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Kunstpädagogische Situationen kartieren Hamburg University Press Kunstpädagogische Positionen 15 Klaus-Peter Busse

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KunstpädagogischeSituationen kartieren

Hamburg University Press

Kunstpädagogische Positionen 15

Klaus-Peter Busse

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EditorialGegenwärtig tritt die Koppelung von Kunst & Pädagogik,Kunstpädagogik, weniger durch systematische Gesamt-entwürfe in Erscheinung, als durch eine Vielzahl unter-schiedlicher Positionen, die aufeinander und auf die Geschichte des Faches unterschiedlich Bezug nehmen.Wir versuchen dieser Situation eine Darstellungsform zu geben.

Wir beginnen mit einer Reihe von kleinenPublikationen, in der Regel von Vorträgen, die an derUniversität Hamburg gehalten wurden in dem Bereich,den wir FuL (Forschungs- und Le[ ]rstelle. Kunst –Pädagogik – Psychoanalyse) genannt haben.

Im Rahmen der Bildung und Ausbildung von Stu-dierenden der Kunst & Pädagogik wollen wir Positionenzur Kenntnis bringen, die das Lehren, Lernen und die bildenden Effekte der Kunst konturieren helfen.

Karl-Josef Pazzini, Eva Sturm,Wolfgang Legler, Torsten Meyer

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Klaus-Peter BusseKunstpädagogische Situationen kartierenhrsg. von Karl-Josef Pazzini,Eva Sturm, Wolfgang Legler,Torsten Meyer

Kunstpädagogische Positionen 15/2007Hamburg University Press

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1 Benjamin Vogel, Landschaftsentwurf (topografischeKarte), 2003

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PrätextDer vorliegende Text entstand in der Vor- und Nachberei-tung eines Vortrags, den ich auf Einladung von Eva Sturmund Karl-Josef Pazzini an der Universität gehalten habe.Er und das Thema der Vorlesungsreihe (Widerstände)standen ganz im Zeichen meiner Beschäftigung mit derkünstlerischen Kartografie, mit den uns umgebendenKunstbegriffen und mit ihrer Relevanz für kunstpädago-gische Situationen. Hinzu trat die Vorbereitung deskunstpädagogischen Bundeskongresses in Dortmundüber das (Un)Vorhersehbare zusammen mit vielen Kolleginnen und Kollegen, die immer wieder neue Ideenund Perspektiven auf das Thema einbrachten. UrsulaBertram hatte mir zuvor einen Weg in die künstlerischeNavigation gezeigt. Außerdem suchte ich nach einemAnsatzpunkt, meine Auffassung über die kunstdidakti-sche Lehre auf den neuesten Stand zu bringen. Diese vielen Plateaus, in denen ich mich bewegt habe, erklärendie Zielsetzung dieses Textes und bilden seinen Kontext:kunstpädagogisches Denken und Handeln zu reflektierenund voranzutreiben.

Als Hochschullehrer an einer Universität sorge ichmich natürlich um die Standortsicherung des Faches.Hierher rührt meine Rigorosität, die Kunstdidaktik in denWissenschaftsdiskurs einzubinden, ohne ihre performati-ven Skripte zu vergessen. Doppelungen im Text mit mei-nem Buch »Vom Bild zum Ort: Mapping lernen« waren inseiner Entstehung nicht zu vermeiden. Dennoch bündeltder Text meine Gedanken zum Thema des Widerstandesin kunstpädagogischen Situationen und geht weit überanderswo vorliegendes Material hinaus. In der Chrono-logie der Entstehung der Texte ist dieser Vortrag vielleichtund sogar eine erste persönliche Reflexion meinesMapping-Projekts, das immer noch nicht abgeschlossenist. Zu viel geschieht in der Kunst, in den Bilderweltenund in den damit befassten Wissenschaften, als dass wir die Auseinandersetzung damit einem endgültigen Ergebnis zuführen könnten. Ich habe mich über die

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Einladung nach Hamburg sehr gefreut. Besonderer Dankgilt Stephanie Zeiler (Berlin) und Benjamin Vogel(Dortmund) für die Bereitstellung der Abbildungsrechte.

Die Geschichte von der Großen Fliege»Mit Welt-, Deutschlandkarte und einem Berliner Stadt-plan sind MarokkanerInnen, WestafrikanerInnen undFlüchtlinge im spanischen Auffanglager in Ceuta in ihrerFantasie bis in eine Berliner Mietwohnung gereist. SechsFotografien zeigten ihnen Schlaf-, Arbeitszimmer, Küche,Flur, Bad sowie die Aussicht von einem Balkon. Nach diesem imaginativen Besuch entwarfen sie selbst Plänevon Orten, an die sie EuropäerInnen gern einläden. Dievon ihnen gezeichneten Routen werden heute auf Post-karten gedruckt und im Bauchladen der KünstlerinStephanie Zeiler bei Kunstaktionen verkauft. Später folgteine Auktion im Internet. Der Erlös geht an lokale Hilfs-organisationen in Marokko und Westafrika.«1

So beschreibt die Künstlerin Stephanie Zeiler ihrProjekt »Reisepläne«, in dem Zeichnungen entstanden,die von Wanderungen erzählen, fremde Schicksale vor-stellen und sie vor allem anschaulich machen. Die Zeich-nungen helfen den Betroffenen, sich zwischen Wunschund Wirklichkeit zu orientieren und diese Orientierungenzu reflektieren. Natürlich sind diese Zeichnungen Kartie-rungen und bedienen sich einer beinahe twomblyeskenAuffassung des Bildraums: Ansichten sind neben Auf-sichten gezeichnet, Schrift erläutert die Zeichnung,der Raum wird vermessen, und wir lernen, dass die Ver-kehrsmittel Taxis, Pferde, LandCruiser, Flugzeuge und fliegende Teppiche sind. Über den Inder Rinku schreibtStephanie Zeiler:

»Indien – Ceuta: Rinku, ein junger Inder erklärtEuropäer/innen wie er, ein Anhänger der Opposition, vonNeu-Delhi bis in die spanische Exklave Ceuta geflohen ist.Er musste sich 3500-4000 Euro leihen. Zunächst flog erdann im Januar 2005 von Neu-Delhi nach Äthiopien, von

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dort ging es mit einem anderen Flieger weiter nach Mali.Nach zwei Tagen kam er dort an. Die folgenden drei Monate fuhr er mit einem von einem Schlepper begleite-ten Jeep durch die Sahara bis nach Marokko, wo er dreiMonate später ankam. Den kommenden Monat lebte eram Grenzzaun und versuchte mehrfach über den meter-hohen Stacheldrahtzaun zu kommen. Bis er es am 30. Mai2005 schaffte. In Ceuta kam er wie alle Flüchtlinge insAuffanglager CETI. Anfang August war er noch immerdort und hoffte auf eine Einreiseerlaubnis nach Europa.Seine Ziele waren damals Spanien, Frankreich, Italien,England, Deutschland oder Belgien. Was aus ihm gewor-den ist, ist unbekannt.«

Natürlich machen diese Zeichnungen betroffen,weil wir diese fremden Schicksale gewöhnlich nur aus denBildern der Medien kennen: Menschen werden aufgegrif-fen, hinter Stacheldrahtzäune gebracht, abgeschoben,aber auch aufgehoben. Die Zeichnungen hingegen funk-tionieren gut. Als Produkte (Bilder) und Prozesse (beimZeichnen) sind sie Navigationsinstrumente in der eige-nen und politischen Welt, in der Vergangenheit und inden Utopien der Flüchtlinge. Sie entwickeln Anschaulich-keit als eine besondere Form des Erkenntnisfortschritts.Deswegen lese ich die Zeichnungen als »songlines«: alsjene Traumpfade, denen Bruce Chatwin in Australiennachspürte (geheime, nur in performativen Zusammen-hängen verwirklichte Zeichnungen der Aborigines inSand oder auf Stein, die vernichtet werden, sobald ihreBotschaften ausgetauscht sind).2 Cees Nooteboom weistdarauf hin, dass diese Bilder nur Sinn in ihren Kontextenmachen.3 Sie sind die Lebensgeschichten ihrer Benutzer,die Orientierungen im Raum lernen müssen: Wo sindWasserlöcher? Wo gibt es Nahrung auf einer Wande-rung? Der Blick auf diese Bilder als »Kunst« genügt nicht.Nicht die ästhetische Oberfläche erschließt das Bild,sondern der performative Zusammenhang, in dem esentstand und auf den es verweist. In den Zeichnungen,die Stephanie Zeiler hervorlockt, sind es zwei Kontexte,

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die das Bildspiel bedingen: ihre Auffassung als Künstlerin,die den Menschen Gelegenheit zu zeichnen gibt, und dieBiografien der Menschen, die sich in den Raumplänenniederlegen. Bruce Chatwin sah die Zeichnung eines jungen Aborigene in Australien: Kreise, Linien, verschlun-gene, kaum deutbare Botschaften. Später erfuhr er, dassdies die »Geschichte der großen Fliege« war, ein Qantas-Traum, wie er schreibt. Sein Freund hatte England mitdem Flugzeug besucht, und der gezeichnete Traumpfadwar nichts anderes als die Karte seiner Raumbewe-gungen durch Einwanderungsbehörden, Flughäfen undStraßen in London.

Songlines …… oder »Traumpfade«. »Wenn Aborigines eine Songline inden Sand malen, zeichnen sie eine Anzahl von Linien mitKreisen dazwischen. Die Linie stellt eine Etappe auf derReise des Ahnen dar (gewöhnlich eine Tageswanderung).Jeder Kreis ist ein Halt, ein Wasserloch oder einer derLagerplätze des Ahnen.«4 Zeichnungen, die Wege karto-grafieren und Orientierung bieten, gibt es überall. Es gibtsie nicht nur in jenem machtvollen Medium, das wir»Atlas« nennen, und es sind nicht ausschließlich Künstle-rinnen und Künstler, die navigieren und navigieren hel-fen. Alle tun dies in realen Kontexten, in fiktiven Räumenoder lediglich auf der Fläche ihrer Zeichnungen.

Benjamin Vogel (beispielsweise) arbeitet seit Jahrenan einem Projekt, eine völlig erfundene Berglandschaft inseinen Gemälden zu entwerfen.5 Zunächst erfindet er dietopografische Karte eines Landschaftsraums, berechnetAusschnitte und malt dann die Szenerien auf großenLeinwänden. Viel von dem entsteht auf Wanderungendurch die Berge, man spürt, dass diese Bilder auf Erfah-rungen beruhen. Aber über den Zeichnungen, Aquarellenund Gemälden liegt eine Bedeutungsschicht des Bilder-machens, die noch einmal (nach der Kennzeichnung desReisebildes in touristischen Prospekten als Alltagsmythos

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durch Roland Barthes) den Klischee gebundenen Blick auf Landschaft fesselt: Das habe ich bereits gesehen! Icherwarte von den Bergen nichts anderes als das, was mirdie Bilder vorher zeigen. Aber der Wanderer durch dieBerge weiß, dass dies alles anders ist. Den wirklichen Berg in einer Zeichnung einzufangen und ihn als Mythoszu präsentieren, ist die Kartografie unseres Umgangs mit Bildern.

Andere Künstler verzichten völlig auf den Bezug zueiner Landschaft, wenn sie Bilder machen (die aber den-noch unsere Wahrnehmungsgewohnheiten ansprechenund uns annehmen lassen, dass wir Räume sehen). DieseKünstler navigieren lediglich im Bildraum, und unsereWahrnehmung ist lediglich eine »Erfindung der Land-schaft«. Deswegen führen mich meine Überlegungenzum Werk von Brice Marden.6 Die einen Künstler navigie-ren im referenziellen, die anderen im selbstreferenziellenRaum. Die Zeichnungen und Gemälde Brice Mardens sindsolche bildautonomen Kartografien, Spuren von linearenSuchbewegungen, deren Performanz die Widerstände inder Bildentstehung dokumentieren: Überlappungen, Aus-radierungen, Auslöschungen, Übermalungen. Das Pro-blem für Marden ist auch: Wie halte ich die Entstehungmeines Bildes fest? Wie zeichne ich die Biografie meinesBildes und wie kartografiere ich die Wege, die zum Bildführen? Alle Bilder von Brice Marden spüren der Idee nach,wie durch die Bewegung der Hand (an Pinseln, Ästen oderStiften und in Serien) ein Bild entsteht. Der Gedanke istnicht falsch, dass Mardens Bilder den Entstehungsprozesseines Textes simulieren. Die Korrektur eines Wortes sindseine Durchstreichung und seine Ersetzung durch einneues Wort. Marden zeichnet, setzt Fußnoten, überzeich-net, vernetzt das Neue mit dem Alten, schafft Zwischen-räume und interpoliert die Grenzen des Gefundenen.

Die Bildproduktionen der Aborigines, der Freundevon Stephanie Zeiler, von Benjamin Vogel und von BriceMarden entstehen auf der Grundlage sehr unterschiedli-cher Bildkontexte und Kunstbegriffe. Man erkennt rituelle

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Zusammenhänge (in den »corroborees« der australischenEingeborenen), kartografische Verarbeitung von Wirklich-keit, eine Auseinandersetzung mit Bildmythologien unddie Bildentstehung in individualmythologischen Zu-sammenhängen. Zur Navigation in kunstpädagogischenSituationen ist es ein instrumentelles Wissen, dass dieGeschichte der künstlerischen Individualmythologie, ent-standen in der von Harald Szeemann kuratierten Docu-menta, und die kritische Bildkartografie in der »VisuellenKommunikation« wichtige Impulse kunstpädagogischenDenkens sind.7 Wichtig wäre es, einen neuen Kompass zubauen, der eine kunstpädagogische Navigation auf denLängen- und Breitengraden des neuen »Globus« erlaubt,auf dem neue Bildlandschaften und innovative Kunstbe-griffe verzeichnet sind. Denn längst sind die Bilder media-le Übersetzungen der Anstiftung zum Unheil, Dokumenteihrer Wirklichkeit, propagandistische Feldzüge und außerKontrolle geratende visuelle Welten. Die Bilder sind nichtlänger »Songlines«. Dennoch rufen sie nach Instrumen-ten der Navigation. Der neue kunstpädagogische Traum-pfad ist die Bildkritik.

Chips und FlipsIm späten Winter dieses Jahres besuchte ich eine Ausstel-lung mit neuen Werken von Thomas Rentmeister, diemich beim Betreten des Museums auf eine unerwarteteGeduldsprobe stellten.8 Ich sah 1,2 Tonnen Kartoffelchipsund Erdnussflips, die zu zwei gigantischen Haufen aufge-schichtet waren, Skulpturen aus Nutella, einen Spiegelmit Zahnpasta verschmiert, eine unendliche Reihe vonKinder-Einkaufswagen gefüllt mit Eiern und eine Sauna,wie man sie aus Baumarktprospekten kennt. Diese Dingelösten in mir, dem Kunstpädagogen, Widerstände aus. Sieentsprachen überhaupt nicht meinen Erwartungen, Vor-einstellungen und Kunstbegriffen. Sollte gar jetzt sogardie Penatencreme als Ikonografie des Materials denBetrachter verzücken? Mein zweiter Widerstand berührte

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das Problem, wie die Kunstpädagogik diese Werke vermitteln könnte. Ich sah eine Fiktion: Meine Schüleressen die Kartoffelchips, bohren ihre Finger in dieNutella-Schokolade und klauen die Eier oder fahren mitden Einkaufswagen durch das Museum.

Vertraut mit solchen Situationen, stellte ich mir natürlich die Frage, wie ich diese faktischen und vorge-stellten Widerstände lösen oder aufweichen kann. Ichlasse mir also das Werk von Kurt Wettengl, dem Mu-seumsleiter, erklären, bereichere dadurch mein Wissenund meine Kompetenz im Umgang mit Kunst. Plötzlichfügt sich das Werk Rentmeisters in meine Kunstbegriffeund Voreinstellungen ein: Der Bildhauer thematisiert dieAusstellbarkeit von aktuellen Skulpturen, er bezieht sichauf Kunstgeschichte und entwickelt Ikonografien mitTaktik und Humor. Zudem greift er in die Themenvielfaltder Alltagskultur, der Autobiografie und Alltagsästhetik.Ausgestattet mit diesem Wissen plane ich nun Kunst-unterricht über die Skulpturen von Thomas Rentmeister,mache einen Unterrichtsplan: eine kunstpädagogischeHandlungschoreografie.

Einige Zeit später, ausgestattet mit den Informatio-nen aus den Fortbildungsveranstaltungen zum Bildhauer,in Kenntnis und Anwendungsfertigkeit aller Methodender Didaktik (Stationen-Lernen, Gasometer-Modell etc.),brechen meine Vorstellungen schon wieder auseinander.Hatte ich gedacht, meine Vorbereitungen des Unterrichtsüber Rentmeister seien ausreichend und sinnvoll ge-wesen, zeigt der konkrete Unterricht ein Fiasko! MeineSchüler sprächen über alles, was ihnen im Alltag an Chips,Flips, Nutella, Sauna und Cremes begegnet, nur nichtüber Kunst. Entsprechend, stelle ich mir vor, reagieren sie. Das gäbe einen richtigen Spaß, kaum Unterricht. Wirwerden sehen.

Ich bin als Lehrer zusammen mit meinen Schülernoffensichtlich in ein System gestolpert, das wir nicht ken-nen. Die Widerstände, die sich regen, haben mit Grenz-erfahrungen zu tun. Für die Schüler zeigen die Skulpturen

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etwas, was sie zwar kennen, deren Verwendungskontextihnen aber völlig neu ist, und ich als Lehrer habe, soscheint es, völlig die Grenze zwischen dem Bekannten,dem Unbekannten und der Fähigkeit, die Grenze zu über-winden, unterschätzt.

Dieser Sachverhalt rüttelt mich noch einmal auf,hatte ich mir doch grundsätzlich vorgenommen, meinenSchülern sogar Wege zu zeigen, solche grenzwertigen Situationen selbst herbeizuführen, also selbst Bilder zu machen, die Widerstände auslösen, die Widerständeerkennbar machen oder einfach einen gewohnten Blickauf das eine oder andere hinterfragen (was ich als Entkonventionalisierung bezeichne und was die amerika-nische Kunsttheorie als »criticality« bezeichnet: »eine kulturelle Situation sichtbar zu machen und in Frage zustellen«).9 Wie soll das alles gelingen, was ich kunst-pädagogisch wichtig finde: die Begegnung mit dem An-deren, mit Kunst, die Hinterfragung von Stereotypien, dieBeschäftigung damit in künstlerischen Arbeiten, wennimmer wieder Widerstände auftauchen?

Wir haben es in allen beschriebenen Fällen mit unter-schiedlichen Widerständen zu tun: mit denen in meinemUnterricht, der nicht gelingt, mit denen, die ich als Lehrerabsichtsvoll inszeniere, und mit den Widerständen derKunst selbst. Alle Fälle deuten darauf hin, dass ich selbst

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ein System nicht beherrsche, das von anderen Prozessenals denen des Curriculums und der Bildungsstandards bestimmt ist. Ich unterscheide nicht gründlich genugzwischen dem geschlossenen System »Schule« und denperformativen Bedingungen des Unterrichts, also zwi-schen den Haupt- und Nebenbühnen von Unterricht. Diesschafft Unsicherheit und Widerspruch: ein Problem fürjeden Lehrer in jedem Fach. Im Fach »Kunst« habe ich esaber darüber hinaus mit der Tatsache zu tun, dass dieseKunst fortwährend grenzwertige, liminale und mehrdeu-tige Felder bespielt, die ich vermitteln und sogar anregenwill. Für Kinder und Jugendliche ist das nicht nur das jeweils Aktuelle, sondern, davon bin ich überzeugt, auchdas Historische.

Aus einer pädagogischen,aber auch aus einer kunst-wissenschaftlichen Perspektive, gehe ich mit geschlosse-nen und offenen Systemen um: mit abgesicherten Wis-sensbeständen, ihren Erörterungen und mit dem, wasletztlich unerwartet, nicht vorhersehbar ist und keinenRegeln gehorcht. Unterricht und Kunst haben vielleichteins gemeinsam: Man kann sie nicht präzise vorhersagen.Wir müssen lernen, in diesem Zwischenraum und in offe-nen Systemen zu navigieren.

Diese Navigation in kunstpädagogischen Situatio-nen kreise ich in drei Schritten ein. Zunächst wäre derRaum in und zwischen geschlossenen wie offenen Syste-men zu kartieren. Tritt im Umgang mit diesen Räumen inkunstpädagogischen Situationen ein Widerstand auf,muss ich aufräumen. Durch forschendes Lernen kann ichin meinem Unterricht den didaktischen Ort von Wider-ständen erkennen und ihn nutzen. Ich kann aber auchWiderstände bewusst inszenieren, beispielsweise imMapping, wenn ich Möglichkeitsorte über Wirklichkeits-räume lege.

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(Un)Vorhersehbares Das Meer ist das Zeichen der Offenheit schlechthin,obwohl es ebenso genau kartografiert ist wie der Luft-raum! Aber immerhin steht das Meer für Ungewissheit,Abenteuer und Entgrenzung, wie Thomas Mann das sah,als er den verträumten Hanno Buddenbrook an die Ost-see setzte und träumen ließ. Und man muss nicht Goetheauf seiner Überfahrt von Neapel nach Palermo erwäh-nen, um deutlich zu machen, dass das Meer Angst macht,Unwohlsein bereitet oder schlicht langweilig ist. Das giltbesonders dann, wenn man dieses vermeintlich offeneSystem mit den Mitteln gewohnter Wahrnehmungbetrachtet, wie es Goethe machte.

Blicke ich auf die Natur wie auf ein Bild (also in Form eines Rahmens oder Fensters), dann verstörtdie Entdeckung der Rahmen- oder Grenzenlosigkeitenorm. Goethe konnte nicht mehr zwischen rechts undlinks, oben und unten unterscheiden. Die gewohnte

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2 Rinku, Zeichnung (Ceuta), 2005. Entstanden imRahmen einer Postkartenaktion von Stephanie Zeiler:Reisepläne, 2005/06.

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Wahrnehmung der Welt durch die Brille des Bildes istzerstört. Die Entdeckung und Erfahrung des Offenenmachen ängstlich, nervös und manchmal auch krank.Halte dich an den Horizont, dann geht es dir besser. Aberwehe, der Horizont ist verschwunden. Diese Angst be-kämpft man in Flugzeugen mit GPS-Karten, die zeigen,dass der Flug doch nach geordneten Koordinaten ver-läuft. Wo ich bin, weiß der Bäcker!

Das beste Mittel gegen Orientierungslosigkeit undSchweißperlen und für eine Orientierung ist die Naviga-tion mit Instrumenten, Methoden und modernen Medien,wobei die alten Verfahren die interessanten sind.

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Koppeln wir also: Tragen wir die Richtung unserer Reiseauf einer Karte ein, messen wir die zurückgelegte Zeitund markieren wir dann unsere Standorte. Aber glaubenwir nicht, dass man diese Reise wiederholen könnte. DieGefahr wäre zu groß, statt in New York in Neufundlandanzukommen.

Am sichersten ist die Brötchentütennavigation: Ange-kommen am Strand oder im Hafen, gehen wir zum erstenBäcker, lesen auf der Brötchentüte, wo der Bäcker lebt,und schon wissen wir, wo wir sind. Leuchttürme könnenuns auch helfen, der Koloss von Rhodos oder die Freiheits-statue. Aber die Brötchentüte ist sicherer, denn Türmekann man zerstören, und dann dienen sie nicht mehr derNavigation. Kein Navigationssystem hindert uns an derVorstellung, dass es offene Systeme gibt.10 Wir neigenoffensichtlich dazu, sie in die Welt hinein zu projizieren.Diese Projektion bezeichnet die Kulturwissenschaft alsVor-Gitter-Erfahrung, also als etwas, was keine Grenzenhat, was pandämonisch ist, dionysisch, lustvoll, span-nend, erregend – eine Erfahrung, die man machen will,wenn die geschlossenen Systeme ermüden, erschlaffenund nichts mehr bringen.11 Geschlossene Systeme ver-schaffen uns Sicherheit und Wohlbehagen. Sie sind inhöchstem Maße vorhersehbar, kalkulierbar, vermessbar.Sie sind sogar lebensnotwendig. In ihnen kann ich mitMethoden und Medien navigieren, indem ich Karten,Geräte, GPS benutze.

Das »Degree Confluence Project« und sein Versuch,alle Schnittpunkte von Längen- und Breitengraden zufotografieren, schließen die letzte Lücke in der Anschau-lichkeit des geschlossenen Systems unserer Welt: Es gibtdie Längen- und Breitengrade wirklich. Sie sind keineSimulationen des digitalen oder kartografischen Systems.Allerdings sind die Geräte oder Medien nur eine Hard-ware, die mit einer Software gefüttert werden muss. DieNavigation in geschlossenen Systemen funktioniert aus-schließlich nur, wenn wir sie mit dem aktuellsten Wissen

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versorgen, das wir von einem Raum haben. Aus diesemGrund ist die Software für die Navigation das kulturelleWissen einer Epoche schlechthin. Man muss also wissen,wo die Kirchen, Museen, Hotels und Tankstellen liegen,bevor man den Menschen navigieren kann. Jede Naviga-tion setzt eine Erkundung voraus. Karten und das kultu-relle Wissen speichern zudem das kulturelle Gedächtnisals eine Software für die Navigation in Erinnerungsland-schaften, Produkte, um sich zurechtzufinden und um sich des eigenen Standortes zu versichern. Aber wir sindnoch vollkommener in der Navigation: Neben diesemProdukt des Wissens, das man in ein Navigationssystemeingibt (Wo liegt meine Straße?), können wir heute denProzess von Bewegungen nachvollziehen. Mithilfe vonFlight-Tracking kann ich jederzeit erfahren, wo sich einFlugzeug irgendwo auf der Welt befindet. Den Rest be-sorgen Hobby-Kartografen: Als Plane-Spotter registrierensie jede unregelmäßige Flugbewegung und registrierennamenlose Flugobjekte, die der CIA steuert.

Es gibt diese verfluchten Übergangssituationen, wenngeschlossene Systeme kollabieren und Zwischenräumeentstehen, die Handlungsdiffusion auslösen. DieserZwischenraum hinter dem Zaun und vor dem nächstenZaun produziert Widerstand. Überquere ich den Fluss?Weiß ich, wie tief der Fluss ist? Leben dort drüben

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Drachen? Gehen wir aber trotz aller Vorbehalte davonaus, dass dieser Raum der eigentlich interessante Raumist. Die Kulturgeschichte ist voller Dokumente über dieNützlichkeit dieser Räume. Es gibt sogar viele Hinweisedarauf, dass der Mensch aus diesem Zwischenraum zwischen Geschlossenheit und Offenheit besonders vielgelernt hat und immer noch lernt. Verlassen wir also dasGitter, das kartografische Netz, die zentrale Perspektive,und entwickeln wir eine andere Sicht als die Gitter-Erfahrung. Offene Systeme sind hochgradig von Ambi-guität, Chaos, Unordnung, Unvorhersehbarkeit und Non-linearität gekennzeichnet. Während man sich an denGrenzen der geschlossenen Systeme reibt und Wider-stand entwickelt, existieren diese Grenzen in offenen Systemen gar nicht. Sie sind der Ort des Unerwartetenund Unvorhersehbaren, der Rhizome und der unendli-chen Verknüpfung. Doch wie navigieren wir dort? in derVorstellung des wirklich Offenen? Computer könnenheute Impulse geben, auf Unerwartetes zu reagieren:Nähert sich ein Flugzeug auf Kollisionskurs, lenkt derComputer die Maschine ab, und die Kollision wird verhin-dert, solange der Pilot nicht eingreift und denkt, er seiklüger als die Maschine. Um in offenen Systemen zu navi-gieren, muss man lernen, mit den Rhizomen und Plateausder offenen Systeme umzugehen. Das heißt, situations-spezifische Methoden der Navigation zu entwickeln. DieIkonologie des Performativen lehrt uns, auf diese Weiseden Kontext unseres Handelns in Einklang mit den Er-scheinungsformen der Rhizome zu bringen: an die Dingeheranzugehen, sie in die Hand zu nehmen, aufzuräumen!Anzuerkennen, dass es keine Regeln gibt.

Ein Ort, diese Methoden zu entwickeln, ist (nebenanderen) sicherlich die Kunst. Die Kunst als semiotischerApparat des Umgangs mit Unerwartetem, die Kunst alsoals Forschung. Zu lernen, mit dem Unerwarteten umzu-gehen, es zu erkennen und zu konfigurieren, ist einewichtige kulturelle Kompetenz, die man allerdings nichtals Software in Geräte eingeben kann. Die Software der

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Datenbanken über kulturelle Wissensbestände muss sichzu einem Handlungswissen verändern. Offene Systemesind heute in allen, vor allem in außerkünstlerischen Bereichen zu erkennen. Man muss sich die Welt nichtphilosophisch als tausend Plateaus vorstellen, also nichtgrundsätzlich davon ausgehen, dass sich unsere Wirklich-keit nicht mehr nur mit Längen- und Breitengraden kartografieren lässt. Offene Systeme werden heute in der Stadt- und Raumplanung, in der Technik und Wirt-schaft anschaulich.

Forschendes Lernen in kunstpädagogischen SituationenDass geschlossene Systeme aufweichen, an ihren Rän-dern platzen oder keine Wirkungen mehr haben, weil ihreRegeln nicht mehr funktionieren, wissen wir auch aus derSchule. Lehrer werden krank, Kinder sind unmotiviert undnervös: Dies können Hinweise darauf sein, dass in demgeschlossenen System Schule Veränderungen stattfin-den, die wiederum Widerstände auslösen. Aber kehrenwir zurück zu Thomas Rentmeister und seinen Kartoffel-chips und stellen wir uns noch einmal vor, dass meinUnterricht zu diesem Thema nicht gelingt. Diese Vor-stellung ist ganz realistisch: Schüler bedienen sich derChips oder versuchen den Finger in die Nutella-Masse zustecken! Solche Widerstände gegenüber Kunst gehörenin das Erfahrungswissen von Kunstlehrern. Um sie in mei-nem didaktischen Konzept zu erkennen, muss ich jetztaufräumen. Das bedeutet, einen reflexiven und evaluati-ven Blick auf meine eigene Praxis zu richten. Dies be-zeichnet man heute als forschendes Lernen, und dieFähigkeit zu diesem Lernen des Lehrers sollte zu seinengrundlegenden Kompetenzen zählen.

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Was hat das Scheitern meines Unterrichts ausgelöst?Wahrscheinlich habe ich die Hinterbühnen des Unter-richts, die Lebenswelten meiner Schüler und ihre Machtzu wenig berücksichtigt. Vielleicht habe ich nicht er-kannt, dass meine Schüler wissen mussten, dass die zeit-genössische Kunst Alltagsgegenstände reflektiert unddass das Museum ein Ort dieser Reflexion ist. Irgendwiehätte ich vielleicht doch ein Curriculum gebraucht, dassneben meiner persönlichen Begeisterung für Kunst dieSchritte auflistet, die nötig sind, um Schüler an diesesschwierige kulturelle Gebilde heranzuführen. Forschen-des Lernen ist eine Art Navigationssystem der Didaktik,um die Spuren träge werdender Systeme zu sichern.

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Solche Ermüdungserscheinungen zeigen sich immerdann, wenn man sich im Unterricht nicht mehr wieder-holen, also nicht mehr auf Handlungsroutinen zurück-greifen kann. Zwischen diesem Handlungswissen undden Reibungsflächen der konkreten kunstpädagogischenSituation erzeugen sich Spannungen. Als Lehrer kannman das Problem lösen, indem man diese Reibungs-flächen minimiert oder schlichtweg ignoriert. Allerdingsteilt die performativ denkende Pädagogik mit, dass dieseReibungsflächen das Lehren und Lernen innovieren, esanders in Gang setzen und kreative Zonen ermöglichen,weil Lehrer und Schüler das Bekannte nicht mehr nach-ahmen wollen. Weil wir in der Kunstpädagogik genaunach diesen Reibungsflächen suchen, um den Kunst-unterricht produktiv zu gestalten, ist eine Aufgabe desforschenden Lernens der Lehrer, die Widerstände alsfruchtbare Momente zu bezeichnen. Was sich als Wider-stand präsentierte, erweist sich als Ausgangspunkt despädagogischen Handelns! Deswegen suche ich nach denWiderständen und Störungen auf den Hinterbühnen desUnterrichts, in den Lebenswelten der Schüler und in derHinterfragung unterrichtlicher Rituale. Ich überraschemeine Schüler, indem sie ihre eigenen Aufgaben formu-lieren oder dekonstruktiv handeln, nachdem ich dieRäume erkannt habe, die das Lernen kreativ oder produk-tionsintelligent gestalten. Gemeinsam entdecken wirmögliche störende Wahrnehmungen und Erfahrungen,die wir als ästhetisch bezeichnen.

Andrea Sabisch zeigt in ihrer Dissertation über dieAufzeichnungen als Grafien von ästhetischen Erfahrun-gen, dass man diese in einem Prozess oder vor einemObjekt nicht einfach annehmen kann (als ob sie da wären), sondern dass man sie suchen muss.12 Mithin fin-den sie sich dort, wo ein Subjekt oder eine Sache gestörtwerden: wo etwas Unvorhersehbares geschieht, Brücheentstehen (unerwartete Deutungen eines Bildes, einesüberraschende Wende des Materials, Unerwartetes, dasdie Aufmerksamkeit erregt und den Blick und die Hand

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zurück führt). Ästhetische Erfahrungen als vorfindbareGröße zu bestimmen, bedeutet, die ästhetische Erfah-rung als Teil eines geschlossenen Systems zu behandeln.

Denn was bewegte beispielsweise Simon Starling,als er in den Rheinauen ein Holzhaus demontierte, dasHolz zu einem Kahn zusammenbaute, mit diesem Kahnnach Basel schiffte und dort aus dem Kahn wieder dasHolzhaus im Museum errichtete?13 Ästhetische Erfahrun-gen sind nicht nur Störungen oder Bewegungen in offe-nen Räumen, sondern heute vor allem situationsbezoge-ne Umgangsformen mit Möglichkeiten: am Rhein, an derAlster, im Hafen und in Museen! Dieser Gedanke führtmich zu der Beschreibung von Möglichkeitsnetzen, dieKünstler über geografische Räume werfen.

KartografieDass unser Umgang mit Räumen ein Umgang mit ge-schlossenen Systemen ist, hat sich längst als eine Illusionentlarvt. Wir wissen zwar genau, wo wir wohnen undwohin unsere Urlaubsreise geht. Wir haben deswegenbeinahe perfekte Navigationssysteme. Aber diffuser istunser Wissen um fluide Räume, Nicht-Orte oder hetero-tope Zonen, die den bekannten Raum umspielen, ihn neuüberlagern und neue Orte erzeugen.

Thomas Zielony fotografiert diese Orte von Jugend-lichen an den Peripherien europäischer Großstädte alsihre Widerstandsorte. Kurt Wettengl hat das Thema die-ser Fotografien als die Ikonografie des Rumgammelnsbezeichnet.14 Sie zeigen, dass sich im »Gemengegelage«der geografischen Räume offene Systeme bilden, die denbekannten geschlossenen Raumsystemen nicht mehrentsprechen. Dass sich unser Lebensraum seit einiger Zeitmassiv in diese Richtung verändert, stellt auch die aktu-elle Kunst fest. Sie untersucht diese Raumveränderungenin groß angelegten Projekten und Einzelleistungen, bei-spielsweise über schrumpfende Städte, Migrations-bewegungen und vieles mehr. Viele bezeichnen diesen

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forschenden und intervenierenden Zugang der Kunst zuRäumen als Mapping. Ich selbst halte diese künstlerischeKartografie für ein grundlegendes Modell auch in kunst-pädagogischen Situationen, um die Lebenswelten derKinder und Jugendlichen zu erkunden und zu gestalten.Ein wichtiges Lernziel dieses pädagogisch gewendetenMappings ist (neben anderen) die Entdeckung von Mög-lichkeitsorten, die sich über Wirklichkeitsräume legenkönnen. Da wir es in diesen liminalen Zonen im Sinne derRaumplanung und der »Border Studies« mit Grenzen zutun haben, laboriert auch das Mapping mit Widerständenals Angst- und Abgrenzungshandlungen auf der einenund mit Widerständen als fruchtbare Momente auf deranderen Seite.15

Möglichkeitsorte sind für die Raumplanung Orte derUnordnung, der Unvorhersehbarkeit, schwer lesbar,kaum einzuordnen. Sie entstehen dort, wo »Bekanntesauf Unbekanntes trifft«. Wie bei offenen Systemenüblich, erzeugen sie Unbehagen und Unwohlsein. Daskönnen leere Parkplätze vor Supermärkten, Industrie-brachen, verlassene Autokinos, Stellplätze von Lastwagenin Industriezonen, eigentlich sogar Grünflächen anFlughäfen oder zwischen Straßen sein. Solche Räume zubeherrschen, ist offensichtlich sehr schwierig. Dennochentstehen in ihnen neue Nutzungen: Picknickflächen,

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Übungsgelände für Saxophonspieler, informelle Treff-punkte. Für Marc Augé sind diese Orte »Nicht-Orte«, fluideRäume einer mobilen und globalisierten Gesellschaft.16

Don DeLillo hat in seinem Theaterstück »Valparaiso« dieSituation vorgestellt, wie sich langsam, aber mit Uner-bittlichkeit Desorientierungen des Individuums ausbil-den, dem im fluiden Raum das Navigationssystemfehlt.17 Auf der Reise nach Valparaiso in Illinois, fliegt ernach Valparaiso in Florida und kommt in Valparaiso inChile an. Der Computer bringt die namensgleichen Ziel-orte durcheinander, und der Held kann die Flughäfennicht unterscheiden, weil sie keine Merkmale haben. McDonald’s, Starbucks, Gap und Boss gibt es überall. Be-schleunigung, Transfer, Über-Setzungen und Wahrneh-mung der Distanz schreiben sich in den Alltag ein.

Die Grenzen zwischen Wirklichkeits- und Möglich-keitsräumen sind nicht scharf gezogen, sie sind gewisser-maßen wild und bewegen sich ständig. In geschlossenenSystemen stehen Grenzen für das Fremde, für Interessen-gegensätze, für das jeweils andere, und das Verhalten derMenschen an diesen Grenzen ist unselbstständig, trägeund auf Konfrontation ausgelegt. In offenen Systemenwird diese Verhaltensangewohnheit in Frage gestellt,schon allein deshalb, weil man die sicheren Grenzen nichtverlassen will. Man kann nicht aus seiner Haut schlüpfen.

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Die Grenzen zwischen Möglichkeits- und Wirklichkeits-räumen können Widerstände auslösen, wenn man sie als Unterschiede, als Abrenzung und als Ausdruck desInteressengegensatzes sieht (Davy).

Grenzen sind dann Ausdruck von Unselbstständigkeit und Konfrontation.

Die Kunst interessiert sich für diese Prozesse in besonde-rem Maß, vor allem für die Auflösung von Grenzen,für die Entstehung von Möglichkeitsräumen. Sie regtihre Herstellung sogar an! Die Kunst wird damit zu einem Navigationssystem in diesen offenen und fluidenRäumen. Das belegen die Ausstellungen über »Mappingthe City«, über die »Sehnsucht des Kartographen« undüber die »Schrumpfenden Städte«.18 Christiane Brohl hatmit ihrer Arbeit über das Displacement bei Robert

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3 Touahri Salem, Zeichnung (Ceuta), 2005. Entstandenim Rahmen einer Postkartenaktion von Stephanie Zeiler:Reisepläne, 2005/06.

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Smithson die Öffnung von Räumen und die notwendige,damit einhergehende Desorientierung des Menschen als kunstpädagogische Situation gekennzeichnet. DerKollaps des Bekannten, die Entkonventionalisierung unddas Liminale erweisen sich einmal mehr als Ausgangs-punkte künstlerischer Prozesse. Entdecken wir also dieliminalen Räume, die keine Utopien oder Paradiese,sondern grenzwertig sind.

Im Lärm …oder auf Straßen des Terrors …oder am Rand der Städte …in den Vorstadtidyllen …oder dort, wo sie platzen …wenn in realen Katastrophen Räume zusammenbrechen …oder man sich Invasionen vorstellt, die man als Bedrohung des eigenen Lebensraums einschätzt …

»Leben lernen heißt am Ort sein lernen!« Peter Sloterdijksbeinahe pathetisch hervorgebrachte Maxime beschreibtden pädagogischen Sinn des Mappings sehr genau.19

Trotz aller Globalisierung und digitaler Vernetzung, trotzjeder Form von Virtualität, also: gerade wegen der Ort-losigkeit des Menschen im 21. Jahrhundert ist es wichtig,den eigenen Lebensraum genau zu kennen und in ihmnach Möglichkeitsorten und Wirtlichkeiten zu suchen.Deswegen ist das Mapping in kunstpädagogischen Situa-tionen die Erkundung von lebensweltlichen Räumen, vonMöglichkeiten ihrer Nutzung zwischen Wirklichkeit undFiktion. Virtuelle Räume dürfen nicht zu einer Gleich-gültigkeit gegenüber dem Stadtteil, dem Schulraum undanderen Orten führen, wo man sich vielleicht nur derLebens-Mittel bedient, die zum Überleben im digitalenRaum notwendig sind. Die Verwahrlosung vieler Städtewird ein Zeichen des Übergewichts virtueller Räume sein:ein völlig neue Qualität der Gedanken AlexanderMitscherlichs zu ihrer »Unwirtlichkeit«. Mapping ist(auch deswegen) eine kunstdidaktische Methode, den

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wirklichen Ort als Anlass von Eingriffen zu sehen und denWiderspruch zwischen dem realen und simulierten Orterkennbar zu machen. Die Raumplanung und die Kultur-wissenschaft haben das inzwischen erkannt, und dieKunstpädagogik wird hier nachrücken.

Entscheidend ist, dass sich dadurch die Kunstpäda-gogik selbst »verortet«. Denkt und handelt sie kartogra-fisch, orientiert sie sich nicht mehr ausschließlich anselbstreferentiellen, also überkommenen Kunstbegriffender unendlich wiederholten Moderne und Postmoderne,sondern an referentiellen Gegebenheiten des konkretenOrtes, der sich einer situativen künstlerischen Reflexionöffnen. In diesem Zusammenhang interessieren plötzlichauch kunsthistorische Zusammenhänge und Erinne-rungslandschaften.

Was Mapping ist und wie es arbeitet, lässt sich ambesten an Beispielen erklären. Der Leiter des Karl-Ernst-Osthaus-Museums in Hagen initiierte die Untersuchungeines lokalen Landschaftsraums, indem er Geografen,Raumplaner, Kunsthistoriker und Künstler beauftragte,im Rahmen einer »Landschaftsbauhütte« die Geschichteund aktuelle Nutzung dieses Raums zu rekonstruierenund zu recherchieren.20 Während die einen Eisdielen-benutzer und Kanufahrer interviewten, untersuchten dieanderen die Handyempfangsstärken während einesSpaziergangs. Bilder im Stadtarchiv wurden aktuellenFotografien gegenübergestellt. Heute liegt das Materialin einem Aktenschrank und kann von jedermann benutztwerden. Das Projekt zeigt das interdisziplinäre Settingvon rekonstruktiven und konstruktiven Methoden, dasman metaphorisch als ein Navigationssystem desMappings bezeichnen kann.

Anders arbeitete das Projekt »Mögliche Orte: Bild-welten, Planerwelten« im Rahmen der StadtBauKulturNRW.21 Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer entschie-den sich, in Gruppen von einem Ausgangspunkt Wegeund Straßen in genau festgelegten Richtungen zu bewan-dern, um nach Orten zu suchen, die Aufmerksamkeit: also

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Widerstand, hervorrufen. An diesen Orten sollten Inter-ventionen stattfinden, die den Raum verändern oder inihn eingreifen. Diese Entdeckung von Möglichkeitsorten,die sich später in bearbeiteten Landkarten oder in umge-stalteten Szenerien wiederfanden, folgt neben den re-konstruktiven und konstruktiven vor allem dekonstrukti-ven Settings. Überhaupt eignet sich der kunstdidaktischeHandlungsapparat Axel von Criegerns sehr gut, die Soft-ware des künstlerischen Navigationssystems »Mapping«zu beschreiben: Recherche und Paraphrase, Veränderungund Eingriff, Neuschöpfung.

Dies sind auch die Merkmale der Methode Kurt Wettengls,den Möglichkeitsort »Wasserhäuschen« in Frankfurt zuentdecken: der Kiosk als Anlass kulturhistorischer Re-cherche, der Verfremdung seiner Funktionen und dieIdee, etwas Neues zu gestalten, z.B. eine Einkaufstüte mitFotos der häufigsten Besucher.22

Die Kunst ist eine Methode zur Einsicht und Lösungvon Problemen auch in außerkünstlerischen Bereichen.

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4 Kurt Wettengl (ed), Frankfurter Wasserhäuschen, 2003

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Ihre Methoden können interdisziplinär vernetzt trans-feriert werden und kommen dort zur Geltung, wo mansie früher nicht vermutet hätte. Das aber ist ein Schritt inein völlig neues Kunstverständnis im Kontext des offenenSystems Kunst selbst, verstanden als Camp, als zeitlicheEinrichtung der Künstler an einem Ort, wo man siebraucht. Künstlerisch motivierte Kartografen geben sichdeshalb nicht damit zufrieden, nur geschlossene Raum-systeme zu erkunden. Sie legen Projektionen offener Systeme über die Gitter geschlossener Räume und stoßenso in liminale Räume vor, in jene Räume also, in denensich Nicht-Orte und fluide Zonen entwickeln. Das künst-lerische Engagement lokalisiert dort Möglichkeitsorte,indem Räume und ihre Karten verändert, verfremdet undanders als gewohnt belegt werden.

Unkünstlerische Entkonventionalisierungen vonRäumen reichen inzwischen von Strandsimulationen aufKaufhausdächern bis zu großstädtischen Skirennen, diedie Attraktivität der Städte erhöhen und niemanden auf-regen. Lösen aber künstlerische Handlungen Desorien-tierungen aus und legen sich offene Systeme bloß,dann regen sich Widerstände als Zeichen für die feh-lende Möglichkeit zur Navigation. Die Kunst deutet aufdiese Weise die liminalen Räume als Orte, an denen man den Umgang mit offenen Strukturen lernen kann. Liminale Räume und ihre Lernorte werden zu kunst-pädagogischen Situationen.

Anfangs hatte ich festgestellt: »Und ich als Lehrerhabe, so scheint es, völlig die Grenze zwischen dem Bekannten, dem Unbekannten und der Fähigkeit, dieGrenze zu überwinden unterschätzt.« Der Umgang mitden Widerständen in kunstpädagogischen Situationen istein Bewusstsein für die Grenzen. Die Kunstpädagogikmuss Wege zeigen, »Grenzsituationen nicht als Unter-schiede« und als »Fremdbestimmtes« zu behandeln,sondern als sinnvolle Basis dessen, was möglich ist.

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Der Umgang mit Räumen und Orten ist eine kunstpädagogische Situation.

Um Räume als Wirklichkeits- und Möglichkeitsorte zu erfassen, lassen sich Widerstände inszenieren.

Mapping ist eine Methode zur Navigation in liminalen Feldern.

Mapping …… macht es nicht nur der Kunstpädagogik schwer. Was soll der Begriff bezeichnen?23 Für die Kunst ins Spiel ge-bracht hat ihn Paolo Bianchi, und die Produkte desMappings bezeichneten Aby Warburg und GerhardRichter. Wohl wegen dieses Sachverhalts von Prozess undProdukt formulierte Bianchi dann: AtlasMapping. Waseigentlich die Herstellung von Landkarten meint, dieimmer eine Erkundung und eine Entdeckung von Räumenvoraussetzt, bezeichnet heute in der aktuellen Kunsteinen metaphorischen Inhalt, denn Landkarten könnenZeichnungen, Videotapes, Performances oder digitaleSysteme sein. Einzig der Vorgang der Erkundung, jenerHandlungen und Erfahrungen also, die vor einem Atlasstattfinden, ähnelt den abendlichen Niederschriften derhistorischen Entdecker. Jeder Mapper wandert, unter-sucht, vermisst und zeichnet auf.

Navigieren …… ist eine zielgerichtete Handlung: Man muss irgendwieankommen oder ein Ziel erreichen. Thorsten Meyermeint, die Begriffe »Navigieren« und »Browsing« zuunterscheiden, das Zielgerichtete vom Suchen zu unter-scheiden. Navigation ist (vor dem Hintergrund der Dis-kussion um Bildungsstandards) Mainstream, Browsing istdie Suchbewegung? Navigation ist Didaktik, Browsing ist Kunst? Das Browsing entspricht dem rhizomatischen

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Schlendern in und zwischen den Plateaus der wirklichenund virtuellen Welt und bezeichnet hypertextuelles Lernen. Es ist eine gute Idee, das Browsing als eine Auf-gabe der Navigateure zu verstehen. Jeder Abenteurermuss suchen, Wege erkunden, sich auf die Bedingungenseines Weges einlassen, neue Bedingungen schaffen,Regeln verletzen. Dazu braucht er Geräte, Hardware,Software und performative Skripte, die sie füllen.

»Irational.org« zeigt, wie das geht.24 »Situationenschaffen«: »vielfältige Möglichkeiten vermitteln, dieWirklichkeit werden können, wenn man sich der richti-gen alternativen Mittel bedient«. Oder »Schutz undsichere Passagen«: »Techniken überschreiten abgezäunteRäume und ermöglichen ein sicheres und zugleich unter-haltsames Fortkommen von Punkt a nach Punkt b. Vorherundenkbare Räume werden auf einfache und intelligenteWeise begehbar gemacht. Schutz- und Überwachungs-systeme werden unterlaufen und zu alternativen Durch-gängen transformiert«. Und »Karten«: »Der Day-Plannervermitelt einem, wie man Arbeits- oder Wartezeit mini-miert und wie man im Gegenzug Vergnügen, Glück undWachstum maximiert«. Erreiche ich meine Schüler nicht,muss ich notfalls Funkgeräte benutzen (»school of theair«). Oder eine Sichtbox bauen – der Lehrer für eine be-grenzte Zeit als Schachtelmann: sich in einer Kiste zu verstecken, um durch ein Fenster die Kinder und Jugend-lichen ganz genau zu beobachten.25 In der Kunst gibt esdiese Idee schon.

Kunstpädagogische Situationen kartierenGrenzgänge kennt auch die Kunstpädagogik – vor allem,wenn sie zwischen allen Stühlen sitzt und die vielen»turns« aufsaugt und aufsaugen muss, die sich im kultur-wissenschaftlichen Diskurs und kulturellen Handeln zei-gen: »interpretive« (z.B. die Lesbarkeit der Stadt«), »per-formative« (»Kultur als Performance«), »reflexive/lite-rary« (»Kulturbeschreibung als Fiktion«), »postcolonial«

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(»die diskursprägende Macht hegemonialer Kulturen«),»spatial« (Kultur als Raum), »translational« (kulturelleÜbersetzungsprozesse) und »iconic« (die Allgegenwartdes Bildes).26 Während die erneute Aufmerksamkeitder Kunstpädagogik gegenüber dem »iconic turn« un-übersehbar ist, gilt es, eine fachspezifische Wendekunstpädagogischen Denkens festzustellen, maßgeblichfür den Diskurs der letzten Jahre. Dies ist die »künst-lerische Wende«. Aus einer streng universitären Sichthingegen (die eine Disziplin begründen und erhaltenmuss) ist für mich eine Kunstdidaktik als Kunstwissen-schaft (nicht als Erziehungswissenschaft) vorstellbar, dieman sehr leicht differenzieren (kartografieren) kann. EinAtlas dieser Kunstdidaktik zeigt als erstes die systemi-schen Aufgaben, in denen sich Theoriebildungen, Wissen-schaftstheorie, methodologische Aspekte und der Raumder Disziplin selbst entwickeln. Hierzu gehört eine Auseinandersetzung mit den kunst- und erziehungs-wissenschaftlichen Nachbardisziplinen und die Siche-rung des Standortes der Kunstdidaktik innerhalb derjeweils aktuellen Kunst, die nur eine wissenschaftlichePosition sein kann. Die historische Kunstdidaktik sichertund befragt ihre Tradition. Die Evaluation kunstdidak-tischer Theoreme betreibt ihr empirischer Teil: Wie gehen tatsächlich Kinder, Jugendliche und Erwachsene(in Museen oder sonst wo) mit Bildern um? Welche Be-dingungen hat dieses Rezeptionsverhalten? Die perfor-mative Kunstdidaktik betreibt, was viele für ihren eigentlichen Inhalt halten: die Vorbereitung, Durch-führung und Auswertung von Unterrichtsprozessen, die Untersuchung von Lernvoraussetzungen und anderen Bedingungen, zu denen das ästhetische Verhalten vonKindern und Jugendlichen zählt (die Hinterbühnen des Lernens). Unterrichtsskripte entwickelt, innoviertund begründet die curriculare Kunstdidaktik, zu der auch die Entwicklung von Lehrplänen gehört. Alle ande-ren Formen des Kunst vermittelnden Handelns sind,denke ich, performative und Praxis bezogene Skripte der

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kunstdidaktischen Atlanten, denen wir wunderbarekünstlerische Kartografien verdanken.

CopanMachen wir uns nichts vor! Die performative Wende inden Kulturwissenschaften zeigt, dass selten etwas soläuft, wie man es geplant hat. Schon gar nicht in derKunst und noch weniger in der Kunstpädagogik. Pazzinihat wohl Recht, wenn er behauptet, Kunst existiere nicht,es sei denn als Anwendung. Und natürlich ist die Anwen-dung ein Raum des Widerstands.

Jürgen Partenheimer, wohl einer der wichtigstenZeichner in der aktuellen Kunst, hielt sich 2005 in SaoPaulo auf; seine Reisen sind immer Gelegenheit für Bild-serien. Was in Rom noch gelang (anlässlich einesStipendiums in der Villa Massimo), zeigte sich in Süd-amerika als schwierig. Die Papiere blieben zunächst leer.Stattdessen beginnt Partenheimer ein Tagebuch zuschreiben – Copan, das Diario Paulistana, das für michneben Peter Handkes »Versuch über die Jukebox« zu denwirklich beeindruckenden Stellungnahmen über denkünstlerischen Schaffensprozess in der aktuellen Kunstgehört.27 Der Künstler richtet sich in seiner temporärenWohnung im Copan, einem Gebäudekomplex von OskarNiemeyer, eine Sichtbox ein, von der aus er beginnt,die Stadt wahrzunehmen. Es ist die Stadt, die sich (ähn-lich wie in Rilke Aufzeichnungen des Malte LauridsBrigge) ihm gegenüber personifiziert, einen Widerstandaufbaut, der zu einer »performativen Hemmung« führt:Partenheimer kann nicht zeichnen und muss sich lang-sam dem Ort nähern, der nur Widerstände, Überraschun-gen und Schocks bereithält. Er schwimmt in einem städtischen offenen System und kennt die Koordinatenseiner Wahrnehmung nicht. Was sich in seinem Tagebuchzeigt, ist die Entwicklung eines künstlerischen Naviga-tionssystems, Schritt für Schritt, Linie für Linie, Klecksnach Klecks. Für mich zeigt sich darin die Aufgabe,

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kunstpädagogische Situationen zu entwerfen: mitkünstlerischen (und in einem anderen Gebiet mit kunst-historischen) Mitteln lernen zu navigieren – und denApparaten zu misstrauen, die vorgeben, den Weg zu kennen. Es liegt zu viel an den Grenzen und in performa-tiven Skripten, als dass man den Medien und ihrenVerwaltern trauen sollte, die vorgeben, das Geländebereits erkundet zu haben.

Vortrag gehalten am 29.05.2006

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Anmerkungen1 http://www.interarte.de/lelmal/reiseplaene-auktion.html2 Bruce Chatwin. Traumpfade. München 2004.3 Cees Nooteboom. Darwin, Norlangie, Kakadu. In: AufReisen 3. Afrika, Asien, Amerika, Australien. GesammelteWerke. Frankfurt 2004 und Cees Nooteboom. Paradiesverloren. Frankfurt 2005.4 Bruce Chatwin. 194.5 Vgl. Echt falsch. In: Berge. 3/2006.6 Vgl. Brice Marden. Attendants, Bears, and Rocks. New York 2002 und Brice Marden. A Retrospective. New York 2006.7 Vgl. Hans-Joachim Müller. Harald Szeemann. Aus-stellungsmacher. Ostfildern 2006. Ein Beispiel für diekunsthistorische Entstehung von Individualmythologienin New York schildert Jed Perl. New Art City. Manhattanund die Erfindung der Gegenwartskunst. München 2006.8 Thomas Rentmeister. Die Löcher der Dinge.Dortmund 2006.9 Niklas Maak. Loopings auf dem Parkett des Vor-stands. In: FAZ vom 11.03.06. 35.10 Ursula Bertram/Werner Preißing. Navigieren im offenen System. Kunst. Transfer. Management.Filderstadt 2006 und Ursula Bertram. Konversion imKopf. US3 Oberolmerwald (2001-2004). Filderstadt 2006.11 Tacita Dean/Jeremy Millar. Ort. Art Works. Zeitgenös-sische Kunst. Hildesheim 2005.12 Andrea Sabisch. Inszenierung der Suche. Aufzeich-nungen als Grafien ästhetischer Erfahrungen. Diss.Dortmund 2006.13 Simon Starling. Cuttings. Ostfildern 2005.14 über Thomas Zielony in seiner Ausstellung imMuseum am Ostwall. Dortmund 2006.15 Benjamin Davy. Die Neunte Stadt. Wilde Grenzenund Städteregion Ruhr 2030. Wuppertal 2004.16 Thomas Rentmeister. Die Löcher der Dinge. Museumam Ostwall. Dortmund 2006.17 Don DeLillo. Valparaiso. Köln 2000.

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18 Philipp Oswalt (ed). Shrinking Cities. Volume 1. International Research. Ostfildern 2005, Philipp Oswalt(ed). Shrinking Cities. Volume 2. Intervention. Ostfildern2006, Philipp Oswalt (ed). Atlas of Shrinking Cities.Ostfildern 2006, Nina Möntmann/Yilmaz Dzwiewior(ed). Mapping a City. Ostfildern 2004, Stephan Berg/Martin Engler (ed). Die Sehnsucht des Kartografen.Hannover 2004.19 Peter Sloterdijk. Im Weltinnenraum des Kapitals.Frankfurt 2005.20 Michael Fehr/Falk Wolf (ed). LandschaftsbauhütteRuhrtal. Essen 2002.21 Marc Augé. Non-Places. Introduction to an Anthropo-logy of Supermodernity. London 1995.22 Kurt Wettengl (ed). Frankfurter Wasserhäuschen.Fotografien von Martin Starl. Frankfurt (HistorischesMuseum) 2003.23 Klaus-Peter Busse. Vom Bild zum Ort: Mapping lernen. Norderstedt 2007.24 Ich zitiere aus der Einladung zu: Susanne Ackers/Inke Arns e.a. (ed). The Wonderful World of irational.org.Techniques, Tools and Events 1996-2006. Frankfurt/Dortmund 2006.25 Kobo Abe. Der Schachtelmann. Frankfurt 199226 Vgl. Ruth Bachmann-Medick. Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006.27 Jürgen Partenheimer. Copan. Diario Paulistana.Karlsruhe 2006 und Jürgen Partenheimer. Roma. Sao Paulo. Zeichnungen. Karlsruhe/Düsseldorf 2006.

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Bilder1 Benjamin Vogel. Landschaftsentwurf (topografische

Karte). Blei, Tusche und Aquarell auf Karton. 70 x 100.2003.

2 Rinku. Zeichnung (Ceuta), 21 x 29. 2005. Entstanden im Rahmen einer Postkartenaktion von StephanieZeiler: Reisepläne. 2005/2006.

3 Touahri Salem. Zeichnung (Ceuta), 21 x 29. 2005.Entstanden im Rahmen einer Postkartenaktion vonStephanie Zeiler: Reisepläne. 2005/2006.

4 Kurt Wettengl (ed). Frankfurter Wasserhäuschen.Frankfurt (Historisches Museum) 2003.

5 Benjamin Vogel. Panorama. Öl auf Leinwand. 2 x (80 x 120). 2004. Ausschnitt.

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Klaus-Peter Bussegeb. 1953, Promotion über Cy Twombly, Habilitation über den Atlas als kunstdidaktischer Handlungs-apparat, Studiendirektor an dem Hellweg-Gymnasiumin Wattenscheid, Fachleiter für Kunst am Studien-seminar in Hagen, seit 1999 Professur für Kunstdidaktikan der Universität Dortmund, Mitherausgeber der BDK-Mitteilungen.

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Bisher in dieser Reihe erschienen:

Ehmer, Hermann K.: Zwischen Kunst und Unterricht –Spots einer widersprüchlichen wie hedonistischenBerufsbiografie. Heft 1. 2003. ISBN 3-9808985-4-7

Hartwig, Helmut: Phantasieren – im Bildungsprozess? Heft 2. 2004. ISBN 3-937816-03-8

Selle, Gert: Ästhetische Erziehung oder Bildung in der zweiten Moderne? Über ein Kontinuitätsproblemdidaktischen Denkens. Heft 3. 2004. ISBN 3-937816-04-6

Wichelhaus, Barbara: Sonderpädagogische Aspekte der Kunstpädagogik – Normalisierung, Integration und Differenz. Heft 4. 2004. ISBN 3-937816-06-2

Buschkühle, Carl-Peter: Kunstpädagogen müssenKünstler sein. Zum Konzept künstlerischer Bildung.Heft 5. 2004. ISBN 3-937816-10-0

Legler, Wolfgang: Kunst und Kognition. Heft 6. 2005. ISBN 3-937816-11-9

Sturm, Eva: Vom Schießen und vom Getroffen-Werden.Für eine Kunstpädagogik »Von Kunst aus«. Heft 7. 2005. ISBN 3-937816-12-7

Pazzini, Karl-Josef: Kann Didaktik Kunst und Pädagogikzu einem Herz und einer Seele machen oder bleibt es bei ach zwei Seelen in der Brust? Heft 8. 2005. ISBN 3-937816-13-5

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Puritz, Ulrich: nAcKT: Wie Modell und Zeichner im Aktsaal verschwinden und was von ihnen übrig bleibt. Heft 9. 2005. ISBN 3-937816-15-1

Maset, Pierangelo : Ästhetische Operationen und kunst-pädagogische Mentalitäten. Heft 10. 2005. ISBN 3-937816-20-8

Peters, Maria: Performative Handlungen und biografische Spuren in Kunst und Pädagogik. Heft 11. 2005. ISBN 3-937816-19-4

Balkenhol, Bernhard: art unrealized – künstlerischePraxis aus dem Blickwinkel der Documenta11.Heft 12. 2006. ISBN 3-937816-21-6

Jentzsch, Konrad: Brennpunkte und Entwicklungender Fachdiskussion.Heft 13. 2006. ISBN 3-937816-32-1

Zacharias, Wolfgang: Vermessungen – Im Lauf der Zeitund in subjektiver Verantwortung: Spannungenzwischen Kunst und Pädagogik, Kultur und Bildung,Bilderwelten und LebensweltenHeft 14. 2006. ISBN 3-937816-33-X

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ImpressumBibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind imInternet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Kunstpädagogische PositionenISSN 1613-1339Herausgeber: Karl-Josef Pazzini, Eva Sturm,Wolfgang Legler, Torsten Meyer

Band 15ISBN 978-3-937816-38-8Bearbeitet von Katarina JurinDruck: Uni-PriMa, Hamburg© Hamburg University Press, Hamburg 2007http://hup.rrz.uni-hamburg.deRechtsträger: Universität Hamburg.

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