! Er soll doch! -

Und damit trat das zierliche Füßchen heftig gegen den Boden , aber das alles mit solch einem dro llig anmutigen

Anstande, dass Huldbrand jetzt in ihrem Zorn fast weniger noch die Augen von ihr wegbringen konnte50

Undines kindlich-direkte, unüberlegte Art erreicht ihren Gipfel in der mit Eifersucht gefüllten Szene

zwischen Huldbrand und Undine. Nachdem Huldbrand in der Nacherzählung seiner Abenteuer im

Wald einen unbekannten weiblichen Namen erwähnt, reagiert Undine mit einem trotzigen Biss in

seine Hand:

Ein empfindlicher Schmerz a seiner linken herunterhängenden Hand unterbrach hier Huldbrands Rede und zog

seine Blicke nach der schmerzhaften Stelle. Undine hatte ihre Perlenzähne schafft in seine Finger gesetzt und sah

dabei recht finster und unwillig aus. Plötzlich schaute sie ihm freundlich und wehmütig in die Augen(...)51

Ihre Kindlichkeit ist immer ein Zeichen des fehlenden Welt- und Selbstbewusstseins, welches auf

ein Aufklärungs- und Führungsvakuum hinweist. In ihrem Ganzen wird Undine nicht als

selbstständige Frau, sondern als ein emotional und körperlich bedürftiges Kind wahrgenommen, das

stets auf der Suche nach einer starken männlichen Hand ist, die ihr Führung, Kontrolle,

Geborgenheit, gesellschaftliche Integration und letztendlich eine Seele bieten kann. Diese

50

Fouqué. a.a.O., S.11. 51

Ebd. S.23.

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Gedankenverbindung der Weiblichkeit, gepaart mit kindlichen Zügen, die ihre Unmündigkeit und

Unselbstständigkeit erahnen lassen und dadurch die gesellschaftliche Unterschätzung ihres ganzen

intellektuellen und körperlichen Könnens fördern, findet in der Lehre Kants, Fichtes und Rousseaus

eine klare Bestätigung. Die Weiblichkeit wird im Vergleich zur Männlichkeit als Rückschritt

verstanden. Es handelt sich um einen tief verankerten Gedanken des romantischen Kulturraums, der

die Weiblichkeit mit einer pubertären Entwicklungsstufe assoziiert. Als Person existiert die Frau nur

im Kontext zu ihrer Abhängigkeit vom Mann, was mit der Abhängigkeit des Kindes von seinen

Eltern vergleichbar ist. Undines enorme Abhängigkeit von ihrem Wasservater und Oheim

Kuhlbrandt bestärkt diese These. Ihre anfängliche Autonomie und ihr rebellisches Verhalten lassen

nach, sobald sie aus der Isolation ihrer Inselspitze als Ehefrau des Ritters in eine organisierte,

städtische Gemeinschaft tritt. Die vorintegrierte, vorverweiblichte, vorbeseelte Stufe wird literarisch

mit dem kindlichen Ich-Zustand veranschaulicht, um den Entwicklungsbedarf dieser Frau

hervorzuheben und ihre dauerhafte Abhängigkeit vom Manne aufzuzeigen. Undine braucht eine

männliche Herrschaft, die ihren natürlichen, rohen Zustand mit seiner überlegenen Vernunft/ Seele

kultiviert.

6.2. Frau als Körper

Das kindlich-trotzige Verhalten dieser schönen Blonden, wie sie Fouqué beschreibt, löst

beim Ritter Huldbrand Beschützerinstinkte aus. Als Reaktion auf Undines kindliches Verhalten

wächst in ihm die Fürsorgepflicht auf, welche sich bald in erotische Anziehung umwandelt. Hier

kommt der Schönheitsaspekt der weiblichen Geschlechteridentität zum Vorschein. Das zierliche

Kindlein entpuppt sich in ein „wunderschönes Blondchen“ 52 , das mit ihrem „anmutigen

Eigensinn“53 den Ritter in ihren Bann zieht. Der Germanist Peter von Matts sieht gerade in dieser

widersprüchlichen Kombination der wilden und erotischen Züge Undines den Grund für die

kulturwisschenschaftliche Faszination dieses Textes. In Undine erkennt von Matt einen

„Figurenumriss eines wilden, unzähmbaren, rücksichtslos spontanen Mädchens, das ganz Kind ist

und doch erotische Komponenten hat“54. Der zu Beginn der Erzählung als launisches Mädchen

dargestellten Undine werden allmählich klassische weibliche Attribute attestiert. Im ersten Teil der

Erzählung bleibt Undine immer noch die unbändige Nixe, jedoch löst die männliche Präsenz in ihr

„bezaubernd anmutige“ Eigenschaften aus. Sie bedient sich, wie von Fichte, Kant und Roussau in

52

Fouqué. a.a.O., S.8. 53

Ebd. S.8. 54

Matt, Peter von: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999, S.230.

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ihren Schriften erwähnt, der Schönheit ihrer gesamten Gestalt, um männliche Aufmerksamkeit zu

erregen. Mehrmals versucht Undine ihre „üble Laune durch Liebkosungen wieder gut zu machen“55

oder durch ihren äußeren Charme, die Zuneigung des Ritters für sich zu gewinnen:

Gegen Abend hing sich Undine mit demütiger Zärtlichkeit an des Ritters Arm und zog ihn sanft vor die Tür

hinaus, wo die sinkende Sonne anmutig über den frischen Gräsern und um die hohen, schlanken Baumstämme

leuchtete. In den Augen der jungen Frau schwamm es wie Tau der Wehmut und der Liebe, auf ihren Lippen

schwebte es wie ein zartes, besorgliches Geheimnis, das sich aber nur in kaum vernehmlichen Seufzern

kundgab. Sie führte ihren Liebling schweigend immer weiter mit sich fort; was er sagte, beantwortete sie nur

mit Blicken, in denen zwar keine unmittelbare Auskunft auf seine Fragen, wohl aber ein ganzer Himmel der

Liebe und schüchternen Ergebenheit lag. So gelangte sie an das Ufer des übergetreten en Waldstroms, und der

Ritter erstaunte, diesen in leisen Wellen verrinnend dahinrieseln zu sehen, so daß keine Spur seiner vorigen

Wildheit und Fülle mehr anzutreffen war. 56

Anschließend an das Schönheitsideal rückt die folgende Komponente der weiblichen Identität in

den Vordergrund: „Assoziiert wird, dass der Mann das beseelte Geschöpft ist, die Frau das

Körperwesen, das verzweifelt versucht, sich maskuliner Geistigkeit anzunähern und durch das

Sakrament der Ehe, nicht durch eigene Leistung zumindest zeitweise zu ihr emporgehoben wird.“57

Undine stützt sich auf diese ontologische Unterscheidung zwischen Seele (Bewusstsein, Geist,

tiefer Verstand) und Körper. In dieser Konstellation ist der Geist dem Körper eindeutig überlegen.

Die kulturelle Assoziation zwischen Geist und Männlichkeit einerseits und Körper und Weiblichkeit

andererseits findet im Feld der Philosophie zahlreiche Belege. Kants Unterteilung zwischen dem

tiefen und schönen Verstand ist ein Beispiel für den Geist-Körper-Dualismus, der in Fouqués

Erzählung eine prominente Stelle einnimmt. Die Behauptung aus der Erzählung, die Frau könnte

ihre Seele nur durch die Heirat mit einem Mann erlangen, erteilt schon im Vorfeld dem Mann eine

überlegene Rolle und schließt die Gleichberechtigung in der ehelichen Gemeinschaft aus. Für die

Theoretiker Fichte, Kant und Rousseau, sowie für viele romantische Autoren, ist die dualistische

Weltwahrnehmung eine Selbstverständlichkeit; Geist/ Intellekt/ Seele wird durch den Mann

repräsentiert, während Natur/Körper durch die Frau vertreten wird. Der Intellekt sei dem Mann

zugänglicher als einer Frau, was die Frau mithilfe ihrer Gaben der Zärtlichkeit, Anmut und

Schönheit ausgleichen könnte. Undine entspricht dieser Vorstellung. Ihre anfängliche

Seelenlosigkeit, abgerundet mit Undines anmutiger Gestalt und ihrer geheimnisvollen, sexuellen

Attraktivität sowie ihrer enge Kontakt mit Naturquellen machen sie zur „Körper pur- Figur“, die

55

Fouqué. a.a.O., S.30. 56

Ebd. S.46. 57

Lundt, Bea: Undine geht-Melusine kommt. Feministische Märchenrezeption am Beispiel der Erzähltraditionen von

einer Meerjungfrau. In: Bendix, Regina; Marzolp, Ulrich (Hg.): Hören, Lesen, Sehen, Spüren: Märchenrezeptio n im

europäischen Verlag. Baltmannsweiler: Schneider Verlag 2008, S.35.

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eine andere Existenz und Weltperspektive als ihr männliches Pendant, der beseelte Ritter, vor sich

hat.

6.3. Darstellung der weiblichen Sexualität

Die Verbindung des Beseelungsmotivs mit dem vom Mann dominierten Geschlechtsverkehr

macht die Diskrepanz zwischen den Geschlechterpositionen noch ausgeprägter. Erst nach der

Beseelung durch die körperliche Vereinigung mit dem Ritter, wird Undine zu einer gesellschaftlich

akzeptierten Frau. Die Seele als Symbol der Menschlichkeit wird durch den Akt des

Geschlechtsverkehrs vom Mann an die Frau geschenkt. Die Trauung selbst reicht nicht aus, um

Undines emotionale und mentale Wandlung zu bewirken, es braucht den Vollzug des

geschlechtlichen Aktes, um Undines gänzliche Verwandlung zu realisieren. An dieser Stelle wird

das Gesetz der bürgerlichen Sexualität des 19. Jahrhunderts fassbar gemacht. Der Trieb der Frau

äußert sich in einem starken Bedürfnis nach Geborgenheit, Treue und Liebe. Im Gegensatz dazu

braucht der Ritter die sexuelle Zuneigung von zwei Frauen, um seine Bedürfnisse zu stillen.

Darüber hinaus ist sie Existenz der Frau von ihrem Mann bedingt, wohingegen der Mann nur in

dem Kontext der Reproduktion, bzw. der Ausübung des geschlechtlichen Triebes, von der Frau

abhängig ist. Dies lässt sich mit dem schon erwähnten Gedanken Rousseaus erklären: „Der Mann

hängt von der Frau infolge seiner Begierden ab, die Frau aber vom Manne nicht allein hierin,

sondern auch in ihren Bedürfnissen. Wir könnten weit eher ohne die Frauen, als die ohne uns

bestehen. Ihre Lebensbedürfnisse und Lebensstellung verdanken sie uns allein.“ 58 Des Weiteren

stellt der Vollzug des Geschlechtsverkehrs einen Opferakt für die Frau dar. Sie kann und darf dabei

kein Vergnügen empfinden, sondern ihre Opferbereitschaft und Hingabe demonstrieren. Mit ihrer

hingebungsvollen, vollkommen auf die Bedürfnisse ihres Mannes ausgerichteten Sexua lität gelingt

es Undine den Ritter an sich zu binden und dadurch die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse nach

Sicherheit und Zuneigung zu sichern. Im Einklang mit Fichtes Theorie über den männlichen und

weiblichen Geschlechtstrieb, verkörpert Undine die leidende Frau, die ihren Körper dem Ritter zur

Verfügung stellt, um ihr endgültiges Ziel, ihre Seele, zu erreichen. In dieser Hinsicht stimmt Fichtes

Auffassung über den leidenden weiblichen Geschlechtstrieb mit Fouqués leidendem Frauenbild

überein. Ein weiterer für das binäre Geschlechterkonzept erläuternder Moment dieser Erzählung

äußert sich in den unvereinbaren Liebesvorstellungen des Mannes und der Frau. Die Frau fällt in die

für sie typische, leidende Opferrolle ein, ignoriert ihren Stolz, toleriert Untreue und sehnt sich nach

58

Rousseau: a.a.O., S.338.

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der alten Liebe, über die der Mann längst hinweggekommen ist. Seine Ziele liegen in der neuen

Gemeinschaft mit einer anderen schönen Frau, die in ihm, genauso wie Undine früher, ihren Retter

und geistigen Führer sieht. Der Ritter ignoriert alle Warnungen und Hinweise der nahenden

Katastrophe und vollzieht seine Hochzeitspläne. Selbstsicher, begleitet vom Gefühl der ritterlichen

Unbesiegbarkeit, lässt er Drohungen seiner Frau Undine unbeachtet und setzt mutwillig seine Pläne

um. Obwohl Undine mehrmals von Huldbrand beschimpft, beleidigt und herabgewürdigt wird,

hängt sie bis zum Ende an dem alten Hochzeitsversprechen der unvergänglichen Liebe. Die

Unvereinbarkeit zweier Geschlechterwelten wird im stillen Gedanken des Ritters zum Punkt

gebracht: „Das kommt davon, wenn gleich sich nicht zu gleich gesellt“59, reflektiert der Ritter sein

gescheitertes Verhältnis zu seiner Frau. Die Liebesgeschichte entfaltet sich vor der Kulisse der zwei

gegenübergestellten Welten. Undines Positionierung in die Wasserwelt und Ritters Standesrolle

unterstreicht zusätzlich die Geschlechterunterschiede. Aus dieser Konstellation lässt sich die

Botschaft herauslesen, Frau und Mann gehörten zu unterschiedlichen Welten und müssten sich

dementsprechend unterschiedlichen gesellschaftlichen Erwartungen fügen.

6.4. Demütige und dienende Frau

Das launische Mädchen verwandelt sich in eine zierliche, untergeordnete Frau. Aus dem

unbändigen Kind wächst eine scheue, gutherzige, leidende Dame heran. Die neu gewonnenen

Interessen dieser „schmeichelnden Schöne“ 60 gelten ausschließlich dem Ritter. Sie gibt sich

ausgesprochen dienerisch, anbiedernd, selbst-demütigend und unterwürfig. Auf die Knie gesunken,

scheu nach Huldbrand blickend, heult Undine folgende Worte: „Ich hab doch nichts Böses getan,

ich armes, armes Kind! Sie sah dabei so endlich anmutig und rührend aus, dass ihr Bräutigam alles

Grauens und aller Rätselhaftigkeit vergaß, zu ihr hineilend und sie in seinen Armen

emporrichtend.“61. Hier macht sich eine große Kluft zwischen Undines frühkindlichen Verhaltens

und ihres Posthochzeitgemüts auf. Das ursprünglich rebellische Kind passt sich ganzheitlich an die

Geschlechterkonventionen und übernimmt freiwillig die Rolle der sittigen, untergeordneten,

gehorsamen, um Liebe und Zuneigung bittenden, romantischen Frau an. Die beseelte, angepasste,

leidende Frau tritt an die Stelle eines ungezähmten Kindes. Nach der Hochzeitsnacht übernimmt

Undine eine andere Identität, die dem gesellschaftlich akzeptablen, damaligen,

59

Fouqué: a.a.O., S.86. 60

Ebd. S.21. 61

Ebd. S.43.

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„weiblichen“ Verhaltensmuster entspricht. Der Hochzeitsabend fungiert in dieser Erzählung als

Zäsur und lenkt die Handlungsabläufe in eine neue Richtung:

Sie b lieb den ganzen Tag lang so: still, freundlich und achtsam, ein Haus mütterlein und ein zart

verschämtes, jungfräuliches Wesen zugleich. Die dreie, welche sie schon länger kannten, dachten jeden

Augenblick irgendein wunderliches Wechselspiel ihres launisches Sinnes hervorbrechen zu sehen. Aber

sie warteten vergebens darauf. Undine blieb engelmild und sanft. 62

Zusammenfassend lässt sich Undines Entwicklung folgendermaßen darstellen: vor der Hochzeit war

sie ein spontanes, selbstbewusstes, verspieltes und rebellisches Mädchen. Wegen ihres

ungehorsamen, unsittigen Betragens wurde sie der ständigen Kritik ausgesetzt. Nac h der Hochzeit,

in dem Akt der Beseelung, des Frauwerdens, zeichnet sie sich durch ein sittiges, stilles, schamhaftes,

engelmildes, sanftes, demütiges Benehmen aus. „ Sie ist ein bisschen dumm, jedenfalls für den

Ritter sehr bequem geworden. Die erste Wirkung der neu erworbenen Seele besteht darin, dass sie

die zuvor abgelehnte hausfrauliche Qualitäten entfaltet und sofort das Frühstück vorbereitet.“63 ,

stellte Henriette Beese in ihrer Interpretation von Fouqués Erzählung fest. Undines intensivierte

Fixierung auf den Ritter Huldbrand setzt ihre komplette charakterliche Transformation in Gang. Sie

begegnet Huldbrand in freundlicher Demut, legt allmählich ihr „törisches“, kindliches Verhalten ab

und wird schamhafter, sanfter, immer angepasster, milder und „weiblicher“, bis sie schließlich den

Standpunkt vollkommener Domestizierung erreicht. Im Artikel Undine geht − Melusine kommt zur

feministischen Märchenrezeption am Beispiel von der Erzähltradition der Meerjungfrauen folgt Bea

Lundt der Kontinuität der Nixengestalten in der Literatur. In der frühen Neuzeit, die Zeit um 1800,

bemerkt die Autorin eine kraftvolle Domestizierung der Nixengestalt, welche seine Bestätigung in

Undines Fall findet. Fouqués Wasserfrau gewinnt im romantischen Zusammenhang einen neuen

Sinn, sie wird zu einem defizitären Wesen, das Ergänzung durch den Mann braucht. „Als

sekundäres Naturwesen versucht sie vergeblich, das Defizit auszugleichen“64. Undines mangelnde

Seele stellt dieses Defizit dar, das nur durch Ehe, das Symbol einer Gemeinsc haft, in der die Frau

dem Mann gegenüber eine unterlegene Stelle einnimmt, zu decken ist. Aus Wunsch nach der

Beseelung und Integration in die menschliche Gesellschaft, wird Undine aus einem wilden,

naturhaften Kind zu einer unterwürfigen, schmeichelnden, holden und lieblichen Frau: „Nun bin ich

beseelt, dir danke ich die Seele, oh du unaussprechlicher Geliebter, und dir werde ich es danken

wenn du mich nicht mein ganzes Leben hindurch elend machst. Denn, was soll aus mir werden

wenn du mich scheuest und mich verstößtest?“ 65 . Von der Ebene der Ignorierung der

62

Fouque: a.a.O., S.46. 63

Beese, Henriette: Nachwort. In: Beese, Henriette (Hg.): Von Nixen und Brunnen. Märchen des 19. Jahrhunderts.

Frankfurt am Main: Ullstein 1982, S.246. 64

Lundt, Bea: a.a.O., S.35. 65

Fouqué. a.a.O., S.49

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gesellschaftlichen Konventionen und vollkommener Abweisung der zeit-typischen Rollenerwartung

geht Undine auf die Ebene der vollkommenen Akzeptanz und Verinnerlichung dieser Konventionen

über.

Wie Fichte anführt, unterwirft sich die Frau aus ihrem eigenen freien Willen dem Mann.

Sie gibt sich, in Fichtes Worten, dem Mann vollkommen hin und verzichtet auf ihre eigene Rechte.

Fichte betont diese binär konstruierte Rollenverteilung, in dem er formuliert, im Begriff der Ehe

liege die unbegrenzte Unterwerfung der Frau unter dem Willen des Mannes. Sie müsse sich

unterwerfen um ihrer eigenen Ehre willen. 66In Fouqués Erzählung verzichtet Undine nicht nur auf

ihre Rechte, sondern auch auf ihren Charakter und ihre Herkunft. Des Weiteren entspricht Undines

demütiges Posthochzeitsverhalten dem von Rousseau vorgeschlagen weiblichen Erziehungsideal.

Am Anfang befand sich Undine im rohen Naturzustand, welcher einen Erziehungsprozess bedurfte.

Der Weg aus diesem Naturzustand läuft durch d ie Heirat und Einfügung in die männerdominierte

Gemeinschaft ab. Als Frau unterliegt Undine dem um 1800 herrschenden Grundgedanke, die Frauen

seien dazu geschaffen, dem Mann zu gefallen und ihm zu dienen. Das Ziel des weiblichen Daseins

ist ihren Mann zu beglücken und seinen Bedürfnissen nachzugehen. Durch ihre Sittlichkeit, Liebe,

Gehorsamkeit, Freude, Schönheit und Zuneigung bemüht sich Undine um Glück und Zufriedenheit

ihres Ritters. „Die sanfte Hausfrau“67 lernt nach ihrer Beseelung innig lieben und ehren. Der Mann/

der Ritter agiert selbständig, wobei die Frau/ Undine immer Billigung und Anleitung durch den

Mann braucht. Der Text weist zahlreiche Situationen auf, in denen Undine dem Ritter, „demütig-

froh über die lang entbehrten Worte der Liebe schmeichelte“68. Obwohl sich „seine reizende Frau

sich so fromm und gutmütig und herzlich bewies“69 und auf jede Schmähung selbstkritisch reagiert,

„ warf er ernste Blicke auf diese (Undine) und die arme Frau sah betrübt vor sich nieder. Sie sah so

demütig, hold und gehorsam aus, das des Ritters Herz sich einem Sonnenblick aus besseren Zeiten

erschloss“70 Undies Vorhaben, ihre Ehe zu retten, scheitert an der unkontrollierten Begierde ihres

Mannes. Von seiner „männlichen“ Natur geleitet wendet sich der Ritter schnell einer anderen Frau

zu. Geführt von ihrem verweiblichten Sitten- und Weltverständnis bleibt Undine macht- und hilflos

gegenüber Ritters unberechtigten Kränkungen, akzeptiert die ihr aufgezwungene Verstoßung aus

der Menschenwelt und fügt sich, immer noch um die Liebe bittend, in die Opferrolle ein.

Bleib bei ihnen in aller Hexen Namen mit all deinen Geschenken und laß uns Menschen zufrieden,

Gauklerin du!« – Starren, aber tränenströmenden Blickes sah ihn die arme Undine an, noch immer d ie

66

Vgl. Fichte: a.a.O.,. S.188. 67

Fouqué: a.a.O., S.71. 68

Ebd. S.72. 69

Ebd. S.65. 70

Ebd. S.72.

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Hand ausgestreckt, mit welcher sie Bertalden ihr hübsches Geschenk so freundlich hatte hinreichen wollen.

Dann fing sie immer herzlicher an zu weinen, wie ein recht unverschuldet und recht bitterlich gekränktes

liebes Kind. Endlich sagte sie ganz matt: »Ach, holder Freund, ach, lebe wohl! Sie sollen dir nichts tun;

nur bleibe treu, daß ich sie d ir abwehren kann. Ach, aber fort muß ich, muß fort auf diese ganze junge

Lebenszeit. O weh, o weh, was hast du angerichtet! O weh, o weh!«71

6.5. Frau als leidendes Subjekt

Nach der Hochzeit wird Undine durchgehend als arme Frau gezeigt, die mit weinender

Stimme in ihren Tränen still und leidend um die Liebe des Ritters bittet. Ihr Leiden sowie ihre

Sehnsucht nach dem Leiden, ihre naive Frömmigkeit und mangelnde Durchsetzungsfähigkeit als

auch ihr andauerndes Bedürfnis, die Opferrolle anzutreten, finden literarischen Ausdruck im

Leitmotiv des Weinens. Die Tränen bilden das für die Geschlechterkonstruktion ausschlaggebende

Motiv dieser Erzählung. Undine „weint still und bitterlich“72 , sie „trocknete ihre lieben Tränen“73,

„ihr Tränenstrom rührten die Herzen, sie sinkt herzlich weinend in Huldbrands Arme “74. Auch in

Ritters Träumen taucht sie in sanfter und freundlicher Gestalt, demütig und unterwürfig auf und

ging dann weinend wieder weg. Der reiche Strom der wehmütigsten Tränen begleitet Undine durch

die ganze Erzählung. Nachdem Undine durch ihre Hochzeit in die gesellschaftliche Ordnung

getreten ist, verliert sie ihr ursprüngliches kichernd-kindliches Lachen. Ihr Lachen wird durch eine

andere Ausdrucksform ersetzt: das Weinen. Nachdem sie die Ehegattin geworden ist, scheint

Lachen nicht mehr angemessen zu sein; in ihrem Weinen drückt sie ihr erwachsenes,

vermenschlichtes, verweiblichtes Ich aus. Dieser Ausdruck des tiefen Leidens und der passiven

Gehorsamkeit dominiert den zweiten Teil der Geschichte. Schließlich wird das Märchen mit dem

einprägsamen Motiv der weinenden Frau abgerundet, deren Tränen und Trauer sich in die

Landschaft eingeschrieben haben. Undines Tränen fließen in die Natur als eine Wasserquelle ein,

verfestigen sich in der Erde und brannten sich in die kollektive Erinnerung eines Dorfes ein als das

Symbol einer ewig-leidenden, nach Liebe suchenden, „armen, verlassenen“ Weiblichkeit.

„Sie küsste ihn mit einem himmlischen Küsse aber sie ließ ihn nicht mehr los. Sie druckte ihn inniger an

sich und weinte, als wolle sie ih re Seele fortweinen. Die Tränen drangen in des Ritters Augen und wogten

im leiblichen Wehe durch seine Brust, bis ihm endlich der Atem entging (…) Ich habe ihn totgewe int, sagt

Undine zu einigen Dienern (...) Noch in späten Zeiten sollen die Bewohner des Dorfes d ie Quelle gezeigt

71

Fouqué. a.a.O., S.89. 72

Ebd.S.51. 73

Ebd. S.52. 74

Ebd. S.60.

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und fest die Meinung gehegt haben, dies sei die arme, verstoßene Undine, die auf diese Art noch immer

mit freundlichen Armen ihren Liebling umfasse.75

6.6. Fazit Undine- Eine Erzählung sammelt viele Diskurse, die das Frauenbild der Romantik prägen.

Es handelt sich um eine Mythos-Verarbeitung in der literarischen Form eines Märchens. Fouqué

schafft eine typisch romantische Raum- Zeit- Konstellation, ordnet die tragische Liebe der

Wassernixe und des Ritters in einen zeitlosen Rahmen in eine idyllische Landschaft. Dieser Kontext

bietet einen fruchtbaren Boden für die Entfaltung romantischer Geschlechterkonzepte. Fouqué

projiziert patriarchales, phallogozentrisches Verständnis von Geschlechteridentitäten in seine

Figuren hinein. Undine fungiert als Spiegel des Frauenbildes ihrer Epoche; sie ist die Projektion

männerdominierter Kultur, männerorientierter Erziehung und Welteinstellung. Ihr Verhalten folgt

einem genau bestimmten Entwicklungsmodell von einem rebellischen, verspielten Kind bis hin zur

beseelten, leidenden, liebenden Frau. Hieraus erschließt sich, dass Fouqués Bearbeitung des

mythologischen Wasserfraumotivs unter dem Einfluss der normativ geprägten Merkmale der

romantischen Weiblichkeit stand. Das Bild der schönen, zierlichen, anbiedernden Frau durchzieht

den Text. „Als imaginiertes Naturwesen ist die Frau notwendig Objekt männlichen

Herrschaftswillen, der Beseelungsvorgang bei Fouqué ist dafür nur eine bezeichnende Metapher“76,

behauptet Inge Stephan. Das Wiedererkennen romantischer Verhaltensmuster, vorgelegt von Kant,

Fichte und Rousseau, an Undines Figur, bestätigt den starken Einfluss des patriarchalen Systems auf

die Literaturproduktion der Romantik. Die Vereinfachung und Reduzierung der

Geschlechtermerkmale kommt in dieser Erzählung stark zum Ausdruck und eröffnet ein

literarisches Diskussionsfeld, das Ingeborg Bachmann eineinhalb Jahrhunderte später, bewaffnet

mit anderen theoretischen Begriffen, mit voller Überzeugung betritt.

7. Das dreißigste Jahr – Erwachen in einer Utopie

1956 entwarf Ingeborg Bachmann die Erzählung Undine geht und veröffentlichte diese fünf

Jahre später in ihrem ersten Erzählband Das dreißigste Jahr. Mit ihrem Erzählband Das dreißigste

Jahr betritt die bis dahin ausschließlich als Lyrikerin bekannte Autorin die Welt der Prosa und

75

Ebd. S.101-103. 76

Stephan, Inge: a.a O., S.228.

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hinterlässt eines der bedeutendsten Werke der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Die sieben

Erzählungen des Prosabandes untersuchen die Konfrontation der Figuren mit herrschenden

gesellschaftlichen Normen sowie den Willen sich der Konformität zu entziehen und nach eigenem

Gewissen zu handeln. In einer kritischen Weise synthetisiert der Erzählband alte Mythen, moderne

literarische Kanonen und die Philosophie des 20. Jahrhunderts. Gerade diese Synthese erschließt

unterschiedliche interpretatorische Möglichkeiten und bietet Literaturwissenschaftlern einen großen

analytischen Spielraum, welcher im folgenden Kapitel näher erläutert wird.

In seiner Rezension zum Prosaband bemerkt Heinz Beckmann, es gehe Bachmann in den

Erzählungen „nicht um den Vortrag irgendeiner Begebenheit, um die psychologische Schraffierung

irgendwelcher Personen im Zusammenprall mit ihrem Schicksal, sondern es gehe um nichts

Geringeres als um den Schritt über die gewohnten Grenzen des menschlichen Daseins“77. Weiterhin

erkennt Frank Pilipp in seiner Interpretation Des dreißigsten Jahres die Tendenz zur „Rebellion

gegen das Bestehende“78. In seiner Argumentation beruft er sich auf den Literaturwissenschaftler

Holger Pauschs, der Bachmanns Erzählungen als „Variationen zum Thema Flucht aus beengten

Konventionen, Spielregeln und Verhaltensnormen des alltäglichen Daseins, welche die individuelle

Freiheit beeinträchtigen“ 79 verstanden hat. In den Erzählungen übt Bachmann Kritik an den

unreflektierten Traditionen sowie tief verankerten, patriarchalen Weltanschauungen. In diesem

Zusammenhang reflektiert die Autorin die menschliche Existenz, Identitätskrisen und die Rolle

der Sprache sowie die Rolle der sprachlichen Beziehung zur Identitätsentwicklung.

Im Kern handeln ihre Erzählungen von der gewonnenen Klarheit über „Unverbindlichkeit,

Unzulänglichkeit und Brüchigkeit des bisherigen Lebens in einem fragwürdig gewordenem

Gesellschaftssystem, [es handelt sich] über die nicht wahrgenommene Möglichkeiten zur

Selbstverwirklichung“ 80 Den Figuren wird der „blitzhafte Eingriff in die eigene existenzielle

Gefangenschaft“81 ermöglicht. Das Verlangen nach einem sofortigen Ausbruch aus der Gesellschaft

sowie das Bedürfnis nach dem radikalen Abbruch aller bisherigen Kontakte sind für die

ProtagonistInnen Des dreißigsten Jahres charakteristisch. Sie befinden sich in einem Leerraum

zwischen der Flucht aus der vorgegebenen Ordnung und der ihnen a uferlegten Integration in

ebendiese.

77

Pilipp, Frank: Ingeborg Bachmanns Das dreißigste Jahr : kritischer Kommentar und Deutung. Würzburg :

Königshausen & Neumann 2001, S.7. 78

Ebd. S.8. 79

Ebd. S.9. 80

Ebd. S.30. 81

Ebd. S.30.

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Bachmann hat zwei Bezugsgruppen, sowohl die ganze Menschheit als auch die Frauen.

Die Erfahrung der fremdbestimmten Identität wird wiederholt betont, so etwa im Gefühl des Betrogen -

und Verratenseins, besonders im Bewusstwerden über vergangene Frauenbeziehungen, in der Gewissheit

in Verruf gebracht worden zu sein, im Erkennen der Verstrickungen in d ie Händel der Gesellschaft und

deren Manipulation durch Gemeinheit, Gewalt, Rache und Erpressung.82

Der Austritt aus dem Bekannten und der Versuch der Neudefinition des Selbst, der Rolle des

eigenen Geschlechts und der Welt kennzeichnen den Prosaband. Die zentralen Fragen der

Erzählungen beziehen sich auf die Konzepte der Gewalt, des Rechts, des Geschlechts, der

Verantwortung sowie der Sprache als Vermittler bei der Weltbetrachtung. Aus einer Sprachutopie

entwickelt sich allmählich die Gesellschaftsutopie, die die eigentliche Kulisse Des dreißigsten

Jahres bildet. Vor dieser Kulisse tritt auch Undine auf und äußert das Utopie-Denken der Autorin.

Undine geht spiegelt Bachmanns Sprach- und Weltkritik und präsentiert ihr feministisches und

poetisches Manifest. Die nicht zufällig letzte Erzählung des Bandes kann als abschließendes Stück

Bachmanns Werkes gelesen werden. Demnach ist sie der Höhepunkt aller genannten Ambitionen

der Autorin.

8. Undine geht

Zusammen mit Undine entzieht sich Ingeborg Bachmann einer konformistischen

literarischen Welt und erforscht die neuen Dimensionen des menschlichen, künstlerischen Daseins.

Dabei rufen Bachmann und Undine zur Überwindung aller tradierten Wertkategorien und zur

Positionierung außerhalb der alten Gedankenwege auf. Schon mit ihrem ersten Satz kündigt Undine

ihr baldiges Verlassen dieser Welt, ihrer Konventionen, konturierten Realität, Rollenstereotype, und

ihrer Sprache an.

„Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer! Ihr Ungeheuer mit Namen Hans!“ 83. Mit diesem Aufruf

beginnt Ingeborg Bachmanns verdichtete Erzählung. Die durchgehend in Form eines Monologs

verfasste, einem Klagelied ähnelte, höchst stilisierte Erzählung lässt sich nicht wie alle

vorausgehenden Darbietungen des Undine-Themas in einer chronologischen Reihenfolge

zusammenfassen. Im Unterschied zu Fouqués Werk verzichtet Bachmanns Text auf die formalen

82

Pilipp:a.a.O., S.40. 83

Bachmann: a.a.O. S.3.

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Merkmale und lässt sich weder in Ort noch Zeit einrahmen. Undine geht ist überall und nirgendwo

einzuordnen, entzieht sich jeglicher methodologischen Fixierung, ihre Figuren sind keine

Individuen, sie schwimmen zeit-, körper- und alterlos in einer Welt zwischen Realität und Phantasie

und sind deshalb als eine Utopie zu verstehen.

„Nur ein einziges Mal, nämlich im Titel, wird jener Name genannt, der schon spricht bevor der Text

einsetzt. Der Name benennt eine literarische Figur im Schnittpunkt eines überlieferten Erzäh lfeldes, aus

dem heraus sie konstituiert wird. Der Name allein umgibt den Text mit einer Aura, die nicht erst durch die

Rede im Text erzeugt wird, sondern die dieser Rede schon vorgängig ist und ihr Glanz verleiht“84

, konstatiert Ortrud Gutjahr in ihrem Artikel zum Undine-Mythos. Gutjahr erkennt das Potenzial des

literarisch-historischen Undine Kontextes, der sofort mit Erwähnung des Namens der Meerjungfrau

aufkommt und eine Reihe von Assoziationen auslöst. Die Undine-Figur ist der Grundstein

Bachmanns neuen Textes. Im Aufbauprozess ihrer Erzählung kombiniert die Autorin die Bausteine

des alten Mythos mit den aktuellen Gedanken. In vielerlei Hinsicht weicht Undine geht von

früheren Undine Versionen ab, allerdings bleibt das Sujet der Wasserfrau erhalten. Grundsätzlich

handelt es sich um eine Meerjungfrau, die ihr Element verließ, um auf der Erde frei lieben und

leben zu können. Statt Liebe und Erfüllung erfährt sie Enttäuschung und Schmerz und kehrt wieder

in ihr altes Element Wasser zurück. Vor diesem bekannten Hintergrund tritt keine scheue und stille

sondern eine emanzipierte Undine auf.

Ihr Bewusstseinsstrom fließt in steigender Intensität in unvorhersehbarer Richtung und trägt

Assoziationen, Emotionen und Erinnerungen einer menschlichen Existenz an das fiktive Ufer hera n,

wo sich Undine und Hans treffen. Zwei Themenkreise rücken in den Mittelpunkt der Erzählung.

Zunächst werden die Begegnungen und gemeinsame Erfahrungen zwischen Undine und Hans in

einem kritischen Ton dargestellt. Zudem wird die Gegensätzlichkeit zwische n der Liebessehnsucht

und dem Verrat an dieser Liebe thematisiert. In ihrer Beurteilung der Erde distanziert sich Undine

von der Welt, deren Teil sie einmal war, und nimmt die Perspektive der allwissenden Instanz, die

über die Grenzen der irdischen Wahrnehmung hinausgeht und in die Tiefe der menschlichen Psyche

vordringt. Undine spricht über die unüberwindbare Opposition zwischen sich selbst und der Welt

der Hans-Menschen. In ihrer Schmährede rechnet sie mit Hans ab, sei es mit einem Einzelnen oder

mit der typologisierten Mehrzahl, die die verlogene Männergesellschaft repräsentiert. Undines

Monolog handelt von Verrat an Liebe, von Vertrauensbruch, von Gewohnheitssucht, von Patriarchat

und Religion, von Gier und Eifersucht, von Angst vor dem Alleinsein, Misserfolg und Schande.

Darüber hinaus wendet sich die klagende Stimme Undines gegen „schwache, eitle Äußerungen,

84

Gutjahr, Ortrud: Ironisierter Mythos? Ingeborg Bachmanns Undine geht. In: Roebling, Irmgard (Hg.): Sehnsucht und

Sirene. Pfaffenweiler: Centaurus 1992 , S. 221.

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schäbige Handlungen, törichte Verdächtigungen“85, sie mahnt vor Selbsttäuschung, Manipulation

und Gewalt und ruft zur Veränderung auf. Leidend an der Liebessehnsucht reflektiert Undine das

Konzept der Liebe, die Menschen nach wie vor unerreichbar und unverständlich bleibt. Für die

Wasserfrau bleibt Liebe eine Frage, die keine zufriedenstellende Antwort geben kann. Die Welt ist

zum Lieben zu verwirrt, egoistisch, gierig und geizig, zu sprachlos und mittellos. Undine ist die

Betrogene in dieser Welt, wobei Hans der Welt der Betrüger zugehört.

Denn sie, Undine, die aus der Sphäre des Unverständlichen komme und für die Hans -Menschen fern und

fremd erscheinen müsse, gelte Ihnen als verdächtig; sie werde als Gefahr empfunden und deshalb von

denen, die in Sicherheit zu b leiben wünschten, die an ihren Ordnungen und großen Instanzen festzuhalten

suchten- sie werde von ihnen in konsequenter Weise zum Opfer gebracht.“86

Undine steht Hans, dem auf Nützlichkeit und Gewohnheit ausgerichteten Menschen,

gegenüber. Beide Figuren sind in einem Feld von Gegensätzen positioniert, zwischen Liebe und

Hass, Anziehung und Abstoßung. Undine ist dem Zwang unterworfen, Hans lieben zu müssen. Hans

ist dagegen der Diener seines eigenen, nicht mehr kontrollierbaren Machtapparats, seines Egoismus

und seiner Privilegien.

9. Unterschiede zwischen Bachmanns und Fouqués Undine

„Undine geht ist eine monologische Erzählung, in der zugleich viele Stimmen

vorangegangener Undinen mitschwingen, die als polyphoner Text im Dialog mit ihren Prätexten

stehen und zugleich einen Dialog mit den (menschlichen) Leser und Leserinnen inszenieren“ 87.

Bachmanns Undine ist eine literarische Fiktion, die nur im Zusammenhang mit ihren gleichnamigen

literarischen Vorgängerinnen ihre Seele bekommt. Diese vielschichtige und vielstimmige Undine

aus den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts beruft sich sowohl auf die eigene literarisch-mythische

Tradition als auch auf die Philosophie und Literatur aus ihrer Entstehungszeit. Auf die Fragen, wie

die Autorin der alte Stoff zum neuen Leben erweckt hat, wird im Folgenden eingegangen. Dabei

wird der Fokus der Betrachtung vordergründig auf die Aspekte gelegt, welche die moderne Version

Ingeborg Bachmanns von den leitenden Fragen der vorausgehenden Undine-Erzählungen

unterscheiden.

85

Bachmann, Ingeborg: Undine geht. In: Undine geht. Das Gebell. Ein Wildermuth. Stuttgart: Philipp Reclam 1984, S.8. 86

Strohschneider Kohrs, Ingrid: Stimme und Sprache. Ingeborg Bachmanns Version des Undine Themas. München:

P.Kirchheim 2003, S.30. 87

Neubauer-Petzoldt, Ruth: Grenzgänge der Liebe. Ingeborg Bachmanns Undine geht. In: Mayer, Mathias (Hg.): Werke

von Ingeborg Bachmann. Stuttgart: Reclam 2000, S.157.

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In Bachmanns Händen erfährt der Undine-Stoff eine gänzliche Umgestaltung. Die

Innovationen finden auf allen Ebenen statt, sind jedoch so präzis eingesetzt, dass das alte Sujet

immer noch erkennbar bleibt. Mit der Wahl des Titels und vor allem mit dem zentralen Kernmotiv

der Wasserfrau ist Ingeborg Bachmann dem Undine-Mythos nahegeblieben. Akzentverschiebung

innerhalb des bekannten thematischen Rahmens ist das, was Undine geht von anderen literarischen

Bearbeitungen des Wasserfraumotivs differenziert. Diese Verschiebung äußert sich im stark

ausgeprägten sprachlichen Stilisieren, der Verringerung der Figuren, der Delokalisierung des

Handlungsortes, der geänderten Erzählperspektive und Erzählform, sowie der selbstreflexiven

Sprach-, Welt- und Kunstproblematisierung.

Bachmanns Dichtung ist von einer gravierenden Veränderung in der Motivkonstellation

geprägt. Zwei essentielle Elemente des Undine-Mythos fallen aus dem Text heraus. Erstens lässt

Bachmann das in früheren Texten zentrale Motiv des Seelenwunsches und Seelenerwerbs

vollkommen weg. Zweitens kommt das in älteren Darstellungen vorhandene Motiv der endgültigen

Trennung durch den Tod des untreuen Partners in der modernen Version nicht vor.

Der Seelenerwerb, das Kernmotiv, das bei Fouqué die Handlung in Gang setzt, wird in Bachmanns

Darbietung kaum erwähnt. Die von Fouqué als positiv geschilderte Ambition, in den Besitz der

menschlichen Seele zu kommen, wird in Bachmanns Version kritisiert. Fouqué schreibt über eine

Welt, die auf dem Körper-Seele-Dualismus beruht. Menschen sind aufgrund der ihnen angeborenen

Beseelung allen anderen Elementen und Wesen überlegen. Der Kerngedanke des Undine M ythos,

nämlich die Beseelung durch die Heirat mit einem Menschen, bekommt in der modernen

Bearbeitung neue Bedeutungen. Das Konzept der Seele wird in der Bachmannschen Undine

mehrfach in Frage gestellt. Erstens hinterfragt Bachmann den Charakter der menschlichen Seele.

Hans verliert das Gute an seiner Seele in der verlogenen, seelenlosen, inauthentischen Welt. „Die

Hans-Menschen sind es, die − aus ihrem seelenlosen Dasein zur Liebe herausgerufen, − durch das

Elementarwesen der Liebe begegnen.“ 88 Zweitens lässt der Text keinen Zweifel daran, dass Undine

diejenige ist, die über eine Seele in dem Fouqués Sinne des Wortes verfügt. Sie ist es, „die als das

leibend-bewegte Element ihren Seelen-und Liebesruf in die von Erstarrung bedrohte, an Zwecken

und Brauchbarkeiten sich ausliefernde, Seelenvolles zerstörende Menschen richtet“ 89 .

Dementsprechend wird dem Nicht-Männlichen, dem Nicht-Menschlichen, dem Elementaren eine

überlegene Stufe in der Schöpfungshierarchie zugeteilt. Undine, die zugleich eine Frau als auch ein

außerirdisches Wesen repräsentiert, wird in ihrer Rolle aufgewertet, wohingegen die Welt der

88

Strohschneider Kohrs: a.a.O., S.53. 89

Ebd. S.52.

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Menschen, bzw. Männer eine soziale Degradierung durchmacht. Diese umgekehrte Deutung der

Rangordnung markiert einen der bedeutendsten Eingriffe in das Undine-Sujet. Die Umkehrung der

Verhältnisse zwischen Hans und Undine weist auf die sehr bewusst ausgedrückte Ambition der

Autorin hin, den alten, tief verwurzelten patriarchalen Strukturen ein Ende zu setzen und eine neue

Ordnung zu präsentieren. Die Hans-Menschen werden zu Ungeheuern, zu unheimlichen Wesen,

wobei Undine, das Elementwesen, als Repräsentantin für eine authentische, „seelenvolle“ Welt

auftritt.

Ein weiterer Unterschied zwischen der Bachmanns und Foqués Undine äußert sich in dem

Schreibstil und der Erzählweise. Fouqué liefert eine märchenhafte, romantische Darstellung der

Begegnung zwischen Nymphen- und Menschenwelt, wohingegen sich Bachmann für ein modernes

monologisches Anti-Märchen entscheidet. Moderne Version verzichtet auf die in traditionellen

Undine - Erzählungen bevorzugte auktoriale Perspektive und ermächtigt die Protagonistin zum

eigenständigen Auftreten. Nur der Titel ist aus der auktorialen Perspektive formuliert und bildet

somit den direkten Bezug zum Undine-Mythos. Undine geht beginnt mit einer Anrede und wird

durchgehend von einem „Ich“ erzählt. Wie Yoko Mitsuishi bemerkt, gibt es keine zeitlich lineare

Entwicklung der Handlung. „Es geht um einen Augenblick. Diese Augenblicklichkeit und der

Perspektivenwechsel verleihen dem Stück den Charakter des inneren Monologes“ 90 . Dieser

Monolog scheut „in all der schmerzgeprägten Ausdrucksgestik die äußerste Grenze emphatischen

Sprechens nicht“, und „büßt nicht an Prägnanz ein“91. Undines Monolog zeichnet sich durch eine

steigende Intensität ihrer eigenen Gedankenführungen aus. Die zusätzliche Dynamik wird durch

eingeschobene, ironisierte, nichtssagende Dialogsequenzen zwischen Hans und Undine hergestellt.

Guten Abend.

Guten Abend.

Wie weit ist es zu dir?

Weit ist es, weit.

Und weit ist es zu mir.92

In der ganzen Erzählung bleibt der Eindruck erhalten, es werde sich eine wirkliche, verbale

Konfrontation entwickeln. Zum tatsächlichen Dialog zwischen beiden Parteien kommt es jedoch

nicht. Die Kommunikation scheitert an vielerlei Hindernissen. Anderes Sprach- und

Weltverständnis und unterschiedliche moralische Vorsätze machen den Dialog zwischen Undine

und Hans unmöglich. Jedoch steigert die permanente Antizipation eines Dialogs deutlich die

90

Mitsuishi, Yuko: Die Geburt der Undine aus dem Geheimnis der Begegnung. Eine Interpretation der Erzählu ng

„Undine geht“ von Ingeborg Bachmann. In: Fürnkäs, Josef (Hg.): Zwischenzeiten -Zwischenwelten. Festschrift für

Kozo Hirao. Frankfurt am Main: Universität Siegen 2001, S.499. 91

Strohschneider Kohrs: a.a.O., S.31. 92

Bachmann: Undine geht. a.a.O., S.4.

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Dramatik und Intensität des Werks. Zur Dramatik trägt auch der ständige Wechsel zwischen der

liebevollen, zuneigenden Sprache und vorwurfsvollen Anklagerede bei. In Undine geht sprich

Undine selbst und keiner über sie. Diesmal hat sie das Wort und redet sich ihre Beschwerden von

der Seele aus. Erzähltechnisch gibt sie ihren Objektstatus auf und ergreift als Subjekt des Textes das

Wort. Sie begehrt gegen ihr auferlegte Verhaltens- und Ausdrucksnormen auf und kämpft um ein

neues Verständnis ihrer weiblichen Rolle.

10. Unbehagen der Geschlechter

Die Erwartungen an die Frau und ihre Rolle werden in der folgenden Passage intensiv

untersucht. Das vorliegende Kapitel verschafft einen Einblick in die Geschlechtertheorie, präsentiert

in Judith Butlers bahnbrechendem Werk Gender Trouble ( die deutsche Übersetzung Das

Unbehagen der Geschlechter) 93 . In diesem Rahmen werden auch Überlegungen zum Thema

„Gender“ von Butlers Zeitgenossinnen dargelegt. Im Anschluss auf die detaillierte Präsentation

relevanter Genderaspekte wird ein Dialog mit Bachmanns „Undine geht“ hergestellt. Judith Butler,

die US-amerikanische Philosophin, erregte in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts mit ihren

Arbeiten zur feministischen Theorie internationale Aufmerksamkeit. Eines ihrer Kernthemen ist das

performative Modell der Sprache. Diesem Modell nach sind die Geschlechterkategorien keine

absoluten, von der Natur her vorbestimmten Einheiten, sondern kulturell bedingte, durch die

gesellschaftlich modifizierten Sprechakte gestiftete Phänomene. Die Performativität der Sprache

erkennt auch Ingeborg Bachmann, die dieses Modell in ihrer Sprach- und Gesellschaftskritik

anwendet. Darüber hinaus bietet Butlers Geschlechtertheorie, obwohl fast 20 Jahre nach

Bachmanns Undine veröffentlicht, einen präzisen interpretativen Rahmen für die Geschlechter- und

Gesellschaftskonstrukte, die Bachmann in ihrer Undine evoziert. Genau dieser theoretische

Schnittpunkt zwischen Werken zweier Autorinnen wird im Folgenden erklärt.

Das Unbehagen der Geschlechter thematisiert grundlegende Aspekte des

Geschlechtsbegriffs und versucht sie in einen konzeptuellen Rahmen zu bringen. In ihrem Werk

untersucht Butler den Ursprung sowie den Entstehungsprozess der schon etablierten

Geschlechtermodelle, die ihre Gesellschaft prägen. Diesbezüglich bemüht sich die Autorin um die

93

Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Erstdruck:1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012.

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Enthüllung der Machtmechanismen, die hinter der Produktion der Geschlechterkategorien stehen. In

ihrer Analyse des weiblichen und männlichen Subjektes und der binären Auffassung dieser Begriffe

stützt sich Butler auf die Arbeiten ihrer feministischen Kolleginnen Simone de Beauvoir, Julia

Kristeva, Luce Irigaray und Monique Wittig. Des Weiteren übte Michael Foucault Ansicht über den

poststrukturalistischen Diskurs einen großen Einfluss auf Butlers Geschlechtertheorie. Der

Kerngedanke Simone de Beauvoirs „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“94 schafft die

argumentative Basis, auf der Judith Butler ihr „Gender Trouble“ weiter ausbaut. De Beauvoir geht

davon aus, dass eine Person erst in einem patriarchalen kulturellen Rahmen zur Frau wird. Der

Prozess des Frau-Werdens läuft immer unter gesellschaftlichem Druck ab. Im Brennpunkt der

Diskussion um Entstehung der Geschlechterkonzepte stehen zwei Begriffe, sex (Geschlecht) und

gender (Geschlechtsidentität), deren Erklärung folgt. Bei dem Begriff Geschlecht handelt es sich,

so Beauvoir, um eine anatomische Tatsache, durch Hormone und Chromosomen bedingte

biologische Erscheinung, wobei der Begriff Geschlechteridentität sich auf die gesellschaftlich

bedingte Interpretation des Geschlechts bezieht. Butlers Vorstellung von dieser Unterteilung

überlappt sich nur teilweise mit Beauvoirs Interpretation. Butler liegt eine theoretische Ergänzung

de Beauvoirs Konzepts von Geschlecht und Geschlechteridentität nahe. In Bezug auf die Definition

des Begriffes Geschlechteridentität schlägt sie Folgendes vor:

Die Geschlechtsidentität darf nicht nur als kulturelle Zuschreibung von Bedeutung an ein vorgegebenes

anatomisches Geschlecht gedacht werden. Vielmehr muss dieser Begriff auch jenen Produktionsapparat

bezeichnen, durch den die Geschlechter selbst gestiftet werden. (...) Die Geschlechtsidentität umfasst

auch jene diskursiven / kulturellen Mittel, durch die eine <geschlechtliche Natur> oder ein < natürliches

Geschlecht > als <vordiskursiv>, d.h. als der Kultur vorgelagert oder als politisch neutrale Oberfläche,

auf der sich die Kultur einschreibt, hergestellt und etabliert wird.95

Des Weiteren will Butler zeigen, dass Geschlecht immer schon Geschlechtsidentität gewesen ist96,

und dass es beim Begriff Geschlecht von keiner rein anatomischen Gegebenheit handelt, sondern

dass das Geschlecht auch schon immer mit Zuschreibungen und binär konstruierten Konzepten

geladen worden ist. Die Annahme einer Binarität der Geschlechteridentitäten war schon immer vom

Glauben an ein mimetisches Verhältnis zwischen Geschlechtsidentität und Geschlecht geprägt97.

Von daher ist es unmöglich Geschlecht von Geschlechtsidentität vollkommen zu trennen und von

zwei unterschiedlichen Kategorien zu reden.

94

Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Erstausgabe: 1949. Hamburg: Rowohlt 1951, S. 265. 95

Butler, Judith. Das Unbehagen der Geschlechter. 1991. S.24. 96

Ebd. S.26. 97

Ebd. S.23.

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Zum Ziel ihres Unbehagen der Geschlechter äußerst sich Butler folgendermaßen:

„Allgemeiner formuliert besteht meine Absicht darin, die Bahnen nachzuziehen, auf denen die

Geschlechterfabeln die Fehlbenennungen natürlicher Fakten etablieren und im Umlauf

bringen“.98Diesbezüglich unterzieht sie die Kategorien „Frau“ und „Mann“ einer neuen Betrachtung.

Sie geht davon aus, dass der binäre Rahmen des geschlechtlichen Denkens, die binäre Beziehung

zwischen Männern und Frauen, die der Gesellschaft zugrunde liegt, durch kontinuierliche

patriarchale Machtverhältnisse zustande gekommen und aufrecht erhalten ist. In diesem Kontext

bezeichnet „binär“ die polarisierte Darstellung der Geschlechterrolle, die detailliert im ersten Teil

dieser Arbeit an Theorien von Kant, Fichte und Rousseau veranschaulicht wurde. Der Dualismus

der Geschlechter, bzw. die Betrachtung von Frau und Mann als zwei voneinander diametral

positionierte Wesen, deren Eigenschaften durch ihre Geschlechtszugehörigkeit vorbestimmt sein

sollen, findet eine breite Akzeptanz im abendländischen Kultur- und Politikraum. Binäres

Geschlechtermodell definiert die Frau als ein passives, liebesbedürftiges, familienorientiertes,

scheues, zierliches, schwaches Geschlecht, wohingegen der Mann ein starkes, unabhängiges,

aktives, mutiges Subjekt verkörpert. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit bemüht sich Judith Butler

die Kategorien des Geschlechts, der Geschlechtsidentität und der damit verbundenen Sexualität zu

resignifizieren, bzw. von alten Konnotationen zu befreien. Sie strebt nach der Erweiterung des

Umfangs dieser Begriffe jenseits des binären Rahmens. Butlers liegt nahe, dass die angebliche

Universalität der Subjekte „Frau“ und „Mann“ vom patriarchal geprägten Repräsentationsdiskurs

geleitet und am Leben erhalten wird. Die politische, gesellschaftliche und geschlechtliche

Konstruktion des Subjektes „Frau“ und „Weiblichkeit“ ist mit bestimmten Zielen und

Vorgehensweisen verbunden, so Butler, die als natürlich und „normal“ hingestellt werden. Die

Formation des weiblichen Subjektes findet in einem patriarchal strukturierten Machtfeld statt, das

kontinuierlich durch unterschiedliche gesellschaftliche Akte, Gesten und Inszenierungen

verschleiert wird. Die Bestimmung „Frau“ sei eine konstruierte Identität, „die sich nicht aus den

politischen und kulturellen Vernetzungen herauslösen lässt, in denen sie ständig hervorgebracht und

aufrechterhalten wird“ 99 . Die binär konstruierte Geschlechterbegrifflichkeit verleiht den

patriarchalen Strukturen die Möglichkeit, den eigenen Machtanspruch zu rechtfertigen und zu

stützen. Diese Begriffe werden als kohärente, authentische Subjekte in Mentalitäten gefestigt und

dadurch in der Gesellschaft etabliert. „Denn die Rechtsstrukturen von Sprache und Politik bilden

das zeitgenössische Feld der Macht, das heißt: Es gibt keine Position außerhalb dieses Gebiets,

sondern nur die kritische Genealogie seiner Legitimationspraktiken“ 100 In ihrer Forschung der

98

Butler: a.a.O., S.12. 99

Ebd. S.18. 100

Ebd. S.20.

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Produktion und Reproduktion von Geschlechteridentitäten versucht Butler den Mythos der

Ursprünglichkeit der Geschlechteridentitäten, sprich der Konzepte der Weiblichkeit und

Männlichkeit als ein Entwurf zu erklären, das nicht auf einer wahren Ursprünglichkeit sondern auf

konstruierten, kulturell bedingten Bedeutungen basiert. Geschlechtsidentität bezeichnet somit einen

offenen Entwicklungsprozess, in welchem stets neue Bedeutungen aufgenommen werden,

behauptet Butler in Unbehagen der Geschlechter.

Im Prozess der Entwicklung der Geschlechterkonzepte und -beziehungen kommt der

Sprache eine bedeutende Rolle zu. Die Frage, „wie Sprache selbst, die fiktive Konstruktion des

„Geschlechts“ hervorbringt, die verschiedene Machtregime trägt“ 101 , rückt in den Vordergrund

Butlers feministischer Analyse. Des Weiteren fragt die Autorin, ob „die angeblich natürlichen

Sachverhalte des Geschlechts nicht in Wirklichkeit diskursiv produziert werden, nämlich durch

verschiedene wissenschaftliche Diskurse, die im Dienste anderer politischer und gesellschaftlichen

Interesse stehen“102 Aus ihrem Werk lässt sich eine deutliche Bejahung dieser Frage herauslesen.

Sprache, bzw. Diskurs wird als ein Mechanismus dargestellt, der geschlechtlich bestimmte

Identitäten erzwingt oder zu erzwingen versucht. Dementsprechend wird die Binar ität von

Geschlechtern als gesellschaftliche Produktion verstanden, die den Effekt des Natürlichen, des

Ursprünglichen und Unvermeidlichen erzeugt103. Butler behauptet, Sprache etablierte, stabilisierte

und festigte die Polarität der Geschlechter. Parallel unterstützt das Sprachsystem repressive

Mechanismen des patriarchalen Herrschaftsverhältnisses und begünstigt das Ausschließen des

weiblichen Geschlechtes aus dem Machtverteilungsprozess. Butler geht davon aus, die menschliche

Welterfahrung sei durch diverse Diskurse geprägt. Die Einschränkungen der menschlichen

Weltwahrnehmung werden „in das eingebaut, was von der Sprache als Vorstellungshorizont

möglicher Geschlechtsidentität festgelegt wird.“104 In ihrer Argumentation beruft sich Butler auf

Überlegungen von Luce Irigaray, der französischen feministischen Psychoanalytikerin und

Kulturtheoretikerin, die sich mit der Struktur der menschlichen Sprache und ihrem Einfluss auf die

Geschlechterwahrnehmung befasste.

In ihrem Werk Das Geschlecht, das nicht eins ist stellt Irigaray folgende These auf: Im

Identitätsdiskurs stellen Frauen das Geschlecht dar, das nicht eins ist. Sie repräsentieren das

Geschlecht, das für eine Abwesenheit, oder einen dunklen Fleck in der Sprache steht. Das weibliche

Geschlecht steht für das Unbezeichenbare, für das Vielfältige, für ein gewisses Etwas, was nicht

101

Butler: a.a.O., S.10. 102

Ebd. S.24. 103

Ebd. S.9. 104

Ebd. S. 27.

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innerhalb des männlich geprägten Sprachsystems und einer männlichen „Bedeutungs – Ökonomie“,

gedacht werden kann.

Das weib liche Geschlecht entzieht sich gerade den Anforderungen d er Repräsentation“, weil die

vorhandenen Kategorien innerhalb des phallogozentrischen Schemas bleiben. (...) „Außerdem kann es nie

durch eine bestimmte Relat ion zwischen Männlichem und Weiblichem innerhalb eines gegebenen Diskurses

erklärt werden, da der Diskursbegriff hier n icht mehr relevant ist. Selbst in ihrer Mannigfalt igkeit stellen

nämlich d ie Diskurse led iglich Abwandlungen der phallogozentrischen Sprache dar. (…) In einer Ökonomie,

in der das Männliche den geschlossenen Zirkel von Signifikant und Signifikat begründet, kann das

Verhältnis zwischen Männlichem und Weiblichem nicht repräsentiert werden. 105

In Speculum, Spiegel des anderen Geschlechts arbeitet Luce Irigaray das Thema der

Unrepräsentierbarkeit der Frauen in einem männlich vorbestimmten, phallogozentrischen Denk-

und Sprachsystem heraus. Phallogozentrismus ist eine Wortschöpfung von Jacques Derrida, die auf

Lacans Theorie von Phallus als Bedeutungsträger basiert, Phallus mit Vernunft assoziiert und diese

Komposition in das Zentrum des abendländischen Denkens schiebt. Der männliche Phallus

( griechisch: das erigierte männliche Glied) steht im Zentrum des gesamten kulturellen Lebens; er

ist im Mittelpunkt der symbolischen Ordnung und wird als Maßstab der Dinge aufgefasst. Als

solcher dient er der Legitimierung der männlichen Dominanz in der Gesellschaft. Für die Frau gibt

es in dieser phallischen Ordnung keinen Raum. Sie wird als Mangelwesen wahrgenommen, als die

Andere, als das Wesen, dem etwas fehlt und das nicht in der Lage ist, die gleiche gesellschaftliche

Verantwortung wie der Mann zu übernehmen. Im Phallogozentrismus ist die Frau von der

Partizipation am Diskurs / Sprachsystem ausgeschlossen, so dass der Mann zum Synonym für den

Menschen wird. Auf diese Weise prägt die Dominanz des Maskulinen über das Feminine

linguistische Konventionen. Diese Dominanz auf dem linguistischen Feld wird in die Sphäre der

Gesellschaftsordnung übertragen. Die Sprache trägt in sich ein ausgeprägtes phallogozentrisches

Potenzial, das die männlich-orientierten Maßstäbe als Norm setzt. Die in der Gesellschaft stark

präsente, binäre Hierarchie beruht auf Modellen, die einen Begriff als ursprünglich und zentral, den

anderen als abgeleitet und marginal darstellen. In diesem Zusammenhang wird die Männlichkeit als

ursprüngliche, natürliche, neutrale Form konstruiert, aus der sich die Weiblichkeit als

untergeordnete Einheit ableiten lässt. Des Weiteren wird die Männlichkeit mit der Menschlichkeit

gleichgesetzt, und Weiblichkeit wird als das „Andere“ , das „Fremde“ betrachtet . Irigaray weist

darauf hin, dass die männlich-orientierte Ideologie unserem gesamten Bedeutungssystem / unserer

Sprache zugrunde liegt und somit unser unbewusstes und bewusstes Denken bestimmt. Die

sprachlichen Markierungen, mit denen wir die Geschlechterrollen, Identitäten und Erwartungen

formulieren, bleiben in einem phallogozentrischen Denksystem verhaftet und machen die

105

Butler: a.a.O., S.29. Hier beruft sich Judith Butler auf das Werk von Luce Irigaray Das Geschlecht, das nicht eins ist

und äußert ihre Interpretation Irigarays Werkes.

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Ausdehnung des Gebiets der Männlichkeit / Menschlichkeit, bzw. das Austreten aus der männlich

dominierten Gesellschaft, unmöglich. Judith Butler fasst Irigarays Ansicht in Bezug auf den oben

genannten performativen Wert der Sprache folgendermaßen zusammen:

Für Irigaray ist die substantivische Grammat ik der Geschlechtsidentität, die sowohl Männer und Frauen

als auch deren Attribute männlich oder weib lich voraussetzt, ein Beispiel für d ie Binarität, die den

einstimmigen hegemonialen Diskurs der Männlichkeit, den Phallogozentris mus maskiert, der das

Weibliche als Ort subversiver Mannigfaltigkeit zum Schweigen bringt. 106

Sowohl Butler als auch Irigaray erkennen die performative Macht der Sprache, die Frauen

unterwerfen und marginalisieren kann. Die Bezeichnung performativ bezieht sich auf das Potenzial

der sprachlichen Bezeichnung, die Neubedeutung der Gegenstände hervorzubringen. Sprac he

produziert Identitäten; in der menschlichen Sprache findet die Markierung und Kontextualisierung

des Geschlechts und der Geschlechtsidentität statt. Den Begriffen kommt eine performative

Funktion zu. Durch sprachliche Bezeichnung bekommen Gegenstände und Sachverhalte ihre

Identitäten und ihre Erkennbarkeit. So lässt sich der Prozess der Versprachlichung mit dem Prozess

des Vergeschlechtlichung gleichsetzten. Zahlreiche Merkmale gewinnen ihre Bedeutung und

Einheitlichkeit erst durch ihre Artikulation innerhalb der Kategorie des Geschlechts. Die

Vergeschlechtlichung ist, nach Butler und Irigaray, immer ein binärer Prozess, der von politischen,

soziologischen und kulturellen Machtverhältnissen geprägt wird. Die Sprache spielt die Rolle des

Vermittlers in diesem Prozess, in dem sie die auf keiner Realität basierten, doch existierenden,

polaren Konstrukte als reale und authentische darstellt. Die Sprache „formt die Wahrnehmung,

prägt das Beziehungsgeflecht“ 107 , erzeugt eine scheinbare Kohärenz zwischen den

Geschlechteridentitäten und sichert das Fortbestehen der schon dominierenden Hierarchien. Gerade

diese gestaltende Wirkung der Diskurse, der Sprachsysteme, steht hinter Butlers These von der

performativen Wendung der Sprache. Butler betont, dass die Marginalisierung der Weiblichkeit und

Dominanz der Männlichkeit primär durch die Sprache gestiftet wird. Sprache erzeugt den Effekt der

Kohärenz zwischen den sprachlichen Bezeichnungen und Geschlechteridentitäten.

Darüber hinaus dringt die Sprache in die Domäne der menschlichen Sexualität hinein und

wirkt auch in diesem Bereich sehr normativ. „ Akte, Gesten, artikulierte und inszenierte Begehren

schaffen die Illusion eines inneren Organisationskernes der Geschlechteridentität, eine Illusion, die

diskursiv aufrechterhalten wird, um die Sexualität innerhalb des obligatorischen Rahmens der

reproduktiven Heterosexualität zu regulieren“108. In anderen Worten erweisen sich sprachliche Akte,

106

Butler: a.a.O., S.41. 107

Ebd. S.170. 108

Ebd. S.200.

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Gesten und Inszenierungen als bedeutungsherstellend und bedeutungsstiftend als auch

realitätsgestaltend. Der Effekt der Glaubwürdigkeit der Geschlechteridentitäten sowie das Anschein

der Normalität und Ursprünglichkeit dieser Identitäten werden durch wiederholende, sprachliche

Inszenierungen der gesellschaftlich definierten Bedeutungen gestärkt und weitergetrieben.

Nicht nur die Sprache sondern auch der menschliche Körper hat eine performative Rolle.

„Dass der geschlechtlich bestimmte Körper performativ ist, weist darauf hin, dass er keinen

ontologischen Status über die verschiedenen Akte, die seine Realität bilden, hinaus besitzt“109. Dies

würde bedeuten, dass der Körpers, der Butlers Ansicht nach eine „tabula rasa“ ist, durch

gesellschaftliche Diskurse mit Bedeutungen gefüllt wurde. Der Körper spielt bei der Formulierung

der Geschlechteridentitäten eine gewichtige Rolle, er ist die Bühne für die Inszenierungen der

Geschlechterbeziehungen. Der Körper dient als Oberfläche, auf der diverse politische Ziele, sowie

die Geschlechterhierarchie und Zwangsheterosexualität eingeschrieben wurden. Butler begreift den

Körper nicht als Grundlage für die Entwicklung der binären Geschlechteridentitäten, sondern als

Medium, das die Geschlechteridentitäten als binär aufnimmt, sie als solche verinnerlicht und

dadurch zum Fortbestehen der binär aufgebauten patriarchalen Gesellschaft beiträgt. „Die

Geschlechtsidentität ist die wiederholende Stilisierung des Körpers, ein Ensemble von Akten, die

innerhalb eines äußerst rigiden regulierenden Rahmens wiederholt werden, dann mit der Zeit

erstarren und so den Schein der Substanz bzw. eines natürlichen Schicksals des Seienden

hervorbringen“110. Es besteht daher keine intrinsische, ursprüngliche Verbindung zwischen Körper

und Geschlechteridentität. Es handelt sich um die durch Gesellschaft aufoktroyierten, in der

Integration erlernten Verhaltensmuster, die sich durch repetitive Ausübung und Nachahmung

verankert haben. Aus diesen Mustern entstehen die binären Geschlechteridentitäten, bzw. die

Konzepte der Weiblichkeit und Männlichkeit, die sich weiter selbst reproduzieren. Es braucht eine

neue Logik, eine neue Sprache, sowie eine unvoreingenommene Sichtweise, um diese Konzepte zu

entnaturalisieren, den Anschein ihrer Ursprünglichkeit aufzuheben und ihre Künstlichkeit

aufzuzeigen. Butler rundet ihre Diskussion mit dem Aufruf zum Neubedenken der binären

Geschlechterbeziehungen ab. Die Geschlechter-Binarität muss in Verwirrung gebracht werden und

dies ist in der und mithilfe von Sprache zu erreichen. Die Quelle des Neudenkens liegt im Diskurs,

der von ihm aufgezwungenen Grenzen befreit werden muss.

109

Butler:a.a.O., S.60. 110

Ebd.

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11. Undines Gender Trouble

Obwohl Butlers epochales Werk 30 Jahre nach Bachmanns Undine erschien, lässt sich in

diesen zwei Texten ein gemeinsamer feministischer Anhaltspunkt feststellen. Bei beiden Autorinnen

liegt der Schwerpunkt an der Schärfung des Sprach- und Geschlechterbewusstseins. Die

Sensibilisierung für die Rolle, Macht und performative Wirkung der Sprache in Bezug auf die

Gestaltung der Geschlechteridentitäten nimmt die zentrale Position in sowohl Undine geht als auch

Das Unbehagen der Geschlechter ein. Dabei lautet der Kerngedanke: Sprache sei kein taugliches

Medium der Realitätsschilderung, übt jedoch in der Gesellschaft diese Rolle aus. Beide Texte

versuchen auf den Bedarf nach einer anderen, utopischen, unvoreingenommenen Sprache

aufmerksam zu machen. Die parallele Lektüre von Bachmanns und Butlers Werken ermöglicht

daher einen Einblick in die sowohl literarische als auch theoretische Bearbeitung der Beziehung

zwischen Sprache und Geschlechterkonzepte. Mit zwei unterschiedlichen Schreibweisen und

Zielansätzen nähern sich die Autorinnen dem sprach-feministischen Thema; Butler aus dem

feministisch-theoretischen Blickwinkel und Bachmann aus einer feministisch-poetologischen

Perspektive.

11.1. Wahrnehmung der Welt durch die Sprache

Dass Sprache, Denken und Verhalten eng miteinander verbunden sind und sich gegenseitig

beeinflussen, war immer Bachmanns Grundposition. Die Bestätigung für ihre sprachlichen

Überlegungen fand die Autorin in Werken von Ludwig Wittgenstein, mit dessen Theorien sie sich

intensiv auseinandergesetzt hat. Wittgenstein sieht die Grenzen seiner Sprache als Grenzen seiner

Welt und verweist auf die verdeckte Macht der Sprache. Grade diese Macht der Sprache

thematisiert Undine in ihrem Monolog:

Zu bewundern ist auch wenn ih r euch über Motoren und Maschinen beugt, sie macht und versteht und

erklärt, b is vor lauter Erklärung wieder ein Geheimnis daraus geworden ist. Hast du nicht gesagt, es sei

dieses Prinzip und jene Kraft? War das nicht gut und schön gesagt? Nie wird jemand so sprechen können

von den Strömen und Kräften, den Magneten und Mechaniken und von den Kernen aller Dinge. Nie wird

jemand so sprechen von den Elementen, vom Universum und allen Gestirnen. Nie hat jemand so von der

Erde gesprochen, von ihrer Gestalt, ihren Zeitaltern. In deinen Reden war alles so deutlich: die Kristalle,

die Vulkane und Aschen, das Eis und Innenglut. So hat niemand von den Menschen gesprochen, von den

Bedingungen, unter denen sie leben, von ih ren Hörigkeiten, Gütern, Ideen, von den Menschen auf dieser

Erde, auf einer früheren und einer künftigen Erde. 111

111

Bachmann: Undine geht. a.a.O., S.11.

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Elemente, Gestirne, Erde, Natur, Zeit, das ganze Universum wird Menschen erst durch die Sprache

zugänglich. Mit Hilfe sprachlicher Mittel nimmt der Mensch die Welt wahr und versucht sie sich zu

erklären. In diesem Erklärungsprozess wird ein abstraktes Universum in die menschliche Sprache

übersetzt; das Universum wird an die Vorstellungskapazitäten des menschlichen Sprachsystems

angepasst. Zeit, temporale Grenzen, Gegenstände, Ideen, Beziehungen werden alle durch die

Sprache erklärt, beschrieben, definiert und differenziert. In dem oben angeführten Zitat unterstreicht

Bachmann die gestaltende, performative Wirkung der Sprache, die der Realität gegenüber eine

überlegene Stelle einnimmt. Die Wirklichkeit ist eine sprachliche Inszenierung menschlicher

Sinneseindrücke. Das heißt, dass der Mensch keinen direkten Zugang zu Gegenständen, Natur und

letztendlich seiner eigenen Identität hat. Sein Welt- und Selbstverständnis ist höchst von der ihm zur

Verfügung gestellten Sprache bestimmt. Die Sprache ist ein durch Menschen zu gestaltendes

Werkzeug und als solches ist sie immer herrschenden gesellschaftlichen Strömungen unterlegt. Der

Einfluss der Sprache auf die Realitätswahrnehmung kommt im folgenden Zitat klar zum Ausdruck:

Nie war so viel Zauber über den Gegenständen, wie wann du geredet hast, und nie waren Worte so

überlegen. Auch aufbegehren konnte die Sprache durch dich, irre werden, oder mächtig werden. Alles

hast du mit den Worten und Sätzen gemacht, hast dich verständigt mit ihnen oder hast sie gewandelt, hast

etwas neu benannt, und die Gegenstände, die weder die geraden noch die ungeraden Worte versteh en,

bewegen sich beinahe davon. 112

11.2. Manipulierbarkeit der menschlichen Sprache

In Übereinstimmung mit Butlers These über die Performativität der Sprache widmet sich

Bachmann in ihrer prosaischen Lyrik der Problematik der Verlässlichkeit und Manipulierbarkeit der

menschlichen Sprache. Sie entfaltet eine Geschichte, die ihr eigenes Medium infrage stellt. Darüber

hinaus etabliert die Autorin einen besonderen Diskurs mit der klaren Absicht, den als unzureichend

und verlogen bloßzustellen und schließlich zu zerstören. Die schriftsteller ische Ambition, durch

eine neue Sprache alte Normen und Grenzen zu entlarven und danach zu überschreiten, überträgt

die Autorin explizit auf die Figur der Undine. Undine übernimmt die Rolle der Denkerin, die auf die

Grenzen ihres Sprachvermögens stößt und diese Grenze zu durchbrechen versucht.

Ich werde nie wiederkommen, nie wieder Ja sagen und Du und Ja. All diese Worte wird es nicht mehr

geben, und ich sage euch vielleicht, warum. Denn ihr kennt doch die Fragen, und sie beginnen alle mit

Warum?. Es gibt keine Fragen in meinem Leben. Ich liebe das Wasser, seine d ichte Durchsichtigkeit,

das Grün im Wasser und die sprachlosen Geschöpfe (und so sprachlos bin auch ich bald!) mein Haar

112

Bachmann: Undine geht. a.a.O., S.11.

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unter ihnen, in ihm, dem gerechten Wasser, dem gleichgültigen Spiegel, der es mir verbietet, euch

anders zu sehen. Die nasse Grenze zwischen mir und mir...113

Die Sprache ist die unüberwindbare Grenze zwischen Undine und der Gesellschaft. Die

Sprache ist „die nasse Grenze zwischen mir und mir“114, sie markiert die Spaltung des Individuums

in zwei Polen; das authentische Ich und das vergesellschaftlichte Ich, die utopische und irdische

Existenz. Sprache geht an der Wahrheit vorbei, sie zeigt nur die Hälfte einer großen Realität.

„Gut war trotzdem euer Reden, euer Umherirren, euer Eifer und euer Verzicht auf die ganze

Wahrheit, damit die Halbe gesagt wird, damit das Licht auf die eine Hälfte der Welt fällt, die ihr

grade wahrnehmen könnt in eurem Eifer“115 , bekundet Undine. Hiermit betont sie wiederholt die

Manipulierbarkeit der menschlichen Sprache und die Verlogenheit der menschlichen

Gesellschaftsordnung, die sie verstoßen und zur Außenseiterin gemacht hat: „Bereut habt ihr (mich)

auf den Kirchenbänken, vor euren Frauen, euren Kindern, eurer Öffentlichkeit, vor euren großen

Instanzen wart ihr so tapfer mich zu bereuen und all das zu befestigen, was in euch unsicher worden

war. Ihr wart in Sicherheit. Ihr habt die Altäre rasch aufgerichtet und mich zum Opfer gebracht.“116.

Es ist ein patriarchales System, das Undines Verstoß in die andere Welt bewirkte. Bachmanns

Undine ist sich, im Unterschied zu Fouqués, dieser Konstellation zutiefst bewusst und protestiert

dagegen.

Hinter den sprachlichen Phrasen des Alltags, den „ Zahlenspielen, Wortspielen,

Traumspielen, Liebesspielen“117 stecken verzweifelte Versuche der Menschheit, in das Wesen ihrer

eigenen Natur und ihrer strukturierten Gesellschaft hineinzuschauen. Die bedeutungslosen Floskeln

und verkrusteten Redewendungen, die der Sprache innig sind, verhindern den Aufklärungsprozess.

Diese über Jahrhunderte in einer patriarchalen Atmosphäre entwickelte Sprache scheitert an ihrer

Aufgabe, die Wirklichkeit in ihrer Komplexität zu umfassen und sie authentisch zu präsentieren.

Die Sprache, die auf einem binären System aufgebaut ist, provoziert die Isolation innerhalb der

menschlichen Beziehungen und führt zur Aufrechterhaltung des patriarchalen

Abhängigkeitsverhältnisses. Die Begrifflichkeiten, die den Menschen für Verständigung zur

Verfügung stehen, beruhen auf pallogozentrischen, gesellschaftlich-historischen Konstruktionen, die

durch die herrschenden Machtsysteme hergestellt worden sind. Undine durchschaut die

manipulierte und manipulierende Sprache und forscht nach einem passenderen

Kommunikationsmedium. In dieser Hinsicht überschneiden sich Bachmanns Überlegungen mit

113

Bachmann: Undine geht. a.a.O., S.3. 114

Ebd. S.4. 115

Ebd. S.10. 116

Ebd. S.9. 117

Vgl. Ebd. S.3.

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Butlers Theorien. Beide Autorinnen gehen davon aus, dass der herrschende Diskurs an seiner

Aufgabe, die Realität treu und fair darzustellen, gescheitert ist. Vielmehr dient der Diskurs,

insbesondere im Kontext der Geschlechterverhältnisse, als ein Mittel der Machtetablierung und

Machterhaltung. Am Beispiel der Geschlechterbeziehungen und Rollenverteilungen machen sich

diese Mechanismen erkennbar.

11.3. Sprache und Geschlechteridentität

Ihr Ungeheuer mit euren Redensarten, die ihr d ie Redensarten der Frauen sucht, damit euch nichts fehlt,

damit die Welt rund ist. Die ihr die Frauen zu euren Geliebten und Frauen macht, Eintagsfrauen,

Wochenendfrauen, Lebenslangfrauen und euch zu ihren Männern macht. (Das ist vielleicht ein Erwachen

wert!)118

An dieser Stelle problematisiert Bachmann die Verhältnisnetze zwischen Mann und Frau sowie den

traditionellen Umgang miteinander, der nur klischeehafte, zur keinerlei Erfüllung führende

Geschlechterbeziehungen ermöglicht. Die Mann-Frau Beziehung basiert auf einem gegenseitigen

Manipulationsspiel, in dem der Frau regelmäßig die ungünstige Rolle des Opfers oder der Dienerin

zukommt. Solche Beziehungen beruhen auf der Transaktion zwischen zwei ungleichgestellten

Ebenen. Die Frau nimmt die angepasste Position ein, wobei der Mann den Machtvollen, den

Erwachsenen spielt. Er macht sie zu einer Frau, er erzieht sie, indem er ihre Rolle in der

Gesellschaft bestimmt: „Ja dazu nehmt ihr euch die Frauen auch, damit ihr die Zukunft erhärtet,

damit sie Kinder kriegen, da werdet ihr mild, wenn sie furchtsam und glücklich herumgehen mit

den Kindern in ihrem Leib.“119 Mit „hochmütiger Nachsicht und Tyrannei“120 behandeln Männer

ihre Frauen, sie entziehen den Frauen das Selbstbestimmungsrecht und kontrollieren ihr Leben. In

einer Hans-Welt sind Frauen „Musen und Tragtieren, gelehrte, verständige Gefährtinnen“121. Die

stellen die optische Belohnung für Männer dar. Das Rollenportfolio der Frauen in der Hans-Welt

umfasst die Positionen der Lebensgefährtin, Liebhaberin und Mütter. Frauen bleiben in den ihnen

zugeordneten Rollen so intensiv verhaftet, dass sie sich ihrer eigenen Verhaftung nicht mehr

bewusst sind.

Auf die Problematik der Geschlechterbezeichnungen und Geschlechteridentitäten geht

Bachmann durchgehend in der Undine-Dichtung ein. Der von Bachmann kreierte Begriff

118

Bachmann: Undine geht. a.a.O., S.5. 119

Ebd. S.6. 120

Ebd. S.5. 121

Ebd. S.6.

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„Menschenfrauen“ weist nochmals deutlich auf die Rolle der Sprache in den Prozessen der

Geschlechteridentifizierung hin. Mit diesem Wortspiel versucht Bachmann das Bewusstsein ihres

Publikums für den Wahrheits-Effekt der Geschlechterkonzepte zu schärfen: „Die heftigen

Menschenfrauen schärfen ihre Zungen und blitzen mit den Augen, die sanften Menschenfrauen

lassen still ein paar Tränen laufen, die tun auch ihr Werk. Aber die Männer schweigen dazu.“122

Hiermit zeigt die Autorin, dass Sanft-Sein und Hart-Sein keine geschlechtsspezifischen Merkmale

sind, sondern Eigenschaften, die allen Menschen, abgesehen von ihrem Geschlecht, eigen sind und

auf die situationsbedingt zugegriffen werden kann. Bachmann legt klar, welche Auswirkung auf das

Rollenverständnis der Geschlechter die sprachliche Bezeichnung haben kann.

Ein weiteres wichtiges Medium zur Ausübung der Kontrolle über das weibliche Geschlecht

ist der weibliche Körper selbst, der als schwächere, bedürftige Variante des männlichen Körpers

verstanden wird. Diese Logik begünstigt die patriarchale Ordnung und rechtfertigt die

Unterdrückungsmechanismen die innerhalb der Geschlechterbeziehungen entstehen. Dem Körper,

genausowie der Sprache, schreiben Butler und Bachmann eine performative Rolle zu. Der

geschlechtlich- gesellschaftlich bestimmte Körper bringt die Geschlechtsidentitäten und die damit

verbundenen Geschlechterrollen hervor. Er liegt der patriarchalen gesellschaftlichen Hierarchie der

Hans-Welt zugrunde und unterstützt das weitere Fortbestehen des patriarchalen Systems. Undine

weist die gesellschaftliche Dynamik auf, die auf der sprachlichen Interpretation der

geschlechtlichen Merkmale des Körpers beruht, als solche die Produktion der

Geschlechteridentitäten bewirkt und zur Stabilisierung dieser Identitäten im Interesse eines

phallogozentrischen Systems führt. Sprache und Körper lassen bewertende, binär konstruierte

Zuschreibungen zu und auf diese Weise unterstützen die angeblich ursprünglichen Differenzen in

den Rollen, Zukunftsperspektiven, Ambitionen und Verhalten der zwei Geschlechter. Der

Frauenkörper, mit allen seinen gesellschaftlich bedingten Einschreibungen verschafft den Eindruck

der Ursprünglichkeit der weiblichen Unterlegenheit. Der männliche Körper ist hingegen assoziativ

mit Stärke, Stabilität und Führung verbunden. Jedoch stellt sich diese Stärke als ein Scheinbild

heraus. Sie ist eine Fassade, hinter der die Machtgier steht, die gleiche Machtgier, die hinter den

sprachlich-manipulativen Versuchen der Erhaltung des patriarchalen Systems steckt.

122

Bachmann: Undine geht. a.a.O., S.4.

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11.4. Diagnose der Hans-Gesellschaft

Über die Absurdität des in der Gesellschaft schon automatisierten Materialismus beschwert

sich Undine durchgehend in ihrem Monolog:

Ihr kauft und läßt euch kaufen. Über euch muss ich lachen und staunen, Hans, Hans. Über euch kleine

Studenten und brave Arbeiter, die ihr euch Frauen nehmt zu Mitarbeiten, da arbeitet ihr beide, jeder

wird klüger an einer anderem Fakultät, jeder kommt voran in einer anderen Fabrik, da strengt ihr euch

an. Legt das Geld zusammen und spannt euch vor die Zukunft. 123

Aus einer auktorialen Perspektive wendet sich Undine an die Hans-Menschen, die nie mit

sich selbst einverstanden sind, die selber ihre eigene Umstände, Ambitionen und Ziele nicht

verstehen, diese aber blind und unreflektiert verfolgen. Geleitet von „Grenzen und Politik und

Zeitungen und Banken und Börse und Handel“ 124 , versunken in ihre Beweisführungen,

Konferenzen, Drohungen und Verschanzungen lassen sich Hans-Menschen führen ohne jeweils die

führende Rolle in ihren eigenen Leben zu übernehmen. Alle Hans-Menschen spekulieren an den

gleichen Börsen um die gleiche Werte. Unüberlegt lassen sie sich von Politik, Banken, Handel und

Zeitungen treiben, ohne das eigentliche Ziel hinter ihren Entscheidungen zu kennen. Sie bleiben in

der Unverständlichkeit ihres eigenen Chaos gefangen. Sie gehorchen Gesetzen, gesellschaftlichen

Vorschriften und Erwartungen, ignorieren dabei ihre Gefühle, und ihre authentische, innere Stimme.

Getrieben von Geiz, Geld- und Größenwahn konzentrieren sich die Hans-Menschen auf

Güterproduktion und -akkumulation. Sie bleiben in einem Kreis der wiederholenden

gesellschaftlichen Erwartungen verhaftet. „Gegen ein Eigentum und für ein Eigentum habt ihr

gestritten, für die Gewaltlosigkeit und für die Waffen, für das Neue und für das Alte, für die Flüsse

und für die Flussregulierung.“125

In dieser Welt tritt Undine mit dem Blick auf, der auffordert: „Denk! Sei! Sprich es aus!“126

Sie spornt zum Nachdenken über eigene Horizonte, eigene Perspektive, Weltwahrnehmungen und

Verhalten an. Nur dadurch wird die Absurdität des Materialismus und der gesellschaftlich-

geschlechtlichen Hierarchien sowie Geschlechterkonzepte beseitigt. Undine verlangt das

Verbalisieren der gesammelten Selbsterkenntnisse. Diese Verbalisierung, bzw. Versprachlichung der

eigenen Emotionen, Eindrücke und letztendlich des eigenen Wesens sollte tiefe Einsichten

bezüglich der Grenzen des eigenen Denk- und Sprachkapazität bewirken. Der Mensch wird aus

seinem Schlaf-Modus geweckt und für die Möglichkeiten des eigenen Körpers und Verstandes

123

Bachmann: Undine geht. a.a.O., S.6. 124

Ebd. S.7. 125

Ebd. S.10 126

Ebd. S.7.

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sensibilisiert. In diesem Aufklärungsprozess der Sprachbewusstseinserweiterung nähert sich der

Mensch seiner authentischen Seele, seiner authentischen Wahrheit. Die Suche nach dieser

ursprünglichen, authentischen, natürlichen Welt fängt an der Ufer der eigenen Seele an und führt in

die Tiefe des Selbst, in die unüberschaubaren, immer bewegenden Wässer menschlichen Körpers

und Verstandes. Das Ringen um die Sprach- und damit verbundene Bewusstseinserweiterung äußert

sich in dem Verlangen nach der Transzendenz, nach dem Übergang in eine utopische Welt, die

jenseits der falschen Ideologien und Moralvorstellungen erst gebildet werden muss.

Die neue Sprache wäre dann wohl gleichzusetzen mit einer neuen Weltanschauung. Und diese neue

Weltanschauung müsste die alte, institutionalisierte, d ie sich in der Sprache selbst als lügenhaft

entlarvende, ersetzen. Das würde bedeuten, tradierte Wertpostulate und polare Wertkategorien aufzugeben,

die alte Weltordnung erst mit der sprachlichen Absage an sie zu durchbrechen. 127

Ortrud Gutjahr hebt das Leitmotiv des Rufs als stellvertretend für die neue utopische

Sprache hervor. „Der Ruf, der als geisterhafte Musik bezeichnet wird, verweist auf die sprachlich

nicht fassbare, aber in der Sprache hörbare utopische Dimension der neuen Sprache.“128„Beinahe

verstummt, beinahe noch den Ruf hörend“129 bleibt Mensch in einer halb gelogenen Welt verhaftet.

Doch dieser Ruf führt ihn unter die Wasseroberfläche, in die Ursprünglichkeit. Undines Gehen in

ihr ursprüngliches Element Wasser ist eine symbolische Darstellung des Verlassens des alten

Diskurses, des alten Lebensstils und der alten Ordnung. Auch ihr, "die mit allen Wassern gewaschen

ist“130, fällt es schwer, von der Sprache und damit verbundenen Kultur und Mentalität loszulassen.

Gerade dieses Nicht-Vergessen-Können der Hans-Welt ist eine sowohl Undine als auch Hans-

Menschen auferlegte Last, die kontinuierlich bewältigt werden muss. „Dann ist doch der Name

noch da, der sich fortpflanzt unter Wasser, weil ich nicht aufhören kann, ihn zu rufen, Hans,

Hans“ 131 , beschwert sich Undine. Der Name symbolisiert in diesem Kontext die menschliche

Sprache mit allen ihren oben beschriebenen Facetten, deren Wirkung stark und nachhaltig ist, die

auch in die Domänen des Unbewussten unter der Wasseroberfläche penetriert und dadurch einen

ausschlaggebenden Einfluss auf die Gestaltung all dessen, was sich oben des Wasserspieles abspielt,

ausübt.

127

Pilipp: a.a.O., S.16. 128

Gutjahr: a.a.O., S.235. 129

Bachmann: Undine geht. a.a.O. S.11. 130

Ebd. S.4. 131

Ebd. S.3.

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12. Schlussfolgerung

You make me feel like a natural woman.

When my soul was in the lost and found

You came along to claim it.132

Was heißt „natural woman“ ? Wovon hängt die Beseelung einer Frau ab? Welche

Mechanismen stecken hinter dem jahrhundertelangen Prozess der Formierung der

Geschlechteridentitäten? Aretha Franklins nach wie vor populäres Lied A Natural Woman zeigt, wie

tief sich die Vorstellung der unvollkommenen, mangelhaften Weiblichkeit und ihr

gegenübergestellten, starken Männlichkeit in der Gesellschaft verpflanzt hat. Undine, die

Wasserfrau, die in der Vereinigung mit einem Mann ihre Seele und somit den Sinn ihrer Existenz,

sucht, kann als stellvertretend für Generationen der Frauen betrachtet werden, die sich diesem

Verhaltensmuster angepasst haben. An Undines Beispiel wurde analysiert, wie und unter welchen

Umständen die Anpassungsprozesse stattfinden. Erstens wurde festgestellt, dass Undine ein

fruchtbarer literarischer Mythos ist, der neue Kritik- und Analysefelder eröffnet. Mit ihrer starken

Referenzialität bietet Undine Autoren ein elastisches literarisches Material, das gleichzeitig mehrere

Diskurse, Epochen und Problemstellungen umfasst. Sowohl Ingeborg Bachmann als auch Friedrich

de la Motte Fouqué greifen auf eine schon etablierte Frauenfigur zurück, die ein binär aufgestelltes

Geschlechtermodell repräsentiert. Während Fouqué ein romantisches Ideal der unterwürfigen,

demütigen, leidenden, unselbständigen, ausschließlich auf ihren Mann bezogenen Frau schildert,

bildet Bachmann eine selbstsichere, selbstständige und reflektierte Frauenfigur, die sich kritisch

sowohl mit ihrer Vergangenheit als auch mit der ihr aufgezwungenen Gegenwart auseinandersetzt.

Bachmanns Undine löst sich vom traditionellen Image der unbeholfenen, bevormundeten Frau,

geht aus dem passiven Zustand in die Täter-Rolle hinein, hebt den Anspruch auf die eigene

literarische Stimme und liefert einen poetologisch-philosophischen Diskurs, der die angebliche

Natürlichkeit der Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts dem männlichen gegenüber als ein

jahrhundertelanges Machtspiel entlarvt und eine radikale und utopische Veränderung fordert. Die

essentielle Rolle in diesem Machtspiel kommt der Sprache zu. Durch das Infragestellen der

herkömmlichen Sprachnormen versucht Bachmann neue Wahrnehmungen und ein verändertes

Bewusstsein bei ihrer Leserschaft herbeizuführen. Dabei kommt ihrer prosaischen Dichtung die

Aufgabe zu, das Publikum aus einem geistig-moralisch indifferenten Zustand herauszuziehen und

ihm neue Denkimpulse zu geben. Es gilt, die alten Grenzen der Sprache zu überschreiten und

bisherigen Erfahrungsmuster und Wahrnehmungskategorien neu zu überlegen. Bachmann betont

132

Franklin: a.a.O.

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die Notwendigkeit, sich immer wieder mit der Tradition und den gesellschaftlich akzeptierten

Mythen auseinanderzusetzen, um die Literatur und Sprache an die zeitgenössische Bedarfe

anzupassen und dadurch aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Somit lässt sich

Bachmanns Sprachkritik mit Judith Butlers Theorie über die Performativität der Sprache verbinden.

Butler zeigt auf, dass die Weiblichkeit eine im Denk- und Sprachsystem konstruierte Kategorie ist,

die im Rahmen des phallogozentrischen Gesellschaftsvertrags den Schein der Natürlichkeit

erhalten hat. Die Herstellung der Geschlechteridentitäten vollzieht sich durch die Wiederholung

vorherrschender Begriffe und Praktiken, über die die sozialen und geschlechtlichen Rollen eingeübt

und angeeignet werden. Während Fouqués Undine es nicht schafft, sich dem patriarchalen Modus

zu entziehen, fasst Bachmanns Frau den Mut, den geerbten Zustand zu verlassen und ins Ungewisse

aufzubrechen.

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