15
Kurswechrcl2!2001 Kosten und Nutzen des Neoliberalismus Eine Klassenanalyse Gerard Dumenil. Dominique Levy Die meisten, wenn nicht alle linken Analytiker stimmen überein, dass der Neoli- beralismus der ideologische Ausdruck der Herrschaftsansprüche der Finanz ist. Der Ausdruck Finanz selbst bezieht sich auf ein komplexes Netzwerk von Institu- tionen; hinter diesen Institutionen stehen Individuen. Auch wenn es nicht einfach ist die exakten Konturen dieses Systems zu zeichnen, ist die neue Führung durch die höheren und aktiven Fraktionen der Finanz seit dem Ende der 1970er Jahre doch augenfallig. Der Anstieg der Realzinsen ist offensichtlich vorteilhaft tlir Gläu- biger; die neue globale Verteilung der Produktion wird von den großen Banken dirigiert; die Börse ist im Zentrum; die Manager der Untemehmen sind, mehr als zuvor, gezwungen ihre Aktivitäten auf die Reichtumsvermehrung der Eigentü- mer zu orientieren. Alle diese Charakteristika des gegenwärtigen Kapitalismus deu- ten auf die zentrale Position der Finanz im Zentrum der neoliberalen Strukturen. Obwohl die Rückkehr der Hegemonie der Finanz in enger Verbindung mit der Intemationalisierung des Kapitals und der Globalisierung der Märkte geschah, ist es wichtig die Beziehung zwischen diversen Phänomen nicht mißzuinterpre- tieren. Es ist die Finanz, die die Fonn und den Inhalt der neuen Stufe der Intema- tionalisierung diktiert, und nicht die lntemationalisierung, die die Notwendigkeit fiir die gegenwärtige Entwicklung des Kapitalismus hervorgebracht hat. Ist einmal die Führung der Finanz als die Wurzel des Neoliberalismus und der lntemationalisierung des Kapitals identifiziert, ist man einer Interpretation der ak- tueller Trends in Klassenstrukturen nahe. Die Aussage, daß ein Set von institutio- nellen Transfonnationen und Politiken zum Vorteil einer reichen Minderheit kon- zipiert war, deutet direkt auf die Teilung der Gesellschaft in Klassen und den zugtUndeliegenden Auseinandersetzungen (Klassenkämpfen) hin. Nur zwei Aspekte rnüssen ergänzt werden um die Konturen eines marxistischen analytischen Rah- mens zu erhalten: (1) Der Kapitalismus entwickelt sich zu wiederholten struktu- rellen Krisen, die nur durch große Transtonnationen der Funktionsweise überwun- den werden; (2) Die Trends der Profitrate, speziell ihre gegenwärtige Phase des Rückgangs, sind wichtige Elemente solcher Krisen. Die Perspektive dieser Studie ist daher jene der Marxschen Analyse: die Kombination von Referenzen zu den Produktionsverhältnissen und dem Klassenkampf mit der typisch Marxschen Ana- lyse von Tendenzen und Krisen.' Die Art wie der Neoliberalismus in dieser Studie beschrieben wird bleibt schlicht. Sie kombiniert historische und quantitative Analyse. (Schlichte Graphiken sind oft

Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

Kurswechrcl2!2001

Kosten und Nutzen des NeoliberalismusEine Klassenanalyse

Gerard Dumenil. Dominique Levy

Die meisten, wenn nicht alle linken Analytiker stimmen überein, dass der Neoli-beralismus der ideologische Ausdruck der Herrschaftsansprüche der Finanz ist.Der Ausdruck Finanz selbst bezieht sich auf ein komplexes Netzwerk von Institu-tionen; hinter diesen Institutionen stehen Individuen. Auch wenn es nicht einfachist die exakten Konturen dieses Systems zu zeichnen, ist die neue Führung durchdie höheren und aktiven Fraktionen der Finanz seit dem Ende der 1970er Jahredoch augenfallig. Der Anstieg der Realzinsen ist offensichtlich vorteilhaft tlir Gläu-biger; die neue globale Verteilung der Produktion wird von den großen Bankendirigiert; die Börse ist im Zentrum; die Manager der Untemehmen sind, mehr alszuvor, gezwungen ihre Aktivitäten auf die Reichtumsvermehrung der Eigentü-mer zu orientieren. Alle diese Charakteristika des gegenwärtigen Kapitalismus deu-ten auf die zentrale Position der Finanz im Zentrum der neoliberalen Strukturen.

Obwohl die Rückkehr der Hegemonie der Finanz in enger Verbindung mitder Intemationalisierung des Kapitals und der Globalisierung der Märkte geschah,ist es wichtig die Beziehung zwischen diversen Phänomen nicht mißzuinterpre-tieren. Es ist die Finanz, die die Fonn und den Inhalt der neuen Stufe der Intema-tionalisierung diktiert, und nicht die lntemationalisierung, die die Notwendigkeitfiir die gegenwärtige Entwicklung des Kapitalismus hervorgebracht hat.

Ist einmal die Führung der Finanz als die Wurzel des Neoliberalismus und derlntemationalisierung des Kapitals identifiziert, ist man einer Interpretation der ak-tueller Trends in Klassenstrukturen nahe. Die Aussage, daß ein Set von institutio-nellen Transfonnationen und Politiken zum Vorteil einer reichen Minderheit kon-zipiert war, deutet direkt auf die Teilung der Gesellschaft in Klassen und denzugtUndeliegenden Auseinandersetzungen (Klassenkämpfen) hin. Nur zwei Aspekternüssen ergänzt werden um die Konturen eines marxistischen analytischen Rah-mens zu erhalten: (1) Der Kapitalismus entwickelt sich zu wiederholten struktu-rellen Krisen, die nur durch große Transtonnationen der Funktionsweise überwun-den werden; (2) Die Trends der Profitrate, speziell ihre gegenwärtige Phase desRückgangs, sind wichtige Elemente solcher Krisen. Die Perspektive dieser Studieist daher jene der Marxschen Analyse: die Kombination von Referenzen zu denProduktionsverhältnissen und dem Klassenkampf mit der typisch Marxschen Ana-lyse von Tendenzen und Krisen.'

Die Art wie der Neoliberalismus in dieser Studie beschrieben wird bleibt schlicht.Sie kombiniert historische und quantitative Analyse. (Schlichte Graphiken sind oft

Page 2: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75

so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist in vierAbschnitte gegliedert:1. Unsere Interpretation der Geschichte des Kapitalismus im letzten Jahrhundert

kann in ein paar Thesen zusammengefaßt werden: (1) Die modernen Finanz-strukturen haben nicht immer existiert und die Analyse muß mit den frühenStufen ihrer Fonnation am Ende des 19. Jahrhunderts beginnen. (2) Die höhe-ren Fraktionen der Finanz - die Kapitalisten des gegenwärtigen Kapitalismus -haben immer um die Verlängerung ihrer Dominanz gekämpft, d.h. tUr dieAufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise. (3) Nach dem relati-ven Rückschlag in den Keynesianischen Jahren (in der Folge der Grossen De-pression und des Zweiten We1tkriq,rs) hat die Finanz unter Ausnutzung derstrukturellen Krise beträchtlichen Fortschritt in den zwei späteren Jahrzehntengemacht.

2. Die Kosten des Neoliberalismus fur andere Klassen sind oft beschrieben wor-den. Sie werden hier nur zur kurz erwähnt: eine lange Phase langsamen Wachs-tums und hoher Arbeitslosigkeit, steigende Schulden der Dritten Welt undNationalstaaten, und die Entstehung einer neuen neoliberalen Ordnung mitihrer spezifischen sozialen Gewalt.

3. Die Nutzen, im direkten Sinn des Wortes, die von der Finanz in den letzenbeiden Dekaden realisiert wurden, wurden seltener nachgewiesen. Aber dieDaten sind unzweideutig: Eine bestimmte Klasse, ein Sektor der Wirtschaft,die wir als Finanz bezeichnen, hat von der Krise in erstaunlichen Ausmassenprofitiert. Angesichts der unglaublichen Annut der Dritten Welt und der allge-genwärtigen Arbeitslosigkeit, kann das steigende Vem1ögen der reichsten Frak-tion leicht dokumentiert werden. Haushalte, die Geld und Finanzpapiere hal-ten, haben von der Änderung der Politik profitiert. Der Anstieg der Realzinsenhat überall große Ressourcen zum Finanzsektor transferiert. Angezogen vonden hohen Profitraten, wurde große Kapitalmengen im Finanzsektor investiert.

4. Die Analyse der gegenwärtigen finanziellen Fragilität ist schwierig. Aber es istzumindest einfach zu zeigen, dass sie der Natur der Finanz selbst entspringt undaus der Autonomie die sie gegenüber realen Aktivitäten und Staatsinterventio-nen gewonnen hat.

In der Analyse dieser historischen Entwicklungen werden wir uns größtenteils aufdas Beispiel der USA und einiger anderer Länder beziehen (Europa, die DritteWelt und Frankreich).2

Die Macht der Finanz: Veränderungen der Produktionsverhältnisseund Klassenherrschaft

Die moderne Finanz entwickelte sich im späten 19. Jahrhundert. Davor war eingroßer Teil der Aktivitäten des Finanzsektors Init der Finanzienmg von Staatsaus-gaben verbunden. Eine wichtige Transfonnation fand zurjahrhundertwende statt,als neue, mit der Wirtschaft eng verbundene Finanzstrukturen entstanden.

Diese Transformation fand während der stmkturellen Krise des späten 19. Jahr-hunderts statt. Diese Periode der Instabilität und Krise folgte einer Phase des tech-nologischen Wandels ;i la Marx, in der ein Fortschritt in der Arbeitsproduktivi6tnur durch Investitionen großer Mengen fixes Kapitals erreicht wurde (eine Peri-ode der steigenden technischen und organischen Zusammensetzung des Kapitals),

Kurswech.l"eI 212001

Page 3: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

K'lrSWech"d 212001

76 Gerard Dumenil, Dominique U:vy

verbunden mit einem Abwärtstrend der Profitrate. Unter diesen Umständen ent-stand eine Krise der Konkurrenz, in der Fimlen versuchten durch verschiedeneAbkommen Schutz vor der allgemein geringen Profitabilität zu erlangen. Dieswar das Zeitalter der Kartelle und Trusts.

Zwei legale Innovationen hatten wichtige Konsequenzen ftir die Wirtschaft.Auf der einen Seite etablierte der Sherman Act (1890) die erste bundesweite Kar-tellgesetzgebung. Auf der anderen Seite wurde ein neuer juridischer Rahmen ent-wickelt, der die Bildung von Aktiengesellschaften und Holdings forderte. Das Gesetzverbot Vereinbarungen von unabhängigen Finnen zur Aufteilung von Märkten,aber erlaubte Zusammenschlüsse. Eine große Welle von Fusionen folgte daherder Krise der 1890er und etablierte damit die neue Struktur von kapitalistischenInstitutionen zur ]ahrhundertwende.Zwei Begriffe sind zum Verständnis dieser Transformationen wichtig:1. Der Ausdruck »corporate revolution« bezieht sich auf die Bildung von großen,

von der Finanz gestützten und kontrollierten Unternehmungen. Die Finanzhatte eine zentrale Stellung in dieser neuen Ökonomie, da sie die Kreditme-chanismen und damit die Geldschöpfung kontrollierte. Die Entwieklung vonneuen monetären und finanziellen Mechanismen in den ersten Jahrzehnten des20. Jahrhunderts war spektakulär.

2. Der Ausdruck »managerial revolution« beschreibt die Transfonnation der Fir-men, die nun von Manager und höheren Angestellten geleitet wurden. Diesesneue Management war eng verbunden mit der tayloristischen und fordistischenOrganisation der Arbeitsprozesse, aber bestimmte alle Aspekte der Untern eh-mensaktivit;iten (neben Produktion auch Verkauf, Lagerhaltung, Liquiditäts-und Personalpolitik). Die Distanz zwischen Arbeitern und ihren Produktions-mittel weitete sich, ihre Aufgaben wurden von anderen lohnabhängigen Ange-stellten bestimmt.

Dieser Transfers von Aufgaben zu Angestellten war ein Problemfeld für die Ei-gentümer. Wieviel Autonomie zur Verfolgung eigener Interessen würden dieManager erhalten? Wie würde Profitmaximierung als Ziel des Managements imEinklang mit den Eigentümerinteressen aufrechterhaltbar sein? Auch ohne Marxi-sten zu sein realisierten die Beobachter der Zeit (Veblen 1921) die Bedeutungdieser Transformation der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, da das Eigen-tum an Produktionsmitteln selbst betroffen war und die neue Klasse der Managerein Bedrohung fiir die Kapitaleigentümer darstellte.

Trotz dieser Spannungen waren die ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts durchdie Dominanz der privaten Finanz gekennzeichnet. Diese behielt die Kontrolleihrer eigenen Institutionen, speziell was die Geldschöpfung und Preisstabilität (ge-messen an der Kaufkraft von Geld versus Gold) und dem Funktionieren des Fi-nanzsystems selbst betrifft. Wiederkehrende Krisen, die sich in der Suspendierungvon Zahlungen seitens der Banken und dramatischen Bankrotten äußerten, fiihr-ten 1913 nach langen Kontroversen zur Gründung der Zentralbank (Federal Re-serve). Aber die Finanz vennochte Einfluß auf diese Institution behalten und da-mit ihre Hegemonie fortzusetzen.

Schließlich war es die Große Depression, die diese soziale Ordnung ins Wankenbrachte und zu einer neuen Phase mit einer starken Rolle des Staats führte. DieFinanz zeigte sich unfahig die Katastrophe zu verhindern. Die Situation der US

Page 4: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

Kosten und Nutzen des Neoliberalisrnus 77

Wirtschaft 1933 ist hinreichend bekannt. Banken wurden gescWossen und nur diesolventen Institute wurden wieder geöffnet. Das Finanzsystem wurde einer Regu-lierung unterworfen. Damit war das Tor fur einen neuen sozialen Kompromißoffen, der während des Zweiten Weltkrieges etabliert wurde und nach Keynesbenannt ist. Der Keynesianische Kompromiß ist zentral in Bezug auf den Untersu-chungsgegenstand dieses Artikels, der Macht der Finanz. Keynes zentrale Ideebetraf die Machbalance zwischen privater Initiative und staatlicher Intervention:1. Der Staat sollte sich nicht in das Verhältnis von Management und Finanz ein-

mischen, aufkeinen Fall sollte er die Machtrolle der Finanz übernehmen. Key-nes war bereit durch sinkende Zinsen schrittweise die Rentiers zu eliminieren,wollte aber die private Initiative und Unternehmensfuhrung erhalten soweitdie Pinnen betroffen waren.

2. Im Gegensatz dazu sollte die makroökonomische Kontrolle über die Nutzungvon Ressourcen nicht den privaten Interessen überlassen werden. Nach Key-nes existiert in einer dezentralen privaten Wirtschaft kein Mechanismus derVollbeschäftigung garantiert und Konjunkturzyklen dämpft. Dies war die Rol-le des Staates. Daher mußte die Autonomie der Finanz in Bezug auf die Kredit-mechanismen beschränkt werden, zumindest was das Gesamtkreditvolumenbetraf, und Finanzoperationen wurden sowoW national als auch internationalreguliert.

Dies ist sicherlich der bemerkenswerteste Aspekt von Keynes Analyse: die Fähig-keit öffentliche Interventionen in der Makroökonomie von der privaten Initiativeauf mikroökonomischer Ebene der Fimlen analytisch zu trennen.

Der Keynesianismus stellte damit einen Übergriff auf die Vorrechte der Finanzdar. Die Schaffung der Zentralbank hatte sich bereits als schwierig erwiesen. Diemakroökonomische Verantwortung des Staates wurde nur möglich durch dieAbfolge von Großer Depression und Zweitem Weltkrieg, vor dem Hintergrundeiner wachsenden Arbeiterbewegung (und der Revolution in Rußland).

Diese Rücknahme der makroökonomischen Kontrolle der Finanz hatte be-deutende Konsequenzen. Die Makrokontrolle der monetären und Finanzmecha-nismen implizierte die Möglichkeit des Tolerierens von Inflation und niedrigenRealzinsen und beschränkte damit den Transfer von Einkommen von Schuldnernzu Gläubigem. Vollbeschäftigung stellte ein neues wirtschaftpolitisches Ziel dar,das der traditionellen Funktionsweise des Kapitalismus frernd war, da es die prak-tische Anerkennung eines Rechts auf Arbeit bedeutete. Diese KeynesianischenElemente wurden kombiniert mit Fortschritten in der sozialen Absicherung, demWohlfahrtsstaat). Die Lebensbedingungen der Arbeiter verbesserten sich.

Aber man darf den antagonistischen Charakter des Kapitalismus und die Be-deutung des Klassenkampfes nicht unterschätzen. Die höheren Fraktionen der Fi-nanz kämpften beständig um die Wiederherstellung ihrer Vormachstellung, spezi-ell was internationale Aktivitäten anging. In den 1960ern entwickelte sich unterUmgehung nationaler Regulation und Kontrolle eine neue internationale Finanz,die Welt der Euromärkte.

Es ist ebenfalls weithin bekannt, daß die strukturelle Krise in den 1970ern dieBedingungen flir die Wiedergeltendmachung der Hegemonieansprüche der Fi-nanz schuf. Verursacht wurde diese Krise durch einen sinkenden Trend in derProfitrate, ähnlich der Krise des 19. Jahrhunderts. Zahlreiche Studien dokumen-

Kur.<7J)cchsel 212001

Page 5: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

Kur:.w<chsel 21200 1

78 Gerard Dumenil, Dominique Levy

tierten den Aufstieg der Finanz als vorsätzliche und wohlvorbereitete Schritte(Useem 1984). Das zentrale Ereignis war der Wechsel in der Geldpolitik 1979,seit dem Preisstabilität das beinahe einzige Ziel der Geldpolitik ist. Dies war kom-biniert mit weiteren Schritten im Interesse der Finanz: eine direkte Konfrontationmit der Arbeiterbewegung und den Gewerkschaften, systematische Attacken ge-gen die soziale Absicherung, Deregulierung, Freiheit ftir die Aktionen der Finanz(speziell betreffend internationale Kapitalmobilität und Unternehmenszusaml11en~schlüsse), eine corporate governance, die das Management zur Entlohnung derEigentümer anhält usw. Kurz, der Kapitalismus trat in eine neue Phase, die desN eoliberalismus.

Die politischen und sozialen Implikationen des Neoliberalismus werden nochoffensichtlicher, wenn sie quantitative erflßt werden. Das ist die Aufgabe der fol-genden beiden Abschnitte. Wer trug die Kosten des Neoliberalismus? Wird lu-krierte die Gewinne?

Die Gewalt der ZahlenDie Verantwortung der Finanz ftir die anhaltende Arbeitslosigkeit in Europa undanderen Ländern ist groß, allerdings kann nicht die ganze Krise der Finanz angela-stet werden. Die strukturelle Krise begann deutlich vor der wirtschaftspolitischenWende 1979 und dem Anstieg der Realzinsen. Die günstigen Eigenschaften destechnischen Fortschritts, die eine der Hauptfuktoren des Aufschwungs der kapita-listischen Länder in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren, ver-schwanden, je nach Land, in den 1960er und 70er Jahren. Der Abwärtstrend derProfitrate war damit etabliert und fiihrte zu niedriger Profitabilität.

Graphik 1: Uni ted Statt's (-) ami the averagt' ofthree Europt'an countries, Germany,France an the Uni ted Kingdom ( ---- ); Profit rate, %

24

22

20

18

16

14

12

10

81965

- :1960~1999.....:1960~19981975 1985 1995

Graphik 1 zeigt ein Maß für die Profitrate für die USA und dem Durchschnitt vondrei europäischen Ländern: Deutschland, Frankreich und das Vereinigte König-reich (vor Steuern und Zinszahlungen). Die Ähnlichkeit zwischen den beidenBewegungen ist augenfallig. Zunächst ist eine stetige Abnahme zu beobachtenmit dem Tiefpunkt in den Jahren 1981 oder 1982. Wie wir in früheren Studien

Page 6: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

Kosten lind N litzen des N eoliberalislllus 79

gezeigt haben und auch von anderen Analyse bestätigt wurde, ist dieses Profilzentral Hir die Erklärung der strukturellen Krise der 1970er Jahre. Es ist immerschwierig die exakten Konturen einer strukturellen Krise wie jener des späten 19.und 20. Jahrhunderts darzulegen. Der Begriffbezieht sich auf die längerdauerndenunvorteilhaften Perioden des Übergangs zwischen zwei sukzessiven Phasen desKapitalismus und weist spezifische Facetten auf:1. Die Krise manifestierte sich in der Verlangsamung des technischen Wandels

und erhöhter makroökonomischer Instabilität in den 70ern, aber seitdem wa-ren langsamere Akkumulation und geringere Investitionen die Hauptfaktorenftir die Welle strukturellen Arbeitslosigkeit.

Graphik 2: France, nonfinancial corporations: Profit rates prior to the payment of realinterest ( - ) and after ( --- ), %

87654

3

2

0-1

1965 1975

/ ..\. ,.' ,:\/ t .... , ," ....

, .) r I "

'. . 1/',I '.

", ,, ,..

1960-19991985 1995

Graphik 3: US, nonfinancial corporations: Profit rates prior to the payment of realinterest (-) and after ( --- ), %

11

10

9

8

7

6

5

4

31965 1975

1960-19991985 1995

Kurswah.,et 2/2001

Page 7: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

Kursweehsel212001

80 Gerard Dumenil, Dominique Uvy

2. Ein neuer Aufwärtstrend der Profitraten ist nach 1982 zu beobachten. DasWachstum der Arbeitsproduktivität ist immer noch langsam, und die Wachs-tumsrate der Arbeitskosten bleibt gering. Das allgemeine Niveau der Aktivitätist eher stabil (der Konjunkturzyklus ist nicht stark ausgeprägt), aber die Wachs-tumsraten des Outputs bleiben vergleichsweise gering in Europa, während siesich in den USA auf ein Niveau wie in den ersten Jahrzehnten nach dem ZweitenW cltkrieg erholt haben. Die Arbeitslosigkeit in Europa ist immer noch hoch.

Ein anderes Maß ftir die Profitrate ist in Graphik 2 ftir Frankreich und Graphik 3ftir die USA dargestellt (für nicht-finanzielle Unternehmungen). Diese Graphikengeben ein Maß der Profitrate, das näher der Praxis der Fimlen ist als jenes inGraphik 1: (1) Eine engere Definition von Profit wird benutzt; (2) Das Kapital istgleich dem Nettowert der Firmen (oder shareholder value, d.h. Aktienwert minusSchulden). Folgendes ist dabei beachtenswert:1. In der ersten (durchgehenden) Reihe, werde die Profite nach Steuer gemessen.

Daher sind die Profitraten niedriger als in Graphik 1. Trotz der Unterschiedein den Definition und der Betrachtung von Frankreich statt den drei europäi-schen Ländem, bestätigen die Kurven eine gewisse Erholung der Profitrate,namentlich in Frankreich.

2. Die zweite (gepunktete) Reihe dokumentiert den Effekt der Zinszahlungen,genaugenommen der realen Zinsen, d.h. Zinsen nach Korrektur Hir Entwer-tung der Schuld durch Inflation.3 Vor 1982 waren die bei den Maße nahe bei-einander, trotz der hohen Verschuldung der Unternehmen. Die Inflation kom-pensierte de facto ftir die Zinszahlungen, mit einem realen Zinssatz von nahenull. Die Entwertung der Schulden durch Inflation glich die Zinszahlungenaus. Die Kosten der Verschuldung wurden in den folgenden Jahren größer undreduzierten die Profitrate beträchtlich. In Frankreich machte das Gewicht derZinssätze die Erholung der Profitrate sogar zunichte. In den USA blieb dieProfitrate nach realen Zinszahlungen seit den frühen 80er auch deutlich unterjener vor Zinsen.

Daher ist das erste Ergebnis dieser Untersuchung, daß der plötzliche Anstieg derZinssätze die F:ffekte der Krise verlängerte indem er die Gewinne der Erholung derProfitabilität der Firmen zu den Ghubigern transferierte. Diese zeitliche Verlän-gerung der niedrigen Profitraten erklärt das schwache Investitionsverhalten derFim1en, die niedrigen Wachstumsraten und, in der Folge, die Schwierigkeit diegroße Masse von Arbeitslosen, namentlich in Europa, zu reabsorbieren.

Wie unter diesen Umständen zu erwarten, versuchten die Finnen die Schul-denlast zu verringern, aber dieser Prozeß gestaltete sich schwierig aufgrund derPreisstabilität und der geringen Profite. Diese Beobachtung deutet auf das zweitewichtige Ergebnis, hinsichtlich des komparativen Impakts dieses Transfers vonProfiten zur Finanz in verschieden Ländern in den letzten Jahren. Es ist bereitsoffensichtlich aus Graphiken 2 und 3, daß dieser Transfers wegen der höherenVerschuldung der Untemehmen in Frankreich größer war als in den USA. Län-der in denen Schulden eine wichtige Komponente in der Finanzierung von Fir-men sind, wie Frankreich und Japan, haben stärker gelitten als jene wo dies nichtder Fall ist, wie den USA. Für Frankreich wurde bereits mehrfach darauf hinge-wiesen, daß der Versuch die Schulden abzubauen ein wichtiger Faktor zur Erklä-rung der schlechten Investitionsperformanz ist.

Page 8: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

Kostcn und Nutzen des Nco1iberalisl1lus 81

Nicht nur Firmen, sondern alle verschuldeten Akteure wurden durch die Poli-tik von 1979 getroffen. Dies trim speziell auf den Staat zu. In den meisten großenkapitalistischen Ländern nahm die öffentliche Schuld in den Jahrzehnten nachdem Zweiten Weltkrieg tendenziell ab. Ein beträchtlicher Teil der Schuld warjedoch durch kurzfristige Papiere finanziert. Als die Zinssätze in den frühen 80ernstiegen, wurden diese Schuldscheine zu höheren Zinsen vergeben. Die Zinsenstiegen und die Schulden wuchsen schnell. Es ist bemerkenswert, daß in den mei-sten Lindern kein Defizit des öffentlichen Sektors vor Zinszahlungen zu beobach-ten ist. Dies war der Fall in Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreichund, in abgeschwächter Fornl, in den USA, nicht aber in Italien.

Können wir, ausgehend von der Beobachtung, daß von den Zinszahlungenabgesehen, die Staatshaushalte ausgeglichen gewesen wären, folgern, daß die Haus-halts defizite von den Zinsen lJcrursacht wurden? Diese Diskussion ist hoch politischund die Apologeten des Neoliberalismus entwickelten die entgegengesetzte Ar-gumentationslinie, wonach die Defizite selbst erst die hohen Zinsen verursachth;itten (und daher die Arbeitslosigkeit den Defiziten angelastet werden kann)!Unseres Erachtens ist diese Argumentation völlig irrefiihrend. Unsere Interpreta-tion ist, daß die Finanz in einer Periode niedriger Profitraten den alternativenKanal zur Aneignung von Mehrwert (neben den traditionelle Profitkanal) drama-tisch ausgeweitet hat, nämlich den durch Steuern und Zinszahlungen, und da-durch die Defizite verursacht hat.

Die Schuldenlast war auch manifest fiir Haushalte, genauer, fiir gewisse Haus-halte. Die Situation ist aus mehreren Gründen schwierig zu beurteilen. Haushaltesind ein heterogene Gruppe. Eine Fraktion, speziell die Reichsten verleihen, wäh-reml andere sich verschulden. Diese zweite Gruppe ist jedoch in sich selbst wie-denull heterogen. (Zum Beispiel ist ein großer Unterschied zwischen einem Ma-nager, dessen Position sicher ist, der borgt um ein neu es Haus zu kauf(~n undeinem arbeitslosen Arbeiter, der sich kurzfristig verschulden muß um über dieRunden zu kommen.) Ein scharfer Anstieg der Verschuldung der Haushalte ergabsich in den USA. Nach einer langen Periode der Fluktuation um rund 65'){, seitden frühen 60er, stieg die Schuldenquote der Haushalte auf 100% ihres verfLigba-ren Einkornmens 1998 (und im Gegensatz zu Frankreich läßt sich kein Rückgangin den letzten Jahren feststellen). Diese Situation scheint im Kontext des gegen-wärtigen Aufschwungs zu keinen direkten Problemen zu fiihren, aber im Falleeiner Rezession könnte sie zu einer ernsten Bedrohung der finanziellen Stabili6twerden.

Km,rwechsd 212001

Page 9: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

82 Gerard Dumenil, Dominique Levy

Graphik 4: Devcloping countries: Ratio ofthe total dcpt service (interest and principal) to theexports, %

25

1985

20

15

10

5

1971-19961995

0+----,.-------,.----..,...---........----..--------,,--1975

Einer der stärksten nachteiligen Effekte des Wechsels in der Geldpolitik der USAwar die Schuldenkrise der Dritten Welt Staaten. Die reale Zinssatz (d.h. Zinsenminus der US Inflation), der von diesen Lindern gezaWt wurde, war negativ inden 70ern, was zu einem rasanten Wachstum der Schulden ftihrte. Dann kannman einen scharfen Anstieg des realen Zinssatzes in den frühen 80em beobachten.Diese steigende Schuldenlast wird in Graphik 4 gezeigt. Hier ist der Schulden-dienst (Zinsen- und Rückzahlungen), der dieser Länder im Verhältnis zu ihrenExporten abgebildet. Von 1971 bis 1977 fluktuierte die Rate um ca. 8%. DieSituation verschlechterte sich in den späten 70ern als die Länder zunehmend kurz-fristige Kredite aufilahmen. Der plötzliche Anstieg der Zinsen fiihrte zum Desa-ster. Innerhalb weniger Jahre stieg Schuldendienstquote auf20% um sich dann beica. 17% zu stabilisieren. Diese Bewegungen sind auch in den BIPs der entspre-chenden Länder reflektiert. Während der ersten Periode der negativen ReaIzin-sen, wuchs der Output (gemessen in US Dollars) rasch. Dann verwandelte sichdieses Wachstum in eine dramatischen Rückgang. Zwischen 1979 und 1985 istein Fall von 33% zu beobachten.4 1996 waren noch nicht einmal die Werte von1979 erreicht!

Diese Beobachtungen sind so eindeutig, daß sich weitere Kommentare fasterübrigen. Eine Strategie der Entwicklung basierend auf Verschuldung - derenRelevanz diskutiert werden sollte - wurde plötzlich in eine Katastrophe transfor-miert, durch die Entscheidung getroffen von einer kleinen Fraktion der herr-schenden Klasse innerhalb der ftihrenden kapitalistischen Ländern, in völliger Igno-ranz gegenüber dem Leid, das sie der Dritten Welt aufzwang (als auch gegenüberder steigenden Arbeitslosigkeit in allen Ländern).

Wer profitiert?Die Behauptung, daß die herrschende Klasse Nutzen aus einer Situation der struk-turellen Krise ziehen kann, wird von vielen als unplausibel abgetan werden, auchvon vielen, die den! Kapitalismus kritischen gegenüberstehen. Schadet die Krisenicht allen? Solch eine Ansicht unterschätzt den antagonistischen Charakter des

Kursweehsel2l2001

Page 10: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

1\3Kosten und Nutzen des Neoliberalismus

Kapitalismus radikal. Über den fundamentalen Begriff der Ausbeutung, der An-eignung von Mehrwert, hinaus, bieten die Krise, die in den 70ern begann, undder Aufstieg des Neoliberalismus, eine bemerkenswerte Illustration der dem Kapi-talismus unterliegenden Klassengegensätze.

Das Beispiel der Inflation, beschrieben im letzten Abschnitt, ist aufschlußreichhinsichtlich der fundamentalen Spannungen betreffend Macht und Einkommen,sowie ihrer Klassenbasis. Als die Profitrate in den 7üern sank, resultierte ein be-trächtlicher Transfer von Einkommen von Gläubigern zu Schuldnern aus der Be-schleunigung der Inflation. Vorn Standpunkt der Firnlen korrigierte sie die Effek~te der fallenden Profitrate (indern sie fur die Zinszahlungen kompensierte).

Diese Situation kann besser aus der historischen Perspektive verstanden wer-den. Die Macht der Finanz war im Gefolge der Großen Depression verringertworden. Die Beschleunigung der Inflation und der Fall der Realzinsen verstärktedie frühere Verminderung der Bedeutung der Finanzmärkte, strengere Regulie-rung, größerer Entscheidungsspielraum des Managements in großen Unterneh-mungen, oder die relative Autonomie von Regierungsbeamten hinsichtlich derengen Interessen der Finanz. Die Finanz kehrte diese Tendenzen zu ihrem eige-nen Vorteil um und gewann in zwei Hinsichten:1. Sie definierte, oder genauer reetablierte Regeln, die ihre Vorherrschaft garan~

tierten. Dies repräsentiert den ersten Aspekt des Neoliberalismus, die Etablie~rung einer neuen sozialen Ordnung. In allen Ländern entwickelte die Finanzneue Strategien mit dem Ziel jene sozialen Kräfte zu kontrollieren, die ihrenFortschritt behindern könnten. Langandauernde Arbeitslosigkeit war eine not-wendige Bedingung zur Kontrolle der Arbeitskosten. Haushaltsdefizite wurdenverwendet, um die Dynamik der Sozialausgaben zu brechen. Die Schuldenkri-se erlaubte die Auferlegung des neoliberalen Modells auf die Dritte Welt. Undwir abstrahieren hier vom politischen Aspekt dieser Bewegung.

Graphik 5: US (-) and France ( --- ): ratio of the gains or losses ofhouseholds over theiroutstanding monetary and financial assets, to their disposable üKome, %

45

40353025

2015

105

o-5-10-15+--.....--,....--.....----r--..----.-----.--T-""-~-__.,..__

..........~~~~\~I;·~·..~~/

'.' - :1950-1998.-...:1970-1997

1955 1965 1975 1985 1995

Kurswechsel 2/200 I

Page 11: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

Kurswcch.l"eI 2/2 00 I

84 Gerard Dumenil, Dominique Lcvy

2. Die Finanz attrahierte große Mengen von Einkommen in einer Zeit großerVerteilungskonflikte. Sie benutzte gleichzeitig die traditionellen Kanäle des Ein-kommenstransfer von der Produktion und den Kanal der Besteuerung und derZinszahlungen (durch das Halten von Staatsschuldscheinen). Was wir hier mei-nen ist scWicht: die Finanz vergrößerte ihr Einkommen in den 80er Jahrenenonn, sogar verglichen mit der Situation bevor der Krise. Ein paar Graphenwerden diesen Punkt ausreichend illustrieren.

Im folgenden dokumentieren wir drei Aspekte dieser Entwicklung: (1) das Ein-kommen der Haushalte, (2) die Profitrate von Finanzinstitutionen, (3) die relativeGröße von Finanz- und nicht-finanziellen Unternehmungen.1. Zuerst bilden wir einen Index der Effekte der neoliberalen Politik auf die Fi-

nanzeinkommen der Haushalte. Ein Teil der Haushalte hält beträchtliche Fi-nanzanlagen und bezieht Einkommen daraus (Zinsen Dividenden und Kapital-gewinne).5 Der Wert dieser Anlagen muß inflationsbereinigt werden. Graphik5 stellt die Entwicklung des Verhältnisses von Finanzeinkommen zu verfugba-rem Einkommen dar. Wir werden die Unterschiede in den Niveaus der einzel-nen Länder nicht weiter diskutieren, die die größere Bedeutung von Aktien(gemessen zu Marktpreisen) im Haushaltvermögen in den USA reflektieren.Wichtig fiir unsere Untersuchung ist die Entwicklung über die Zeit. Bis 1983werden in Frankreich Verluste beobachtet und die Variable blieb in den USAgering. Dies rührt hauptsächlich von der Entwertung dieser Anlagefonnen durchdie Inflation, in einer Periode Aktienkurse langsamer als die Inflation wuchsen,her. Der Effekt des Wechsels in der Wirtschaftspolitik und der Kampf gegendie Inflation sind seit Mitte der 80er Jahre dramatisch sichtbar. In beiden Län-dem steigen die Werte stark. Die Schlußfolgerung ist daher eindeutig: In den80erjahren wurde es, J!anz im Gegensatz zufrüheren Perioden, sehrpY<!!itabelFinanz-anlagen zu halten.

Graphik 6: France: Profit rate or Tlonfinancial ( - ) and financial corporations sector ( --- ), '%

7

6

5

4

3

2

0

-11965

~ :1970-1999 -----:1970-1997

1975 1985 1995

Page 12: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

Kosten und Nutzen des Neoliberalismus 85

Graphik 7: US: Profit rate of nonfinan(:ial (-) and finan(:ialwrporations ( ). %

14

12

8

. ,'. ., .':

10

6

4

2

1965 1915 1985

2. Diese günstige Entwicklung des Finanzsektors manifestiert sich auch im Trendder Protltraten von Finanzinstitutionen. Graphiken 6 und 7 vergleichen dieProtltraten von Finanz- und Nicht-Finanzunternehmen fur Frankreich und dieUSA. Die selbe Detlnition der Protltrate wie in Graphiken 2 und 3 wurdeverwendet. In beiden Ländern, war die Protltrate von Finanzunternehmen inden 70em gering und abnehmend. Dann ist ein Aufwärtstrend zu beobachten.Das Ausmaß und die Geschwindigkeit dieses Aufschwungs ist bemerkenswertfiir Frankreich. In den USA entwickelte sich eine starke Homogenität inner-halb der Finanzinstitutionen. Die ROerwaren auch die Zeit der Sparkassenkrise(banking and thrift crises), in der der Anstieg der Zinssätze eine entscheidendeRolle spielte (FDIC 1997). Diese Entwicklungen verdeckten den Anstieg derProfitabilität des Finanzsektor ftir einige Jahre. Schließlich wurden auch in denUSA die Effekte der Geldpolitik sichtbar und ermöglichten dem Finanzsektorhohe Protltraten.

3. Jeder Ökonom, der mit Klassischer oder Marxscher Theorie vertraut ist, unddie Graphiken 6 und 7 betracht wird erwarten, daß die Veränderung der kom-parativen Profitraten zu einer Migration von Kapital hin zum profitableren Sektorauslösen wÜrde.6 Wie zu erwarten war. stürzte sich das Kapital auf Finanzun-ternehrnen als deren Profitraten anstiegen.

Kurswecbsel2/200 I

Page 13: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

Kurswechsel 2/2001

86 Gerard Dumenil, [)ominique Levy

Graphik 8: France: Ratio of the net worth of financial wrporations to that of nonfinancialcorporations

60

50

40

30

20

10

01965 1975 1985

1970-19971995

Graphik 8 zeigt den Nettowert der Finanzunternehmen im Verhältnis zu dennicht-finanziellen Unternehmen ftir Frankreich. Vor dem wechsel der Geldpoli-tik, fluktuierte dieser Wert um 20%. Nach dcm Wechsel stieg er bis auf 59% imJahre 1993. Es ist allerdings zu beachten, daß Anlagefonds (mutual funds) im Fi-nanzsektor inkludiert sind. Ein Teil des Anstiegs in Graphik 8 ist daher auf dieEntwicklung dieser Fonds zuriickzuftihren.

Diese Trends sind ein Ausdruck dessen, was »Finanzialisierung« (financializati-on) genannt wurde. Unser Argument ist nicht, daß das Finanzkapital die intrinsi-sche Fähigkeit zur Wertkreation gewonnen hat, sondern daß der Anstieg der Zin-sen die Allokation von Kapital zugunsten von Finanzinvestitionen verzerrt hat.War diese Bewegung negative fur physische Investitionen? Diese schwierige Fra-ge, liegt jenseits der Grenzen der vorliegenden Studie, da sie sich auf die allgemei-ne Dynamik der Akkumulation im Kapitalismus und komplexen makroökonomi-schen Mechanismen bezieht (siehe Dumcnil und Levy 2000).

Die Stärke der Finanz und finanzielle InstabilitätDer Neoliberalismus ist Ausdruck der neuen Hegemonie der Finanz. Es ist dahernicht überraschend, daß die Finanz viele wichtige Aspekte des gegenwärtigenKapitalismus gefomlt hat. Diese Strukturen sind in historischer Perspektive zuverstehen, angefangen mit der Transformation der Produktionsverhältnisse im frii-hen 20. Jahrhundert, die im ersten Abschnitt zusammengefaßt sind.

Ein zentraler Aspekt des Kapitalismus im 20. Jahrhundert ist die wachsendeKluft zwischen Besitz an Produktionsmittel und der Kontrolle derselben. Die Tren-nung von Besitz und Management ermöglichte diese Entwicklung, da Unterneh-mungen eine tagtägliche Aufillerksamkeit benötigen, welche nun von angestell-ten Managern geleistet wird. Auf Basis dieser Trennung wurde ein ganzes Set vonInstitutionen eingefuhrt, namentlich Märkte ftir Sicherheiten und Währungen,um diese Autonomie möglich zu machen.

Vom Standpunkt der Finanz sollten die Investitionen von Mitteln reversibelbleiben. Nachdem sie in einem bestimmten Feld investiert wurden, sollten die

Page 14: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

87Kosten und Nutzen des Neoliberalismus

Mittel immer schnell und zu geringen Kosten wieder abgezogen werden können.Es gibt zwei Aspekte dieser freien Bewegung des Kapitals: (1) das Recht ein ge-wisses Feld zu betreten und zu verlassen, (2) die nachfolgende Möglichkeit voneinem Feld zum nächsten zu wechseln. Historisch war die Finanz immer bemühtdie ftir diese Mobilität notwendigen Institutionen zu errichten. Die Börse ist dasauffilligste Element dabei, aber alle Geld- und Finanzmärkte sind Teil davon.Jedem Besitzer von Sicherheiten oder Währung muß es jederzeit möglich sein,diese zu verkaufen oder zu kaufen. Der Neoliberalismus trieb diese Mechanismendurch die Eliminierung regulatorischer Auflagen auf die Spitze.

Es gibt einen offensichtlichen Widerspruch zwischen den notwendigerweisedauerhaften Investitionen in die Produktion, mit spezifischen Risken, und derabsoluten Bewegungsfreiheit, wie von der Finanz gefordert. Nicht-finanzielleUnternehmen sehen sich konfrontiert mit strukturellen Krisen, hervorgerufen durchunvorteilhafte Trends in Technologie oder Verteilung (Trends a Ja Marx), undwerden durch wiederkehrende Rezessionen im Konjunkturzyklus bedroht. DieFinanz versucht unter Ausnutzung ihrer eigenen Institutionen Schutz gegen dieseRisken durch die Möglichkeit des Abzugs von Kapital zu erlangen, und dabei dieFolgen dieser Bewegungen auf andere abzuwälzen. Indem sie dies versucht, kanndie Finanz Krisen verschärfen oder sogar neuen Krise hervorrufen und damitWachstum und Beschäftigung gefahrden. Wir haben oben gezeigt, wie die Finanzdie Effekte der strukturellen Krise der 70er verlängerte. Die Rolle die sie in derJapanischen Krise gespielt hat, wurde oft beschreiben. Ist es notwendig an dieBeispiele Mexikos, Südostasiens oder Rußlands zu erinnern? (vgl. Gowan 1999)

Es ist daher dies unsere letzte Anklage gegen den Neoliberalismus: Die gegen-wärtigen Transfornlationen des Kapitalismus können zu einer Krise fuhren, in dermonetäre und finanzielle Mechanismen eine zentrale Rolle spielen und damit dieinhärente Instabilität des Systems vergrößern. Wenn, wie im Titel dieses Artikelsvorgeschlagen, man die relativen Kosten und Nutzen des Neoliberalismus, beur-teilen will, dann sind die Krisen eine der größten Kostenkomponenten.

Anmerkungen

1 Siehe Dumenilund Levy 1993, 1996 und 20002 Datenquellen sind: (1) BEA (National Income and Product Accounts und Fixed Reproduci-

ble Tangible Wealth) und die Federal Reserve (Flow ofFunds Accounts) fuer die USA; (2)INSEE (Institut National de la Statistique et des Etudes Econom.ique) fiir Frankreich; (3)OECD; und (4) Weltbank. Technische Aspekte werden hier nicht behandelt, sind aber aufAnfrage von den Autoren erhältlich.

3 Der reale Zinssatz ist gleich dem nominalen minus der Inflationsrate i" = i - j. Multipliziertman beide Seiten der der Gleichung mit den Nettoschulden, D, (Schulden minus Geld-und Finanzvermögen), dann wird deutlich daß der reale Einkommenstransfer von Schuld-nem zu Gläubigern gleich der Summe der gezahlten Zinsen, iD, minus der Entwertung derSchuld durch Inflation ist: i"D=iD-jD

4 Dies reflektiert allerdings auch teilweise die starkcn Veränderung im Dollarkurs in diesenJahren:

5 Wir betrachten hier den Effekt den Besitz von Finanzanlagcn unabhängig von Schulden. Fürdie Berechnung Kapitalgewinnc wurde ein moving average verwendet um kurzfristigeSchwankungen zu eliminieren.

6 Marx (1984), Kapitel 10. In diescm Punkt folgte Marx Smith und Ricardo.

K"rJ71oech.<d 2/2001

Page 15: Kosten und Nutzen des Neoliberalismus · 2016. 3. 18. · Kosten und Nutzen des Neoliberalislllus 75 so aussagekräftig, daß nicht viel hinzugefugt werden muß). Der Artikel ist

Kurw<chsel 2/2001

88 Gerard Dumenil, Dominique Levy

Literatur

Dumenil, G, Lhy, D, 1993. The Economies of thc Profit Rate: Compctition, Crises andhistorieal TendellCies in Capitalism. Aldershot: Edward Elgar

Dumenil, G, U~vy, D, 2000. Crise et sortie de crise. Ordre et desodres neoliberaux. Paris:Presses Universitaire de France

Dumenil, G, Lhy, D, 1996. La dynamique du capita!. Un siecle d'economic americaine. Paris:Presses Universitairc de France

FDIC (Federal Deposit Insuranee Corporation) 1997. history of thc Eighties. Lessons for theFuture. Washington: FDIC

Gowan, P, 1999. The Global Gamblc. Washingon's Faustian Bid for World Dominanee. Lon-don: Vcrso

Marx, K, lR94. Capital, Volume III. New York: First Vintage BookUSeelll, M, 1984. The Inner Circle, Large Corporations and the Rise of Busincss Political

Activity in the US and UK. Oxford: Oxtord University PressVeblen, T, 1921. The Engineers and the Priee System. New 13runswick: Transaction 1300ks