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Leseprobe aus: Thomas Amos Jünger, Ernst Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Jünger, Ernst - Rowohlt · 7 Die «Causa Jünger» M it der Verleihung des Goethepreises am 28. August 1982 an Ernst Jünger rückt ein bislang außerhalb literarisch interes-

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Leseprobe aus:

Thomas Amos

Jünger, Ernst

Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Page 2: Jünger, Ernst - Rowohlt · 7 Die «Causa Jünger» M it der Verleihung des Goethepreises am 28. August 1982 an Ernst Jünger rückt ein bislang außerhalb literarisch interes-

inhalt

Die «Causa Jünger» 7

Aufbrüche 12

Chronist des Großen Krieges 33

Jahre des Werdens 65

Rückzüge 90

Nähe und Ferne 116

Ausblicke. Ernst Jünger heute 130

Anmerkungen 135

Zeittafel 139

Zeugnisse 141

Bibliographie 144

Namenregister 154

Über den Autor 157

Quellennachweis der Abbildungen 157

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Ernst Jünger bei seiner Dankesrede anlässlich der Verleihungdes Goethepreises der Stadt Frankfurt in der Paulskircheam 28. August 1982

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D i e « C a u s a J ü n g e r »

Mit der Verleihung des Goethepreises am 28. August 1982 anErnst Jünger rückt ein bislang außerhalb literarisch interes-sierter Kreise wenig bekannter Schriftsteller aus der ober-schwäbischen Provinz unvermittelt in den Mittelpunkt desöffentlichen Interesses. Zwar erhielt Jünger schon zuvorzahlreiche Ehrungen aus dem In- und Ausland, unter anderem1974 den Schillerpreis oder 1981 die Goldene Medaille derHumboldt-Gesellschaft, doch erst jetzt entwickelt sich eine ve-hement geführte Diskussion um Person und Werk. Nicht nurim Magistrat der Stadt Frankfurt herrscht Uneinigkeit, auchdie bundesdeutsche Presse trägt massive Einwände vor. EineProtestdemonstration vor der Paulskirche liefert die fernseh-gerechten Bilder zur «Causa Jünger».

Es sind die mit diesem Goethepreis verbundenen räum-lichen und zeitlichen Koordinaten, die irritierend wirken, javon den Kritikern als gezielte Provokation aufgefasst werden.Tatsächlich ruft die Preisverleihung an Jünger bedeutendePersonen, Daten und Erinnerungsorte der Deutschen auf.Nicht nur die Paulskirche, der übliche Ort der Zeremonie und1848 / 49 Sitz der Nationalversammlung, insbesondere das mitBedacht gewählte 150. Todesjahr Johann Wolfgang von Goe-thes stellt die Bedeutung des Preisträgers heraus und suggeriert,mit Jünger werde ein höchst wichtiger, gar der bedeutendstedeutsche Dichter der Gegenwart geehrt. Der unmittelbare Ver-gleich mit Goethe liegt ohnehin nahe, denn zweifelsohne stelltder Siebenundachtzigjährige mit seinem Aussehen und demlängst verinnerlichten Habitus des Klassikers eine imposanteErscheinung dar. Wie Goethe betrieb Jünger Naturforschung,wie Goethe nahm er zweimal an einem Feldzug gegen Frank-reich teil. Indes drängt sich gleichzeitig die Frage auf, ob geradeJünger jenseits dieser biographischen Übereinstimmungenerstens die große humanistische Tradition Goethes und der

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deutschen Klassik fortsetzt beziehungsweise ob er, zweitens,in der Nachfolge der bürgerlichen Märzrevolution steht, alsoDemokrat ist. Eine weitere, womöglich sublimere Beziehungbesteht zum Jahr 1949, dem 200. Geburtstag Goethes, als Tho-mas Mann der erste Preisträger der eben gegründeten Bundes-republik wurde. Goethe und auch ein Autor des 20. Jahrhun-derts (und in vielerlei Hinsicht ein Antipode zu Jünger) tretendurch das preisstiftende Kuratorium folglich mittelbar alsvorgeblich ebenbürtige Bezugsgrößen heran. Dass Jünger beiderartigen Vergleichen nicht bestehen kann, ja zwangsläufi gverlieren muss, übersehen seine Apologeten leichtfertig.

Die Verleihung des Goethepreises erfolgt 1982 vor einemallgemeinen literarhistorischen wie einem besonderen poli-tischen Hintergrund. Der deutsche Konservativismus, partei-politisch gebunden oder nicht, sieht sich im 20. Jahrhundertder Tatsache gegenüber, dass seit Kaiserreich und WeimarerRepublik sämtliche Autoren von Rang als entschiedene Ge-sellschaftskritiker linksliberale bis linksextreme Positioneneinnehmen. Einhellig geschieht die Ablehnung des Natio-nalsozialismus: Nach der Emigration Georg Kaisers 1938 indie Schweiz hält sich kein bedeutender Schriftsteller mehrinnerhalb der Grenzen des «Dritten Reiches» auf, sieht manvon dem mit Publikationsverbot belegten Gottfried Benn unddem greisen Gerhart Hauptmann ab. Während nach 1945 diein Nazi-Deutschland verbliebene literarische Nachhut dritt-klassiger Belletristen um Frank Thieß mit dem Begriff «InnereEmigration» die exilierten Kollegen diskreditiert, kehren bei-spielsweise Bertolt Brecht, Anna Seghers oder Johannes R. Be-cher nicht in die Bundesrepublik, sondern in die DeutscheDemokratische Republik zurück, und selbst Thomas Mannzieht es vor, seinen Wohnsitz in der Schweiz zu nehmen.Diese durchweg oppositionelle Haltung der bundesdeutschenLiteratur erfährt 1972 mit dem Nobelpreis an Heinrich Bölleine augenfällige Würdigung. Als 1982, eine Dekade später,angesichts des sich abzeichnenden Auseinanderbrechens dersozialliberalen Koalition ein Goethepreis-Träger gesucht wird,der, gleichsam eine Antwort auf den als Terroristenfreund dis-

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kreditierten Böll, nicht nur ein passables Œuvre vorzuweisenhat, sondern auch eine gewisse kulturpolitische Symbolwir-kung ausstrahlt und gleichzeitig als Identifikationsfigur kon-servativer Kreise taugt, fällt die Wahl in Ermangelung andererKandidaten unweigerlich auf Jünger.

Ein näherer Blick hätte gezeigt, wie ungeeignet Jünger fürdie Vereinnahmung als Goethepreis-Träger und «poeta laurea-tus» des Konservativismus ist. Sein umfangreiches Werk ent-hält an Erzählprosa lediglichkomplexe, amimetische Wer-ke; Lyrik und Dramen fehlenvöllig. Stattdessen liegen zahl-reiche semidokumentarischeWerke, Essays und Tagebuch-aufzeichnungen vor. Wedervermag Jünger damit ein grö-ßeres Publikum zu erreichen,noch empfiehlt er sich für denSchulkanon. Seine Bücherzielen, auch die scheinbarpopulär angelegten, auf eineelitäre, gebildete Leserschaftabseits literarischer Mode-strömungen. Jüngers Gegner setzen jedoch, und das zu Recht,an anderer Stelle, bei der Biographie, an und sprechen Jünger,indem sie dessen politisch-moralische Integrität bezweifeln,die Preiswürdigkeit ab. Für eine demokratische Gesellschaftin hohem Maße problematisch bleibe Jüngers Frühwerk, jenenoch in den 1950er Jahren vielgelesenen Kriegsbücher, dar-in er seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg als Offizier an derWestfront darstellt. Die hier vertretene militaristische wienihilistische und vor allem antidemokratische Grundhaltung,die er später nachweislich niemals relativieren oder revidierenmochte, schließe ihn, so die Argumentation, als Modellautor,gar als deutschen Nationalautor des 20. Jahrhunderts katego-risch aus. Ähnlich befremdlich wirkten seine gegen die erstedeutsche Republik gerichteten Veröffentlichungen. Unent-

Jüngers Ehrungen undAuszeichnungen in Auswahl:1959 Großes Verdienstkreuz der

Bundesrepublik Deutschland1965 Immermann-Preis der

Stadt Düsseldorf1975 Kanzler der Ritterschaft

des Ordens «Pour le Mérite»1979 Médaille de la Paix

der Stadt Verdun1980 Verdienstmedaille des Landes

Baden-Württemberg1985 Verleihung des Großen

Verdienstkreuzes mit Sternund Schulterband der Bundes-republik Deutschland

1990 Oberschwäbischer Kunstpreis

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schieden – und womöglich noch kontroverser zu diskutieren –sei auch seine Haltung zum Nationalsozialismus, dem Jüngerals Wehrmachtsoffizier im besetzten Paris nominell diente,ohne freilich die Ablehnung Adolf Hitlers je aufzugeben. Bel-lizist, Militarist, Technokrat, Wegbereiter beziehungsweiseSympathisant des Nationalsozialismus, elitärer Ästhet – solauten zusammengefasst die seit 1945 vorgetragenen Verdikteseiner Gegner über das Skandalon Jünger. Es ist offensicht-lich, dass ein Modellautor keinesfalls derart polarisieren, jagar nicht erst in den Verdacht dieser Anschuldigungen geratendarf, wird ihm doch eine nahezu absolute moralische Integri-tät abverlangt, die erst seine Autorität legitimiert. Entsprichtim 20. Jahrhundert ein Autor der deutschsprachigen Literaturdiesen Maßstäben, kann es nur Thomas Mann sein. Geradedessen Entwicklung vom Chauvinisten zum wortmächtigenVerteidiger der Weimarer Republik und guten Europäer, dannzum antifaschistischen Repräsentanten des Exils, wie ihnsein Werk anhand dreier Wegmarken – «Betrachtungen einesUnpolitischen» (1918), «Der Zauberberg» (1924), «DoktorFaustus» (1947) – darstellt, taugt, gerade in seinen politischenIrrtümern und Fehleinschätzungen, zum Exempel. Scheinbarbeiläufig wirft die Verleihung des Goethepreises an Jünger diehöchst aktuelle Frage nach dem Selbstverständnis des Schrift-stellers, nach seiner Positionierung zwischen Elfenbeinturmund engagierter Literatur auf – und daher rührt ihre Brisanz,ihre Bedeutung. Jünger hat kein nennenswertes Engagementvorzuweisen, das ihn als Demokrat ausweisen würde: DieKriegsbücher und die in Richtung Tendenzliteratur gehendenantirepublikanischen Hasstiraden der 1920er Jahre scheinendafür weitgehend ungeeignet. Außerdem war sein elitäres Ge-baren nie geeignet, ihn zu einem wahrhaft volkstümlichenDichter zu machen. Folglich konnte er niemals jene Populari-tät erreichen, die in Frankreich Victor Hugo oder, im 20. Jahr-hundert, Jean-Paul Sartre durch die Übereinstimmung von Per-son und literarischem Werk genossen.

Die «Causa Jünger» samt ihren Plädoyers und Gegenplä-doyers kommt nicht zufällig 1982 zu einer von der Öffentlich-

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keit derart aufmerksam verfolgten Verhandlung. Nach demDeutschen Herbst und während der Auseinandersetzungen umden Nato-Doppelbeschluss, der die Stationierung von Mittel-streckenraketen in der Bundesrepublik vorsieht, geht es nichtmehr ausschließlich um den betagten Schriftsteller allein. Mitder Ehrung Jüngers steht in Frankfurt zugleich das zur Dis-kussion und Kritik, was seine Vita in seltener Komprimierungenthält – die in die Gegenwart hineinragende, offenbar erstansatzweise aufgearbeitete deutsche Geschichte des 20. Jahr-hunderts. Indem der sich formierende Neokonservativismusversucht, Jünger, den Vertreter der Väter- und Tätergeneration,als Galionsfigur in Dienst zu stellen, missbraucht er ihn – unddesavouiert sich selbst.

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A u f b r ü c h e

Die astrologischen Definitionen sind schärfer als die psychologischen.Die Sterne bieten einen festeren Rahmen; sie greifen tiefer ein. Wieaber soll ich die typischen Züge des Widders, der zu den Feuerzeichenzählt, in Einklang bringen mit dem Bienenfleiß an abgelegten undhalbvergessenen Texten, mit der Vorliebe für verstaubte Böden, demWiedergang auf alten Wechseln überhaupt? Der Widder neigt zurÜberschreitung gesetzter Grenzen, zu Fahrten und Zügen in fremdeReiche, läßt Bahnen von Rauch und Feuer hinter sich. Nautisch ge-sprochen, bestätigen Minen seine Route, wenn er längst in anderenGewässern, Meerengen und Archipelen sich bewegt. Sein Wesen be-darf der Widerstände, die ihn aufhalten. Das gilt physisch wie meta-physisch; sein Äon hat Tiefe und Spannweite. Moses und Alexandertragen sein Zeichen; eine Doppelreihe ruhender Widder führt aufdas hunderttorige Theben zu. 1 Mit diesen Worten nutzt Jünger,auf Selbststilisierung bedacht, im Vorwort der ersten Gesamt-ausgabe seiner Werke 1965 weit ausholend die astrologischenGegebenheiten seiner Geburt zur Charakteristik der eigenenPerson. Nicht minder spannungsvoll und nachwirkend blei-ben indes die sein Leben und Werk prägenden, in Herkunftund Sozialisation liegenden Gegensätze. Ernst Jünger wirdam 29. März 1895 in Heidelberg geboren. An der ältestenUniversität Deutschlands ist sein Vater Ernst Georg Jünger,nachdem er zuvor als Apothekergehilfe in Berlin und Eng-land gearbeitet und anschließend ein Studium der Pharmazieund Chemie aufgenommen hat, frischpromovierter Assistentdes angesehenen Chemikers Victor Meyer. Beim Wechsel vonMarburg nach München lernte der lebenslustige Student ineiner Tanzwirtschaft Karoline Lampl (1873 – 1950) kennen. Danur eine Konversion des protestantischen Niedersachsen dieEhe mit der katholischen «Lily», wie sie ihre Familie nennt, er-möglicht hätte, erfolgte kurzerhand ein Umzug an den Neckar.Der erste Sohn Ernst kommt unehelich zur Welt; 1897 wird

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die Ehe auf Helgoland formell geschlossen. Auf die rigide ge-gliederte Gesellschaft des Kaiserreichs musste die Verbindungohnehin brüskierend wirken: Ernst Georg Jünger, Sohn einesHannoveraner Gymnasiallehrers, entstammt dem Bildungs-bürgertum, Lilys Vater ist Fabrikarbeiter, ihre Mutter Bäuerin.Das unbürgerliche, unkonventionelle Element, das Ernst Jün-gers Herkunft umspielt und das er später sorgsam kultiviert,begleitet seine Kindheit und Jugend in mancherlei Form, ja,es treibt noch den Achtzigjährigen um. Neben der Unruhe desgeborenen Widders plagte mich von Anfang an das Gefühl, der herr-schenden Ordnung nicht konform zu sein [. . .]. So hatte ich gegeneinen immer heftigeren Strom zu schwimmen, meist mit Widerwil-len, manchmal auch mit Lust [. . .].2

Das Geburts-haus inHeidelberg,Ziegelgasse 3

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Von seinen Eltern hat Ernst Jünger keine zusammenhän-gende Darstellung gegeben. Eindrücklicher wirkte offenbarder Vater, er bot auch mehr Reibungspunkte. Der hauptsäch-lich Jüngers großer Liebhaberei, der Entomologie, gewidmeteEssayband Subtile Jagden (1967) gibt am Anfang in den Rehbur-ger Reminiszenzen einige verhaltene Hinweise. Der Vater seinoch ein guter Botaniker gewesen. Obwohl mich auf unserenGängen oft die Sicherheit erstaunte, mit der er ein unscheinbaresKraut ansprach, war er weniger mit den Tugenden der Pflanzen alsmit ihrem Chemismus vertraut.3 Zugleich übermannt ihn, denNaturwissenschaftler alter Schule, bisweilen ein leidenschaft-licher Enthusiasmus: Der Vater war seinem Sternzeichen, demWidder nach, ein Mensch von schnellen, zugreifenden und meisterfolgreichen Bewegungen. Das galt auch für seine Neigungen, dieihn nach kurzer Inkubationszeit heftig ergriffen und ein Jahrzehnt

Die Mutter:Karoline«Lily« Jünger,geb. Lampl(1873 – 1950),1901

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lang Tag und Nacht beschäftigten, bis er sie wechselte. Sie schwan-den dann nicht ganz aus seinem Leben, doch verlor er die Leiden-schaft dafür.4 Der fähige Chemiker Ernst Georg Jünger, der dasKumarin aus dem Waldmeister isolierte, war, nach den Erin-nerungen seines Sohnes, ein leicht zu begeisternder Mann, einOpernliebhaber mit streng rationalistischer Einstellung, einpassionierter Schachspieler, der sich zuzeiten die Flucht in dieWelt des Spieles und der Spiele, der reinen, absichtslosen Neigung 5gestattete. Das Eindringen irrationaler Elemente und Ideen warihm unheimlich, Exzesse waren ihm zuwider wie das Unberechen-bare überhaupt.6 Für den Sohn verkörperte er den Siegeszug derwissenschaftlichen Methode 7, das positivistische Zeitalter samtder darin irregehenden Wissenschaft. In diesem mathematischen,von der trockenen und angesäuerten Luft der Laboratorien erfülltenRaume schien es dem Werdenden ganz undenkbar, n i c h t in der

Der Vater:Dr. phil. ErnstGeorg Jünger(1868 – 1943),Chemiker undApotheker,1897

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Die Eltern

Richtung des Fortschritts zu gehen. Die fast vollständige Unterstel-lung aller Formen des Lebens unter die Entscheidungen des Verstan-des wurde gesteigert durch eine Art von aufrührerischer Sittlichkeit,die aus den Gebieten der Kunst, der Politik und der Gesellschaft, diesich ihrerseits drängten, sich zu einem möglichst unmittelbaren Echoder wissenschaftlichen Erkenntnis zu machen, auch auf die Schulenausstrahlte. 8 Hier, in der materialistischen Endzeit des Kaiser-reichs, herrscht nichts als der öde Triumph entleerter Maße, nichtsals die tödliche Herrschaft der Zahlen 9. Rückblickend erkennt derSohn im Vater einen für die Zeit ganz untypischen nihilisti-schen Mangel an Ethos: Er gehört zu jenen Vätern, die bei Tischauf den Unsinn der humanistischen Gymnasien schimpften und de-nen, wie jede Bindung, längst auch die einer tieferen erzieherischenVerpflichtung lästig geworden war 10.

Aufschlussreicher als dieses weithin über das Werk ver-teilte fragmentarische Porträt ist, wie der fast achtzigjährigeJünger in seinem stark autobiographischen Roman Die Zwille(1973) den Protagonisten Clamor den Tod seines Vaters, einesMüllerknechts, erleben und vor allem erinnern lässt – sofernman in der grellbunten Passage nicht den Vatermord heraus-liest, den die expressionistische Generation allzu gern begeht:Blutsturz, der Sack war zu schwer gewesen; als man das Kind rief,lag der bleiche Mann im blauen Kittel schon tot auf dem Kornboden.Das Gesicht war bestäubt, war weiß wie Porzellan; ein roter Fadenzog sich aus dem Mundwinkel zur Brust. Das Bild kehrte wieder: derbleiche Mann auf dem Boden, der nach altem Holz und Mehlstaubroch. Er hätte nun weinen und klagen müssen – doch er konnte nichtin den Sinn bringen, daß es der Vater war. Dort lag ein anderer inseinen Kleidern, ein Schatten kaum von dem, den er geliebt hatte. DerVater war fortgegangen; er war allein. 11

Weniger differenziert erlebt der Sohn die gute Mutter 12,die kleine Graue, die lautlos die Lippen bewegt 13. In Münchenvon den Englischen Fräulein erzogen, verkehrte die mit zeit-genössischer Literatur und den deutschen Klassikern bestensvertraute Lily (Sie kannte den Faust auswendig und konnte ein Ge-spräch mit Zitaten bestreiten [. . .] 14) in den Kreisen der dort umdie Jahrhundertwende so umtriebigen wie künstlerisch be-

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deutenden Boheme. Sie las damals Ibsen, hatte auch einmal mitdem Bruder zusammen den Dichter angesprochen, als er vor demCafé Luitpold in der Sonne saß. Revoltierende Frauen dieser Gene-ration waren nach ihrem Herzen; gern las sie in späteren JahrenLily Brauns «Memoiren einer Sozialistin» und die Tagebücher derReventlow. 15

Ernst Jünger als Zweijähriger, 1897

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