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Nr. 38 Kloster Baldegg Baldegger Journal Vom Erinnern und Vergessen

Kloster Baldegg

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Page 1: Kloster Baldegg

Nr. 38

Kloster Baldegg

BaldeggerJournal

Vom Erinnern und Vergessen

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Das BaldeggerJournal – jedes Mal neu eine Quelle des Friedens, die froh und dank-bar stimmt. Ein Eindruck in die vielfältige Welt, die von der Einfalt des Sinns im Leben spricht, schlicht und einfach aus dem Ver-trauen, das Gott uns schenkt, um Ihm zu ver-trauen, und um seine staunenswerten Wege zu erkennen, sichtbar durch Menschen, die ihm treu sind. S.L.;B.

Das Weihnachts-BaldeggerJournal liegt vor mir. Staunend lese ich vom «Goldenen Stau-nen» der neun aufgeführten Schwestern: «Manchmal staune ich, dass ich unter lauter Frauen, die ich nicht ausgewählt habe, so zufrieden und sehr glücklich leben kann.» Und: «Ich staune, wie wir es immer wieder schaffen, unseren Weg weiterzugehen, trotz grosser Verschiedenheit.» Vor mehr als 50 Jahren staunte ich als Ehemalige über eine mich tief prägende Erfahrung: In Baldegg erfuhr ich, aus ärmlichen Verhältnissen kom-mend, zum ersten Mal in meinem Leben die gleiche Wertschätzung wie meine Kollegin-nen aus begüterten Familien. Diese Kost-barkeit bleibt unvergesslich und erfüllt mich auch heute noch mit Freude und Dankbar-keit. Th.A.;L.

Staunen ist für mich kein Fremdwort. Trotz meines Alters (ü 80) habe ich das Staunen nicht verlernt. Ich staune vor allem über schöne – leider aber auch über weniger schö-ne Dinge. Staunen kann ich auch über die vielen interessanten Geschichten von Ihren Mitschwestern, und staunen muss ich, dass man ein BaldeggerJournal ungelesen liegen lassen kann (lt. Leserbrief )! Ich jedenfalls

freue mich an jedem Journal und staune über die vielen Ideen, die Sie immer haben, vielen Dank dafür! R.A.;St.

Wie staunte ich doch, als ich kürzlich das BaldeggerJournal über das Staunen erhielt! Für dieses Jahr wählte ich ebenfalls das Thema «Staunen» für meine Weihnachtskarten mit einem Bildchen unseres ersten Grosskindes. Sie können sich vorstellen, mit welcher Freude ich nun Ihre Zeitung lese! U.F.;W.

«Staunenswert», was uns das BaldeggerJour-nal zum Lesen vorlegt. Besonders gefallen mir die Gedanken der Jubilarinnen: der Ruf, die Treue, das Ankommen – wunderbares Leben …! Das Thema «Staunen» ist auf jeden Fall ein Aufsteller ins neue Jahr 2020. E.G.;M.

«Das eigentliche Geheimnis, um das es an Weihnachten geht, ist das innere Leuchten, das von diesem Kinde kommt. Lassen wir uns von diesem inneren Leuchten anstecken. Papst Benedikt XVI.» Das, was hier steht, gilt für euch, sonst hättet ihr nicht über «Staunen und Fragen» schreiben können. Ich danke euch für alle guten Gedanken. M.S.;S.

Besten Dank! Mit Freude auch für das Bal-deggerJournal, das ich immer gern studiere und weitergebe. Staunen und Fragen – für mich mit 93 Jahren mehr denn früher aktu-ell! P.B.; L.

Danke für das sehr interessante Baldegger-Journal. Man kann sich da beim Lesen so viele gute und positive Gedanken machen. C.u.K.B.;W.

Ein herzliches Dankeschön für das Baldeg-gerjournal. Tatsächlich gehen einem bei der Lektüre die Augen auf. Staunenswert ist das berührende Licht, das zu Herzen geht. Mehr als ergreifend! M.A.;B.

Auch diese Nummer hat es in sich, diesmal erstaunlicherweise mit sehr faszinierenden Beiträgen, weil Staunen und erstaunt sein mich bleibend beeindrucken. Besten Dank für die wirklich fesselnden Artikel, auch spezifisch die Dialoge von Sr. Hildegard Willi, welche ich hiermit sehr gerne grüssen möchte. D.P.;W.

Mein aufrichtiger Dank, dass ich stiller Leser Ihres so beeindruckenden BaldeggerJournals sein darf. In der Haltung und auch in der Dankbarkeit dem Leben gegenüber fühle ich mich mit Ihnen verbunden. U.B.;B.

Es macht mir immer wieder grosse Freude, im BaldeggerJournal zu lesen. Vom Staunen und Fragen bin ich begeistert. Die guten Bei-träge geben mir Kraft und Mut. Y.K.;O.

Ausserordentlich beeindruckt mich immer wie-der aufs Neue das BaldeggerJournal und die letzte Nummer ganz besonders; und ich frage mich so oft, weshalb wir uns nicht mehr Zeit, auch während des Jahres, zum Staunen und Fragen nehmen. Es täte doch so gut. M.M.;H.

Das BaldeggerJournal war wiederum sehr bereichernd. Ich habe es bereits an eine Freundin aus der Primarschulzeit weitergege-ben. Eine Primarschulkollegin erhält nun Ihr Journal wegen eines Schreibens, das über die Oberwaid in St. Gallen irrtümlicherweise zu Ihnen kam. Eine wunderbare Fügung, denn auch sie ist begeistert von den vielfältigen und ansprechenden Beiträgen. U.L.;St.G.

Möchte mich herzlich bedanken für die Zusendung Ihres BaldeggerJournals. Freue mich immer auf die spannenden und gehalt-vollen Artikel. Sr.B.M.;A.

Erneut habe ich von Ihnen das Baldegger-Journal erhalten, das mich jedes Mal sehr freut! Danke vielmals. Bereits habe ich die letzte Seite von Schwester «Susi» gelesen; absolut super! Ich habe es wie sie, ich räume nur noch aus und nichts mehr ein – man braucht nur wenig, um glücklich zu sein. E.L.;D.

Forum

Impressum

BaldeggerJournal Nr. 38|2020, zweimal jährlichHerausgeberin Kloster Baldegg, CH-6283 Baldegg, T: 041 914 18 00e-Mail [email protected] Homepage www.klosterbaldegg.chRedaktionsteam Sr. Marie-Ruth Ziegler, Baldegg, Sr. Boriska Winiger, Baldegg, Sr. Nadja Bühlmann, Baldegg,

Sr. Renata Geiger, Baldegg, Sr. Beatrice Kohler, Hertenstein Grafik grafikcontainer gmbh, LuzernDruck SWS Medien AG Print, SeetalCopyright bei BaldeggerJournalLektorat Sr. Pascale Assey, Baldegg, Sr. Boriska Winiger, Baldegg Fotos Jost Amrein, Hochdorf, Seiten 6, 10, 15 Daniele Lupini, www.leistungsfotografie.ch , Seite 8 Sr. Beatrice Kohler, Umschlag, Seiten 5, 7, 14/1 Sr. Marie-Ruth Ziegler, Seiten 4, 13, 18, 19 Zur Verfügung gestellt: 14/2, 17 Postcheck-Konto Verein Kloster Baldegg, 6283 Baldegg PC 60-984-8 IBAN CH16 0900 0000 6000 0984 8 Vermerk: BaldeggerJournal

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Liebe Leserin, lieber Leser

Sommerferien am Strand? Eine Reise nach Honolulu? Street Parade in Zürich? Das war einmal. Vergiss es! So tönte es noch vor Wochen. Doch wer lebt nur von der Erinnerung an ein kühles Bier, an die Enkelkinder oder den Ostergottesdienst? Niemand will einzig von Erinnerungen leben. Zudem vergisst unser Hirn im Verlauf der Zeit einiges. Leider oft nicht das, was wir vergessen möchten.

Unser Sommerjournal geht daher dem «Glück des Vergessens und der Last der Erinnerung» nach. So bezeichnet es P. Albert Ziegler SJ und sinniert über die Zwiespältigkeit der Erinnerung und des Vergessens. Er erwähnt den berühmten Knopf im Nastuch. Heute geschieht das Erinnern digital durch die Erinnerungen-App. Das Kirchenjahr ist für Sr. Karin Zurbriggen eine solche App, die eine Botschaft für uns wachhält. Diese finden Sie auf Seite 7. Eine Religion des Erinnerns par excellence ist für Sr. Pia Widmer das Judentum. Sie verrät Sr. Renata Geiger, warum das Judentum sie fasziniert. Die Psalmen, so führt Sr. Renata Seite 13 aus, wurzeln im Judentum und helfen uns, auf dem Weg des Glaubens zu bleiben. In und durch die Erinnerung wächst die Kraft, an die Zukunft zu glauben, so schreibt sie.

Die Zukunft ist in unserer Erinnerung eingebettet. Davon sind Sr. Zita Estermann und Sr. Nadja Bühlmann überzeugt. Sie wei-sen auf die zweitausend Frauen hin, die seit 1830 tüchtig, stark und gläubig als Baldegger Schwester lebten. Wen wundert‘s, dass wir nach 190 Jahren Kloster Baldegg einander hie und da an «Ver-gessenes» erinnern müssen? Im Pflegebereich des Klosters gehört das zu den alltäglichen Herausforderungen. Lesen Sie dazu auf Seite 4. Der heilenden Kraft der Erinnerung begegnen auch junge Menschen. Sr. Beatrice Kohler hält solche Heilsgeschichten für Sie bereit. Schreibend loten die Radio-Journalistin Mirjam Breu und Sr. Hildegard Willi die Heilkraft der Erinnerung miteinander aus: Vergangenes muss ein-heilen.

Lieber Leser, liebe LeserinWenn Sie nun doch lieber Kaffee trinken als lesen, dann empfehle ich Ihnen das Klosterkafi. Dort wartet immer jemand auf Sie.

Schöne Sommertage! Ihre Baldegger Schwestern

Inhalt Editorial

Vom Erinnern und Vergessen

4Habe ich etwa Alzheimer?

Sr. Anna Eschmann, Sr. Annja Henseler und Sr. Isabel Spichtig, Baldegg

5Tüchtig, stark und gläubig

Sr. Zita Estermann, Sr. Nadja Bühlmann, Baldegg

6Eine Religion des Erinnerns

Sr. Renata Geiger, Baldegg

7Erinnerungs-App

Sr. Karin Zurbriggen, Baldegg

8Der Knopf im NastuchDr. P. Albert Ziegler SJ, Zürich

10Heilsgeschichten

Sr. Beatrice Kohler, Hertenstein

12Franziskanische Inputs

Gelobt seist du, mein HerrSr. Nadja Bühlmann, Baldegg

13Psalmen

Wenn ich dich je vergesse . . .Sr. Renata Geiger, Baldegg

14Zwei Meinungen – ein Thema

Wir sind ErinnerungVon Schreibtisch zu Schreibtisch:

Sr. Hildegard Willi und Mirjam Breu

16ZweiMinutenPredigt

Sr. Rahel Künzli

17Glauben & Beten

mit Sr. Ilga Winiger

18Übrigens

19Zwei Bilder – ein Leben

Maria mit Kind im Klosterkafi

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As

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Habe ich etwa Alzheimer?

Seit Jahrzehnten bist du im Gesundheitswesen tätig. «Erinnern und Vergessen» sind im Pflegebereich wichtig. Warum? Sr. Anna: Als ich noch in Sursee unterrichtete, fragte ich mich oft: Wie kann ich diesen jungen Menschen helfen, sich an möglichst viel Gelerntes zu erinnern und so wenig wie möglich wieder zu vergessen. Hier im Pflegeheim begegne ich eher der verängstigten Frage einer Schwester: Habe ich etwa Alzheimer? Vergess-lichkeit verbindet man ja oft mit Demenz. Mir fällt auf, dass betagte Menschen sehr stark auf Emotionen und Gefühle reagieren. Das ist auch im Kloster so. Ältere Menschen neigen stärker dazu, in Erinnerungen zu leben und diese auch immer wieder mitzuteilen, oft mehrmals in kurzen Abständen. Dies kann dann bei Angehörigen oder begleitenden Personen zu Stress und Gespanntheit führen, weil einerseits kein richtiges Gespräch aufkommen kann oder weil anderseits ein Überdruss entsteht im Sinn von «nein, nicht schon wieder …» Was geschieht denn beim Erinnern, beim Vergessen in unserem Kopf?Sr. Anna: Es ist wunderbar, dass wir uns erinnern können. Nervenzellen und deren Verknüpfungen sorgen im Gehirn für das Speichern. Erinnerungen sind gespeicherte Eindrücke und Erlebnisse, die später wieder «abgerufen» werden durch ähnliche Erlebnisse, durch Fotos oder Texte, durch Vorstellungen, Sinnes-wahrnehmungen oder Träume. Bei der Erinnerung kommen oft die gleichen Gefühle wieder hoch: Freude, Angst, Sorge, usw. Das Vergessen ist etwas, das wir nicht so gern an uns wahrnehmen. Vergessen hat seine positiven Seiten: es ist auch ein Schutzvorgang des Gehirns. Wir müssen viele Informationen und Geschehnisse, die während eines Tages auf uns eindrin-gen, wieder vergessen, sonst wären wir hoffnungslos überflutet mit Ereignissen und Informationen.Was bedeutet die konkrete Vergesslichkeit unserer betagten Schwestern für deine Arbeit?Sr. Isabel: Wiederholen, geduldig sein, nichts erwarten, nachfragen, Phantasie entwickeln. Es heisst gemeinsam nach einer Lösung suchen, und sich und ein-ander immer wieder bewusstmachen, was es für die betroffene Schwester heisst,

Ein Gespräch mit den Verantwortlichen der Pflege-abteilung in Baldegg, Sr. Anna Eschmann (Leitung Pflege), Sr. Isabel Spichtig (Teamleitung), Sr. Annja Henseler (Leitung Ausbildung)

vergesslich zu sein. Es kann für sie demütigend sein. Manch-mal gibt es auch amüsante Episoden, wenn die Schwestern vergessen, dass sie vergessen.In der Pflege benutzt man oft den Begriff «Ressource». Inwiefern ist die «Erinnerung» eine solche Ressource und wie setzt ihr sie bei der Pflege ein? Sr. Isabel: Die Biografie ist zum Beispiel eine Ressource, welche mit der Erinnerung im Zusammenhang steht. Sehr häufig können die Schwestern dort abgeholt werden. Es gibt da ganz schöne Momente, wenn eine Schwester im Gesicht strahlt, weil sie von früher erzählen kann. Ressourcen können jedoch bei allen Aktivitäten des täglichen Lebens gewonnen werden. Es kann eine Ressource sein, den Schwestern den Auftrag zu geben, für uns Pflegende zu beten. Daran erinnern sie sich immer wieder. Als Ausbildungsverantwortliche unserer Pflegeabteilung unter-stützt du die Lernenden im Verstehen der Vergesslichkeit. Was ist dir dabei wichtig? Sr. Annja: Oft bringen Lernende schon Erfahrungen mit ihren Grosseltern oder Urgrosseltern mit, die vergesslich wurden. Beim Lernen ist es ja hilfreich, nackte theoretische Inhalte zu verknüpfen mit dem, was sie erlebt haben. Ler-nende haben meist viele Aha-Erlebnisse, wenn sie «komische» Aussagen im Licht der Lebensgeschichte der Betroffenen sehen lernen, oder wenn sie erfahren, wie Menschen aufblü-hen, wenn sie bei ihnen Erinnerungen wecken, die positive und stärkende Gefühle auslösen. Dies wiederum fördert die Kreativität der Lernenden im Umgang mit Vergesslichkeit.Wie gehen Lernende mit dem Thema «Vergesslichkeit» um? Lernende möchten Gutes tun. Meist gehen junge Menschen unvoreingenommener auf ältere Menschen zu, auch auf anders Orientierte. Das Miteinander gelingt jungen Men-schen oft gut und intuitiv. Manche Lernende sind rasch entmutigt, wenn es zu Schwie-rigkeiten, wie Aggression, Ablehnung, Beschimpfungen, grosser Traurigkeit kommt. Dann brauchen sie Ermutigung, um ihre bereits vorhandenen Stärken zu nutzen und weiter zu entwickeln, um selber zu reifen starken Persönlichkeiten heranwachsen zu können. mrz

Sr. Isabel Spichtig, Sr. Annja Henseler, Sr. Anna Eschmann

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Eine tüchtige Frau, wer findet sie? Wir haben sie gefunden, und zwar bei uns im Kloster Baldegg! Während 190 Jahren haben viele der über zweitausend Baldegger Schwestern bewiesen, dass es die tüchtige Frau gibt, die in der Bibel im Buch der Sprüche (Spr 31.20f ) gesucht wird. Tüchtig, stark und gläubig sind prägende Eigenschaften der Baldegger Schwestern, die im Jahr 2020 ihr 190-Jahr-Jubiläum feiern können.

Tüchtige Frauen: 1830 begannen sie als «Arme Schwestern im Schloss in Baldegg» arme Kinder in verschiedener Hinsicht zu fördern. Sie ermöglichten erstmals Mädchen eine Schul-bildung. Es entstanden Mädchenschulen auf dem Land. So haben sie auf die Not ihrer Zeit reagiert. Unermüdlich setzten sich die Schwestern für Benachteiligte ein. Nach und nach schufen sie Ausbildungsmöglichkeiten, gründeten Schulen, Kranken- und Waisenhäuser, Armenanstalten, bauten Spitä-ler, Internate, Kurhäuser, Pflegeheime und vieles mehr auf. Während der beiden Weltkriege sorgten sie für Pflege und Transport von Kriegsverwundeten. 1921 reisten die ersten Schwestern nach Tansania. Es folgten bald weitere Einsätze auf den Seychellen, in Papua Neu Guinea, auf den Inseln Flo-res und Bali, in Äthiopien, Tschechien, Tschad und Bosnien. Sie leisteten Dienste in Pfarreien und wirkten bis 2008 im Vatikan für die Schweizergarde. An rund 260 verschiedenen Orten waren sie tätig und hinterliessen Spuren. Wir erinnern uns gerne an die Tüchtigkeit unserer Vorgänge-rinnen. Sie macht uns auch nach 190 Jahren noch stolz.

Starke Frauen: Nicht nur die Arbeit war kräfteraubend, auch die oft grosse Armut, Krankheiten, Kriege, Auseinanderset-zungen mit Verhandlungspartnern und politischen Kräften, die politischen Wirren, insbesondere im 19. Jahrhundert, die

Tüchtig, stark und gläubig Sr. Zita Estermann, Sr. Nadja Bühlmann, Baldegg

zur dreimaligen Aufhebung des Klosters und zur Vertreibung der Schwestern führ-ten. All dies hinderte die Frauen nicht, ihren Einsatz für die Armen fortzuführen. Stets versuchten sie auf die Nöte der Zeit zu agieren und zu reagieren. Wahrhaft starke Frauen.Wir vergessen die Stärke unserer Schwestern auch nach 190 Jahren nicht.

Gläubige Frauen: Starke Frauen haben eine Quelle, aus der sie ihre Kraft schöp-fen. Die Baldegger Schwestern schöpfen ihre Kraft aus der Verbundenheit mit Gott. Im täglichen Gebet, im Vertrauen auf Gottes weise Vorsehung, leben und wirken sie nach dem Vorbild des Hl. Franziskus von Assisi. Sie tun dies im Wis-sen, dass es nicht in ihrem Ermessen ist, ob der Samen, den sie ausstreuen, aufgeht oder nicht. Vertrauensvoll, verwurzelt im Glauben und aktiv im Dienste Gottes, waren und sind sie da für die Mitmenschen.Wir gehen unsern Weg weiterhin gläubig im Vertrauen auf Gottes Vorsehung.

Und heute? Es ist gut, sich zu erinnern, denn die Zukunft ist in unsere Erinne-rung eingebettet. Die Erinnerung erfüllt uns mit Dankbarkeit und Hoffnung, schenkt Zuversicht. Auch heute gibt es sie in der Kirche, in den Klöstern und in der Welt: Die tüchtige, die starke und die gläubige Frau, die sich einsetzt für Gerechtigkeit und Frieden, im privaten und öffentlichen Leben, in der Familie. Wir Baldegger Schwestern versuchen dies in unserer Gemeinschaft. Und Sie? Woran erinnern Sie sich gerne? Wo erlebten Sie sich als tüchtig und stark? Wo schöpften Sie die nötige Kraft? Lassen auch Sie sich Zuversicht schen-ken durch ihre eigene Erinnerung.

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Eine Religion des Erinnerns

Sr. Pia Widmer leitete viele Jahre unsere Klostergärtnerei in Baldegg. Sie ist fasziniert vom Judentum und besuchte immer wieder Kurse im Lehrhaus in Zürich. Sr. Renata Geiger möchte wissen warum.

Sr. Renata: Schwester Pia, wie bist du auf die Idee gekommen, ins Lehrhaus nach Zürich zu gehen?Sr. Pia: Ich durfte mit meiner Schwester dreimal nach Israel reisen, und damit habe ich begonnen, mich für Israel zu interessieren. Ich habe dann alles, was mir über das Judentum in die Finger kam, gelesen. Als ich erfuhr, dass es in Zürich ein Lehrhaus gibt, bin ich über einige Jahre für verschie-dene Kurse dorthin gegangen. Ich besuchte Kurse über Allgemeines zum Judentum, über das Gebet, über die Haggada (Anleitung für das Pessach-Mahl), über die Beziehung zwischen Judentum und Christentum. Es war sehr interessant.Sr. Renata: Wie bist du als katholische Ordensfrau dort aufgenommen worden?Sr. Pia: Zuerst haben sie etwas komisch geschaut, aber nachher hatten sie Freude darüber, dass ich mich als katholische Ordensfrau fürs Judentum interessierte. Probleme hat es keine gegeben. Sie haben mir dann aber auch viele Fragen gestellt über das Leben im Kloster.Sr. Renata: Was fasziniert dich denn besonders am Judentum?Sr. Pia: Im Judentum sind unsere Wurzeln. Je mehr ich mich mit dem Judentum befasst habe, desto mehr ist mir auch das Gemeinsame bewusst geworden. Jeden Tag beten wir die Psalmen, die auch in der jüdischen Gebetstradition einen festen Platz haben. Aber auch in den Evangelien ent-decke ich viele Gemeinsamkeiten. Jesus und die Apostel waren Juden, auch Maria war Jüdin. Und – das Judentum lebt. Ich habe Mühe, wenn jemand sagt: «Die Juden haben früher …». Sr. Renata: Was meinst du damit? Sr. Pia: Das Judentum lebt, z.B. ihre Feste, sei es Pessach oder Schawuot oder was immer, das lebt, das ist heute. Die Ereignisse, an die diese Feste erinnern, sind gegenwärtig.Sr. Renata: Elie Wiesel sagt: Ein Jude zu sein heisst sich zu erinnern. Hast du das auch gehört, erlebt oder wahrgenommen? Sr. Pia: Das erlebst du bei allem. Jedes Fest ist Erinnerung an geschichtliche Ereignisse, z. B: Befreiung aus der Sklaverei, Auszug aus Ägypten oder Bun-desschluss am Sinai. Aber das Erinnern geschieht jeden Tag. Jeden Morgen, wenn sie die Tefillin (Gebetsriemen) anlegen, beten sie das «Schema Israel» (Höre, Israel. Dtn 6,4). Darin heisst es unter anderem «Du sollst es deinen Kindern erzählen». Alles, was Jahwe in der Geschichte gewirkt hat, muss immer wieder an die nächste Generation weiter gegeben werden. Das ist ein Auftrag. Erinnern gehört zum Judentum. In fast jedem Gebet kommt das zum Ausdruck und das ist auch immer ein Grund zur Dankbarkeit. Wir sind die, die aus Ägypten herausgeführt und ins verheissene Land hinein-geführt wurden. Mit uns hat Gott seinen Bund geschlossen.Sr. Renata: Und was geschieht, wenn ich mich nicht mehr erinnern will? Sr. Pia: Dann verrätst du den jüdischen Glauben, denn die jüdische Religion ist eine Religion des Erinnerns.

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Mit der Erinnerungs-App werde ich von meinem iPhone zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Tag an ein Ereignis erinnert, das ich zuvor eingetragen habe.Anstehende Geburtstage gehen also nicht mehr vergessen, an die Einladung zu einem Essen werde ich bereits am Vortag durch eine Push-Benachrichtigung auf dem Handydisplay erinnert und für den nächsten Sitzungstermin habe ich alle not-wendigen Unterlagen bereits dabei.In der heutigen digitalen Welt werde ich also fortlaufend erinnert, um nichts zu vergessen!

So hat auch das Kirchenjahr seine festen Termine. Im Frühling, wenn die Natur erwacht, steht Ostern im Terminkalender. Wenn der Sommer zu Ende geht, erin-nern wir uns an den Reichtum der Schöpfung und halten Erntedank. Im Herbst, wenn es neblig wird und die farbigen Blätter der Bäume zur Erde fallen, begehen wir das Fest Allerheiligen. Und in der dunkelsten Zeit des Jahres feiern wir Weih-nachten.

An Weihnachten, dem ersten grossen Fest im Terminkalender des Kirchenjahres, erinnern wir uns das Versprechen Gottes: Ich bin da, auch in den Dunkelheiten des Lebens. Und diese Zusage will mir Licht sein, wenn ich in meinem Lebensalltag nicht mehr weiter weiss, weil ich die Arbeitsstelle verloren habe, weil Beziehungen schwierig werden, weil Krankheit und Unglück schwer zu ertragen sind.

Natürlich ist diese Zusage nicht nur in der Weihnachtszeit gültig. Sie gilt jeden Tag in meinem Leben. Und so gehen wir mit diesem Jesus weiter auf dem Weg des Kirchenjahres. An den Sonntagen begegnen wir in den Evangelien einem Jesus, der Menschen aufrichtet, wenn die Last des Lebens ihren Rücken gekrümmt hat. Er heilt Blinde, damit sie wieder den Durchblick bekommen. Anderen hilft er, dass sie

Sr. Karin Zurbriggen, Baldegg

Erinnerungs-App mit dem, was sie im Leben lähmt, einen neuen Umgang finden können.

Es gibt aber auch jene schwierigen Tage im Kalender des Kirchenjahres, an welchen wir an Verrat, Verleugnung, Verurteilung und Kreuzigung erinnert werden. Der Tod holt uns ein. Immer wieder, auch in meinem Leben. In solchen schwierigen Situationen zu glauben, dass Gott mit uns ist, fällt oft sehr schwer. Wir werden gezwungen, solche Situationen von Ausweglosigkeit und Trauer auszu-halten. Dann stellt sich die Frage: Wo ist jetzt «Unser Gott mit uns»?Aber auch diese Zeit im Kirchenjahr birgt die Zusage Gottes: Auch jetzt ist Gott da. Er zieht sich nicht zurück. In allen Ausweglosigkeiten ist er da. Ja, noch mehr! Das Kirchenjahr will uns daran erinnern, dass wir hier nicht stehen bleiben dürfen. Das letzte Wort hat das Leben! Ostern! Auferstehung will uns öffnen für die Erfahrungen in unserem Leben, wo wir Jesus als Lebenden erfahren und er uns fähig macht – zusammen mit den Jüngerinnen und Jüngern, die dem Auferstandenen damals begegnet sind – das Leben zu feiern.Diese Push-Benachrichtigungen, dass das Leben immer stärker sein wird als alles Todbringende auf dieser Erde, ist eine Botschaft, die immer neu gefeiert werden will, nicht nur an Ostern, sondern jede Woche an jedem Sonntag.

Das Kirchenjahr ist meine Erinnerungs-App, damit ich in allen Situationen meines Lebens nicht vergesse: ER ist DA!

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Dr. P. Albert Ziegler SJ, Zürich

Der Knopf im Nastuch

Die Gefahr drohte, etwas zu vergessen, was man nicht vergessen wollte oder nicht vergessen sollte. Man wusste sich zu helfen, um der Gefahr zu begegnen. Man machte einen Knopf ins Nastuch. Das war ein wirk-sames Erinnerungszeichen, denn man trug das Nastuch als Taschentuch immer bei sich. Da man während des Tages immer wieder in die Tasche griff, kam man mit dem Erinnerungszeichen des Knotens immer wieder in Berührung. Das war einmal. In die Papiertaschentücher von heute kann man keine Knoten knüpfen. Doch jetzt hat man ein I-Phone. Ein Knopfdruck genügt und man wird an das erinnert, was man hier und jetzt und auch morgen und übermorgen nicht vergessen sollte. So ein-fach war es früher und ist es heute. Doch sobald man über das Erinnern und Vergessen nachdenkt, wird es schwieriger. Es beginnt schon bei der Voraussetzung der Erinnerung.

Die Voraussetzung: Verinnerlichen«Ich ging im Walde / So für mich hin / Und nichts zu suchen / Das war mein Sinn.» Da geht also Goethe gedankenlos oder gedankenvoll durch den Wald. Er ist mit nichts oder mit sich selbst beschäftigt. Auf jeden Fall nimmt er seine Umwelt nicht wahr.«Im Schatten sah ich / Ein Blümchen stehn / Wie Sterne leuchtend / Wie Äuglein schön.» Ein Blümlein erregt seine Aufmerksamkeit. Er bleibt

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stehen. Merkwürdigerweise sagen wir: Er hält inne. Erwar-tend wird er seiner Umwelt wahr. Er wird des Blümleins inne. Jetzt beim Innehalten und beim Innewerden beginnt die Verinnerlichung.Das Blümlein, dessen Goethe innegeworden ist, weckt seine Gedanken und seine Gefühle. Sie beschäftigen also sein Innenleben. (Die Fortsetzung und das Ende des Gedichtes kennen Sie sicher noch von der Schulzeit her.) Das also ist die Verinnerlichung. Die wahrgenommene Aussenwelt beginnt in unserem Inneren zu leben mit Gefühlen und Gedanken. Ein Teil dieser Gefühle und Gedanken schlägt sich im Gedächtnis nieder. Sie werden zu Erinnerungen.

Die Last der ErinnerungUnser Gedächtnis ist ein grosser Speicher. Er enthält einen Schatz von guten, aber auch von bösen Erinnerungen. Die guten Erinnerungen machen unser Leben reicher, die bösen Erinnerungen werden zur Last. Wir haben das Böse, das man uns angetan hat, vergeben und verziehen. Aber wir können es nicht vergessen. Wir sind nachtragend. Dabei gilt: Wer dem anderen einen Stein nachträgt, trägt ihn sel-

ber mit sich herum. Der andere weiss vielleicht gar nichts von diesem Stein. Uns aber belastet er. Die Erinnerung wird zur drückenden Last.

Vom Glück des VergessensManchmal sollten wir etwas auf keinen Fall vergessen. Dann behelfen wir uns mit dem Knopf im Nastuch. Doch bisweilen ist es auch umgekehrt. Es wäre gut, wir könnten vergessen, was zu vergessen uns schwerfällt. Für diesen Fall steht uns kein Taschentuch als Hilfsmittel zur Verfügung. Wir müssen uns mit einer alten Redensart behelfen: «Schwamm darüber!» Damit war die Zechschuld ausgelöscht, die mit Kreide auf dem schwarzen Brett aufgeschrieben war. Doch heute steht man nicht mehr beim Wirt in der Kreide. Unsere Schulkinder haben keine Schiefertafeln mehr, und der Computer reagiert nicht auf den Schwamm. Er vergisst nichts. Es bleibt bei der Redensart: «Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.»

Zwiespältigkeit von Erinnern und VergessenDies alles zeigt: Vergessen und Erinnern sind zwiespältig. Ein gutes Gedächtnis ist ein Segen. Aber wer nicht vergessen kann, belastet sich mit vielem, was nie-mandem nützt, ihn aber belastet. Aber umgekehrt ist Vergesslichkeit ein Übel. Sie beginnt früh genug mit dem Vergessen der Namen. Man hat zu viele Erinnerun-gen im Kopf und im Herzen, aber die Namen kommen einfach nicht mehr auf die Zunge. Umgekehrt macht es einem das Leben leichter, wenn man so manches vergessen kann. Was tun, damit es nicht bei dieser Zwiespältigkeit von Vergessen und Erinnern bleibt?

Die Lösung: BleibenErinnern und Vergessen haben eins gemeinsam: Sie gehören der Zeitlichkeit unse-res Lebens an. Man erinnert sich des Vergangenen und holt es mit der Erinnerung in die Gegenwart zurück. Erinnern heisst: Vergangenes sich vergegenwärtigen. Wer sich des Vergangenen lebhaft erinnert, dem ist, als sei das längst Vergangene erst heute geschehen. Aber die meisten Erinnerungen verblassen mit der Zeit und können ganz der Vergessenheit unwiederbringbar anheimfallen. Was bleibt übrig in und von der Vergänglichkeit unseres Lebens. Angesichts dieser Frage suchen wir immer neu nach dem Bleibenden. Ein Kirchengebet aus dem Messbuch gibt Antwort. In der alten Fassung hiess es: «Gott hilf uns durch die vergänglichen Güter so hindurchzugehen, dass wir die ewigen nicht verlieren.» Das war ein nicht sonderlich weltfreudiges Gebet. Die heutige Fassung ist weltoffener. Wir beten heute: «Gott hilf uns, die vergänglichen Güter so zu gebrauchen, dass wir die ewigen nicht verlieren» (17. Sonntag im Jahreskreis). Dieses Gebet war zwar gut gemeint, aber falsch übersetzt. Jetzt heisst es richtig und besser: «Gott, hilf uns, die vergänglichen Güter so zu gebrauchen, dass wir schon jetzt an ihnen teilhaben, die bleiben.»

Zum guten Schluss: Woran sollen wir uns erinnern?Was also ist der langen Rede kurzer Sinn?Erstens gehen wir mit offenen Sinnen und wachen Herzen wie Goethe durch den Wald der Welt. Vergessen wir wie Usteri nicht das Veilchen, das auch uns am Wege blüht. Sammeln wir so Erinnerungen, die uns Freude bringen und Nutzen schenken. Geben wir in alledem Jean Paul recht: «Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.»Zweitens vergessen wir, was niemandem nützt und uns selber nur belastet.Drittens lassen wir ruhig unser Gedächtnis alt werden und manchmal unliebsam vergesslich. Das Entscheidende bleibt und das Beste wird noch bleibend kom-men. Für den aber, dem es zu langatmig vorkam oder zu langweilig wurde: ein befreiendes «Schwamm drüber!» Doch zur Vorsicht vergessen Sie nicht: Lieber einen Knoten im Nastuch als einen Knopf in der Leitung ...

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Als Geistliche Begleiterin begegnete ich in jenen Wochen in Gesprächen häufig Angst, Wut, Neid, Eifersucht, oft tief in der Erinnerung gespeichert. Ich spürte jeweils, dass darunter eine Kraft schlummert, die ins Leben drängt. Mit Fragen und Impulsen bot ich «Wegweiser» an, die ein Heilsgeschehen ermöglichen und der Hoffnung Raum schaffen können. Jemand an der Seite zu haben hilft in gesunden und kranken Tagen. In der Begleitung können darum persönliche Erinnerungen des Heiles wieder bewusstwerden. Gerade in dunklen und belasten-den Zeiten der Unsicherheit, des Loslassens und Abschiedneh-mens, auch in Entscheidungssituationen tut es gut, sich dabei auch an die biblischen Heilsgeschichten zu erinnern. Das Erste Testament ist voll von solchen Geschichten. Gott erschafft aus dem Chaos die Weltschöpfung. Abraham muss seinen Sohn nicht opfern. Das Volk Israel wird aus der Versklavung in Ägyp-ten befreit. Mose muss in der Fremde arbeiten und erfährt die Gegenwart Gottes im Dornbusch. Das Unglück Josefs wird zur Erfolgsgeschichte für seine Sippe.Unser christlicher Glaube schaut über den Rand des Vor-läufigen und Momentanen hinaus. Christliches Leben deutet Erfahrungen und Geschehnisse auf dem Hintergrund der Auf-erstehung Jesu. Die Evangelien berichten wie Jesus sich ernied-rigt, sich hingibt, nackt und wehrlos. So berührt er Kranke, wäscht Füsse, richtet auf und befreit so zum Leben. Er bückt sich, um unsere Auferstehung zu ermöglichen. Das «Reich Gottes» so zeigt er, bekommt durch die erlittene Hingabe einen konkreten Ort. Es lässt sich anfassen. Die Frauen und Männer, denen ich Wegbegleiterin bin, stehen als gläubige, zweifelnde und suchende Menschen im Leben. Viele von ihnen bereiten sich auf einen kirchlichen Beruf vor. Es ist ihnen wichtig, ihre Glaubenserfahrungen und ihre geleb-te religiöse Praxis zu reflektieren und zu vertiefen. Im Erinnern entdecken sie: mein Glaubensweg ist ein Heilsgeschehen. Ihre Erfahrungen beeindrucken:

Glaubensweg und Heilsgeschichte, das passt für mich zusam-men. Wenn ich glaube, dann vertrau ich und kann abgeben. Dies bedeutet für mich eine grosse Erleichterung. Ich muss nicht alleine tragen, ich bin getragen und fühle mich bewahrt von Grösserem und verbunden mit anderen. So hilft Glauben zur Heilung mit. (JG)

Sr. Beatrice Kohler, Hertenstein

Heilsgeschichten

Noch sitzt uns der Lockdown im Nacken. Die Sehnsucht nach Heil und Heilung ist auf der ganzen Weltkugel präsent. Ob wir das Leben jetzt neu buchstabieren lernen?

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Es braucht nicht immer grosse Worte. Manchmal genügt eine Geste, um zu erkennen. Eine priesterlicher Freund, der mich gut kannte, der stets ahnte, nein, der stets wusste, wie es in mir aussah, wann die innere Sonne schien und wann es zappenduster war, drückte mir eines Tages – viele Jahre ist es her – unversehens ein kleines Büchlein in die Hand, sagte nur: «lies», lächelte, drückte mir die Hand und ging. Es war ein Buch von Dietrich Bonhoeffer, ich weiss nicht mehr genau welches, vermutlich «Widerstand und Ergebung». Etwas konfus ging ich nach Hause, las, nein: verschlang das Buch, war berührt, war geschockt, war oft den Tränen nahe, war Rebell – und war eben um dieses Quäntchen Wissen reicher, das es braucht, um seinen Weg als Weg zum Mitmenschen, zum Du, zum Ich auch zu verstehen – und damit letztlich zu Gott. «Dankbarkeit macht das Leben erst reich», schreibt Bonhoeffer. Ich bin dankbar. Für diesen Wink. Auf meinem Glaubensweg. (TW)

Schon als Kind habe ich mich gerne zurückgezogen, so verspielt und kommunikativ ich auch war. Meine eigenen vier Wände als Rückzugsort liebte ich: mein Zimmer im Estrich des Elternhauses, die Wohnung im alten Bauernhaus nach der Ausbildung, die Mönchszelle im Kloster. Heute weiss ich, dass es die Stille ist, die ich immer schon dort fand. Eine Stille, die mich einlädt, das Schweigen zu üben. Eine Stille, die mir hilft, mich aushalten zu lernen und loszulassen. Eine Stille, die mich lehrt, mit dem Herzen zu hören. Sie wird für mich zum heiligen Boden, zum Ackerboden, der meine Sehnsucht nach dem Mehr wachsen lässt und mir Kraft gibt, hinauszugehen zu den Anvertrauten und Aufgaben, die mich aber immer wieder auch heimkehren lässt und mich liebevoll aufnimmt, um sein zu dürfen, bei mir, mit Gott, für die Menschen. (TA)

Pardonner - mais ne pas oublier …Im Leben erleiden wir Verletzungen. Wem ergeht das nicht so? Manchmal kann ich eine kränkende Bemerkung oder ein Handeln, das sich (vermeintlich) gegen mich richtet, mit einem Schulterzucken abtun, manchmal aber auch nicht. Selbst Verletzungen, die von einem Dritten her gesehen «nichts» sind oder sicher nicht so gemeint sind, wie ich es aufgefasst habe, können sehr tief gehen und mich jahrelang verfolgen. Aus der christlichen Perspektive sagt meine innere Stimme: «Vergib endlich, vergiss es einfach und Schwamm drüber.» «Halt die andere Wange auch noch hin.» «Ist das wirklicher (Heils-)Weg?» Möglichst schnell vergessen, mich nicht erinnern? Nein! Denn so lasse ich mich immer tiefer hinunterziehen. Vielmehr ist es wichtig, meine Verletzung, die tiefe Krän-kung, zu identifizieren. Es hat mir geholfen, mich einer neutralen Begleitung anzuvertrauen. Darüber zu weinen. Auch meinen Zorn und meinen Ärger darüber zu bekennen. Mir selbst zu vergeben, dass ich mich verletzen liess. Mir auch klar zu werden über die Situation der anderen Partei. Das waren wichtige Schritte. Und schliesslich: Alles vors Kreuz zu legen. Alles unter die vergebende Barmherzigkeit Gottes zu stellen. Ihn um seine Hilfe bitten, mir und der anderen Person verzeihen zu können. Wenn ich mich heute an das verletzende Ereignis erinnere, habe ich den bitteren Beigeschmack vergessen … (A.Y.M.)

rückblickend betrachtet war mein Leben allen Irrungen und Wirrungen allem Suchen und Zweifeln aller Sehnsucht und Desillusionierung zum TrotzOrt der Begegnungmit Menschenmit Gottmit mir selbst dies alles zusammenund ist darin Heilsgeschichte (IS)

Während meiner Gymizeit gab es in meinem Umfeld eine Selbsttötung eines Jugendli-chen. Dieses Erlebnis erschütterte mein noch junges Glaubensleben. Nächtelang lag ich wach im Bett, habe geweint, geklagt und Gedanken gewälzt. «Warum Gott?» und «Was ist der Sinn in diesem auf so tragische Weise beendeten Leben?» Mich selber befragte ich: «Was ist der Sinn meines Lebens?» Rückblickend ist diese Lebenszeit Heilsweg geworden. Ich weigerte mich, Gott und mich selbst aufzugeben. Ich weigerte mich zu glauben, dass Gott abwesend ist und dass es in einem weggeworfenen Leben keinen Sinn geben kann. Nur weil ich Gott nicht spürte, hiess das nicht, dass er nicht da war. Das Wort von Gott zu den Menschen «Fürchte dich nicht!» hat sich mir in dieser Situation eröffnet und tief in meinen Glaubensweg eingebrannt. In Krisen heute erinnere ich mich gerne an diesen Moment zurück. Ich vergewissere mich: Gott ist da, auch in dunklen Stunden. Er sagt mir: «Fürchte dich nicht!» (JE)

Gerade jetzt beschäftigen wir uns im Studium mit den Confessiones des Augustinus. Seine ehrliche Auseinandersetzung mit sich selbst im Gespräch mit Gott erinnert mich stark an mich selbst und meinen eigenen Glaubensweg. Ich bin ein sehr ehrgeiziger und meist auch zielstrebiger Mensch und das, was ich will, gelingt mir oft auf Anhieb. Diese Erfahrungen machen es leicht: Wenn ich nur genug will, mich genügend anstrenge, kann ich alles erreichen. Gott in eine Wohlfühlschubla-de stecken, meine Beziehung zu ihm auf ein Minimum reduzieren – denn, es klappt ja auch alles ohne ihn. Als ich am eignen Leib erfahren habe, was es bedeutet, in Versagen und Unfreiheit gefangen zu sein, und meine eigenen Kräfte nicht mehr ausgereicht haben, durfte ich Gott als meinen persönlichen Befreier, Kettensprenger und Erlöser kennen und annehmen lernen. Erst als ich in den Abgrund geblickt habe und nicht mehr alleine weiterwusste, weil ich immer wieder an dieselben Grenzen stiess, konnte ich Gottes Gnade, seine Barmherzigkeit und seine heilende Kraft annehmen. Durch das Vorbild und Zeugnis meiner Freunde aus der Jugendgruppe Adoray machte ich mich auf einen Glaubensweg voller Abenteuer. Ich lerne, was es heisst, jeden Tag neu in der Nachfolge Jesu zu leben. Ich erkenne wie die Kraft Gottes in meinem Alltag konkret Gestalt annehmen und alles verändern kann. (MS)

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Lieber Bruder Franz

Oder soll ich dich Bruder Gretus nennen? Du wunderst dich? Hast du vergessen? Du warst doch die «Klima-Greta» von damals! Du warst wie Greta heute rebellisch, zielstrebig, mitreissend und jung. Du hast die gängigen Konventionen hinter dir gelassen ohne Rücksicht auf das, was andere dachten und taten. Du warst überzeugt von deinem Auftrag. Deine Radikalität hatte plötzlich Anziehungskraft und dein Zeugnis überzeugte. Immer mehr Menschen folgten dir und teilten deine Gesinnung. Es entstand eine weltweite Bewegung. Dieser Verlauf war ähnlich wie bei Greta heute, nur nicht so schnell. Sie spricht von Klima, du von Schöpfung, beiden aber geht es um unser Verhalten der Natur gegenüber.Zugegeben, du hattest religiöse Motive, um die Menschen einen sorgsamen Umgang mit der Schöpfung zu lehren, aber du warst eine Art Urvater der Umweltbewegung. Du warst mit der Schöpfung auf du und du. Deine Naturliebe führte dich zu einem familiären Umgang mit allem, was Gott geschaffen hat. Du hast die Geschöpfe Bruder, Schwester und Mutter genannt.Der Sonnengesang ist dein bekanntester Text und zählt zur Weltliteratur. Als du im Winter 1224/25 krank in einer Hütte bei San Damiano lagst, hast du ihn in altitalienischer Sprache gedichtet. Im Sonnengesang verbindest du einzigartig die Schöpfung mit dem Lob Gottes. Der Sonnengesang fordert uns heraus, unser Verhalten zur Umwelt, zum Klima zu überdenken. Deine Wertschätzung der Schöpfung gegenüber kann der heutigen Klimadiskussion wertvolle Impulse geben.Wind, Licht, Luft, Wasser, Erde scheinbar selbstverständlichste Dinge, sind lebensnotwendige Wunder, zu denen wir Sorge tragen und die wir lieben lernen müssen. Das machst du uns bewusst mit deiner Lebensweise. Greta tut dies ebenfalls, aber auf ihre Art. Hoffentlich ist ihre Klimaideologie ebenso nachhaltig wie deine Schöpfungsspiritualität, sodass Menschen sich 800 Jahre später auch noch an Greta erinnern. Lieber Franziskus, ich frage mich, welche Auswirkungen es hätte, wenn Greta in ihrem Klimaak-tivismus dir gleich alle Geschöpfe Bruder, Schwester und Mutter nennen, wenn sie ihren Sonnen-gesang dichten und die Schöpfung mit dem Lob Gottes verbinden würde? Hätte «ihre Bewegung» dann die gleiche Chance? Wie würde sie sich entwickeln? Würden junge Menschen auch dann noch Greta nacheifern und deren Gesinnung teilen?Denke doch bitte einmal darüber nach, damit wir dies bei unserer nächsten Begegnung bespre-chen können. Ich bin gespannt, was du dazu meinst! Melde dich!

Liebe Grüssedeine Schwester Serafina

Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen! Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Wind, durch Luft und

Wolken, heiteren Himmel und jegliches Wetter, durch das du deinen

Geschöpfen den Unterhalt gibst. Gelobt seist du, mein Herr, durch

Schwester Wasser, gar nützlich ist es, demütig und kostbar.

Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde,

die uns ernährt, lenkt und vielfältige Früchte hervorbringt, bunte

Blumen und Kräuter.

(aus dem Sonnengesang des Franz von Assisi)

Gelobt seist du, mein Herr

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Wenn ich dich je vergesse . . .Sr. Renata Geiger, Baldegg

Das Vergessenwollen verlängert das Exil – das Geheimnis der Erlösung heisst Erinnerung (Baal Schem Tow).Dieser Ausspruch eines jüdischen Weisen weist darauf hin, dass Erinnern und Vergessen in der Geschichte des Judentums eine bedeutende Rolle spielen. Der jüdische Schriftsteller Elie Wiesel wagt sogar zu sagen: «Ein Jude zu sein heisst sich zu erinnern.»Die Bibel ist das große Erinnerungsbuch. In unter-schiedlichen Zusammenhängen erscheint das Wort «zachar» (erinnern) 169 Mal in der jüdischen Bibel. Vor allem im ersten Testament ergeht immer wieder der Auftrag, ja sogar der Befehl, sich zu erinnern und ja nicht zu vergessen. Das betrifft besonders auch die Erinnerung an Jerusalem und den zerstörten Tempel zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft. Warum ist das so?Würden die Juden im Exil sich nicht erinnern, woher sie kommen und wer ihr Gott ist, würden sie sich selbst aufgeben und ihre Identität verlieren. Die Fähigkeit sich zu erinnern, ist in dieser Situation ihre grösste Stärke.Die Beziehung zu JHWH ist wohl der entscheidende identitätsstiftende Faktor. Und wenn der Mensch sich an die Heilstaten Gottes erinnern soll, dann geht es zuerst darum, Gott die ihm zustehende Ehre zu geben. Erinnern ist aber auch um der eigenen Identi-tät wichtig. Wo kommen wir her? Wer sind wir? Wo wollen wir hin? Die Beantwortung dieser Fragen wird zentral, wenn identitätsstiftende Faktoren weg-brechen, wie Jerusalem oder der Tempel. Dramatisch hat dies das Volk Israel erlebt, als es nach Babylon verschleppt wurde. Besonders in dem Moment, als es weder im eigenen Land lebte, noch sich im Tempel versammeln konnte, wurde die Erinnerung an Zion (Jerusalem) mächtig. Das zeigt sich ganz deutlich im Psalm 137.

«An den Strömen von Babel, da saßen wir und wir weinten, wenn wir Zions gedachten.An die Weiden in seiner Mitte hängten wir unsere Leiern.»

Psalm 137 ist ein Klagelied. Die Menschen trauern, weil sie sich daran erinnern, was sie verloren haben, obwohl es ihnen in der Fremde verhältnismässig gut geht. Ums Singen ist ihnen schon lange nicht mehr, und zur Klage passen keine Instrumente.

«Wie hätten wir singen können die Lieder des HERRN,fern auf fremder Erde?»

Trotz all ihrer Trauer bei der Erinnerung an ihre Heimat kämpfen sie aber auch gegen das Vergessen:«Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll meine rechte Hand mich vergessen.Die Zunge soll mir am Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht mehr gedenke, wenn ich Jerusalem nicht mehr erhebe zum Gipfel meiner Freude.»

In der Fremde versucht das Volk Israel sich daran zu erinnern, was seine Identität ausmacht: die Erinnerung an Jerusalem, der Glaube an ihren Gott, die Sehnsucht nach Zion. Diese Identitätsfindung durch die Erinnerung hält die Hoffnung wach, dass das Exil zu Ende gehen und Gott sie wieder nach Jerusalem zurückführen werde. Die Überzeugung, dass der Erinnerung an die Vergangenheit eine gestaltende Kraft für die Gegenwart und die Zukunft zukommt, lässt sie nicht verzweifeln. Ohne diese Hoffnung hätte sich das Volk wohl aufgegeben. In und durch die Erinnerung wuchs die Kraft, an die Zukunft zu glauben, denn «Vergessenwollen verlängert das Exil – das Geheimnis der Erlösung heisst Erinnerung.»

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Von Schreibtisch zu Schreibtisch: Sr. Hildegard Willi (HW), Psychologin, im Gespräch mit Mirjam Breu (MB), Journalistin bei Radio SRF, Regionalredaktion Zentralschweiz, Luzern

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Sie kennen das: Nach einem bekömmlichen Essen mit ‘alten Freunden’ – in entspannter Atmosphäre – bleibt man sitzen. Erinnerungen an längst vergessene Erlebnisse, Erfah rungen und Episoden tauchen auf, wollen erzählt werden. So persönlich einmalig solches Erzählen ist, es ver-bindet, schafft Gemeinschaft, belebt und inspiriert. Worin liegt das Geheimnis? Ob im Erzählen oder im Zuhören, wir schöpfen dabei aus dem Fundus des eigenen Lebens. Dieses Anteilnehmen und Anteilgeben ist ein tiefmenschliches Bedürfnis, auch in einer Zeit, die von Informationen trieft. Glücklich, wer solch spontanes Erinnern und Erzählen zu schätzen und zu pflegen weiss! Weshalb wir uns an gewisse Ereignisse er innern und an andere nicht, sagt viel darüber aus, wer wir sind – als Person wie als Gesellschaft.Erinnern als menschliche Gabe ist aber nicht nur Kür, sondern auch Pflicht. Dabei dürfen wir Unrecht und Ver-brechen, das Böse schlechthin, nicht ausblenden. Zukunft gibt es nur, wo wir dem Vergangenen offen und ehrlich in die Augen schauen, auch wenn es weh tut. Solches Erinnern will verstehen, will lernen – für hier und heute und auf Zukunft hin. Anders kommen wir nicht vorwärts; nicht als Individuum, nicht als Gemeinschaft. So plausibel das ist, so schwierig stellt es sich an. Das zeigt der kürzlich stattgefundene Holocaust-Gedenktag zur Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungs lagers Ausch-witz durch die Rote Armee vor 75 Jahren. Zweifellos ein wichtiger Anlass zum Erinnern – aber blosse Erinnerung greift dabei zu kurz.Es lässt sich nicht leugnen: Das Gewaltpotential unserer Tage ist hoch, auch getarnt als subtiler Machtmissbrauch. Wir dürfen nicht wegschauen. Wir brauchen eine Erinne-rungskultur, aber auch eine Kunst des Vergessens. Beides will ein Leben lang geübt werden, gestützt auf Mut und Ehrlichkeit.MB Ich habe das Thema «Erinnern und Vergessen» lange mit mir herumgetragen, hatte den Text im Kopf schon beinahe geschrieben. Dann geschah es: Ein mysteriöses Virus schafft eine Situation, die für uns alle komplett neu und noch nie erlebt ist. Eine Situation, die uns auf uns zurückwirft, die uns dazu zwingt, uns auch dem Erinnern zu stellen. Dringlich. Eindringlich. Die Stunden daheim, die plötzliche Ruhe – all dies schafft Platz im Geist. Und wenn man sich während der

wachen Stunden nicht permanent mit der ver unsichernden Gegenwart beschäf-tigen will oder mit der äusserst unberechenbaren Zukunft – die zwar schon immer unberechenbar war, aber das blenden wir Menschen oft gerne aus – dann schweifen die Gedanken zurück, in den sicheren Hafen der Erinnerungen. Zu den Kindheitserinnerungen vielleicht. Es sind aber auch ganz persönliche Erfah-rungen – tief innewohnende, nicht äusserlich erlebte – die sich da auf einmal wieder melden. Vielleicht ist diese Zeit ein Stück weit auch eine Entdeckungsreise in die Erinnerungen der eigenen Seele. Dafür habe ich in meinem hochgetakteten Lebens- und Arbeitsalltag häufig keine Musse. Ich vermute, dass du dies anders erlebst. Bei dir hat die Kontemplation ihren Raum. In deiner Arbeit mit ratsu-chenden Menschen wird erfahrbar, was Erinnern und Vergessen mit uns macht. .HW Es ist, wie du vermutest, mein Alltag ist nicht mehr hochgetaktet – ein Geschenk des Alters! Und dem klösterlichen Leben wohnt seit Jahrhunder-ten ein lebensdienlicher Rhythmus inne. Zudem birgt die Liturgie, die wir mehrmals am Tag feiern, Räume des Erinnerns. Das sind gute Rahmenbe-dingungen. Aber sie garantieren nicht die Musse, die du meinst. Und ohne diese Musse gibt es weder Erinnerungskultur noch die Kunst des Vergessens, die ich meine. Beides ist nicht gratis zu haben.Erinnern ist etwas zutiefst Menschliches und bedeutet in aller Regel eine Anstrengung. Es geht um einen schöpferischen Prozess mit Hilfe von Ein-bildungskraft und Fantasie. Unser Gedächtnis liefert zu. Vergessen dagegen geschieht meist passiv, lautlos, unspektakulär. Wir erfahren das Geschehen nicht, merken bestenfalls sein Resultat. Es erscheint uns als Leere, als Lücke, als Loch. Wer hat sich darüber nicht schon geärgert! Unsere Redewendun-gen versuchen zu verstehen, was dabei passiert. Wir sagen etwa: «Ich habe es aus der Erinnerung verloren». Oder: «Es ist mir entschwunden.» Oder: «Ich konnte es nicht behalten.» Oder: «Ich habe es verschwitzt», als wäre das Vergessene mir aus den Poren geflossen und verdampft, als ich mit anderem beschäftigt war. Wir können scheinbar nicht willkürlich über Vergessen und Erinnern verfügen. Dass wir dem Vergessen aber nicht passiv ausgeliefert sind, verraten wieder unsere Rede wendungen: «Er hat es verdrängt», sagen wir, wenn sich jemand an unangenehme Vorfälle einfach nicht erinnert. Oder: «Sie will es einfach nicht mehr wissen». Oder: «Er schiebt es ab, blendet es aus.» Vergessen ist

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also eine Bewegung ‘von mir weg’. Wir wissen aus Erfah-rung: vergessen können, vergessen müssen, vergessen wol-len, vergessen dürfen, sind nicht dasselbe. Im Erinnern wirkt die Gegenbewegung ‘zu-mir-hin’, in mein Inneres. Beide Bewegungen sind notwendig für unse-re menschliche Gesundheit, seelisch, geistig und leiblich. Erst ihr Wechselspiel macht aus, was wir im Rückblick unser Leben nennen. Mir ist, unsere digitale Lebensweise wechsle diese Richtungen aus. War früher Vergessen leicht und Erinnern aufwendig, scheint es heute zunehmend umgekehrt, denn das Netz vergisst nicht. MB Spannend! Das Thema beschäftigt mich schon länger – als Journalistin, als Mutter von immer grösser und selbst-ständig werdenden Kindern. Ich erinnere mich, dass ich meine ganz persönliche Datenspur, die ich im Netz hinterlasse, heruntergespielt habe. Social Media haben mich nie wirklich interessiert. Fotos von mir habe ich nirgends gepostet. Ganz bewusst. Ich musste mich weder davor fürchten, in einem Bewerbungsverfahren auf einmal mit einem peinlichen Bild aus der Vergangenheit konfrontiert zu werden, noch wegen eines deplatzierten Facebook-Posts einen Shitstorm loszutreten. Also kein Problem, dachte ich lange. Bis ich vor einigen Jah-ren mit ein paar hundert Sozial- und Marktforschenden im selben Saal sass. Sie erzählten von Big Data, vom Generieren von Kundenprofilen aus Millionen von Kartenzahlungen und dank Smartphone-Tracking. Ihre Augen leuchteten, mir lief es kalt den Rücken hinunter. Zum ersten Mal wurde mir be wusst, dass auch meine Daten interessant sind, gespeichert und vor allem nicht verges sen werden. Das Recht auf Ver-gessen haben wir mit der vermeintlichen Freiheit des welt-weiten Netzes und des unbegrenzten Datenverkehrs verkauft. Das bereitet mir Sor gen. Denn die nächste Generation geht viel offensiver mit ihren Daten im Netz um. Sie hat es gar nicht anders erlebt. Da sehe ich unsere Verantwortung: Dieser nächsten Ge neration auf den Weg mitzugeben, dass das Netz nicht vergisst.Das lässt mich eine Generation zurückspringen. Eine Freun-din von mir, sie ist im letzten Jahr mit fast 90 Jahren ver-storben, lebte ein Leben als Künstlerin, abgeschieden in einem idyllischen Weiler im Südosten Irlands. Vor ein paar Jahren sassen wir zusammen und diskutierten über das Internet. Ein Fremdkörper in ihrem Leben. Wir googelten ihren Namen. Sie war erschüttert, als sie sah, dass da Dutzende von Einträgen über sie zu fin den waren. Sie war richtiggehend wütend. «Kein Mensch hat je gefragt, ob ich das will. Ich will nicht, dass man sich so an mich erinnert, mit ein paar Tastenkombi-nationen an einer Maschine. Kann ich da etwas dagegen tun?» Nein - sagte ich. Nun ist sogar ihre Todesanzeige im Internet verewigt. Und einen Eintrag auf Wikipedia gibt es auch. HW Das berührt. Du und ich nützen und schätzen den digitalen Fortschritt täglich, aber doch nicht blind. Ich sehe und erfahre es in meiner Arbeit: Seit uns der Kopf in die

Hände gefallen ist und wir ihn hell leuchtend vor uns hertragen, sind Ver-gessen und Erinnern aus der gesunden Balance geraten. Mit einem Wisch, losgelöst von raumzeitlichen Grenzen, liegt das ganze Wissen der Welt offen vor uns – alles Sinnenhaften beraubt. Da erinnere ich mich an die uralte philosophische Weisheit: «Nichts ist im Geist, das nicht vorher in den Sinnen war.» Erinnern gründet doch in starken Eindrücken. Wir werden berührt, betroffen, ergriffen, sogar überwältigt. Was sich dabei in unserm Gedächtnis abspielt, darüber rätselt die Wissenschaft noch heute.Und doch – wir erleben es tagtäglich: Wir sehen ein Gesicht, eine Land-schaft – und erin nern uns. Wir hören einen Namen, eine Melodie, ein Lied – und erinnern uns. Wir neh men einen bestimmten Geruch oder Duft wahr, schmecken einen Geschmack, erfühlen eine Form, einen Raum – und erinnern uns. Wir atmen eine Atmosphäre ein – und erin nern uns. Etwas Abwesendes wird dabei leiblich spürbar, gegenwärtig. Dieses Geheimnis berührt mich immer neu, wenn wir Eucharistie feiern. «Tut dies zu meinem Gedächtnis», sagte Jesus beim letzten Mahl mit den Seinen. Und ich erinnere mich oft vertrauend an sein Versprechen bei seinem Weggehen aus dieser Welt: «Ich werde euch einen andern Helfer senden, den heiligen Geist, der wird euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.»

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Unser tägliches Psalmengebet erinnert mich an die jüdi-sche Weisheit: «Das Vergessen-wollen verlängert das Exil, das Geheimnis der Erlösung heisst Erinnerung». Erinne-rung verstanden als Erfahrung des Wirkens Gottes in der Geschichte, auch in meiner ganz persönlichen. Darin will und kann alles Schmerzliche, alles Unheile und Ungerechte gewandelt werden und so in unser Leben ‘einheilen’. Das ist der spirituelle Grund, aus dem ich lebe, liebe und schaf-fe, wenn auch oft bruchstückhaft.MB Einheilen. Da hast du mir ein wunderschönes Wort über-geben. Gerade im Zusammen hang mit Erinnerung. Nicht verheilen! Einheilen! Das habe ich mir so noch nie überlegt. Eine Wunde, die wir von einer schmerzhaften Erfahrung her mit uns herumtragen, kann ganz unterschiedlich in unserer Erinnerung bleiben. Als Stachel, der sich immer wieder hin-einbohrt. Als Narbe, die verheilt ist und trotzdem zeitweise nachstört. Oder diese Wunde kann einheilen. Eins werden mit dem, was ist, mit dem was war. Einheilen, hat etwas sehr Versöhnliches, Tröstliches. Das Verheilen klingt, nachdem ich über das Einheilen nachgedacht habe, in meinen Ohren als etwas, das vorbei ist. Das nicht mehr zu mir gehört. Einheilen

ist und bleibt, gehört dazu. Es ist mir arteigen geworden, mit meinem Wesen ver-söhnt. Ich wünsche mir mehr Einheilen. So können sich die glückhaften und die schmerzvollen Erfahrungen in mir drin verschränken zu einem bunt gewobenen Teppich der Erinnerungen, zu meinem gelebten Leben. Das ist ein schönes Bild, das nehme ich mit.HW An diesem Originalbild arbeiten wir ein Leben lang. Das, was sich im Vergessen-Wollen von uns wegbewegt, vielleicht abgespaltet hat, will behut-sam heimgeholt und ins rechte Licht gerückt werden. Denn nichts, aber auch gar nichts, in unserer Biographie kann wegradiert, aber alles kann ent-sorgt, ent-stört und uns schliesslich anverwandelt werden. Darin gründet letztlich unser österliches Vertrauen, unsere Lebensdankbarkeit. Das meine ich mit dem schlichten Wort ‘einheilen‘. Dabei erinnere ich mich gerne an das Osterfeuer. Ich habe jahrelang meine schwierigen und schmerzlichen Erfahrungen zu Papier gebracht, um sie vom Osterfeuer in Licht und Wärme verwandeln zu lassen. Viele unserer Oster-gäste taten es mir gleich und nahmen dieses schlichte Ritual mit in ihr Leben. Vielleicht meinen die Paulus-Worte genau das, wenn er schreibt: «Ich ver-gesse, was hinter mir liegt und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist.» Dieses Vergessen ist mehr als vergessen; es setzt herzhaftes Erinnern voraus. Wir sind Erinnerung und nicht Vergessen, denn kein Mensch lebt von dem, was er nicht hat und nicht ist.

Wie bin ich froh, bewahrt mein Gedächtnis nicht alles auf und kann kleine Kränkungen vergessen. Grössere Enttäu-

schungen brauchen manchmal ein Gespräch, um nicht über Jahre mitgetragen zu werden.

Wie bin ich froh, kann ich mich erinnern. Als junge Frau fuhr ich mit einer Freundin ins Burgund, damals noch ohne

Fotoapparat. Ich war ganz angetan von der Landschaft. Einmal sassen wir einen Nachmittag lang unter einem Baum

und hatten über Stunden denselben Ausblick. Dieses Bild hat sich wie ein Foto tief in mein Herz eingeprägt.

Schöne Erinnerungen sind mir ein innerer Reichtum. Sie trösten die Sehnsucht, sie tragen in Dürrezeiten, sie erhal-

ten die Dankbarkeit. Das bewusste Erinnern von Anfängen einer Beziehung, von Hoch-Zeiten einer Liebe, von Meilen-

steinen eines Weges, von heiligen Augenblicken, helfen die Treue halten und durchtragen.

Auch mein Glaube, meine Gottesbeziehung lebt vom Erinnern. Im Vielerlei des Alltags erkenne ich Gottes Wirken oft

nicht. Wenn ich abends das Erleben des Tages vergegenwärtige, kann ich Seine Spuren erkennen – ER ist da und in

meinem Leben am Werk. So kann ich mit dem Psalmenbeter einstimmen: Lobe den Herrn meine Seele und vergiss

nicht, was er dir Gutes getan hat. (Ps 103,2) Sr. Rahel Künzli, Baldegg

ZweiMinutenPredigt

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Wann bist du ins Kloster eingetreten – und warum?Ins Kloster zu gehen war schon immer mein Ziel. So bin ich 1967 in Baldegg eingetreten. Ich wollte Gott dienen und für die kranken Menschen da sein.

Wo bist du daheim?Das Kloster ist meine zweite Heimat geworden.

Ein Erlebnis aus der Kinder- und Jugendzeit, das dich prägte?Als Kind durfte ich hin und wieder zu einer Tante in die Ferien. Wenn ich wieder heimkam, zeigten meine Eltern und Geschwister immer grosse Freude, umarm-ten und küssten mich. So viel Liebe zu erfahren hat mein ganzes Leben geprägt.

Wer ist dir Vorbild?Meine Eltern. Wir waren eine grosse Familie, und Vater und Mutter betrachteten jedes Kind als Geschenk Gottes. Das bekamen wir Kinder zu spüren.

Wer lehrte dich glauben?Wir wohnten nahe bei der Kirche und beim Pfarr-haus. Unser Vater war Lehrer und Organist und legte Wert darauf, dass wir im Kirchenchor mitsangen. Selbstverständlich war auch, dass wir in der Mariani-schen Kongregation aktiv dabei waren. Unsere Mutter amtete viele Jahre als Präsidentin des katholischen Frauenbundes und hatte in der Gemeinde verschiede-ne soziale Aufgaben inne. Unser Alltag war bestimmt vom kirchlichen Leben. Die Schule begann z.B. später, wenn am Morgen eine Beerdigung angesagt war. Der Höhepunkt eines jeden Festes war der Gottesdienst. So wurde mein Glaube geprägt und genährt. Ich nahm diese Glaubenserfahrungen wie ein Geschenk mit ins Leben.

Welche Farbe hat dein Glaube?Keine. Der Glaube ist für mich eine Haltung.

Was bedeutet dir glauben?Das folgende Zitat von Papst Benedikt beeindruckt mich sehr. Glauben bedeutet: «Ein Leben lang die Unbegreiflichkeit Gottes aushalten.»

Wer ist Gott für dich?Für mich ist Gott der, der die Welt in Händen hält.

Eine konkrete Erfahrung der Vorsehung Gottes?Ich habe schon unzählige Male die Vorsehung Gottes in meinem Leben erfahren. Die sind so persönlich, dass ich Mühe habe, sie niederzuschreiben.

Gibt es auch Zweifel?Ja. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nie; aber hier beginnt der Glaube.

Wie betest du?Sehr gerne bete ich in der Gemeinschaft. Auch das persönliche Gebet bedeutet mir viel, wofür ich mir, wenn immer möglich, auch Zeit nehme. Zudem betrachte ich Gebet und Arbeit als Einheit.

Wie zeigt sich der Einfluss von Franziskus in deinem Leben?Franziskus hat ein einfaches und armes Leben geführt. Daher sind für mich Ein-fachheit und Anspruchslosigkeit wichtig.

Welches Wort aus der Bibel begleitet dich durch das Leben?Die Worte Jesu, die er zu den Jüngern wiederholt gesagt hat, begleiten mich stets: «Friede sei mit euch, fürchtet euch nicht. Ich bin es.»

Zwei Dinge, die du den Menschen sagen möchtest?– Das Zitat von Victor Hugo fasziniert mich: «Glauben ist schwer, nicht glauben

unmöglich.» – Wenn es einmal im Leben noch so aussichtslos scheint, zeichnet sich immer eine

Lösung ab.

Sr. Ilga Winiger, 1944, aufgewachsen als jüngstes von acht Kindern in Eich LU. Nach der Primar- und Sekundarschule hauswirtschaftliche Fortbildung und Fremdsprachenaufenthalte. 1964 –1967 Ausbildung zur Krankenschwester an der Baldegger Schule für Kran-kenpflege in Sursee, 1967 Eintritt ins Kloster Baldegg. 1969 –1972 Ausbildung als Intensiv- und Anästhesie-schwester im Kantonsspital Luzern. Anschliessend Tätig-keit als Anästhesieschwester in den Spitälern Sursee, Wolhusen und Brig. Berufsbegleitende Weiterbildung in Führungsaufgaben und im fachspezifischen Bereich. 1993 –2004 hauswirtschaftliche Betriebsleiterin in den Bildungshäusern Dulliken und Hertenstein mit berufs-begleitender Weiterbildung an der hauswirtschaftlichen Betriebsleiterinnenschule in Baldegg. Ab 2004 Einsatz im Pflegeheim Baldegg und seit 2019 im Verpflegungs-bereich im Mutterhaus tätig.

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«Das chasch vergässe – das god jetzt eifach ned!»Salopp gesagt – doch trifft es die Erfah-rungen der letzten Wochen. Alle Ver-anstaltungen in der Klosterherberge mussten wir vergessen. Dabei hat uns die Corona-Zeit mit Fragen der End-lichkeit konfrontiert. Viele Alltagssi-tuationen haben ein neues Verhalten herausgefordert. Das Aufatmen ausser-halb der eigenen vier Wände hat uns die Augen für den Wert der Schöpfung geöffnet. Und jetzt rufen wir wieder wach, was nach den Betriebsferien (13. bis 27. Juli 2020) angesagt ist: In unseren Ver-anstaltungen nehmen wir Themen auf wie Achtsamkeit mit sich selber und mit der Schöpfung, Sterben und Tod, Hoffnung und Zukunft. Auf unserer Homepage finden Sie unter «Veran-staltungen» mehr Informationen. Wir freuen uns auf Sie.

Klosterherberge

Corona-Zeit in BaldeggKlosterpforte geschlossen – kein Zugang zum Pflegeheim – Klosterherberge stillgelegt – keine Gottesdienste in der Institutskirche – keine Taizé Nachtgebete … Trotzdem lebten wir im Mutterhaus ein ziemlich normales Leben. Die Abstands- und Hygienevorschriften, die strenge Trennung vom Pflegeheim und von der Klosterherberge verlangten jedoch von den Schwestern etliche Anpassungen, die gewöhnungsbedürftig waren. Da drei Kapuziner bei uns wohnen, konnte täglich eine Eucharistiefeier im Mutterhaus und im Pflegeheim gefeiert werden. Die Gebetszeiten hatten wie immer ihren festen Platz in der Tagesordnung. Wir litten keineswegs unter Einsamkeit und hatten immer nur Grund zum Danken, vor allem auch deshalb, dass unsere Gemeinschaft von der Krankheit verschont blieb. Erst recht fühlten wir uns solidarisch verbunden mit allen, die es nicht so gut hatten. Im gemeinsamen Gebet nahmen somit die Bitten für alle von der Krise hart Betroffenen täglich einen festen Platz ein. Alle, besonders auch unsere betagten Schwestern, leisten diesen Beitrag. In diesem Sinne wünschen wir allen Lesern und Leserinnen Mut, Kraft und Zuversicht.

Sr. Lorena schreibt nach ihrer Rückkehr nach Papua Neuguinea Ende Januar: «Leider habe ich dieses Jahr die schlimmsten Ostern mei-nes Lebens erfahren. In Pomberel starb ein Mann, und man machte gleich am Nach-mittag drei Frauen als Hexen für den Tod verantwortlich. Ich begann mit zwei guten Mitarbeiterinnen für diese Frauen zu kämpfen und geriet dadurch in die Höhle des Löwen. Wir wurden beschimpft, mit Steinen, Fäusten, Messern und Geschrei bedroht. Um alles noch schlimmer zu machen und zu dramatisieren, wurde ich für den Covid-19 verantwortlich gemacht. … Als wir am Ostermorgen die Auferstehung Jesu Christi feierten, wurden die drei als Hexen beschuldigten Frauen gefoltert und schlimm zugerichtet. Am Osterdienstag konnten wir sie endlich ins Spital in Mendi bringen. Sie erholen sich seither, den Umstän-den entsprechend, gut. Natürlich sind sie traumatisiert.»

Die Corona-Situation hat in unserem Bildungshaus Stella Matutina in Hertenstein ver-schiedene Kursannullationen gebracht. Daher können wir von Mitte bis Ende Juli 2020 unser Bildungshaus ganz für Feriengäste öffnen.Aufgrund unserer geografischen Lage am Vierwaldstättersee eignet sich die Stella Matutina besonders für Gäste, die• Ruhe und Stille bevorzugen• gerne Wanderungen und Ausflüge mit Schiff oder Bahn machen• unsern Badeplatz benützen möchten• eine gut bürgerliche, regionale Küche schätzenGäste, die gerne am Gottesdienst der Schwesterngemeinschaft teilnehmen, sind dazu eingeladen.Nicht geeignet ist unser Haus für Gäste, die Betreuung oder pflegerische Unterstüt-zung benötigen.

Hexenverfolgung im Hochland von Papua Neuguinea

Wir bedanken uns herzlich für jede Spende. Falls Sie uns einen Beitrag an Druck und Porto des BaldeggerJournals überweisen möchten, bitten wir Sie, es auf das Konto «Verein Kloster Baldegg, 6283 Baldegg, PC 60-984-8» zu tun mit dem Vermerk: BaldeggerJournal. Vielen Dank!

Danke

Hertenstein

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Lange Wochen waren Jesus und ich allein mit den leeren Stüh-len und Tischen im Klosterkafi. Langweilig war‘s: keine Gäste, keine Kinder, keine Schwestern! Weg die Düfte aus der Küche und weg das Lachen der Männer und Frauen an ihren Jahr-gängertreffen. Kein Prosten bei der Geburtstagsparty und keine Plaudereien der beiden Damen mehr, die in den Korbstühlen unter meinen Füssen ihren Stammplatz hatten. Gut, böse Zun-gen behaupten, Jesus und ich wären leere Bänke gewohnt. Nein, daran kann ich mich nie gewöhnen. Ich suche die Nähe von Menschen, auch wenn der Bundesrat immer predigt, die soziale Distanz einzuhalten. Früher war mein Platz im Sitzungszimmer der Generalleitung des Klosters. Zugegeben, während der Sitzungen war es interes-sant, aber leider gab’s diese Abwechslung nur alle paar Wochen, sonst waren Jesus und ich allein. Darum hatten wir ein Riesen-glück, als die Wahl auf uns fiel, und wir ins Klosterkafi zügeln durften. Den besten Platz hat man uns dort reserviert: Wir sehen, wer kommt und wer geht. Es gibt Gäste, die grüssen uns spontan mit einem netten Blick. Bei andern geht es lange, bis sie uns wahrnehmen. Das macht nichts, ich bin es gewohnt zu warten. Warten gehört zu meinem Leben. Überdies kommen die Gäste ja zum Essen und Trinken, nicht wegen Jesus oder mir. Öfter als Sie denken, nehmen Gäste mit uns verstohlen Kontakt auf. Sie tun dies wortlos, manchmal fragend, manchmal klagend. Sie wissen, dass ich sie auch im grössten Stimmengewirr verstehe, und dass Jesus und ich schweigen. Aber ich höre ihre Sorgen und trage sie zu Gott. «Mon Dieu», rufe ich dann, «hilf, die Not ist so unerträglich gross für diese Frau, diesen Mann!» So klage ich für sie, erwähne die Zerwürfnisse in ihrer Familie, bitte um Heilung von Krankheit oder um eine neue Arbeitsstel-le, auch um Mut und Hoffnung für sie. Wenn sie nächstes Mal ins Klosterkafi kommen, schauen wir uns an wie Altbekannte. Das tut gut. Natürlich gibt es Gäste, die uns keines Blickes wür-digen und nur Ausschau halten nach dem besten Sitzplatz, oder

wo’s zur Toilette geht. Auch dafür habe ich Verständnis. Sie kommen ja ins Klosterkafi und nicht in die Kirche. Witzbolde hörte ich schon spassen, die Schwestern hätten uns im Kafi platziert, damit Jesus auch hier Wasser in Wein verwandelt, wie damals in Kana! Nun ja, die eine oder andere Schwester im Service habe ich auch schon am Rockärmel gezupft: «Du, schau mal, am Tisch 13 haben sie keinen Wein mehr!» Den Tag, als das mit dem Lockdown passierte, vergesse ich nicht. Ungläubig standen die Schwestern vor ihren leeren Tischen. Doch dann geschah, was immer passiert, wenn Frauen ein Problem haben, sie fangen an zu putzen. Nun hatten die Schwestern auch Zeit, etwas mit mir zu sprechen. Ihre Anhänglichkeit zu spüren, tat mir gut. Als alles tipptopp glänzte, fielen mir die Sorgenfalten auf der Stirne von Sr. Erna-Maria auf: «Wann kommen wohl meine lieben Gäste wieder?» Mir ging es gleich. Ich mochte den Tag kaum erwarten, an dem ich den Gästen wieder mein Kind zeigen darf. Schauen Sie genau hin: «Der Kleine zeigt Potential für Grosses. Fast vorlaut thront er auf meinem Arm, so, als wollte er jeden Moment davonhüpfen und sich zu den Gästen an den Tisch setzen.» Jesus will immer mitten unter den Leuten sein! Das ist auch richtig für den Sohn Gottes. Sie können es glauben oder nicht: Irgendwann werden es alle merken, dass er schon immer bei ihnen bei Tisch gesessen hat. mrz

Maria mit Kind im Klosterkafi

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