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Interkulturelle Kompetenz Jürgen Bolten

Interkulturelle Kompetenz - AMS-Forschungsnetzwerk€¦ · dem Fachgebiet Interkulturelle Wirtschafts-kommunikation der Universität Jena, inter-culture.de und der Landeszentrale

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InterkulturelleKompetenz

Jürgen Bolten

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Dr. Jürgen Bolten ist Professor für interkulturelle Wirtschaftskommunikation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Landeszentrale für politischeBildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.

Landeszentrale für politische Bildung ThüringenRegierungsstraße 73, 99084 Erfurt2007www.lzt.thueringen.de

Satz und Druck: Druckerei Sömmerda GmbH

ISBN 978-3-937967-07-3

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3Inhalt

Startmenü . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5Vorwort zur Neubearbeitung, Interkulturell kompetent? Ein Selbsttest. (S. 7)

1. Kultur – Kommunikation – Interkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 101.1. Enger und erweiterter Kulturbegriff (S. 10) 1.1.1 Es gibt keine „wahren“ Kultu-ren: Von den Tücken eines engen Kulturbegriffs (S. 12) 1.1.2 Das Individuum in sei-ner Lebenswelt: Der erweiterte Kulturbegriff (S. 13) 1.1.3 Kulturen sind keine Con-tainer: Geschlossene und offene Varianten des erweiterten Kulturbegriffs (S. 14)1.1.3.1 Der „geschlossene“ bzw. räumlich fixierte Kulturbegriff (S. 15) 1.1.3.2 Der„offene“ bzw. sozial fixierte Kulturbegriff (S. 16) 1.1.4 Exkurs für alle, die kulturellesWissen vermitteln möchten: „Erklären“ heißt mehr als nur „Beschreiben“ (S. 19) 1.2„Multikulturelle“ oder „interkulturelle“ Kompetenz? (S. 22) 1.3 Ohne Kommunikationgäbe es keine (Inter-)Kulturen (S. 23) 1.4 Was heißt „interkulturelle Kompetenz“? Ers-te Zusammenfassung mit Empfehlungen zur interkulturellen Kompetenzentwicklung(S. 24) 1.5 Zum Nach- und Weiterdenken (S. 26)

2. Wir wissen nicht, was wir tun: Zur Kulturgebundenheit unseres Wahrnehmens, Denkens und Handelns . . . . . . . . . . . 29

2.1 „Perceptas“ – wie Wahrnehmung funktioniert (S. 30) 2.1.1 Wahrnehmung istselektiv und subjektiv (S. 31) 2.1.2 Wahrnehmung ist kein passiver Vorgang (S. 31)2.1.3 Was wir wahrnehmen, ist erfahrungsabhängig (S. 32) 2.2 Keine „Perceptas“ohne „Konceptas“ – warum wir auf eine ganz bestimmte Art und Weise wahrnehmen(S. 35) 2.3 Struktur und Funktion des kollektiven Gedächtnisses (S. 37) 2.3.1 Daskollektive Gedächtnis als Interpretationsvorrat (S. 37) 2.3.2 Zur Abgrenzbarkeitsozialer Wissensvorräte (S. 40) 2.4 Kultur ist Kommunikationsprodukt – oder: warumeine Kultur so geworden ist, wie sie ist (S. 41) 2.5 Was heißt „interkulturelle Kompe-tenz“? Zweite Zusammenfassung mit Empfehlungen zur interkulturellen Kompetenzent-wicklung (S. 46) 2.6 Zum Nach- und Weiterdenken (S. 47)

3. Der Umgang mit Fremdem und Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 503.1 Wann ist uns etwas fremd? (S. 50) 3.2 Alles ist relativ: Fremdbilder als Spiegeldes Selbstverständnisses (S. 51) 3.3 Über die Unvermeidbarkeit von Stereotypen undVorurteilen (S. 54) 3.4 Was Stereotype und Vorurteile über diejenigen verraten, die

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4sie äußern (S. 56) 3.5 Wie fremd kann, darf oder muss das Fremde sein? Über dieGrenzen der Integration (S. 58) 3.6 Was heißt „interkulturelle Kompetenz“? Drit-te Zusammenfassung mit Empfehlungen zur interkulturellen Kompetenzentwicklung(S. 59) 3.7 Zum Nachdenken und Diskutieren (S. 60)

4. Multikulturalität und Interkulturalität oder: Vom Nebeneinander zum Miteinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

4.1 Multikulturelle Perspektiven – oder: Drei Varianten von Multikulturalität (S. 63)4.2 Synergien fördern statt Synthesen planen (S. 67) 4.3 Konsens nicht um jedenPreis (S. 73) 4.4 Interkulturelle Missverständnisse und Metakommunikation (S. 74)4.5. Wo sind die Grenzen der „Einmischung in kulturelle Angelegenheiten“? (S. 76)4.6 Was heißt „interkulturelle Kompetenz“? Vierte Zusammenfassung mit Empfehlun-gen zur interkulturellen Kompetenzentwicklung (S. 78) 4.7 Zum Nachdenken undDiskutieren (S. 79)

5. Interkulturelles Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

5.1 Kernprobleme und Bewältigungsstrategien deutscher Entsandter im Ausland

(S. 82) 5.2 Vorsicht Mythos: „Interkulturelle Kompetenz“ ist keine eigenständige

Handlungskompetenz! (S. 86) 5.3 Trainingstypen und Übungen zum interkulturellen

Lernen (S. 89) 5.3.1 Trainings off the job (S. 89) 5.3.1.1 Kulturübergreifende Trai-

nings (S. 89) 5.3.1.2 Kulturspezifische Trainings (S. 93) 5.3.1.3 Lerneinheiten er-

stellen: Die didaktische Spirale (S. 99) 5.3.2 Interkulturelle Kompetenzentwicklung

on the job (S. 102) 5.3.2.1 Interkulturelles Coaching (S. 103) 5.3.2.2 Interkulturel-

le Mediation (S. 107) 5.4 Thesen zum interkulturellen Lernen in der Schule (S. 108)

5.5 Was heißt „interkulturelle Kompetenz“? Fünfte Zusammenfassung mit Empfehlun-

gen zur interkulturellen Kompetenzentwicklung (S. 112) 5.6 Zum Nach- und Weiter-

denken (S. 115)

6. Informationspool. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

6.1 Literaturhinweise (S. 118), 6.2. Links (S. 123)

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5Startmenü

Vorwort zur Neuauflage

Der vorliegende Band stellt gegenüber denbisherigen Auflagen der „InterkulturellenKompetenz“ eine vollständige Neubearbei-tung dar. Warum ein solcher Schritt bereitsnach einer relativ kurzen „Buch-Lebenszeit“von knapp fünf Jahren angeraten schien,mag ein Blick in das „Startmenü“ der Aus-gabe von 2001 verdeutlichen. Es begannmit einer quantitativen Bestandsaufnahme:

„Als 1999 die ersten Materialsammlungenzu diesem Band anstanden, ergab eineweltweite Internetrecherche insgesamt 58Einträge zum Thema ‘Interkulturelle Kom-petenz’. Bis Anfang 2001 hatte sich dieseZahl verdreißigfacht, so dass die gleicheSuchmaschine insgesamt 1740 Einträgeverzeichnen konnte“.

Bei Redaktionsschluss der Neubearbeitungwar die Zahl der „google“-Einträge von1740 auf über 1.100.000 gestiegen (Zu-griff Juni 2006). Zumindest in quantitativerHinsicht scheint also einiges bewegt wor-den zu sein. Und in qualitativer Hinsicht? Ei-nerseits haben engagierte Diskurse und Pro-jekte sowohl in der Aus- und Weiterbildungals auch in der kommunalen und unterneh-merischen Praxis dazu beigetragen, dassinterkulturelle Kompetenz hinsichtlich ihrerBedeutung für unser alltägliches Handelnweitgehend akzeptiert ist. Immerhin: Sogarder „Duden“ enthält seit 2004 unter demStichwort „interkulturell“ einen Eintrag. An-dererseits kann man sich des Eindrucks nichtganz erwehren, dass die Einführung in brei-te Lebensbereiche vieler kreativer und gutgemeinter Ideen nur bedingt gelungen ist.Die Themen, über die in Zusammenhang

mit interkultureller Kompetenz in der Öffent-lichkeit debattiert wird, sind vielfach diesel-ben wie zur Jahrtausendwende: Immer nochstehen Integrationskonzepte bei gleich blei-benden Fragestellungen auf dem Prüfstandoder werden Auslandsvorbereitungen nachunveränderten Dos & Dont’s-Strickmusterndurchgeführt. Qualitative Fortschritte oderneue Lösungen sind oft nicht erkennbar. DieDiskussionen um das Zuwanderungsgesetz,aber auch die sehr zögerliche Umsetzungder in den meisten Bundesländern curricu-lar festgeschriebenen Einbeziehung interkul-tureller Querschnittthemen in den Schulun-terricht bestärken diesen Eindruck.

Ein wenig scheint interkulturelle Kompetenzeine Angelegenheit der political correct-ness zu sein: man akzeptiert das Grundkon-zept, tritt gegebenenfalls auch öffentlichdafür ein – und zieht sich im entscheiden-den Moment der interkulturellen Handlungs-erfordernis zurück. Dies beginnt häufig be-reits im Privaten; dort, wo man „Gesichtzeigen“ müsste, wo über den guten Willenhinaus auch Initiativen oder schlicht die Ta-ten der Einzelnen gefordert sind. Hier gäbees bei einer Bestandsaufnahme zweifellosviel Erfreuliches zu berichten. Aber die Zahlder Zauderer ist noch zu groß. Und was imprivaten Umfeld nicht gelingt, wird in größe-ren Gemeinschaften erst recht nicht funktio-nieren. Ein solches Zurückweichen vor einerinitativen interkulturellen Praxis entspringt oftVerhaltensunsicherheiten, die dem neutrali-sierenden und relativierenden Charakter derpolitical correctness geschuldet sind. Inso-fern ist es für die kommenden Jahre sicher-lich auch eine äußerst wichtige Aufgabe,interkulturelle Kompetenz gerade nicht als„political correct“ zu verstehen.

Ohne Definitionen von „interkulturellerKompetenz“ vorwegnehmen zu wollen: Vorallem gehört dazu, einen klar umrissenenund vor allem selbstbewussten Standpunkt

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6in Bezug auf kulturelle Vielfalt und inter-kulturelles Handeln vertreten zu können.Nur so lässt sich verhindern, dass eine Ak-zeptanz der gleich(berechtigten) Gültig-keit unterschiedlicher kultureller Positionenin Gleichgültigkeit, in ein „anything goes“,umschlägt .

Die Neufassung dieses Bandes greift denaktuellen Diskussionsstand prozessorientier-ten Sichtweise auf, derzufolge „Kultur“ und„Interkultur“ nicht mehr als mehr oder mindergeschlossene Strukturen verstanden werden,sondern als offene Netzwerke. In diesemSinn wird auch „interkulturelle Kompe-tenz“ als Prozess und nicht als Lernziel ver-standen. Einen solchen Weg interkulturellerKompetenzentwicklung zu markieren, denLesern Grundlagen für die eigene „Reise“bereitzustellen und sie auf einen solchenWeg einzuladen, ist wesentliches Ziel die-ses Bandes. Diejenigen, die in der interkul-turellen Aus- und Weiterbildung tätig sind,werden von dem Band andere Informatio-nen erwarten und erhalten als diejenigen,die sich selbst beruflich auf ein internationa-les Arbeitsfeld vorbereiten oder die in derMigrationspraxis tätig sind

Der Band beginnt mit einem eher theo-retisch orientierten Grundlagenteil, in demunter anderem versucht wird, Begriffe wie„Kultur“ und „Interkulturalität“ zu erklärenoder auch unterschiedliche Zugänge zumKulturverstehen zu diskutieren (Kapitel 1).Stärker beispiel- und fallstudienorientiertwerden in den mittleren Kapiteln (2–4) The-men angesprochen und erläutert wie bei-spielsweise die Kulturgebundenheit unse-res Wahrnehmens, die Entstehung vonFremdbildern und Stereotypen, Organisa-tionsformen multikultureller Gesellschaftenoder auch das Arbeiten in multinationalenTeams. Während diese Teile des Buchesauch als Materialbasis für Unterrichts- undSeminarveranstaltungen im Bereich der in-

terkulturellen Kompetenzvermittlung verwen-det werden können, eignet sich das letzteKapitel vor allem als Orientierungsrahmenfür Überlegungen zur Erstellung eigener in-terkultureller Materialien und Trainings. Hierfinden sich einerseits konzeptionelle Vor-schläge, andererseits aber auch eine Reihevon Übungen, die im Rahmen interkulturellerTrainings eingesetzt werden können. DenAbschluss bildet ein „Informationspool“ mitweiterführenden Lektürehinweisen und Linkszu allem, was zum Thema „InterkulturelleKompetenz“ interessant sein könnte.

Abgeschlossen wird jedes Kapitel mit kur-zen Zusammenfassungen und Empfehlun-gen zur praktischen Anwendung sowie mitkleinen Fallbeispielen und Übungen, die da-zu anregen sollen, das Gelesene auch inanderen Kontexten als den beschriebenenweiterzudenken.

Parallel zu diesem Band ist in den vergan-genen Jahren in Zusammenarbeit zwischendem Fachgebiet Interkulturelle Wirtschafts-kommunikation der Universität Jena, inter-culture.de und der Landeszentrale für Po-litische Bildung Thüringen eine Website mitzahlreichen interkulturellen Übungen – teilszum Download, teils zur Direktbearbeitungam Computer – entstanden, die vor allemvon Lehrenden als Fundgrube für ihre Arbeitgeschätzt wird: www.ikkompetenz.thuerin-gen.de

Um einerseits die Leselust zu wecken, an-dererseits aber auch Hinweise zu geben,wo für den einen oder den anderen amehesten die Schwerpunkte bei der Lektüredieses Bandes liegen könnten, mag der fol-gende „Selbsttest“ einige Anhaltspunkte ver-mitteln. Er stellt einerseits Themen vor, die inden einzelnen Kapiteln dann intensiver dis-kutiert werden; andererseits möchte er aberauch Orientierungen hinsichtlich des eige-nen Kenntnisstandes geben.

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7In den meisten Fällen existieren keine rich-

tigen oder falschen Lösungen, und es gibtauch keine Punktzahlen. Aber jeder, derden Test mitmacht, wird bei den einzelnenAufgaben eine mehr oder minder große Un-sicherheit in der Beantwortung bemerken.Das Ausmaß der Sicherheit oder Unsicher-

heit, mit der man eine Aufgabe abschließt,kann dann als Entscheidungshilfe aufgefasstwerden, ob man das entsprechende Kapitelgetrost überspringt oder doch intensiverlesen sollte. Auf jeden Fall gilt: Viel Spaßund viel Erfolg!

Interkulturell kompetent? Ein Selbsttest1. Welche (eventuell auch mehrere) der nachstehenden Definitionen des Begriffs „Kultur“ ist

Ihrer Meinung nach zutreffend?

□ Soziale Lebenswelt□ „besondere, verfeinerte Lebensweise“□ „Ackerbau“□ „jede Lebens(um)welt“□ „Nation“

2. Welche Aussage ist Ihrer Meinung nach plausibler:

□ „Jedes Land hat eine Kultur“□ „Jedes Land ist eine Kultur“

3. Wie würden Sie „Interkulturalität“ definieren?

□ „Vergleich zwischen zwei Kulturen“□ „Ereignis, das zwischen Angehörigen unterschiedlichen Kulturen stattfindet, wenn die-

se Kontakt miteinander haben“□ „Synthese zwischen zwei kulturell unterschiedlichen Gruppen“□ „Ein ‚Drittes’, das im Kontakt zwischen Angehörigen unterschiedlicher Ausgangskultu-

ren entsteht und mit keiner dieser Ausgangskulturen identisch ist.“□ „Interkulturell = international“

4. Wahrnehmung funktioniert.....

□ wie das Fotografieren: Realität wird aufgenommen und im Gehirn 1:1 abgebildet□ als Konstruktion von Realität□ indem wir neue Erfahrungen an bestehendes Wissen anzuknüpfen versuchen.□ objektiv

5. Die Besonderheiten einer Kultur erklären sich aus

□ ihrer natürlichen Umgebung□ der Art und Weise, wie in dieser Kultur kommuniziert wird

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8□ den wechselseitigen Einflüssen in Bezug auf andere Kulturen□ aktuellen politischen Machtverhältnissen□ angeborenen Eigenschaften der Kulturmitglieder

6. Schätzen Sie, wie weit die in der Tabelle aufgelisteten Städte von Frankfurt/M. entferntsind (Flugkilometer). Was könnte diese Schätzung mit dem Thema „Fremdheit“ zu tunhaben?

7. Von Mitte der neunziger Jahre an wurde unter den Typenbezeichnungen VW Sharan,Ford Galaxy und Seat Alhambra über zehn Jahre lang ein nahezu identischer Minivanproduziert und vertrieben. Obwohl sich die Fahrzeuge auch hinsichtlich des Preises kaumunterschieden, wurden vollkommen unterschiedliche Absatzzahlen erzielt. So wurde derVolkswagen Sharan in Deutschland zeitweise fast doppelt so oft verkauft wie die ent-sprechenden Ford Galaxy-Modelle und sogar um das Neunfache mehr als der Seat Al-hambra. Können Sie dieses Ergebnis erklären? Welche Rolle könnten Fremdbildzuschrei-bungen hierbei spielen?

8. „Multikulturelle Gesellschaft“ heißt...

□ ...dass Angehörige verschiedener Kulturen weitgehend konfliktfrei koexistieren können □ ...dass Angehörige unterschiedlicher Kulturen eine gemeinsame „Leitkultur“ befolgen□ ...dass man seine eigene Identität so weit wie möglich aufgibt und die Verhaltenswei-

sen des Aufenthaltslandes komplett übernimmt□ dass man identitätsstiftende Freiräume der einzelnen Kulturen wahrt und respektiert und

trotzdem ein interaktives Miteinander praktiziert.

9. Beim Management interkultureller Prozesse (internationale Unternehmenskooperationen,internationales Teambuilding) ist folgendes Leitprinzip zu empfehlen:

□ Das wirtschaftlich stärkere Unternehmen sollte in jeder Hinsicht dominieren.□ Man sollte sich um eine Synthese der jeweils besten Eigenschaften bemühen

Zielort Flugkilometer von Frankfurt/M.

AlgierAthenDubaiHelsinkiIstanbulWashingtonKinshasaNew DelhiMoskauTokio

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9□ Man sollte Synergiebildungen fördern und möglichst viel Entfaltungsfreiraum bieten.□ Eine vollständige Verschmelzung der kulturellen Unterschiede ist anzustreben.□ Die kulturelle Differenz der Partner sollte bewusst gemacht werden.

10. Man weiß, dass Auslandsmitarbeiter deutscher Unternehmen intuitiv sehr unterschiedli-che Strategien einsetzen, um Probleme des Auslandsaufenthaltes erfolgreich bewältigenzu können. Welche der nachstehenden Strategien haben Ihrer Meinung nach positiveWirkungen, welche sind eher negativ?

Wer gezielt nachsehen möchte, wie die jeweiligen Antwortmöglichkeiten in diesem Banddiskutiert werden, kann in Bezug auf die einzelnen Testaufgaben folgenden Nachschlage-schlüssel verwenden: 1 ⇒ Kapitel 1.1.; 2 ⇒ Kapitel 1.1.2, 1.1.3; 3 ⇒ Kapitel 1.1.5;4 ⇒ Kapitel 2.1, 2.2; 5 ⇒ Kapitel 2.3, 2.4; 6 ⇒ Kapitel 3.1; 7 ⇒ Kapitel 3.2; 8 ⇒Kapitel 3.3; 9 ⇒ Kapitel 4.1; 10 ⇒ Kapitel 4.2, 4.3; 10 ⇒ Kapitel 5.1.

Wie gesagt, die Lösungen zu den einzelnen Fragen sind sehr vielschichtig und auch nicht im-mer in der (vielleicht gewünschten) Eindeutigkeit formulierbar. Aber mit Nicht-Eindeutigkeitenumgehen, sie „aushalten“ und sich selbst Offenheit und Flexibilität bewahren zu können, ist– wie wir sehen werden – bereits ein wichtiger Bestandteil interkultureller Kompetenz.

Strategie Beispiel positiv negativ

Negativer Vergleich „Im Vergleich zum Herkunftsland ist alles schlechter”

Duldung/Akzeptanz Unthematisiertes Sich-Abfinden mit Gegebenheiten,die man eigentlich nicht akzeptiert

Identitätsbewahrung Man versucht den eigenen Standpunkt als ohne Anpassungs- vermeintlich grundsätzlich besseren durchzusetzen bereitschaft

Konfrontation Aggressives Verdeutlichen von entgegengesetzten Standpunkten

Selbstentlastung Für Missverständnisse und negative Entwicklungen wird die fremde Situation verantwortlich gemacht

(Kultur-)Lernen Beobachtungslernen; permanente interkulturelle Lernbereitschaft; Offenheit gegenüber Fremdem

Organisationsmaßnahmen Fähigkeit zur Regeleinführung, zum realistischen Selbst- und Zeitmanagement

Beziehungsaufbau Kontakte knüpfen und auf andere zugehen können

Positiver Vergleich Situationsaufwertungen vornehmen können; an fremdenErfahrungen das Positive sehen und schätzen lernen

Problemumbewertung Probleme nicht übergewichten, sich nicht davon mitreißen lassen und versuchen bewusst daraus zu lernen

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101.Kultur – Kommunika-tion – Interkulturalität

Die meisten Aus- und Weiterbildungsan-gebote, die in den vergangenen Jahrenzum interkulturellen Lernen entwickelt wur-den, sind von der Grundidee geprägt, dasMiteinander von Menschen verschiedenerNationalitäten zu fördern und zu erleich-tern. Gleiches trifft auf die zahlreichen Ini-tiativen zur Förderung der interkulturellenZusammenarbeit zu sowie auf eine inzwi-schen unüberschaubare Anzahl einschlägi-ger Publikationen, Trainings- und Lehrmate-rialien. Trotz der gut gemeinten Absichtenwerden nicht immer Ergebnisse erzielt, diedas internationale Zusammenleben auch tat-sächlich fördern: Vorurteile werden verstärktanstatt abgebaut, Verkrampfungen im Um-gang mit Angehörigen anderer Kulturenentstehen gerade dort, wo eigentlich ein na-türliches, unkompliziertes Miteinander ange-strebt wird, und Toleranz wird nicht immer indem Maße realisiert, wie man es sich gernewünschen würde.

Eine Ursache für den häufig unsicheren,teilweise auch kontraproduktiven Umgangmit Fremdem und Fremdheit dürfte darinliegen, dass die interkulturelle Thematik bil-dungspolitisch noch nicht in der Tragweiteernst genommen wird, die ihr in einer Zeitzunehmender Globalisierung eigentlich zu-stände. „Interkulturelle Kompetenz“ kann inder Regel nur in eigener Initiative erwor-ben werden; wobei eigentlich kaum je-mand so recht weiß, was unter einem sol-chen Lernziel genau zu verstehen ist undwie es realisiert werden kann. Vielfach wirdauf Erfahrungslernen gesetzt, wobei man

allerdings sehen muss, dass die Möglich-keiten hierzu aufgrund eines regional sehrgeringen Ausländeranteils von teilweise un-ter 2% (Thüringen, Sachsen-Anhalt) geringsind. Andererseits wird aber gerade in die-se Richtung immer wieder der Vorwurf man-gelnder interkultureller Sensibilität und Kom-petenz geäußert. Das spricht sich natürlichauch im Ausland herum, sodass gerade ost-deutsche Regionen von Ausländern eher mitArgwohn betrachtet und folglich gemiedenwerden: Ein Teufelskreis, der kaum andersauflösbar ist als dadurch, dass interkulturel-les Lernen in Kernbereichen der Aus-, Fort-und Weiterbildung verankert wird – undzwar nicht auf diffuser Zufallsbasis, sondernals ein in sich stimmiges Lernkonzept.

Vor diesem Hintergrund wollen wir uns zu-nächst mit Begrifflichkeiten vertraut machen,die zur besseren Erfassbarkeit der Komple-xität von „interkultureller Kompetenz“ bei-tragen. Sie sollen Inhalte und Methoden in-terkulturellen Lernens gezielt eingrenzen,abwägen und aufeinander abstimmen kön-nen.

1.1Enger und erweiterter Kulturbegriff

Definitionen des Kulturbegriffs sind so zahl-reich und vielfältig, dass man schon ausdiesem Grund Erwartungen an eine ver-bindliche und „richtige“ Bedeutungsrege-lung enttäuschen muss: „Den“ allgemeingültigen Kulturbegriff gibt es nicht.

Eine Ursache hierfür mag in dem etymolo-gisch breiten Spektrum von „Kultur“ ange-legt sein: Abgeleitet aus dem lateinischenVerb colere fanden über die Vermittlung desfranzösischen cultiver Zusammensetzungenmit dem Wortstamm kult- Eingang in dasDeutsche, die hinsichtlich ihrer Bedeutungs-

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11kontexte in vier deutlich voneinander ab-grenzbare Gruppen eingeteilt werden kön-nen. Es handelt sich hierbei um 1. (be-)woh-nen, ansässig sein, 2. pflegen, schmücken,

ausbilden, wahren, veredeln, 3. bebauen,Ackerbau treiben und 4. verehren, anbeten,feiern1.

Etymologie des Kulturbegriffs

Während die Bedeutungszuweisung inder Variante (4) verehren, anbeten, feiernrelativ eindeutig in Wortverbindungen mitdem Grund- oder Bestimmungswort „kult“realisiert ist (Kultusministerium, Starkult,Kultfilm, Kultfigur, kultig), werden die dreierstgenannten Bedeutungen im Deutschenundifferenziert mit dem Grund- oder Be-stimmungswort „Kultur“ belegt. Dass jedoch

Nationalkultur, Kulturraum (1) mit Geistes-kultur, Kulturbanause, „Kunst“, Kulturgut,Kulturtasche (2) oder mit Bakterienkultur,Kulturpflanze, Kulturflüchter (3) in keinemunmittelbaren Sinnzusammenhang stehen,liegt auf der Hand.

Offenkundig sind indes Unterschiede inBezug auf die Breite der jeweiligen Bedeu-tungsspektren: während der lebensweltliche

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12(1) und der im weiteren Sinne naturbezoge-ne Kulturbegriff (3) jeweils auf sehr unter-schiedliche und breit gefächerte Gegen-standsbereiche verweisen, verfügen die aufhochkulturelle (2) und kultbezogene Aspekte(4) verweisenden Kulturbegriffe auf eherenge Bedeutungsspektren wie Kultiviertheit,Kunst und Religion bzw. deren säkularisierteKultformen.

Dementsprechend unterscheiden wir zwi-schen engem und erweitertem Kulturbegriff.

1.1.1Es gibt keine „wahren“ Kulturen –oder: Von den Tücken eines engenKulturbegriffs

Der enge Kulturbegriff geht zurück auf dievor allem von den Philosophen ImmanuelKant und später von Oswald Spengler ver-tretene Trennung von „Kultur“ und „Zivi-lisation“. Diese – im Übrigen außerhalbDeutschlands eher ungeläufige – Differen-zierung wirkt noch heute in alltagssprachli-chen Wendungen nach wie etwa: „Zivi-lisation ist, wenn man eine Gabel besitzt;Kultur, wenn man sie benutzt“.

Der Ausspruch dokumentiert sehr deutlich,weshalb „Kultur“ immer noch im Sinne Pla-tons als Repräsentant des Schönen, Wah-ren und Guten verstanden und damit aufKunst und Geisteskultur eingeengt wird. Pla-ton hatte in seinem Höhlengleichnis (Politea,7. Buch) zwischen der Welt der raumzeit-lichen Wirklichkeit und der Welt der Ideen,der Wahrheit, unterschieden. Während dieüberwiegende „Masse“ der Menschen ein-schließlich der – man würde heute sagen:„trivialen“ – Schriftsteller ihr Leben lang inden Niederungen der Höhle gefangen blei-ben, besitzt der göttlich inspirierte (Dichter-)

Philosoph kraft seiner Erinnerungsfähigkeit(„anamnesis“) die Möglichkeit, die Höhlezu verlassen und der Idee des Wahren,Schönen und Guten ansichtig zu werden.Seine Aufgabe besteht darin, als Volks-aufklärer tätig zu werden, indem er derMasse mitteilt, was er außerhalb der Höhlegesehen hat. Auf diese Weise versucht er,die „Nichtwissenden“ zu „kultivieren“.

Ein in diesem Sinne auf „Hochkultur“ zie-lender Kulturbegriff wirkt schon deshalbverengend, weil er sich logisch nur durchdie Setzung seines Gegenteils, eben des„Nicht-Kultivierten“, der „Unkultur“ (der Mas-se), erhalten kann. Ein solcher Kulturbegriffist in Bezug auf das Anliegen der interkul-turellen Kommunikation in zweierlei Hinsichtfatal: Zum einen unterstellt er ein erheblichesMachtpotenzial der „Sehenden“ gegenüberden „Blinden“, weil erstere beliebig fest-legen können, was „Kultur“ ist und wasnicht. Zum anderen ist er unhistorisch unddamit undynamisch, weil die philosophi-schen Ideen, denen er sich verschreibt,„ewig“ und unwandelbar sind. Vor diesemHintergrund ist auch zu verstehen, weshalb„Klassiker“ bis heute weitgehend unhinter-fragt Generationen literarischer Kanonbe-stimmungen und Schulcurricula bestimmen.

Wer im Sinne Platons eine solche Kraftdes „Erinnerns“ besitzt, hat es natürlichleicht, angeblich Gutes von Schlechtem zutrennen. Diejenigen, die in dieser Form han-deln setzen sich nicht nur in die Position,sondern auch ins Recht, über andere rich-ten, ihnen „Kultur“ zu- oder absprechen zukönnen.

„Entwickelte“ Kulturen werden auf dieseWeise gegen „naive“ Kulturen abgegrenztund als Lehrmeister gegenüber den „Be-dürftigen“ ausgewiesen.

Dass dogmatisches Denken erheblicheMachtpotenziale ausspielt, liegt auf derHand. Und dass dies in der Geschichte

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13unzählige Male Anlass für Diffamierungen,Besetzungen und kriegerische Konflikte war,ist eine Erfahrungstatsache, die schwer ge-nug wiegt, um Vorsicht gegenüber der Ver-wendung eines solchen engen Kulturbegriffswalten zu lassen

1.1.2Das Individuum in seiner Lebenswelt:Der erweiterte Kulturbegriff

Die ersten massiven politischen Vorbehal-te gegen einen engen Kulturbegriff stam-men aus den späten sechziger Jahren des20. Jahrhunderts – eine Zeit, in der dasElitedenken in Verruf geriet, in der die Ak-zeptanz von Massenmedien und „Massen-kultur“ wuchs und die Freiheit zu individuel-ler und sozialer Selbstentfaltung ein ganzentscheidendes Gewicht in der Werteskalaerhielt.

Ralf Dahrendorf, seinerzeit in der BRD Par-lamentarischer Staatssekretär im Auswärti-gen Amt, plädierte dafür, von einem „engenKulturbegriff der Madrigalchöre“ wegzu-kommen, „hin zu einem weiten Kulturbegriff,in dem beispielsweise die Umweltproblemeebenso sehr einen sicheren Ort haben wieLiteratur und Kunst, die nicht hinausgewor-fen werden sollen, aber die eingebundenwerden sollen in ein weiteres Verständnisder menschlichen Lebensverhältnisse“2. Inähnlicher Weise sprach sich 1970 der da-malige Außenminister und spätere Bundes-präsident Walter Scheel für die Verwen-dung eines erweiterten Kulturbegriffs aus:„Kultur ist kein Privileg mehr für wenige, son-dern ein Angebot an alle. Wir dürfen nichtin Ehrfurcht vor Dürer, Bach und Beethovensitzen bleiben; wir müssen Interesse aufbrin-gen für brennende Fragen der Gegenwart,

darunter Erwachsenenbildung, Bildungshil-fe, Schulreformen, Umweltprobleme“3.

Auch wenn der enge („hochkulturelle“) Kul-turbegriff heute noch verwendet wird, hatsich der „erweiterte“ Kulturbegriff inzwi-schen durchgesetzt. Dieser lebensweltlichorientierte Kulturbegriff ist es auch, mit demwir notwendigerweise arbeiten, wenn wiruns mit interkulturellem Lernen beschäftigen.Er ist nicht auf das vermeintlich „Besondere“eingeschränkt, sondern umfasst alle Lebens-äußerungen. Hierzu zählen Religion, Ethik,Recht, Technik, Bildungssysteme, materielleund immaterielle Produkte ebenso wie bei-spielsweise die seinerzeit in der ÄußerungScheels erwähnten Umweltprobleme. Ge-rade dieser Hinweis macht sehr deutlich,dass die spätestens seit der griechischenAntike immer wieder diskutierte Entgegen-setzung von „Natur“ und „Kultur“ nicht imSinne eines Gegensatzes verstanden wer-den kann: Kultur, wenn man sie als Lebens-welt versteht, zeichnet sich dadurch aus,dass sie zwar geschaffen und durch einegewisse Organisiertheit ausgezeichnet ist.Allerdings geschieht dies in Wechsel-wirkung mit der natürlichen Umwelt, sowie umgekehrt die natürliche Umweltdurch die „Kultur“ im Sinne der „geschaf-fenen“ Lebenswelt beeinflusst ist.

Zusammenfassend lässt sich festhalten,dass der erweiterte bzw. lebensweltlich de-finierte Kulturbegriff im Gegensatz zumengen Kulturbegriff weniger ausgrenzt alsintegriert, dass ihm keine zeitlos-statische,sondern eine historisch-dynamische Bedeu-tung eigen ist, und dass er sich Wertun-gen zu entziehen versucht. Damit beinhaltetder Kulturbegriff wesentliche Voraussetzun-gen, die erbracht sein müssen, um Prozessekulturübergreifenden Handelns ohne Wer-tungsbedürfnis beginnen und mitgestaltenzu können.

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14Bezogen auf die drei anderen genanntenBedeutungen von „Kultur“ ist der lebenswelt-liche Kulturbegriff übergreifend zu denken:Er schließt Wechselwirkungen mit der natür-lichen Umwelt (biologischer Kulturbegriff,<3>) ebenso ein wie den Kultbereich alsSinngebungsinstanz <4> und den Bereichdes „Kultur“schaffens im engen Sinn <2>.Aus der Perspektive des lebensweltlichenKulturbegriffs gilt dementsprechend: EineGesellschaft hat keine Kultur, sondern istKultur. Als Kultur hat sie wiederum eineKunstszene: In diesem Sinne wäre es zurVermeidung begrifflicher Mehrdeutigkeithilfreich auch von „Kunst“ (und nicht von„Kultur“) zu sprechen, wenn man Kunstmeint.

1.1.3Kulturen sind keine Container: Ge-schlossene und offene Varianten deserweiterten Kulturbegriffs

Aber auch der erweiterte Begriff von ‚Kulturals Lebenswelt’ birgt erhebliches Konfliktpo-tenzial. Und zwar dort, wo der Versuch un-ternommen wird, Lebenswelten räumlich zubestimmen. Dies hat zur Folge, dass Kultu-ren nicht nur auf ein bestimmtes Territoriumeingegrenzt, sondern auch voneinander ab-gegrenzt werden.

Dies ist problematisch, weil dank jahrtau-sendelanger Migrationsbewegungen undKommunikationsprozesse kaum eine Lebens-welt als isolierte und von Außeneinwirkun-gen unbeeinflusste Kultur denkbar ist. JedeKultur stellt ein Produkt interkultureller Prozes-se dar. Dieses Problem wird in Kauf genom-men, um so etwas wie „Cultural Studies“,„Kulturkunde“ etc. überhaupt durchführenoder um spezifische Merkmale bestimmter

Ethnien und Gruppen beschreiben und er-klären zu können.

Spätestens seit Mitte der neunziger Jah-re nahmen die Argumentationen zu, dieein solches „Containerdenken“ ablehnen.Im Zentrum der Kritik steht dabei insbeson-dere der unter den Varianten des erweiter-ten Kulturbegriffs immer noch dominieren-de nationalstaatliche Kulturbegriff. Zu einerZeit, in der sich der klassische National-staat in weiten Teilen der industrialisiertenWelt als Auslaufmodell erweist, ist auchein nationalstaatlich orientierter Kulturbegriffüberflüssig. Für den Soziologen Ulrich Becksignalisiert der Globalisierungsprozess dieEndphase der bisherigen „Ersten Moderne“und gleichzeitig den Beginn eines neuenDenkens, das der „Zweiten Moderne“:

„Globalisierung stellt eine Grundprämisse derErsten Moderne in Frage, nämlich die Denk-figur, die A.D.Smith ‘methodologischen Natura-lismus’ nennt: Die Konturen der Gesellschaftwerden als weitgehend deckungsgleich mitden Konturen des Nationalstaats gedacht. MitGlobalisierung in all ihren Dimensionen entstehtdemgegenüber nicht nur eine neue Vielfaltvon Verbindungen und Querverbindungenzwischen Staaten und Gesellschaften. Vielweiter gehender bricht das Gefüge der Grund-annahmen zusammen, in denen bisher Gesell-schaften und Staaten als territoriale, ge-geneinander abgegrenzte Einheiten vorgestellt,organisiert und gelebt wurden. Globalitätheißt: Die Einheit von Nationalstaat und Na-tionalgesellschaft zerbricht; es bilden sich neu-artige Macht- und Konkurrenzverhältnisse, Kon-flikte und Überschneidungen zwischen national-staatlichen Einheiten und Akteuren einerseits,transnationalen Akteuren, Identitäten, sozialenRäumen, Lagen und Prozessen andererseits“.4

Im Rahmen des aktuellen Globalisierungs-geschehens hätten sich, wie in diesem Kon-text gerne argumentiert wird, quer durchnationalstaatliche Grenzen hindurch vor al-

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15lem ökonomisch, informationstechnologischund politisch initiierte Vernetzungen etab-liert, die über die Schaffung von hybri-den oder „transnationalen“ Handlungs- undIdentifikationskontexten sehr schnell zu ei-nem Brüchigwerden der etablierten Institu-tionen des Nationalstaates führen würden.Welche Konsequenzen dies für die Verwen-dung des Kulturbegriffs im Bereich des inter-

kulturellen Lernens hat, wird uns zu einemspäteren Zeitpunkt noch eingehender be-schäftigen. Offenkundig scheint jedoch dieNotwendigkeit vorzuliegen, den erweiter-ten Kulturbegriff unter zwei sehr unterschied-lichen Perspektiven zu betrachten und hierwiederum zwischen einem geschlossenenund einem offenen Kulturbegriff zu differen-zieren:

1.1.3.1Der „geschlossene“ bzw. räumlich fixierte Kulturbegriff

Die (mehr oder minder) geschlossenen Vari-anten des erweiterten Kulturbegriffs stehenin engem Zusammenhang mit den Interes-sen und den damit verbundenen Sichtwei-

sen derer, die sie – in zumeist pragmati-scher Absicht – verwenden. Gemeinsam istihnen die räumliche Fixierung und Eingren-zung von Kultur:

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Pragmatisch und aus diesem Grunde im-mer noch verbreitet sind die genanntengeschlossenen Varianten des erweitertenKulturbegriffs vor allem aufgrund der Orien-tierungsfunktion, die sie vermitteln. Das magin vielen Anwendungskontexten (Auslands-vorbereitung, Marketing etc.) legitim sein,kann aber nicht darüber hinwegtäuschen,dass es sich letztlich um einen fragwürdigenBehelf handelt, da die faktischen Überlap-pungen und Vernetzungen von Kulturenebenso wie ihre Veränderungsdynamikenim Grunde genommen jedwede Eingren-zung ausschließen: Kulturen sind keine Con-tainer, sie sind weder homogen noch mitdem Zirkel voneinander abgrenzbar, son-dern – als Zeichen ihrer Vernetzung – anden Rändern mehr oder minder stark „aus-gefranst“ zu denken. Es handelt sich umoffene Vernetzungen historisch vermittelterReziprozitätsverhältnisse.

1.1.3.2Der „offene“ bzw. sozial fixierte Kul-turbegriff

Dass immer wieder auf die geschlossenenVarianten des erweiterten Kulturbegriffs zu-rückgegriffen wird, stellt zur Zeit einen dergrößten Widersprüche von Konzeptionenzum interkulturellen Lernen dar. Ein Grundhierfür mag in der einfacheren Handhab-barkeit homogen-abgegrenzter Kulturbegrif-fe liegen, wobei es natürlich sehr fragwür-dig ist, wenn ein Instrument verwendet wird,welches eigentlich nicht das passende ist.Dies ist nicht unbedingt auf Unwissen zu-rückzuführen, sondern zeigt eine deutlicheRatlosigkeit und Unsicherheit. Ulrich Beckgreift in seiner Diagnose unserer Gegen-wart diese Probleme auf. Er sieht die Indus-triestaaten in einem „Dazwischen“, das sichzwischen dem Nicht-Mehr der „Ersten Mo-

16Sichtweise räumliche Eingrenzung resultierendes Kulturverständnis

von „Kultur” auf:

politisch Nation („Spanien”) „Kultur“ wird eher synchronisch als diachronisch verstandenund erklärt. Kulturen werden mit Nationalstaaten identifi-ziert, was bedeutet, dass sie per Dekret entstehen und ver-gehen können (Beispiel DDR).

geographisch Länderregion („Europa“) Formale Bestimmung, die stark perspektivenabhängig ist(Deutschland zählt z.B. aus französischer Sicht zu Zentral-,aus deutscher hingegen zu Westeuropa; vgl. auch die Dis-kussion um die Zugehörigkeit der Türkei zu Europa).

sprachlich Sprachgemeinschaft Der gemeinsame Nenner „Sprache“ birgt die Gefahr von(„frankophon“) Übergeneralisierung. Er wird historisch aktuelleren eigen-

ständigen Gruppenentwicklungen z.B. in Kolonien nicht ge-recht.

i.w.S. geistes- ideen- und religionsge- Undifferenziertes Kulturverständnis („die islamische Welt“),geschichtlich schichtlich kompatible endiert aufgrund der Ignoranz aktueller eigenständiger

Gemeinschaften mit lokalem Gruppenentwicklungen zur Übergeneralisierung.Bezug („romanisch“)

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17derne“ und dem Noch-Nicht der „ZweitenModerne“ bewegt. Die „Erste Moderne“,an deren Ende sich die großen westlichenIndustriestaaten laut Beck befinden, ist cha-rakterisiert durch den Glauben an Strukturenund deren Steuerbarkeit, durch Homogeni-tätszwänge einerseits und Polarisierungen

andererseits. Dagegen zeichne sich die auf-kommende, durch Globalisierungskontextegeprägte „Zweite Moderne“ durch Prozess-und Netzwerkdenken, durch hohe Verän-derungsdynamik sowie die Notwendigkeitzur Akzeptanz von Gegensätzen aus.5

Das Verhängnisvolle dieser Zwischensitua-tion besteht darin, dass Industrie und Politikheute einerseits mit der Architektur der Zwei-ten Moderne befasst sind, dies aber mitInstrumenten der Ersten Moderne bewerk-stelligen müssen, weil kulturelle und gesell-schaftliche Denkweisen noch von der ErstenModerne geprägt sind.

Vor diesem Hintergrund ist auch die be-schriebene Unsicherheit im Umgang mitdem erweiterten Kulturbegriff zu verstehen,wobei die geschlossene Variante auf die„Erste“, die offene Variante auf die „ZweiteModerne“ verweist.

Dementsprechend werden mit dem Zer-brechen der Einheit von Nationalstaat undNationalgesellschaft sowie der Verbreitungpluralistischer Weltsichten einerseits auto-matisch auch alle anderen Denkweisen inFrage gestellt, die – geprägt durch dieseEinheitsvorstellungen und -zwänge – überJahrhunderte hinweg Einfluss auf individuel-le und soziale Selbstverständigungsprozes-se genommen haben.

Dass dieser Wandlungsprozess anderer-seits eben nicht mit einer Zäsur bei einer„Stunde Null“ einsetzt, begründet sich mitdem seit Jahrhunderten tradierten und ingegenwärtigen Bildungsprozessen immernoch verankerten Bestreben nach klarenKategorisierungen, nach eindeutiger, wennnicht gar „absoluter“ Erkenntnis. Was esheute so schwierig macht, interdisziplinärzu arbeiten, nationalstaatliche und ethni-sche Grenzen im Alltagshandeln zu ver-flüssigen oder sich an Prozessen statt anStrukturen zu orientieren, ist im Wesent-lichen das hartnäckige Fortbestehen dieserzu Abgrenzung neigenden Denktradition.Sie lässt sich anhand eines Bildes darstel-len, das der Philosoph Gottfried Herder1774 in seiner Schrift „Auch eine Philo-sophie der Geschichte zur Bildung derMenschheit“ verwendet hat. Er bezeichnetdort unter anderem Kulturen und Natio-nalstaaten als „Kugeln“, die den „Mittel-punkt der Glückseligkeit in sich“ tragen.6

Kugeln haben bekanntlich einen konstanten

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Identitäten – sowohl auf der Mikroebe-ne von Individuen als auch in Makroberei-chen von „Kollektiven“ wie virtuellen Teams,internationalen strategischen Allianzen odertransnationalen Unternehmen – sind nichtmehr „autonom“ und kohärent, sondern ko-häsiv zu denken. „Kohäsion“ ist hierbei

durchaus in naturwissenschaftlichem Sinngemeint: Wie Wassermoleküle aufgrundvon Kohäsionskräften eine Oberflächenspan-nung erzeugen, aus der sie sich aber zujeder Zeit „unbeschädigt“ auch wieder lö-sen und anderweitig „andocken“ können,so gilt dies auch für lebensweltliche Iden-

18Schwerpunkt, sind klar abgegrenzt, vermes-sen mit der Bestimmung des „Eigenen“immer auch das Terrain des Anderen,„Fremden“ und sind hinsichtlich Größe undInhalt mathematisch exakt erfassbar.

Heute verlaufen die Globalisierungsvor-gänge aus allen Richtungen quer durchdie Kugeln hindurch und lassen sie zuNetzwerkbestandteilen auseinanderfallen,die mit „geschlossenen“ Kategorien derErsten Moderne nicht mehr erfassbar sind.

Wie ist ein in diesem Sinne „offener“Kulturbegriff konkret zu denken? Kultu-ren definieren sich vor diesem Hintergrundals soziale Lebenswelten wechselnder Grö-ße und Zusammensetzung. Genauso, wieindividuelles Selbstverständnis in der Zeitder Ersten Moderne in erheblichem Ma-ße durch eine bestimmte nationale Zuge-hörigkeit bestimmt war, so trifft dies imGlobalisierungskontext gerade deshalb we-

niger zu, weil lebensweltliche Relevanzbe-züge häufig auch außerhalb des Natio-nalstaates liegen. Bedingt durch Mobilitätund Kommunikationstechnologie, aber auchdurch das Aufbrechen politischer „Contai-ner“ an der Wende zu den Neunzigerjah-ren realisiert sich das einzelne Subjekt alszugleich vielseitige und räumliche Identitätohne konkrete geographische Grenzen.

Lebensgeschichten werden dementspre-chend auch nicht mehr von einem Ort odereinem „Land“ aus gedacht, sondern vomLebensprozess selbst. So wie sich indivi-duelle Identität bei räumlicher Ungebun-denheit aus mehr oder minder raschwechselnden Gruppenzugehörigkeiten her-aus konstruiert, so ist auch die Frage nachder lebensweltlichen oder kulturellen Zuord-nung des Individuums in erster Linie plura-listisch und prozessual zu beantworten:

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19titätsbildungsprozesse der Zweiten Moder-ne. Begriffe wie „Joint Venture“, „multipleIdentität“ oder auch „Lebensabschnittspart-ner“ sind in diesem Zusammenhang zu ver-stehen. Verdeutlichen lässt sich dies u.a. amBeispiel des Wandels der Einbindung vonIndividuen in die Arbeitswelt: Weniger dielebenslange Beschäftigung bei einem Ar-beitgeber oder die Tätigkeit in einem be-stimmten Beruf wird künftig das dominieren-de Arbeitsmarktmodell darstellen, sonderndie gleichzeitig-multiple Orientierung einer„Ich-AG“ an verschiedenen Auftraggebern.

Indizien hierfür sind gegenwärtig dieRückbildung der staatlichen Steuerungska-pazität in Bezug auf Sozialleistungen, dievorgesehenen Änderungen des Kündigungs-schutzes, Mitgliederschwund in den Ge-werkschaften, das Outsourcing vor allemder größeren Unternehmen oder die größe-re Selbstverantwortlichkeit des Einzelnenbei den Neuregelungen zur Altersvorsorge.Ein anderes Beispiel sind Unternehmens-kulturen, die immer weniger nationale Bin-dungen aufweisen. – Ganz abgesehen da-von, dass ein Markenzeichen wie „Made inGermany“ längst abgelöst ist von „Made byVolkswagen“ oder inzwischen sogar von„Made for Volkswagen“. Obwohl der imGlobalisierungskontext kreierte Begriff derTranskulturalität im Grunde die Existenz vonKulturen generell in Frage stellt, wird kaumjemand leugnen, dass selbst geozentrischoder multikulturell besetzte virtuelle Unter-nehmen eine eigene „Kultur“ ausbilden –einfach dadurch, dass in der Interaktion ih-rer Mitglieder bestimmte Konventionen undRoutinen entwickelt werden, die ein Ge-meinschaftsgefühl erzeugen.

So einleuchtend die beschriebene Öff-nung des Kulturbegriffs in Globalisierungs-zusammenhängen auch sein mag: man soll-te – im Gegensatz zu Beck – bezüglicheiner vorschnellen oder gar euphorischen

Verabschiedung von Varianten des ge-schlossenen Kulturbegriffs sehr zurückhal-tend sein. Einwenden kann man gegen einesolche „verabschiedende“ Sichtweise, dasssie sich zu einseitig an den Vorreitern derökonomischen Globalisierung orientiert, oh-ne zu berücksichtigen, dass sich vielerortsNationalstaatlichkeit im Sinne der „ErstenModerne“ gerade erst etabliert oder neuformuliert (z.B. Kosovo, Afghanistan, Irak,Südwestafrika), bzw. dass nur ein gerin-ger Teil der Weltbevölkerung in Globalisie-rungsprozesse eingebunden ist.

In diesem Sinne sind Definitionen des Kul-turbegriffs immer abhängig von dem histo-rischen und sozialen Kontext, in dem sie ver-wendet werden. Weil es dementsprechendkeine „richtigen“ oder „falschen“, sondernnur mehr oder minder angemessene Kultur-begriffe gibt, ist es gerade in interkulturel-len Zusammenhängen unverzichtbar, deut-lich zu machen, welchen Kulturbegriff manverwendet.

In jedem Fall sollte man sich davor hüten,in missionarischer Weise die Verwendungvon – aus eigener Sicht vielleicht obso-leten – Kulturbegriffen zu verunglimpfen.Was z.B. aus der Globalisierungsperspek-tive unangemessen erscheint, kann in an-deren Zusammenhängen durchaus ange-messen sein.

1.1.4Exkurs für alle, die kulturelles Wissenvermitteln möchten: „Erklären“ heißtmehr als nur „Beschreiben“

Bei dem Versuch einer genauen inhaltlichenBestimmung von Kulturen würde selbst dieumfangreichste Enzyklopädie scheitern müs-sen: Gerade weil sie nur auf der Grundlage

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20des Miteinander-Handelns einer Vielzahlvon Individuen existieren, lassen sich Kul-turen in ihrer Gesamtheit nicht beschreiben;jeder diesbezügliche Versuch kann nur eineAnnäherung an das Verstehen einer Kulturdarstellen.

Einen Zugang zur Beschreibung von Kul-turen erhalten wir am einfachsten über mate-rielle Dinge: Wie Papyrusrollen, Krüge, Sta-tuen oder auch Höhlenmalereien überhaupterst auf den Lebensvollzug vergangener Kul-turepochen schließen lassen, so sind esauch heute „Artefakte“, wie die Architekto-nik von Bürohäusern, Bekleidungsstile oderunterschiedliche Maschinentypen, die eineWahrnehmung dessen ermöglichen, wasfür einen lebensweltlichen Zusammenhangprägend ist. So genannte „alltagskulturelle“Artefakte spielen für das spezifische Funk-tionieren einer Lebenswelt im Übrigen einewesentlich größere Rolle als etwa die Kunst-produkte einzelner „Genies“, die zwar mu-seale Verehrung erfahren, aber für das All-tagshandeln der Kulturmitglieder zumindestunmittelbar nur eine untergeordnete Bedeu-tung haben: Das was jemanden jeden Tagumgibt, womit man jeden Tag befasst ist,schleift sich als Verhaltenstypik ein – nichtdas Besondere und immer auch distanziertzu Betrachtende. So ist beispielsweise eineBeschreibung Deutschlands am Ausgangdes 18. Jahrhunderts als „das DeutschlandGoethes und Schillers“ ebenso fragwürdigwie die Allgemeingültigkeit der Epochen-bezeichnung „Klassik“: Die Druckauflagender Werke Goethes und Schillers beispiels-weise erreichten seinerzeit nur einen kleinenBruchteil dessen, was zur gleichen Zeit dasheute kaum noch bekannte „Noth- und Hilfs-büchlein“ eines vollständig in Vergessenheitgeratenen „Trivial“autors Becker eingespielthat. Beckers Einfluss auf das zeitgenössi-sche lebensweltliche Denken und Handelndürfte dementsprechend auch erheblich grö-

ßer gewesen sein als derjenige der beiden„Dichterfürsten“.

Aber auch eine noch so große Sammlungvon Artefakten in einem denkbar größtenMuseum würde nicht ausreichen, um etwavergangene Lebenswelten beschreiben zukönnen. Gleiches gilt für die Beschreibunggegenwärtiger Kulturen. Man muss sich da-rüber im klaren sein, dass man auf einersolchen Wahrnehmungsebene (perceptas)immer nur eine Auswahl erfasst. Es liegt na-he, dass derartige Dokumentationen wesent-lich von der Perspektive und dem Lebens-weltkontext des Beschreibenden abhängigsind.

Artefakte oder letztlich alle wahrnehm-baren Dinge können aber auch verstan-den werden als „Zeichen“ für ein bestimm-tes Konzept, das ihnen zugrunde liegt. Soist beispielsweise eine Batterie Zeichen fürdie prinzipielle Möglichkeit der Stromver-sorgung, ein Kruzifix Zeichen für eine be-stimmte Weltanschauung und ein DenkmalZeichen für die Hochschätzung einer be-stimmten Person. Im Gegensatz zur percep-tas als der Ebene des Wahrnehmbarensprechen wir hier von konceptas, von im-materiellen Bedeutungen, Gedanken, Ge-fühlen, Werten etc., die über das Wahr-nehmbare allererst vermittelt werden.

Das Verhältnis zwischen kultureller percep-tas und kultureller konceptas ist vorstellbarals das von Oberflächen- und Tiefenstruktur:ersteres ermöglicht die Beschreibung, letzte-res die Erklärung kultureller Spezifika.

Vielfach wird in diesem Zusammenhangdas Bild eines Eisbergs verwendet, vondem nur die Spitze wahrnehmbar ist. DasWahrnehmbare selbst (perceptas) ist wie-derum „Zeichen“ für zugrunde liegende(aber als solche nicht sichtbare) Denk- undHandlungskonzepte (konzeptas).

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Hinter identischen Zeichen können sich –kulturspezifisch – durchaus sehr unterschied-liche Konzepte verbergen. Beispielsweiseverweist die Bezeichnung oder das „Zei-chen“ Team im japanischen Verständnis aufeine Gruppengesamtheit, während im deut-schen Verständnis eher eine Gruppe im Sin-ne der Summe einzelner Individuen gemeintist. Spätestens dann, wenn es um die Zu-schreibung von Verantwortlichkeit z.B. beiProduktionspannen geht, offenbart sich dieTragweite der unterschiedlichen Konzepte:im Deutschen sind individuelle Schuldzu-schreibungen möglich, während im japa-nischen Verständnis eher das Team als Ge-samtes haften würde.

Erst unter Einbeziehung derartiger konzep-tioneller Hintergründe wird eine Kultur er-klär- und verstehbar. So wie auf der Ebeneder perceptas das Was einer Kultur be-schrieben wird, so ermöglicht die koncep-tas-Ebene in einem zweiten Schritt Erklä-rungen des Warum bestimmter Eigenartenund Funktionszusammenhänge einer Kultur.Damit kommen letztlich auch immer histo-rische Perspektiven ins Spiel, die ihrerseitsVerknüpfungsmöglichkeiten bieten und in ei-nem dritten Schritt Kulturen als offene Netz-werke von – sowohl in der Gegenwart alsauch in der Vergangenheit – unendlich vie-len untereinander verbundenen Handlungenverstehen lassen.

Um dies an einem Beispiel zu verdeut-lichen: Katholische Kirchen sind – so Be-obachtungen auf der perceptas-Ebene –prunkvoller ausgestattet als protestantischeund laden nicht zuletzt auch deshalb eherzur Andacht ein, weil sie in der Regel ganz-tägig und nicht nur zu Kirchzeiten geöffnetsind. Auf der konceptas-Ebene ließe sichdies im Rückgriff auf die unterschiedlichenInterpretationen des Sündenfalls erklären:Während die Einheit zwischen Gott undMensch aus protestanischer Sicht unwieder-bringlich zerstört ist, ist sie der katholischenLehre zufolge nur gestört und auf dem Wegvon Buße etc. wieder herstellbar. Geradeweil die Bußleistung in der Kirche stattfindet,erhält diese auch eine andere und vielfäl-tigere Funktion als protestantische Gottes-häuser, was sich u.a. in der einladenderenGestaltung und Ausschmückung äußert.

Der weitere Schritt zum Netzwerkdenkenwürde jetzt z.B. darin bestehen, Zusam-menhänge zwischen dem Gesagten undder erheblich stärkeren Ausprägung des In-dividualismus in protestantischen und dereher auf Gemeinschaftlichkeit hin orientier-ten Situation in katholisch geprägten Lebens-welten herzustellen. Von dort aus könntendann z.B. Beziehungen zwischen Protestan-tismus und „freier“ Marktwirtschaft bzw. Ka-tholizismus und „sozialer“ Marktwirtschaftaufgezeigt und erklärt werden.

Zusammengefasst: Ein Verständnis vonKulturen lässt sich nicht mit Auflistungen vonOberflächenphänomenen wie beispielswei-se den berüchtigten „Do’s und Taboos“ oder„Verhaltenskniggen“ erzielen, sondern erstim Dreischritt von Beschreibung (Was?),Erklärung (Warum?) und Kontextualisierung(Welche Zusammenhänge?).

perceptas

konceptas

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221.2„Multikulturelle“ oder „interkulturelle“Kompetenz?

Wer beruflich oder privat mit der Betreu-ung gesellschaftlicher Internationalisierungs-prozesse befasst ist, steht häufig im Ruf,„Multikulti“ oder „Interkulturalist“ zu sein.Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass diezugrunde liegenden Begriffe „Multikultura-lität“ und „Interkulturalität“ identisch sind.Schließlich sprechen wir mit großer Selbst-verständlichkeit von „interkultureller Kom-petenz“, während der Begriff „multikulturelleKompetenz“ zumindest ungewöhnlich undsperrig klingt. Entsprechend der lateinischenBedeutung von multus: „viel, zahlreich“, be-zeichnet „multikulturell“ lediglich den Tatbe-stand, dass eine Lebenswelt dadurch cha-rakterisiert ist, dass sie sich aus Angehörigenmehrerer Kulturen zusammensetzt. Es han-delt sich folglich um eine soziale Organisa-tionsstruktur. Genau auf diese Beziehungenverweist jedoch das lat. inter: „zwischen“ indem Wort „Interkulturalität“: Gemeint ist hiernicht eine soziale Struktur, sondern ein Pro-zess, der sich im Wesentlichen auf dieDynamik des Zusammenlebens von Mitglie-dern unterschiedlicher Lebenswelten auf ihreBeziehungen zueinander und ihre Interak-tionen untereinander bezieht.

„Interkulturell“ ist etwas, das sich zwi-schen unterschiedlichen Lebenswelten er-eignet oder abspielt. Eine „Interkultur“ istdann die Bezeichnung dieses Sich-Ereig-nens. Was bedeutet das jedoch konkret,und wo finden wir „Interkulturen“?

Offenkundig ist zunächst, dass eine sol-che Interkultur nicht abstrakt z. B. zwischen„den“ Deutschen und „den“ Polen, sondernimmer nur vermittelt über konkrete Indivi-duen geschehen kann. Interkulturen entste-hen folglich dann, wenn Mitglieder unter-

schiedlicher Lebenswelten A und B miteinan-der interagieren, gemeinschaftlich handeln.

Umgekehrt existieren Interkulturen auch nurin Abhängigkeit von den daran Beteilig-ten. Aus diesem Grund „ereignen“ sie sich.Interkulturen werden permanent neu er-zeugt, und zwar im Sinne eines „Dritten“,einer Zwischen-Welt C, die weder der Le-benswelt A noch der Lebenswelt B vollkom-men entspricht. Weil es sich um ein Hand-lungsfeld, um einen Prozess handelt, ist eineInterkultur also gerade nicht statisch alsSynthese von A und B im Sinne eines 50:50oder anderswie gewichteten Verhältnisseszu denken. Vielmehr kann in dieser Begeg-nung im Sinne eines klassischen Lerneffektseine vollständig neue Qualität, eine Syner-gie, entstehen, die für sich weder A noch Berzielt hätten.

Auf individueller Ebene lässt sich dies amBeispiel der Unvorhersagbarkeit von Hand-lungsausgängen demonstrieren: Wenn sichzwei Personen begrüßen, die in ihren Le-benswelten das Ritual des Händeschüttelnsauf der einen Seite überwiegend (A), imanderen Fall aber überhaupt nicht prakti-zieren (B), lässt sich nicht vorhersagen, wiesich die Begegnung tatsächlich vollziehenbzw. wie sich die Interkultur (C) in diesembestimmten Moment gestalten wird. Wel-che Form der Begrüßung gewählt wird(Händeschütteln, kein Händeschütteln, Zwi-schenlösungen oder vollkommen andereBegrüßungsformen) hängt davon ab, wel-che Möglichkeit die beiden Partner in derkonkreten Situation spontan (und keines-wegs immer reflektiert) aushandeln. DieserAushandlungsprozess ist wiederum durcheine Reihe von Kontextvariablen wie Alters-unterschied, Bekanntheitsgrad, Hierarchie-gefälle etc. bestimmt. Er spielt sich in Bruch-teilen von Sekunden ab.

Nicht anders funktioniert auf organisatio-naler Ebene die Herausbildung neuer Unter-

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Ohne den Zugriff auf ihre „eigene“ Spra-che wäre den Mescaleros unweigerlichauch der Zugriff auf sämtliche in dieserSprache formulierten Traditionen, Interpreta-tionsvorräte und Wissensbestände versagt.Gerade weil Konventionen, Regeln, Ritualeund alles andere, was als Wissensvorrat un-ser Handeln bestimmt, über Jahrhundertehinweg kommunikativ ausgehandelt wor-den ist, bilden die Medien dieser Kom-munikationsprozesse gleichsam die Nabel-schnur zu der solchermaßen kommunikativerzeugten Lebenswelt. Zu diesen Medienzählt wesentlich die Sprache.

Kommunikation beinhaltet allerdings mehrals nur die verbale Ebene: Die Freiheits-statue in New York, das Layout eines Textes,eine bestimmte Gestik, ein mimischer Aus-druck oder selbst die Art der Polsterung vonKonferenzstühlen – sie alle sind Zeichen füretwas; sie kommunizieren, sie „sagen“ unsetwas, ohne dies unbedingt mit verbalenMitteln zu tun.

Dass hierbei nicht nur Daten und Infor-mationen vermittelt, sondern bestimmte As-

dramatisch an und ist es auch. Die Initiative be- stand darin, die Einführung des zweisprachigenUnterrichts an der Grundschule von Mescalerodurchzusetzen, nachdem die Männer festgestellthatten, daß immer weniger Kinder die Spracheihrer Vorfahren verstanden: Nun unterrichten dieeinheimischen Lehrer nicht mehr nur in englischerSprache, sondern auch in ihrer eigenen – jenerder Mescalero-Apachen. Baca meint, daß außer-dem ein Fernsehprogramm in der Sprache derMescalero ausgestrahlt werden sollte, damit dieKinder sie häufiger hörten: Wenn unsere Spracheverloren geht, verlieren wir alles“, sagt er ernst undberichtet vom Stamm der ebenfalls in Neu-Mexi-co ansässigen Jicirricia, die zuerst ihre Sprache,dann ihre Tänze und schließlich auch ihre Medi-zinmänner verloren haben.

nach FAZ, 4.1.00, S.9

23nehmenskulturen etwa im Rahmen internatio-naler Akquisitionen oder Fusionen: schlechtberaten wäre, wer von vornherein festlegenwollte, wo genau die neue Unternehmens-kultur qua Interkultur „liegen“ soll.

1.3Ohne Kommunikation gäbe es keine(Inter-)Kulturen

Wenn wir überlegen, was notwendig ist,damit Prozesse kulturellen Wandels und in-terkulturellen Handelns überhaupt stattfindenkönnen, in welcher Weise sie sich „ereig-nen“ bzw. wie Werte, Regeln und NormenVerbindlichkeit erlangen können, werdenwir unweigerlich feststellen müssen: OhneKommunikation gibt es keine (Inter-)Kultu-ren. Wie eng Kultur und Kommunikation mit-einander verknüpft sind, verdeutlicht einBeispiel aus der Lebenswelt der Mescalero-Apachen:

Wenn unsere Sprache verloren geht, verlieren wir alles

Sidney Baca ist Apache, in seinen Adern mischtsich das Blut der früher als äußerst gefährlich gel-tenden Mescalero-Apachen und der Chiricahua-Apachen. Seit er denken kann, lebt er in der Mes-calero Apache Reservation, die sich auf einerFläche von der Größe des Saarlands im Zentrumdes amerikanischen Bundesstaates Neu-Mexikoerstreckt. Und fast ebenso lange ist er Medizin-mann. <....>Nicht nur das Behandeln von Patienten gehört zuden Aufgaben eines Medizinmannes. Er ist aucheine Respektperson, zugleich ein Weiser, ein Kon-servativer und ein Hüter der indianischen Kultur.Deswegen hat Baca im vergangenen Jahr gemein-sam mit den anderen Medizinmännern im Reser-vat einen Vorstoß unternommen, um seinen Stammvor dem Untergang zu bewahren. Das hört sich

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24pekte einer Lebenswelt bestätigt, abgelehntoder neu geschaffen werden, legt die Ety-mologie des Begriffs „Kommunikation“ na-he: So ist „communicare“ als das lateinischeUrsprungswort nicht nur mit „mitteilen“, son-dern auch mit „etwas gemeinschaftlich ma-chen“ zu übersetzen.

Kommunikationsprozesse vollziehen sichnicht nur im Sinne eines Informationsaus-tausches, sondern sind grundlegend da-für, dass zwischenmenschliche Beziehun-gen und damit auch Lebenswelten im Sinnevon Kulturen überhaupt hergestellt bzw. „ge-meinschaftlich gemacht“ werden können.Das „Gemeinschaftliche“ ist unter anderemdie Sprache, womit deutlich wird, warumdie Mescaleros in dem angeführten Beispielmit ihrer Sprache auch alles andere verlie-ren würden.

Wo keine Kommunikation stattfindet, kannsich keine Kultur entwickeln und kann kei-ne Interkultur entstehen. Positiv gewendet:Kommunikation bildet in Hinblick auf dieEntstehung von Kulturen und natürlich auchvon Interkulturen eine unabdingbare Voraus-setzung.

1.4Was heißt „Interkulturelle Kompetenz“?(I) Erste Zusammenfassung mitEmpfehlungen zur interkulturellenKompetenzentwicklung

Aufbauend auf den vorangegangenen Be-griffsbestimmungen können wir gegen Endedieses Kapitels bereits erste Empfehlungenformulieren. Die Empfehlungen lassen sichaus den Diskussionsergebnissen der voran-gegangenen Abschnitte ableiten. Die Er-gebnisse selbst werden nachstehend je-

weils in Thesen zusammengefasst und denEmpfehlungen vorangestellt:

• Entsprechend dem erweiterten Kulturbe-griff verstehen wir unter Kulturen Lebens-welten, die sich Menschen durch ihrHandeln geschaffen haben und ständigneu schaffen. Diese Lebenswelten exis-tieren ohne Bewertungsmaßstäbe. Siebasieren nicht auf einer Auswahl desSchönen, Guten und Wahren, sondernumfassen alle Lebensäußerungen derjeni-gen, die an ihrer Existenz mitgewirkt ha-ben und mitwirken. Hierzu zählen auchReligion, Ethik, Recht, Technik, Bildungs-systeme sowie alle weiteren materiellenund immateriellen Produkte.Erste Empfehlung: Um die eigene undfremde Kulturen angemessen verstehenzu können, müssen möglichst zahlrei-che Äußerungsformen dieser Kulturen ingleichberechtigter Weise berücksichtigtwerden. Unzulässig ist hierbei eine Dif-ferenzierung in höher- oder minderwer-tige Kulturprodukte, wie es z. B. demengen Kulturbegriff verpflichtete Kanon-bildungen zu suggerieren versuchen.Dies trifft auch auf Kulturvergleiche zu: esgibt keine mehr oder minder „fortschritt-lichen“ oder „weiter entwickelten“ Kul-turen, da es sich immer um sehr spezi-fische komplexe Systeme handelt, diesich derartigen Vergleichen gerade des-halb entziehen, weil die gemeinsameVergleichsbasis fehlt. Andererseits darfdie angemahnte gleiche Gültigkeit vonKulturen nicht mit Gleichgültigkeit ver-wechselt werden: Die mit dem lebens-weltlichen Kulturbegriff angestrebte Wert-neutralität schließt keineswegs z. B. eineKritik an der Verletzung von Menschen-rechten aus.

• Kulturen sind historisch zu großen TeilenResultat interkultureller Prozesse, zu de-

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25nen insbesondere Migrationsbewegun-gen, Handelsbeziehungen und Koloniali-sationen zählen. Folglich existieren zwi-schen Kulturen mehr oder minder großeÜberlappungen: Kulturen sind an ihrenRändern „ausgefranst“ und lassen sichnicht als Container darstellen.Zweite Empfehlung: Auch wenn es auspragmatischer Sicht ratsam erscheint, zurbesseren Orientierung beispielsweise voneiner „französischen“ oder einer „deut-schen“ Kultur zu sprechen, sollte mansich bewusst sein, dass derartige Etiket-tierungen immer Generalisierungen undUngenauigkeiten enthalten: Die Deut-schen oder die Franzosen gibt es nicht.Es gibt allenfalls Millionen deutscherund französischer Individuen, die jeweilsüber eine gemeinsame Sprache, teilwei-se auch über ähnliche Sozialisations- undBildungswege etc. verfügen, die aberals Individuen durchaus auch vollkom-men „untypisch“ sein können (und damitletztlich erst bewirken, dass Kulturen sichhinsichtlich der akzeptierten Werte, Ver-haltensweisen etc. verändern). Insofernist Vorsicht geboten bei Ratgeber-Bü-chern, die Kulturen kategorisieren (z. B.in „autoritäre“, „polychrone“, „männli-che“, „kontextorientierte“ etc.). Auchwenn man es nicht möchte, der Stereo-typenbildung wird auf diese Weise Vor-schub geleistet.

• Kulturen sind darstellbar mittels einerOberflächen- und einer Tiefenstruktur:Die Oberfläche (perceptas) ist wahr-nehmbar und damit auch beschreibbar.Sie ist gleichzeitig Ausdruck oder Zei-chen eines historisch gewachsenen Sys-tems von Einstellungen, Werten, Nor-men etc., das tiefenstrukturell verankert ist(konceptas). Über eine Beschreibung vonOberflächenstrukturen kann man zeigen,wie eine Kultur aufgebaut ist und funktio-

niert. Tiefenstrukturen erklären, warumeine Kultur in einer bestimmten Weisekonzipiert ist.Dritte Empfehlung: Ebenso wichtig wiedie Beschreibung von Kulturen ist dieErklärung ihrer historisch gewachsenenSystemzusammenhänge. Reiseberichte,Reiseführer oder Kulturinformationen wid-men sich zumeist nur der Beschreibungs-ebene. Beschränkt man sich auf eine sol-che Beschreibung, kann dies leicht zurFolge haben, dass man aus Unkenntnisder Hintergründe bestimmte Sachverhal-te nicht als Resultate einer eigenstän-digen fremdkulturellen Entwicklung ver-steht, sondern dass man sie aus derPerspektive eigenkultureller Normen etc.interpretiert. So passiert es häufig, dassz.B. bestimmte Handlungen aus deut-scher Sicht unter „Korruption“ verbuchtwerden, die aus der Perspektive andererKulturangehöriger vollkommen selbstver-ständlich und moralisch korrekt erschei-nen. Um derartigen Fehlinterpretationenund Missverständnissen vorzubeugen,sollte Kulturwissen immer auch historischuntermauert sein. Wichtig ist es hierbei,Entwicklungszusammenhänge zu verste-hen. Dies schließt jedwedes faktenhisto-rische Vorgehen („Zeittafeln“) und erstrecht monokausale Erklärungsversucheaus. (→ 2.+ 3.Kapitel).

• Kulturen repräsentieren im WesentlichenProdukte jahrtausendelanger Kommuni-kationsprozesse. Normalität, Plausibilitätund Sinnhaftigkeit sind die entscheiden-den Elemente, um eine Lebenswelt als„eigene“ anerkennen zu können. Siewerden von den Mitgliedern einer Kulturpermanent kommunikativ bestimmt. Dieskann in bestätigender Weise geschehen,indem man bereits Kommuniziertes inunveränderter Form verwendet, wie zumBeispiel Gesetze und Gesetzesauslegun-

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26gen, Umgangsformen, Curricula oderauch technische Werkzeuge. Es kannaber auch mit Veränderungsabsichtengeschehen, indem man das Bestehendein Frage stellt, neue Lösungsmöglichkei-ten kommuniziert und damit zumindest zuminimalen Veränderungen dessen bei-trägt, was „normal“ oder „plausibel“ ist.Vierte Empfehlung: Gerade weil sichKulturen als historisch gewachsene Resul-tate von Kommunikationsprozessen dar-stellen, sollte ihre Beschreibung sinnvollerWeise auch an konkreten Kommuni-kationsprodukten orientiert sein, wobeinatürlich insbesondere solche Quellenaufschlussreich sind, die derartige Kom-munikationsprozesse thematisieren. Kul-turbeschreibungen, die sich an abstrak-ten und von „außen“ angetragenen Kate-gorien, Kulturstandards o. ä. orientieren,werden hingegen eher zu Stereotypisie-rungen neigen, weil die Perspektive unddie kulturelle Verankerung des jeweilsBeschreibenden in viel stärkerem Maßzum Tragen kommt.

• Interkulturen sind dynamisch als Ereig-nisse des Zusammentreffens von An-gehörigen unterschiedlicher Kulturen zuverstehen. Sie besitzen insofern prozes-sualen und nicht räumlichen Charakter.Interkulturen stellen keine Synthesen, son-dern Synergiepotenziale dar. Ob und inwelcher Weise sich Synergien entfalten,ist weitgehend situationsabhängig undinsofern unvorhersagbar.Fünfte Empfehlung: So verlockend esauch sein mag, sich an Verhaltensregelnfür den Umgang mit Angehörigen frem-der Kulturen zu orientieren: Listen von„Dos und Taboos“, ein „Kultur-Knigge“oder ähnliches nützen in der Regel nurwenig, weil sich im interkulturellen Kon-takt niemand so verhält, wie er es in dereigenen Kultur tun würde (und für die der-

artige Verhaltensregeln in sehr genera-lisierender Form vielleicht noch annä-hernd gelten mögen). Das Verhalten ininterkulturellen Situationen wird hingegenwesentlich durch Fremdbilder, durch vor-angegangene interkulturelle Erfahrungen,durch den Bekanntheitsgrad der inter-agierenden Personen oder auch durchdie gewählte Sprache bestimmt (→ 3. +4.Kapitel). Um in solchen Situationenerfolgreich handeln zu können, bedarf esvor allem verhaltensbezogener Kompe-tenzen wie Einfühlungsvermögen, Rollen-distanz, Toleranz, Flexibilität oder auchder Fähigkeit, Widersprüche „aushalten“zu können. Vermittelt werden diese Kom-petenzen im Rahmen interkultureller Sen-sibilisierungstrainings (→ 5.Kapitel).

1.5Zum Nach- und Weiterdenken

1. „Leitkultur“ - ein sinnvoller Begriff?

Der Ende der Neunzigerjahre in die po-litische Diskussion eingeführte Begriff „Leit-kultur“ hat im Rahmen der Auseinander-setzungen um den im Zuwanderungsgesetzvorgesehenen „Einbürgerungstest“ neuerlichwiederum zu sehr heftigen Kontroversengeführt. Um diesen Test inhaltlich gestaltenzu können, müssen Verhaltensgrundsätze,Werte etc. formuliert werden, die als we-sentliche Bestandteile einer deutschen „Leit-kultur“ verbindliche Gültigkeit für Zuwan-derer erlangen sollten.

Versuchen Sie zu begründen, warum einsolcher „Leitkultur“begriff dem engen Kultur-begriff zuzuordnen ist.

Im Unternehmensbereich würde man an-stelle von „Leitkultur“ von „Corporate Iden-tity“ sprechen. Im Gegensatz zu der in

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jedem Unternehmen schon allein aufgrundder Mitarbeiterinteraktionen vorhandenen„Unternehmenskultur“ versteht man unter„Corporate Identity“ eine Strategie, die be-wusst eingesetzt wird, um ein einheitlichesAuftreten des Unternehmens bzw. der Un-ternehmensangehörigen zu gewährleisten.Während entsprechende „Unternehmens-

leitlinien“ noch bis in das letzte Drittel des20. Jahrhunderts hinein sehr genaue Verhal-tensmaßregeln formulierten, sind sie heuteäußerst vage formuliert („Wir denken in Pro-zessen“). Können Sie sich vorstellen, wes-halb sich eine solche Entwicklung vollzogenhat? Sehen Sie Zusammenhänge mit derzunehmenden Akzeptanz des weiten Kultur-begriffs und der überwiegenden Ablehnunggegenüber dem Begriff „Leitkultur“?

2. Was heißt eigentlich „Nation“?

Begriffsdefinitionen spiegeln immer auchdas historische Selbstverständnis derjeni-gen, die diese Definitionen vornehmen –was den engen Zusammenhang von „Kul-tur“ und „Kommunikation“ nur noch einmalbestätigt.

Nachstehend finden Sie Definitionen desRechtschreib-Duden zu den Begriffen „Na-tion“ und „national“ aus den Jahren 1941,1958, 1967, 1986, 1996 und 2004.

Vergleichen Sie die Definitionen undüberlegen Sie, inwieweit die begriffsge-schichtliche Entwicklung als eine zeit-oder kulturgeschichtliche dargestellt werdenkann. Entdecken Sie in diesem Beispiel Be-lege dafür, dass Kultur als Kommunikations-produkt (und umgekehrt) verstanden werdenkann?

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1986 1996 2004

1941 1958 1967

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292.Wir wissen nicht,was wir tun: Zur Kulturgebunden-heit unseres Wahr-nehmens, Denkensund Handelns

Zahlreiche Versuche international agieren-der Unternehmen, Produkte oder auch Pro-duktwerbung weltweit anzugleichen, sind inder Vergangenheit häufig daran gescheitert,dass kulturspezifische Gewohnheiten, Ge-schmäcker und Wahrnehmungsformen nichthinreichend berücksichtigt worden sind.Selbst die so genannten „Global Brands“sind heute keine „Welt“marken im Sinne uni-versal standardisierter Produkte. Ein Weich-spülmittel wie „Vernell“ enthält länderspe-zifisch unterschiedliche Geruchsstoffe, undder „Nescafe“ in Italien ist beispielsweisewesentlich schärfer gebrannt als der in Eng-land.

Derartige Unterschiede bestehen vor al-lem deshalb, weil sich in den einzelnenKulturen über Jahrhunderte hinweg sehr un-terschiedliche Erfahrungs- und Wahrneh-mungsgewohnheiten herausgebildet haben,die noch heute in der einen Kultur als „nor-mal“ erscheinen lassen, was in einer ande-ren Kultur vollkommen unakzeptabel wäre.

Ursachen hierfür sind z. B. spezifische kli-matische Verhältnisse, besondere Technolo-gien oder auch konzeptionelle Eigenartenvon Sprachen. Dies lässt sich gut am Bei-spiel eines Vergleichs von Kopfschmerz-

mittelwerbung für Europa einerseits und fürarabische Länder andererseits zeigen: Diein der europäischen Werbung verwende-te Bildfolge (der von links nach rechts wei-sende Weg vom Leiden zur Erleichterung)muss in arabischen Ländern aufgrund dervon rechts nach links verlaufenden Schreib-und Leserichtung umgekehrt werden, daman ansonsten der für das Arabische „nor-malen“ Wahrnehmungsbewegung nicht ge-recht würde:

Wahrnehmung der Bildfolge bei Kopfschmerzmittel-werbung

Viele interkulturelle Missverständnisse undProbleme resultieren daraus, dass man sichder Kulturgebundenheit der eigenen undder Wahrnehmung seines fremdkulturellenPartners nicht hinreichend bewusst ist: Eswerden Dinge und Sachverhalte unhinter-fragt als „normal“ angesehen, die für dieWahrnehmungsgewohnheiten des anderenkeineswegs plausibel sind.

Um derartige Missverständnissituationengrundsätzlich verstehen zu können, ist eszunächst wichtig, mit der Funktionsweisevon Wahrnehmungsvorgängen im Allgemei-nen vertraut zu sein (2.1). Hierauf aufbau-end können wir einen Schritt weiter gehenund fragen, warum Wahrnehmungsprozes-se notwendigerweise kulturell geprägt sind(2.2) und welche Funktion das Konstrukt des„kollektiven Gedächtnisses“ in diesem Zu-

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30sammenhang übernimmt (2.3). Wie sichzeigen lässt, bilden sich „kollektive Ge-dächtnisse“ im Rahmen von Tradierungs-vorgängen langfristig heraus – und zwarvermittelt durch Kommunikation. Für ein bes-seres Verständnis des Zustandekommensder Kulturspezifik und damit eines bestimm-ten „kulturellen Stils“ unseres Wahrnehmens,Denkens und Handelns ist es aufschlussreichzu klären, wie derartige Kommunikations-prozesse verlaufen (2.4).

2.1„Perceptas“ – wie Wahrnehmungfunktioniert

Wer sich mit der Funktionsweise vonmenschlichen Wahrnehmungsprozessen be-schäftigt, wird in der Regel zuerst auf neuro-physiologische Sachverhalte stoßen. Hierzuzählen vor allem Darstellungen über dieStruktur und Organisation des Gedächt-nisses, die mit Fragen der Kulturspezifikunseres Wahrnehmens erst einmal nichtzusammenzuhängen scheinen. Es geht unteranderem um Sinnesphysiologie, Analysenvon Faser- und Zellfunktionen in neuronalenNetzwerken oder um Reizleitungsmechanis-men, wobei davon ausgegangen werdenkann, dass derartige Funktionen universellgültig sind. So ist beispielsweise die An-nahme der universellen Existenz eines „sen-sorischen Filters“ durchaus plausibel. Einsolcher Wahrnehmungsfilter fungiert alseine Art Schutzmechanismus gegenüber po-tentiellen Reizüberflutungen. Gäbe es ei-nen solchen Filtermechanismus nicht, wärejegliches „Konzentrieren“ und jede Formstrukturierten Wahrnehmens ausgeschlos-

sen. Wir wären Spielball der gigantischenReizmengen, die permanent auf unser sen-sorisches Register einwirken.

Offenkundig ist aber andererseits, dassdie Reizmengen, denen der Mensch aus-gesetzt ist, je nach Lebensumwelt sehr unter-schiedlich sein können. Dementsprechendsind vermutlich auch die Filtermechanismenunterschiedlich strukturiert, was z.B. in Hin-blick auf die zugelassene Reizmenge unddie Definition von „Reizüberflutung“ Auswir-kungen haben kann.

Bereits an dieser Schnittstelle von natür-licher und sozialer Umwelt sind Wahr-nehmungsprozesse als kulturspezifische be-schreibbar: Reizüberflutung setzt bei jeman-dem, der in Istanbul lebt und aufgewachsenist, unter ganz anderen Bedingungen ein,als dies bei dem Bewohner eines einsamenBergdorfs der Fall ist. Insofern ist deutlich,dass es sich bei Wahrnehmungen um sub-jektiv geprägte Prozesse handelt.

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312.1.1Wahrnehmung ist selektiv und subjektiv

Jeder, der schon einmal mit dem Flugzeug inein anderes Land geflogen ist, hat die Er-fahrung gemacht, dass er spätestens nachdem Verlassen des Flughafengebäudes miteiner Vielzahl von visuellen Eindrücken, mitGeräuschen und Gerüchen konfrontiert ist,die ihm unbekannt sind, und die er zunächstauch nicht „einordnen“ kann. Die Wenigstenwerden Zeit und Muße finden, um – wo-möglich mit einer großen Menge an Ge-päck – in Ruhe alle Eindrücke auf sich wir-ken zu lassen und zu staunen. Im Gegenteil:Der Reisende wird zunächst versuchen, Ver-trautes und Bekanntes zu entdecken, um ei-ne allgemeine Orientierung zu finden. Dassdabei im Sinne einer Schutzfunktion not-gedrungen unzählige potenzielle Sinnes-eindrücke „herausgefiltert“ und dementspre-chend auch nicht wahrgenommen werden,ist nahe liegend. Insofern unterscheidet sichunser Filtervorgang in grundlegender Weisevon dem eines einheimischen Taxifahrers,der jeden Tag an der Ankunftshalle auf sei-ne Gäste wartet.

Viele potenzielle Sinneseindrücke sind unssogar überhaupt nicht erschließbar, wenn

wir etwa an die Tonfrequenz von Insekten-schutzgeräten oder an Gerüche denken,die nur Fische, nicht aber Menschen wahr-nehmen können.

Eine „objektive Realität“ existiert nicht –Realität ist immer das, was wir als solcheaus unseren Sinneseindrücken individuell re-konstruieren. Und das bildet gleichzeitig ei-ne der entscheidenden Grundlagen dafür,dass zwischenmenschliche Interaktion zu ei-nem nicht unerheblichen Teil von Missver-ständnissen geprägt ist.

2.1.2Wahrnehmen ist kein passiver Vorgang

Die Tatsache, dass wir aus der unendli-chen Anzahl möglicher Sinneseindrücke zu

Flughafen Beijing

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sem Beispiel von verschiedenen Personendas gesamte Spektrum der Möglichkeitenvon einem Farbfleck über ein Spiegeleiund eine Insel bis hin etwa zu Amöbengenannt werden könnte, aber jeder ein-zelne von der Angemessenheit seiner Be-deutungszuweisung überzeugt ist.

2.1.3Was wir wahrnehmen, ist erfahrungsabhängig

Fragt man, warum bei der gezeigten Fan-tasiefigur der eine z.B. Farbkleckse, ein an-derer aber Spiegeleier und ein dritter Amö-ben wahrnimmt, ist die Vermutung naheliegend, dass Bedeutungszuweisungen inZusammenhang mit eigenen Hobbys, mitBefindlichkeiten wie z. B. Hungergefühlenoder auf der Grundlage bestimmter Wis-sensvorräte erfolgen. Entscheidend ist dieMöglichkeit, an eigene Erfahrungen undKenntnisse „andocken“ zu können: So wirdderjenige, der noch nie eine Amöbe ge-sehen hat, sie in unserem Beispiel auchnicht von sich aus als solche identifizie-ren.

Der Umkehrschluss, „wir nehmen nurwahr, was wir bereits kennen“, ist aller-dings auch nicht ganz korrekt, weil da-durch nur unzureichend erklärt werdenkönnte, wie wir überhaupt in den Besitzvon Wissen gelangen:

www.informatik.uni-bremen.de

32Orientierungszwecken individuell sehr un-terschiedliche Filterungen vornehmen, zeigt,dass es sich bei Wahrnehmungsprozessennicht um passive Vorgänge handelt.

Wie das Bildexperiment verdeutlicht, funk-tioniert Wahrnehmung vielmehr im Sinneeines aktiven Orientierungsprozesses, dervon dem Grundsatz geleitet ist: „Es soll ei-ne Ordnung sein“ bzw. „Es soll einen Sinngeben“.

Dass der zugeordnete Sinn unterschied-lich sein kann bzw. vom Erfahrungshin-tergrund des Betrachters abhängt, ist vonder Wahrnehmungspsychologie verschie-dentlich nachgewiesen worden. Als klassi-sche Beispiele gelten in diesem Zusam-menhang Experimente mit Profilbildern. Diemeist aus zwei Motiven („Profilen“) be-stehenden Bilder werden zunächst einzelngezeigt und jeweils mit Bestrafungs- oderBelohnungsstimuli verknüpft. In der zusam-mengesetzten Figur wird zumeist das be-lohnte Profil als erstes „gesucht“.

Noch vielfältiger sind die Möglichkeitender Bedeutungskonstruktion bei Fantasiefi-guren:

Wir „konstruieren“ individuell sehr unter-schiedliche Interpretationen, so dass in die-

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33(a) Im Rahmen unserer Sozialisation er-halten wir im Elternhaus, in der Schuleoder auch im Berufsleben explizite Erklä-rungen in Bezug auf Wahrnehmbares(„dies ist eine Amöbe“), was dann alsWissen abgespeichert wird und woraufwieder zurückgegriffen werden kann. (b) Wir arbeiten – und das ist der Regel-fall – nicht mit expliziten Erklärungen,sondern konstruieren Sinn, indem wirAnalogien bilden und von bereits Be-kanntem auf Ähnliches schließen. Sowird ein kleines Kind, das den Begriff„Zebra“ nicht kennt, ein entsprechendesTier als „Pferd“ bezeichnen, wohl wis-send, dass ein Unterschied besteht. DieseDifferenzerfahrung kann dann durchausein Ansporn für einen aktiven Lernprozesssein.

Beide Thesen sind für das Verständniseigen- und fremdkultureller Verstehenspro-zesse überaus wichtig:

(a) zeigt, dass die Selektion von Wahr-nehmungen und deren Überführung inWissensvorräte zu einem Teil zumindestdurch die Kontexte, in denen wir sozia-lisiert sind, gesteuert werden. UnsereWahrnehmungen wie auch unser Wissensind in diesem Sinne kulturspezifisch, weilsie sich nahe liegender Weise auf die-jenigen Erfahrungen beziehen, die füreine bestimmte Lebenswelt von Bedeutungsind. Aus diesem Grunde verfügen z.B.Eskimos in ihren Sprachen über mehrund differenziertere Benennungen für„Schnee“ als dies in arabischen Sprachender Fall ist. Für die Erklärung von interkul-turellem Handeln ist insbesondere These

Um welche Textsorten handelt es sich?

(b) von Bedeutung, weil sie zeigt, wie wirim Rahmen unseres Wahrnehmens notge-drungen immer wieder Stereotype undVorurteile produzieren. Denn ähnlich wiebei dem Zebra-Beispiel werden wir ins-besondere in einer fremdkulturellen Umge-bung eine Reihe von Eindrücken erhalten,zu denen in unserem Wissensvorrat keineEntsprechung existiert.

Weil aber dennoch der Grundsatz gilt „Essoll eine Ordnung sein“ bzw. „Es soll einenSinn geben“, werden wir versuchen, dieseEindrücke bereits vorhandenem Wissen undvorhandenen Begriffen zuzuordnen. Offen-kundig ist in diesem Zusammenhang, dassdie Wahrnehmungen dabei Erfahrungs- undBegriffssystemen zugeordnet werden, die invollkommen anderen Zusammenhängen ent-

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34standen sind. Auf diese Weise werden ein-gehende Erfahrungen interpretativ so mani-puliert, dass sie „irgendwie“ dem eigenenDenksystem angepasst werden.

Aus deutscher Sicht würde man den obe-ren Text eindeutig als Todesanzeige identifi-zieren, während der untere Ausschnitt schoneher Anlass zu Überlegungen bietet. Denk-bar wäre eine Zuordnung zur Textsorte„Amtsanzeiger“ oder „Personalia“. Der Be-trachter wird aber zunächst zwischen ver-schiedenen Wahlmöglichkeiten schwankenund dann eine halbherzige Zuordnung tref-

fen, „weil es ja eine Lösung geben muss“.Hinter dieser Kategorisierungspraxis stecktmehr als nur unser Orientierungsgrundsatz.Es zeigt sich vielmehr, dass unsere Wahr-nehmungsaktivität darin besteht, dass wirjede Erfahrung bereits mit einer Erwartungbegleiten.

Die Suche nach „richtigen“ Lösungen voll-zieht sich im Prozess eines wechselwei-sen Abgleichs von Erfahrungs- und Erwar-tungsdaten. Dass die vermuteten Lösungenfaktisch nicht von einem auf den anderenKontext übertragbar sind, aber dennoch

The Charlotte Observer, 5.4.01

Iredell Neighbours, 18.3.01

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35für richtige Lösungen gehalten werden, be-gründet die meisten interkulturellen Missver-ständnisse. Die Ursache besteht in der all-tagspraktischen Forderung nach Routine,Plausibilität und Normalität: MangelndePlausibilität im konkreten Wechselspiel vonErfahrung und Erwartung wird dann gerndadurch verdrängt, dass man interpreta-torische Vergewaltigungen in Hinblick aufschon Bekanntes vornimmt.

So handelt es sich bei den abgebildetenAnnoncen um Textsortenbeispiele aus denUSA, die anderen Normalitätskriterien un-terliegen, als dies in Deutschland der Fallist: in dem linken Beispiel handelt es sich umeine Vortragseinladung, während das rech-te das US-amerikanische Format für Todes-anzeigen repräsentiert. Dass die Todes-anzeigen unter der Rubrik „Mecklenburg“(County of North Carolina) abgedrucktsind, mag einen deutschen Leser bei flüch-tiger Kenntnisnahme erst recht darin bestä-tigen, dass es sich um etwas Bekannteshandelt. Die Plausibilität des Wahrgenom-menen wird damit gar nicht erst in Fragegestellt, sondern fälschlicherweise voraus-gesetzt.

Als Fazit können wir an dieser Stelle fest-halten:

Wahrnehmung vollzieht sich auf derGrundlage der Dialektik von Erfahrung undErwartung als hypothesengeleiteter Suchvor-gang, in dessen Verlauf Realität nicht im Sin-ne einer Kamera 1:1 fotografiert, sondernvielmehr konstruiert wird. Eingehende Datenwerden mit schon vorhandenen Schemataverglichen und zugeordnet. Diese Zuord-nungspraxis sorgt zwar einerseits für eineständige Verfeinerung der Schemata, mitdenen ich Wahrnehmungen kategorisiere,andererseits bleibt sie aber immer interpre-tatorisch und damit subjektiv. Weil diegrundsätzlichen Forderungen nach Norma-lität, Plausibilität und Geordnetheit der Ein-

drücke unsere Wahrnehmungsprozesse per-manent begleiten, werden notgedrungenungenaue oder „ungerechte“ Kategorisie-rungen vorgenommen. Wir werden uns diesspäter am Beispiel der Stereotypen- undVorurteilsbildung noch genauer ansehen.

2.2Keine „Perceptas“ ohne„Konceptas“ – warum wir auf eineganze bestimmte Art und Weisewahrnehmen

Bislang haben wir uns eher mit derOberflächenstruktur von Wahrnehmungenbefasst. Dabei haben wir gesehen, dassunsere Wahrnehmungen nicht „objektiv“sind, sondern interpretatorisch durch Sche-mata geleitet werden, die sich im perma-nenten Wechselspiel von Erfahrung undErwartung in unserem Gehirn herausgebil-det haben. Forscher nehmen an, dass sichdiese neuronalen Schemata im Laufe einesLebens (a) „einschleifen“ und (b) sich zu ver-zweigten (neuronalen) Netzwerken he-rausbilden. Ersteres geschieht aufgrund vonimmer wiederkehrenden Erfahrungen, wäh-rend letzteres mit der Erfahrungsvielfalt zu-sammenhängt, der wir uns aussetzen.

Dies hat nicht zuletzt einen großen Einflussauf den Grad unserer Flexibilität und To-leranzfähigkeit: Je vielfältiger unsere Erfah-rungen sind, desto weniger „verhärtet“ (unddamit flexibler) sind die Schemata, mit de-nen wir agieren. Machen wir hingegen nurwenige (und immer gleiche) Erfahrungen,verhärten sich die Schemata, mit denen wirWirklichkeiten interpretieren. Unsere Inter-pretationsmöglichkeiten sind dann geringer,sodass wir dazu neigen, Unbekanntes ent-weder gar nicht zu tolerieren oder es „ste-reotyp“ bzw. „falsch“ einzuordnen.

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Interkulturelle Kompetenz hängt dement-sprechend auch mit der Vielfalt der eige-nen Fremdheitserfahrungen zusammen: Werhäufig und in sehr unterschiedlichen Kontex-ten Fremdheitserfahrungen sammeln konnte,wird in interkulturellen Situationen erheblichflexibler reagieren (können) als jemand, derüber derartige Erfahrungen nicht oder nur ingeringem Umfang verfügt. In einem solchenErfahrungsmangel liegt eine Ursache für In-toleranz und Fremdenfeindlichkeit.

In Hinblick auf die spezifische Formungder Schemata wird man also davon ausge-hen können, dass sowohl das episodischeals auch das semantische Gedächtnis hie-ran beteiligt sind. Ersteres ist stärker durchindividuelles Erleben, letzteres durch (kollek-tiv) vermitteltes Wissen geprägt.

Der abgebildete Kronkorken aus der aktu-ellen Coca-Cola-Produktion in Indien wirdbei „den“ meisten Deutschen gerade des-halb auf Unverständnis und Empörung sto-ßen, weil sie die auf der Brust der Kron-korkenfigur abgebildeten Zeichen aus ihrerErfahrung heraus als Hakenkreuz identifizie-ren werden.

Unbekannt ist den meisten Deutschen ge-rade aufgrund ihrer (durch spezifische Ta-buisierungen geprägten Sozialisations- undBildungsbedingungen) die Tatsache, dassHitler das Hakenkreuz nicht erfunden, son-dern lediglich für seine Zwecke missbrauchthat.

Im asiatischen Kontext ist das als Son-nenrad beschriebene Hakenkreuz positivbesetzt: es gilt als Sinnbild des ewigenKreislaufes und Zeichen Buddhas, und nochheute wird es verstanden als mythologischesSymbol für kosmische Regeneration, alsAusdruck von Leben, Sonne und Glück. Ent-sprechend fallen die Reaktionen auf denKronkorken vollkommen anders aus als inDeutschland.

Wenn sich die Teilnehmer in interkulturel-lem Kontakt über diese Differenz nicht ver-ständigen, sind Missverständnisse vorpro-grammiert. Das gilt vor allem dann, wenndie Verständigung über eine dritte Sprachewie etwa das Englische erfolgt. Die Ge-meinsamkeit, die damit geschaffen wird, istfolgerichtig nur eine scheinbare, da bereitsdie zahlreichen regionalen Varietäten desEnglischen (auch in Indien ist es Amtsspra-che) sehr unterschiedliche lebensweltlicheKontexte repräsentieren. Noch deutlich he-

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terogener stellt sich die Situation bei Kom-munikationspartnern dar, die Englisch alsFremdsprache gelernt haben. Selbst bei gu-ter Fremdsprachenkompetenz werden dieam Kommunikationsprozess Beteiligten Be-deutungstransfers aus ihrer Erstsprache voll-ziehen.

2.3Struktur und Funktion des kollektivenGedächtnisses

Mit Hilfe der Schematheorie lässt sich zwarerklären, warum wir auf eine ganz spe-zifische Art und Weise wahrnehmen undweshalb diese Wahrnehmungsprozessesich nur innerhalb ganz bestimmter Netz-werke abspielen können. Wenn wir klärenwollen, warum es sich hierbei um ein spezi-fisches „deutsches“, „indisches“ oder in an-derer Weise ‚kulturell’ geprägtes Systemhandelt, werden wir notwendigerweise ei-

Regionale Standard-Varietäten

British and Irish Standard English

American Standard English

Canadian Standard English

Caribbean Standard English

West African Standard(izing) English

East African Standard(izing) English

South(ern) African Standard(izing) English

South Asian Standard(izing) English

East Asian Standardizing English

(Hongkong)

Australian Standard English

New Zealand Standard English

South Pacific Standard English

37ne historische Sichtweise einbeziehen müs-sen. Ein häufig verwendetes Modell ist indiesem Zusammenhang das Konstrukt des„kollektiven Gedächtnisses“ oder des „kol-lektiven Wissensvorrates“.

2.3.1Das kollektive Gedächtnis alsInterpretationsvorrat

Vorstellbar ist ein solches „kollektives“ oder„soziales Gedächtnis“ am ehesten als eineArt Archiv, in dem auf dem Wege der Tra-dierung über Tausende von Jahren hinwegunzählige Erfahrungen abgespeichert sind.Vor dem Beginn der Schriftlichkeit erfolg-te eine derartige Tradierung vor allem überErzählungen, Bräuche, Lieder und Sprich-wörter, aber auch über Alltags- und Kunstge-genstände sowie über Bauwerke, die etli-che Generationen überdauerten und damitnatürlich auch komplexe Sinnkonstruktionenfortbestehen ließen.

Während mündliche Überlieferungen (Er-lebnisberichte, Familiengeschichten, Wit-ze etc.) selten über drei Generationen hin-weg (90 bis 110 Jahren) fortbestehen, istdie „Lebensdauer“ schriftlicher Überlieferun-gen theoretisch unbegrenzt. Bücher, Briefe,Dokumente etc. sind über Jahrhunderte hin-weg in Bibliotheken, Kirchen, Klöstern undStaatsarchiven gespeichert worden. Elektro-nische Medien können die Speicherkapa-zität inzwischen unbegrenzt vergrößern, so-dass auch das potenziell zur Verfügungstehende Wissen unendlich erweiterbar ist.Den auf diese Weise entstandenen Wis-sensvorrat können wir uns als eine Art Netz-werk vorstellen: Es stellt ein Reservoir anErfahrungen bereit, auf das die nachfolgen-den „Benutzer“-Generationen zurückgreifen

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38müssen, um eigene Erwartungen formulie-ren und eigene, neue Erfahrungen sammelnzu können. Diese neuen Erfahrungen wer-den an den bestehenden Wissensvorrat„angedockt“, womit sie ihn erweitern bzw.diversifizieren. Für das „Nutzerkollektiv“ bil-det sich ein Traditionszusammenhang her-aus, der insofern Verbindlichkeit erlangt,als er im Sinne eines Gedächtnisses oderArchivs die Basis darstellt, von wo aus dieMitglieder des Kollektivs alle künftigen Er-wartungen an Sinnhaftigkeit, Normalität,Plausibilität etc. formulieren werden. Ent-sprechende Formen der Thematisierung vonWissen finden immer dann statt, wenn Er-fahrungen gemacht werden, deren Passfä-higkeit (oder anders gesagt: deren „Nor-malität“) in Bezug auf das bislang tradierteDenk- und Handlungssystem nicht fraglosgegeben ist. Ein Sachverhalt erscheint dannnicht mehr plausibel – er ist uneindeutigbzw. indexikalisch und verlangt nach neuenInterpretationen.

Ein alltägliches Beispiel bieten sprachge-schichtliche Entwicklungen, die – wie etwadie Prägung bzw. Aufnahme neuer Wörter –in der Öffentlichkeit erst dann bemerkt undthematisiert werden, wenn sie nicht „auto-matisch“ integrierbar sind. Dies ist der Fallbei sog. „Unwörtern“ wie „ausländerfrei“,„ethnische Säuberung“ oder „Überfrem-dung“7, aber auch bei konkurrierenden Be-griffen wie „Atomkraft“ vs. „Kernkraft“.

In solchen wie in allen anderen themati-sierungsbedürftigen Fällen fungiert das kol-lektive Gedächtnis als Argumentationspool.Es stellt einen Interpretationsvorrat bereit,der sowohl Möglichkeiten der Legitimierungals auch solche der Delegitimierung der in-frage stehenden Sachverhalte enthält. Aufwelche der möglichen Argumente im je-weiligen Einzelfall zurückgegriffen wird,hängt von den Interessen des einzelnenMenschen ab. Nicht selten dient auch ein

und dieselbe Quelle als Beleg gegensätzli-cher Auslegungen. Wie der Begriff „Thema-tisierung“ bereits nahe legt, handelt es sichbei diesen dem „Funktionsgedächtnis“ zu-geschriebenen – Prozessen grundsätzlichum Kommunikation, so wie das kollektiveGedächtnis einer Lebenswelt ebenfalls nurals Kommunikationsprodukt vorstellbar ist.

Anschaulich lässt sich ein solcher Pro-zess seit den Neunzigerjahren am Beispielder periodisch aufflammenden Diskussio-nen über den Ladenschluss dokumentieren.Vielen Menschen erscheint ein Fortbestandder starren Ladenschlussregelung nicht mehrplausibel. Dementsprechend ist auch diebislang geltende Norm(alität) in Fragegestellt. Sowohl Gegner als auch Verfech-ter des bestehenden Ladenschlussgesetzesgreifen bei ihren Strategien der Delegiti-mation bzw. der Legitimation auf vorhande-ne Wissensvorräte zurück. Welche dieserWissensvorräte ihnen dabei aus der nahe-zu unendlichen Menge der überkommenenMöglichkeiten zugänglich sind, hängt ganz

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39von der Passfähigkeit in Bezug auf die aktu-elle Situation ab. Wissensvorräte, die inter-pretatorisch keine aktuell relevanten An-schlussstellen an die zu klärende Situationbesitzen, werden auch nicht erinnert.

Analysieren wir die Argumente sowohlder Gegner als auch der Fürsprecher desLadenschlussgesetzes, stellen wir schnellfest, dass sowohl Legitimations- als auchDelegitimationsstrategien auf das tradierteWissen vom „Gebot“ des Sonntags alsRuhetag Bezug nehmen.

Während sich die Befürworter der aktuel-len Ladenschlussregelung, zu denen ge-meinschaftsorientierte Gruppen und Institu-tionen wie Kirchen, Gewerkschaften oderauch das Sozialministerium zählen, explizitauf den „Sonntag als Tag der Arbeitsruheund der Besinnung“ beziehen, geschiehtdies bei den Verfechtern einer Freigabeder Ladenöffnungszeiten eher indirekt. Hierkann man an ein in Bezug auf Verände-rungsbestrebungen des status quo allenfallshalbherziges Motto wie „Sonntags nur Be-sichtigung, kein Verkauf, keine Beratung“denken oder daran, dass sich Ausnahmenvon dem Gebot der Sonntagsschließung nurauf solche Branchen beziehen, die ermög-

lichen, den Sonntag feierlich begehen zukönnen (Blumenhändler, Bäcker). Interessantist, dass in derartigen Delegitimations-Vor-stößen immer auch beachtet wird, dasskeine Überschneidungen mit der Kirchzeitentstehen dürfen. Noch indirekter, aberletztlich trotzdem plausibel, sind Positionen,die verlängerte Ladenöffnungszeiten mit demdamit verbundenen Zugewinn an Freizeit-qualität und Freizeit„erlebnis“ zu rechtferti-gen versuchen oder als strikte Ausnahmedeklarieren (z.B. während der Fußball-Welt-meisterschaft 2006 in Deutschland). Zumin-dest für die Gruppe der Konsumenten lässtsich auf diese Weise noch eine Beziehungzum christlichen Gebot des Feierns konstru-ieren. Noch chancenlos wäre hingegen inDeutschland eine Argumentation, die sichbei dem Versuch, das Ladenschlussgesetzabzuschaffen, ausschließlich auf Aspekte

Thüringische Landeszeitung, 30.9.2006

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40der Umsatzmaximierung konzentrieren wür-de. Eine solche Delegitimationsstrategiewäre zumindest gegenwärtig nicht hinrei-chend plausibel, weil sie sich nicht auf einegemeinsam akzeptierte Wissensbasis beru-fen könnte bzw. weil die gemeinsame Wis-sensbasis vom Sonntag als Ruhetag derzeitnoch zu dominant ist. Die Wertigkeit desSonntags im gesellschaftlichen Bewusstseinist derzeit höher als die Wertigkeit möglichsthoher Umsätze.

Zwei Aspekte werden an dieser Stelle of-fensichtlich: Der erste bezieht sich auf denTatbestand, dass kulturelle Wissensvorräteanscheinend sehr resistent sind gegenüberkurzfristigeren historischen Veränderungensind. Anders ist zumindest nicht zu erklären,dass im Mittelpunkt der ostdeutschen Diskus-sionen um das Ladenschlussgesetz immernoch christliche Argumentationen stehen,obwohl die christlichen Konfessionen alsInstitutionen mit einem Mitgliederanteil vonunter 28% der Bevölkerung hier eine eheruntergeordnete Rolle spielen. Wie es zudiesen langfristigen Überlieferungen kommt,wird uns noch näher beschäftigen.

Zweitens zeigt gerade das Beispiel derLadenschlussdiskussion aber auch sehr deut-lich, auf welche Weise Wertewandelpro-zesse stattfinden. Im Gegensatz zu Nor-men verändern sich Werte eher schleichendund von vielen in diesem Veränderungs-prozess unbemerkt. So entstehen neue Wert-Normalitäten nie durch eine Zäsur, sondernimmer durch eine Korrektur der alten Nor-malität. Derartige Korrekturen finden per-manent statt und sind sowohl Resultat alsauch Ausgangspunkt kultureller Dynamik.Sie gehen von Ideen und Vorstellungen ein-zelner Individuen aus und werden dann füreine „neue Normalität“ einer Lebensweltcharakteristisch, wenn die Mehrheit der Mit-glieder dieser Lebenswelt sich mit den ent-sprechenden Werten identifiziert.

Damit ist auch das Verhältnis von Kulturund Individuum als Wechselverhältnis in derWeise bestimmbar, dass individuelles Han-deln sich einerseits durch eine spezifischeAuswahl jener Wissensvorräte auszeichnet,von denen es sich ein Höchstmaß an Plau-sibilität für Problemlösungen seiner aktuellenLebenswelt verspricht. Andererseits ist damit– unter Voraussetzung einer Mehrheitsfähig-keit dieser individuellen Sichtweisen – auchimmer eine Veränderung des gesamtenWertesystems einer sozialen Lebenswelt ini-tiiert. So wird – um auf den Ladenschluss zu-rückzukommen – eine dauerhafte Freigabeder Öffnungszeiten z.B. bis MitternachtVeränderungen der Konventionen familiä-ren Zusammenlebens nach sich ziehen, diedann auf anderer Ebene ebenfalls Werte-veränderungen zur Folge haben können.

Offenkundig ist in jedem Fall, dass eineKultur sich immer nur in den (kommunikati-ven) Handlungen ihrer Individuen äußertund dokumentiert. Da jedes Individuum in-nerhalb des Wissensvorrats, der ihm durchseine Sozialisation zur Verfügung steht, eineVielzahl eigenständiger Problemlösungsal-ternativen kreieren kann, die wiederumdurch individuenspezifische Erfahrungenüberhaupt erst möglich werden, ist jedeVerallgemeinerung im Sinne von „dieDeutschen sind <...>“ strikt unzulässig.

2.3.2Zur Abgrenzbarkeit sozialerWissensvorräte

Wie wir bereits gesehen haben, können wirvon einer strikten Abgrenzbarkeit kollektiverWissensvorräte nicht ausgehen, weil jedeKultur zu wesentlichen Teilen selbst Produktinterkultureller Interaktionen ist und kulturelles

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41Wissen von daher auch über Sprach- undLändergrenzen hinweg Überlappungen auf-weist. Wie gesagt: Kulturen sind ebensowie ihr jeweiliges kollektives Gedächtnisnicht als Container vorstellbar. Dennochexistieren Wissensbestände, die in jeweilsspezifischer Konstellation für bestimmte eth-nische Gruppen wichtig sind, weil sie fürderen Selbstdeutung immer wieder einebesondere Rolle gespielt haben.

Menschen erfahren, dass der Rückgriff aufbestimmte Wissensbestände erfolgreich ist.Das wiederum motiviert immer wieder aufgenau diese Wissensbestände zurückzu-greifen. Damit werden im Laufe der Ge-wohnheit weniger das Wissen an sich alsder Rückgriff darauf zur Gewohnheit. DieserMechanismus bringt gewisse kulturelle Be-sonderheiten hervor.

Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass einMigrant der zweiten Generation aus sei-nen schulischen SozialisationserfahrungenZugriff auf den Wissensvorrat der „Migra-tionskultur“ besitzt, zugleich aber auch überdie häusliche Sozialisation über den Wis-sensvorrat der elterlichen „Kultur“ verfügt.Die Frage nach einer Abgrenzbarkeit derWissensvorräte aus den beiden Kulturenbzw. Lebenswelten ist nicht mehr beantwort-bar. Entscheidend ist vielmehr, auf welcheWissensbestände die betreffende Person inSelbstdeutungsprozessen o.ä. zurückgreift,um Normalität wiederherzustellen.

Und gerade in diesem Zusammenhangsteht die häufig zu beobachtende und vonden Betroffenen beklagte „Heimatlosig-keit“ der Migranten der zweiten Genera-tion. Von ihrer Umgebung wird unterschwel-lig erwartet, dass sie z.B. bei Problemlö-sungen auf den Wissensvorrat derjenigenKultur zurückgreifen, in der sie aufgewach-sen sind. Unverständnis ist das Resultat,wenn dies nicht geschieht, sondern wenn –den Betroffenen zumeist nicht bewusst – auf

tradierte Wissensvorräte der elterlichen Her-kunftskultur zurückgegriffen wird.

Erschwerend wirkt sich für die Migrantender zweiten Generation aus, dass aus dengleichen Gründen Generationskonflikte vielheftiger ausgetragen werden, sodass daselterliche Zuhause in diesem Sinne nicht un-bedingt als Heimat angesehen wird.

Erwähnt sei an dieser Stelle das Beispieleines elfjährigen türkischen Mädchens, daswährend der Abwesenheit ihrer Eltern einenKlassenkameraden mit zu sich nach Hausenahm, um gemeinsam die Hausausgabenanzufertigen. Als der Vater des Mädchensvon diesem Besuch erfuhr, brachte er dasKind unverzüglich zu einer gynäkologischenUntersuchung in die Klinik.

2.4Kultur ist ein Kommunikations-produkt – oder: warum eine Kulturso geworden ist, wie sie ist

Bislang haben wir uns im Wesentlichendamit beschäftigt, Hypothesen darüber zuformulieren, wodurch kulturelles Wissencharakterisiert ist und in welcher Weise esim Rahmen des Alltagshandelns eingesetztwird. Als entscheidend hat sich hierbei dasRelevanzkriterium herausgestellt: Was fürdas Problemlösehandeln und damit für dieWahrung von Normalität und Plausibilitäteines (ethnischen) Systems Bedeutung be-sitzt, wird häufiger abgerufen und rekonstru-iert, als das, was hierfür weniger bedeut-sam ist. Umgekehrt wird die Relevanz vonWissensvorräten dadurch erzeugt und auf-rechterhalten, dass eine solche Rekonstruk-tion permanent stattfindet. Wie wir gesehenhaben, wird auf diesem Weg überhaupt

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42erst ein kulturspezifischer und kollektiv weit-gehend verbindlicher Handlungsrahmen er-zeugt.

Häufig unterschätzt wird die natürlicheUmwelt einer Ethnie. Sie bildet gleichsamdie tragende Schicht des Handelns, sei es

in sozialen, politischen, beruflichen und an-deren Kontexten. So haben klimatische undgeographische Bedingungen Einfluss aufdie Art und Weise der Gestaltung gesell-schaftlichen Zusammenlebens, auf die In-halte und Organisationsmöglichkeiten der

Modifiziertes Schichtenmodell in Anlehnung an E. Dülfer, Internationales Management, München/Wien 1999 (6. Aufl.), S. 221

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43Arbeit, auf die Organisation von Verkehrund Transport, auf Werthaltungen, Kom-munikationsformen (Sprache, Mimik, Ges-tik, Körperdistanz), Sinnkonstruktionen etc.Das an einen Entwurf des internationalenWirtschaftsforschers Eberhard Dülfer ange-lehnte Schichtenmodell der Umweltberück-sichtigung8 (s.o.) dokumentiert diesen zu-mindest indirekt auf allen Handlungsebenenbestehenden Einfluss der sog. „natürlichenGegebenheiten“. Es besteht im Sinne desEisberg-Modells aus mehreren wechselsei-tig verbundenen Schichten, die auf dasHandeln des Einzelnen Einfluss nehmenund es damit als kulturgebunden auswei-sen:

Bodenschätze, klimatische und topogra-phische Bedingungen z.B. fordern die Aus-bildung bestimmter Technologien wie z.B.Bohrtechniken, Schiffsbau, Klimatechnik etc.und schaffen Rahmenbedingungen für Sinn-konstruktionen, die sich wiederum in be-stimmten Normsetzungen z.B. rechtlicherund politischer Art spiegel. So wird häufigdarauf hingewiesen, dass sich die sog.Entwicklungsländer mit wenigen Ausnah-men auf den Gebieten zwischen 40 Gradnördlicher Breite und 30 Grad südlicherBreite finden, während die weltwirtschaft-lich bedeutenden Industriezentren nahezusämtlich in der nördlichen gemässigten Zo-ne liegen, wo die menschliche Leistungs-fähigkeit „naturgemäß“ höher ist. Dass einestrikt leistungsorientierte Form der Sinnge-bung, wie sie die protestantische Wirt-schaftsethik verkörpert, in tropischen Klima-

zonen nur schwer zu verwirklichen wäre,liegt auf der Hand.

Welche Wissensbestände für uns bis heu-te einen besonders hohen Aktualitätsgradbesitzen und dementsprechend auch unserHandeln bestimmen, hängt davon ab, wieKommunikationsprozesse und damit auchdie Produktion von Wissen über Jahrhun-derte hinweg koordiniert worden sind. Soist es nahe liegend, dass in „westlichen“Lebenswelten z. B. die christliche Lehreheute einen noch so nachhaltigen Einflussauf Denk- und Handlungsweisen ausübt,weil es Klöster und Kirchen waren, die seitdem Beginn von Schriftlichkeit für denimmerhin längsten Zeitraum der Geschichtemehr oder minder monopolistisch Wissentradiert und koordiniert haben. Sie haben indiesem Sinne stilbildend gewirkt. SpätereSteuerungszentren von Kommunikation, zudenen beispielsweise Institutionen politi-scher Herrschaft, bürgerliche Wissenschaft,Kunst oder gegenwärtig die Medienwirt-schaft selbst zu rechnen sind, haben nichtnur auf diesen Traditionen und Wissensbe-ständen aufgebaut, sondern auch auf derArt und Weise ihrer Vermittlung und sie imSinne eines kommunikativen als kulturellenStils mit entsprechenden Modifikationen fort-geschrieben.

Weil lebensweltliche Interaktionen nichtanders als auf kommunikativem Wege rea-lisiert werden können, schreiben sich diepraktizierten kommunikativen Stile in die je-weiligen lebensweltlichen Bereiche ein (undumgekehrt):

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Während die deutsche Kommunikations-geschichte wesentlich durch eine über lan-ge Zeit antagonistische Polung zwischenkatholischer Lehre einerseits und reforma-torischen Ansätzen andererseits geprägtist, haben wir es in der frankophonen undin der angelsächsischen Tradition mit Ent-wicklungen zu tun, die erheblich wenigerdurch derartige Widersprüche charakte-risiert sind. So sind unter französischerKoordinations“hoheit“ vollzogene Selbstver-ständigungsprozesse entscheidend durchdie kommunikationssteuernde Funktion derkatholischen Kirche im Mittelalter und derfrühen Neuzeit geprägt worden. Dies hatwiederum die Voraussetzungen dafür ge-schaffen, dass sich Denk- und Handlungs-strukturen wie Rationalismus und Zentralis-mus etablieren und bis in die Gegenwarthinein erhalten konnten. Ähnliches gilt in Be-zug auf die alltägliche Ästhetik des savoirvivre (wissen, wie man gut lebt], deren Be-deutung sich ohne Berücksichtigung desEinflusses der katholischen Kirche nicht er-schließen ließe.

Anders die angelsächsischen Regionen:Hier bot die im weitesten Sinne protestan-tische Prägung des Wissensvorrats ehereine Basis für erfahrungsorientierte, plura-listische, individualistische, aber auch puri-tanischere Formen der Selbstverständigung.Das unter diesen Vorzeichen vernetzte „Ar-chiv“ kommunikativen Handelns unterschei-det sich dementsprechend maßgeblich vondemjenigen frankophoner oder deutscherPrägung. Es ist weniger hierarchisch struktu-riert, dafür aber empirischer und personen-bezogener ausgerichtet. Dass diese Merk-male noch heute Einfluss auf kommunikative(als kulturelle) Stilbildungsprozesse nehmen,drückt sich nicht nur in der open door poli-cy, den flachen Hierarchien in der Unter-nehmensorganisation oder dem nicht norm-sondern fallbezogenen Ansatz angelsäch-sischer Rechtsprechung aus, sondern z. B.auch in den gegenüber dem geometrisch-abgezirkelten Ansatz französischer Gar-tenkunst eher „natürlichen“ gartenarchitek-tonischen Gestaltungsprinzipien. Deutlichwerden die Unterschiede auch, wenn wir

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uns angelsächsische Homepages, Ge-schäftsberichte oder Verkaufsprospekte an-sehen: Nicht der Autor steht im Vorder-grund, sondern der Rezipient. Und der wirdnicht mit einer ausschweifenden Philoso-

phie, sondern mit einer persönlichen An-sprache sowie knappen Daten und Faktenzu überzeugen versucht. Selbst wenn wirdie nationalen Internetauftritte von „GlobalPlayern“ wie McDonald’s vergleichen, wer-

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2.5Was heißt „InterkulturelleKompetenz“? (II) Zweite Zusammenfassung mit weiteren Empfehlungen zur interkul-turellen Kompetenzentwicklung

•Wahrnehmung vollzieht sich im Wesent-lichen als hypothesengeleiteter Suchvor-gang. Die Erwartungen oder Hypothesen,die bei diesem Suchvorgang aufgebautwerden, orientieren sich an bereits vor-handenen und individuell sehr unterschied-lichen Erfahrungen und Kenntnissen. Neueingehende Daten/Erfahrungen werdenmit schon vorhandenen Schemata vergli-chen und diesen zugeordnet oder an sieangedockt. Stimmen Erfahrungen und Er-wartungen nicht überein, führt dies un--ter der Prämisse „Es soll ein Sinn sein!“entweder zu einer „ungerechten“ Zuord-nung der Erfahrung zu einem nur bedingtpassfähigen Erwartungsschema oder (impositiven Fall) zu einer Korrektur, Differen-zierung und Erweiterung des Erwartungs-schemas.Sechste Empfehlung: Fehlerhafte Schema-zuordnungen erfolgen meistens unbewusstoder aufgrund der mangelnden Bereit-schaft Indexikalität bzw. Unklarheit „aus-zuhalten“. Ziel sollte es daher sein, unein-deutige Sachverhalte in Frage zu stellenund auf diese Weise, nach befriedigen-den und in dem entsprechenden Kontextplausiblen Problemlösungen zu suchen.Die damit einhergehende Thematisierungdes Sachverhalts kann situationsbedingtentweder metakommunikativ mit dem je-weiligen Kommunikationspartner (als Kom-munikation über den Kommunikationspro-zess) erfolgen oder – sofern dies zuAnimositäten führen würde – z.B. auf dem

46den wir feststellen, dass sich diese Stil-merkmale auch auf den aktuellen US-ame-rikanischen, britischen, französischen unddeutschen Websites wieder finden (Zugriff:Juni 2006).

Nicht oft genug betont werden kann je-doch, dass „Kulturen“ zwar über verände-rungsstabile „Kerne“ verfügen, dass sie anden Peripherien aber – zunehmend – offenund durch Interpenetrationsprozesse charak-terisiert sind und kommunikative Stile einan-der beeinflussen. Auf diese Weise ließe sichbeispielsweise die oft behauptete sukzes-sive Amerikanisierung „des“ deutschen Le-bensstils ebenso erklären wie zahlreicheWörter und Zeichen, die wir zwar tagtäg-lich routinemäßig als „eigenkulturelle“ ver-wenden, die aber bei genauerem Hinse-hen nicht unbedingt plausibel erscheinen.Vielen US-Amerikanern und Briten ist bei-spielsweise nicht bekannt, dass die italie-nischen Münzbezeichnungen „Lira“ (lat.libra: Pfund) und „Soldi“ den Symbolen fürdas englische Pfund (£) und den amerikani-schen Dollar (S = doppelt durchgestriche-nes S, wobei die senkrechten Striche fürdas A von America bzw. für das U vonUSA stehen) zugrunde liegen. Und welcherDeutsche würde schon vermuten, dass dieOrtsbezeichnung „Kuhblank“ im Branden-burgischen alles andere als einen Verweisauf Wiederkäuer enthält?

Quelle: Brandenburger Blätter, 28.4.2006, S.13

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47Wege der Informationsbeschaffung außer-halb des Kommunikationsprozesses.

• Je vielfältiger unsere Erfahrungen sind,desto offener und damit flexibler müssendie Schemata sein, mit denen wir agie-ren. Machen wir hingegen nur wenige(und immer gleiche) Erfahrungen, verhär-ten sich die Schemata, mit denen wirWirklichkeiten interpretieren und kons-truieren. Unsere Interpretationsmöglichkei-ten sind dann geringer, sodass wir dazuneigen, Unbekanntes entweder gar nichtzu tolerieren oder es „stereotyp“ bzw. inein relativ feststehendes Schemanetzwerkeinzuordnen.Siebente Empfehlung: Interkulturelle Kom-petenz hängt dementsprechend auch mitder Vielfalt der eigenen Fremdheitserfah-rungen zusammen. Wer darüber hinausUnbekanntem gegenüber nicht nur aufge-schlossen ist, sondern auch Bereitschaftzeigt, Fremdes aktiv zu entdecken und zuverstehen, wird in interkulturellen Situatio-nen erheblich flexibler und angemessenerreagieren können.

•Kulturelle Wissensvorräte werden in ihremKern oft über Jahrhunderte hinweg als re-lativ fest gefügte Schemanetzwerke über-liefert. Sie haben sich als Interpretations-und Problemlösewerkzeuge in historischfortschreitenden lebensweltlichen Zusam-menhängen immer wieder bewährt underscheinen daher plausibel. Da sich Tra-dierungsprozesse kommunikativ vollziehen,sind kulturelle Wissensvorräte gleichzei-tig Kommunikationsprodukt und Kommuni-kationsgrundlage. Sie prägen damit we-sentlich den Kommunikations-, Denk- undHandlungsstil derer, die in diesem Vermitt-lungszusammenhang sozialisiert werden.Je eingegrenzter und geschlossener dieserVermittlungszusammenhang ist (z.B. auf-grund mangelnder Medienvielfalt, fehlen-der Reisemöglichkeiten, strikter Kanonbil-

dungen), desto größer ist die kollektiveGültigkeit und Verbindlichkeit des gemein-samen Wissensvorrats. Sinngemäß giltumgekehrt: Je vielfältiger die Erfahrungs-möglichkeiten des Einzelnen in einem Tra-dierungsprozess sind (indem Sachverhaltethematisiert und in Frage gestellt werdenkönnen), desto größer sind die individuel-len Abweichungen von dem zugrunde lie-genden kulturellen Wissensvorrat und ent-sprechend geringer ist die Verbindlichkeiteines „gemeinsamen“ kulturellen Stils.Achte Empfehlung: In einer Zeit zuneh-mender Pluralisierung und internationalerVernetzung bestehen kollektive Wissens-vorräte und kulturelle Stile zwar fort. IhreVerbindlichkeit für eine Lebenswelt oderKultur nimmt jedoch ab: scheinbar Homo-genes erweist sich als faktisch äußerstunterschiedlich. Dementsprechend solltenwir mit generalisierenden Äußerungen inBezug auf kulturelle Gruppen sehr zurück-haltend sein. Individuelles Handeln istaus historischen Zusammenhängen herausvielleicht verstehbar; ebenso wichtig istjedoch die Kenntnis der jeweils konkretenund insgesamt einmaligen Sozialisations-kontexte des Einzelnen.

2.6Zum Nach- und Weiterdenken

1. Wie wir gesehen haben, sind Kommu-nikations- und Kulturgeschichte eng mit-einander verwoben. Dies lässt sich unteranderem auch am Beispiel der Benen-nung von Produkten belegen. Mit ein we-nig Hintergrundwissen in Bezug auf dieGeschichte der Bundesrepublik fällt esz.B. leicht, die Entwicklung der Typen-benennungen deutscher PKWs als Spie-gel der Zeitgeschichte zu lesen:

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Wie kann man an diesem Beispiel erklä-ren, dass Kultur Kommunikationsprodukt ist(und umgekehrt)? Warum würde man heu-te in Deutschland keine Autobezeichnun-gen wie „Tempo“ oder „Kadett“ durchset-zen können?

2. Die Geschichte des Begriffs „Kasko“ do-kumentiert zwei der häufigsten Tradie-rungsformen kulturellen Wissens. Einedavon belegt, dass Kulturen Produkteinterkultureller Prozesse sind, die ande-re zeigt, warum kulturelle Wissensvorräteteilweise sehr veränderungsresistent sind.Finden Sie im Text Beispiele hierfür?

Was bedeutet eigentlich „Kasko"?

GP. Wohl jeder Fahrzeugbesitzer zählt diesenBegriff zu seinem Wortschatz und glaubt, auchso ungefähr zu wissen, worum es geht – zumin-dest in der Verbindung Teil- oder Vollkaskover-sicherung. Aber was bedeutet eigentlich „Kasko“ursprünglich? Barbara Eggenkämper, Leiterin desFirmenhistorischen Archivs der Allianz Versiche-rung, weiß, woher das Wort stammt: „Kasko istdem Spanischen entlehnt und bezeichnet einen

Sturmhelm mit tief herabreichendem Stirn- undNackenschutz. Da die im 15. Jahrhundert auf-kommende Form der Schiffskörper der Hanseebenso wie die der Schiffe des Kolumbus mitihren hohen Vor- und Achterdecks einem verkehrtauf das Wasser gesetzten Sturmhelm ähnelt,übertrug sich der Name Kasko auf diese Schiffs-form und wurde später allgemein zum Sammel-namen für jede Art von Schiffsrumpf. Das Wortging in der übertragenen Bedeutung schon früh-zeitig ins Italienische über und wurde nach undnach in viele andere Sprachen übernommen. Fürdie Versicherung des Schiffs mit Zubehör fanddann das Wort Kaskoversicherung Verwendung.Als Anfang des 20. Jahrhunderts auch Auto-mobile gegen Beschädigung und Zerstörung ver-sichert werden sollten, übernahm man hierfürdasselbe Wort und es entwickelte sich der versi-cherungstechnische Begriff Automobilkaskover-sicherung.“

Quelle: Rhein-Hunsrück-Kurier 22/2006

3. Seit der deutschen Vereinigung wirdhäufig darüber diskutiert und spekuliert,ob die unterschiedliche Entwicklung vonWissensvorräten während der Zeit derdeutschen Teilung langfristig Einfluss auf

50er-Jahre 50er/60er-Jahre 70er/80er-Jahre 90er-Jahre

Wunsch nach „Sozialprestige”: „Freizeitgesellschaft”: „Postmoderne„heiler Welt”: Kapitän, Kadett, Ascona, Capri, Techno-Klassik”Janus, Prinz, Admiral, Diplomat, Monza, Sierra, (gr./ lat. Endungen):Goliath, Consul, Commodore, Fiesta, Escort, Orion, Astra, Vectra,Taunus Senator Scirocco, Passat, Mondeo, Odeon,

Golf, Derby, Polo Omega, Scorpio, Vento,Focus, Signum

„Wirtschafts- „Erlebnisgesellschaft, wunder”: Exotik“Rekord, Tempo, Blitz Tigra, Ka, Sharan, Lupo,

Zafira, Agila, Touran,Touareg

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49den Verlauf des Einigungsprozesses neh-men wird. In der (Medien)wirtschaftscheint man davon auszugehen, dassbereits eine Angleichung von Wissens-beständen stattgefunden hat. Zumindestist die nach der Wende praktizierte Dif-ferenzierung in West- und Ostausgaben

von Zeitschriften und Magazinen bereitsMitte der Neunzigerjahre zu Gunsten„einheitlicher“ Produkte aufgegeben wor-den. Zu Recht? Wie stellt sich in diesemZusammenhang der Tradierungsprozesssozialer Wissensvorräte auch in genera-tionsspezifischer Hinsicht dar?

Capital 1/1993 Ostausgabe

Capital 1/1993 Westausgabe

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3.Der Umgang mit Fremdemund Fremdheit

Der angemessene Umgang mit Fremdemund Fremdheit oder besser: mit Unvertrau-tem zählt zu den wichtigsten Aspekten,wenn es darum geht, interkulturelle Kom-petenz unter Beweis zu stellen. Was in die-sem Zusammenhang überhaupt „ange-messen“ heißt, was unter „Fremde“ und„Fremdheit“ zu verstehen ist, soll uns im Fol-genden beschäftigen.

3.1.Wann ist uns etwas fremd?

Eine erste Annäherung an die Bedeutungvon „fremd“ mag der nachstehende Zei-tungsartikel über das Familienrecht bei der

504. In den vergangenen Jahren ist es häufiger

vorgekommen, dass mit der am Tor desKZs Buchenwald angebrachten Inschrift„Jedem das Seine“ für Produkte wie Ham-burger oder Finanzdienstleistungen ge-worben wurde. Der Bezug zum KZ Bu-chenwald war natürlich in keinem derFälle bewusst hergestellt worden. Den-noch erregten die Werbesprüche großenAnstoß. Ist es möglich anhand dieses Bei-spiels Rückschlüsse auf die Funktions-weise des kulturellen Gedächtnisses her-zustellen? Welche Meinung haben Sie:Sollten Sprüche wie der genannte tabui-siert werden oder nicht?

Thüringische Landeszeitung Jena 4.1.2001 FAZ 10.1.00, S. 9

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51Volksgruppe der Kisii in Kenia vermitteln.Zumindest dann, wenn wir versuchen dieBesonderheiten dieses Rechtssystems aufAnhieb zu verstehen. Liest man den Artikelnur kursorisch, wird es vermutlich nicht gelin-gen, sich ein genaues Bild von den geschil-derten Umständen und Hintergründen desdargestellten Rechtsfalls aus Kenia zu ver-schaffen. Warum?

Die „Fremdheit“ des Artikels begründetsich nicht mit dem Stil des Autors, sonderndamit, dass der dargestellte Sachverhalt fürjemanden, der z.B. in Westeuropa aufge-wachsen ist, zunächst mit seinen eigenenErfahrungen von Alltagsnormalität nicht ver-einbar ist. Die beschriebene Eheregelungbei den Kisii erscheint aus dieser Perspek-tive unplausibel. Sie lässt sich nur schwer inÜbereinstimmung bringen mit „westlichen“Erfahrungen von institutionalisierten Regelnmenschlichen Zusammenlebens und steht Le-sern aus diesem Kulturkreis mit großer Wahr-scheinlichkeit „fern“ (im Sinne der Bedeutun-gen des germanischen Wortstammes „fram“:„fern von“, „fort“ und „vorwärts“ aus demsich der deutsche Begriff „fremd“ ableitet).

Umgekehrt deklariert man dann etwas als„Eigenes“, wenn es „nah“ erscheint, wennes auf Anhieb verständlich ist und nichtintensiveren Interpretationsbedarf hervorruft.Charakteristische Merkmale des „Eigenen“sind daher

* „Normalität“ (im Sinne von Alltäglichkeit)* Plausibilität* Sinnhaftigkeit

Sie bilden wesentliche Voraussetzungenfür Routinehandlungen, mit denen man aufder Verhaltensseite Gewohnheiten als Ge-wohnheiten herausbildet und damit das„Eigene“ als solches bestätigt.

3.2Alles ist relativ: Fremdbilder alsSpiegel des Selbstverständnisses

Dass uns das Fernstehende, Fremde über-haupt nichts sagt, dass wir keinerlei Be-ziehung dazu entwickeln, stellt eher eineAusnahme als die Regel dar. Ein Beispielhierfür wäre allenfalls der logisch-mathema-tische Fremdheitsbegriff: „Fremd“ sind hierzwei Klassen oder Mengen, deren Durch-schnitt leer ist, die also keinerlei Berührungs-punkte besitzen.

Zielort Flugkilometer Schätzungvon (s.Einleitung,Frankfurt/M. Seite)

Algier 1542

Athen 1798

Dubai 4849

Helsinki 1527

Istanbul 1874

Washington 8808

Kinshasa 6065

New Delhi 6115

Moskau 2039

Tokio 9369

Sofern zwischen Ihren Entfernungsschätzun-gen und den tatsächlichen Entfernungengrößere Differenzen bestehen, dürfte diesauch sehr viel mit dem Fremdheits- oderVertrautheitsgrad zu tun haben, den Sieaufgrund eigener Erfahrungen in Bezug aufdiese Städte gewonnen haben.

Entfernungen von Frankfurt/M.

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52Nahezu alle anderen Verwendungszu-

sammenhänge des Fremdheitsbegriffs be-inhalten allerdings jenes Bezugsverhältnis,das schon in der erwähnten Bedeutungs-erklärung: „fremd von <etwas anderem>“mitgedacht ist. Während dieses Bezugsver-hältnis beispielsweise in der Philosophie mitden Eckpunkten von „ego“ (ich) und „alter“(der/die/das Andere) noch eher abstraktund neutral gedacht wird, ist dies in ande-ren wissenschaftlichen Bereichen nicht derFall. In der Soziologie erscheint der Fremdein der Regel negativ als „Randseiter“, in kul-tur- und religionsgeschichtlichen Darstellun-gen häufig als das „Unheimliche“. Mit an-deren Worten: der Fremdheitsbegriff scheintrelativ und damit subjektiv definiert zu sein.Dies gilt auch, wenn wir das „fern von“ inseiner engen geographischen Bedeutungverstehen. In diesem Zusammenhang sindinternational tätige Manager gebeten wor-den Entfernungen von der Hauptstadt ih-res Landes zu verschiedenen Städten derWelt zu schätzen. Das Ergebnis war ver-blüffend: Städte, die aus eigener Erfahrungoder aus Sekundärerfahrungen (Medien,Kollegen etc.) besser bekannt waren, wur-den kilometerbezogen viel „näher“ einge-schätzt als eher unbekannte Städte, diedementsprechend erheblich „ferner“ ange-siedelt wurden.

Das heißt, dass bei Definitionen des Frem-den nicht tatsächliche oder „objektive“Kriterien zur Geltung kommen, sondern dassletztlich unsere Beziehung zu diesem An-deren darüber entscheidet, wie „fern“ oderfremd es für uns ist. Viel folgenreicher nochist der Umstand, dass wir nicht nur das An-dere, sondern auch uns selbst über die Ein-schätzung dieser Beziehung definieren; einSachverhalt, der deutlich in dem von Psy-chologen und Philosophen häufig verwen-deten Gegensatzpaar ego – alter ego zumAusdruck kommt. Kurz gesagt: Wir definie-

ren uns immer im Verhältnis zu anderen –und umgekehrt. Hierbei handelt es sich inder Regel nicht um einmalige Definitionen:Ob ich mich als „mager“, „dünn“, „voll-schlank“ oder „dick“ bezeichne, hängt unteranderem auch davon ab, in welchem Be-zugsverhältnis ich mich auf diese bestimmteArt und Weise einschätze.

Fest steht, dass ein Selbstverständnis nichtmöglich wäre, wenn es nicht den „Ande-ren“, „Fremden“ gäbe, mit dem ich michvergleichen könnte. Umgekehrt ist auchmein Verständnis des Fremden in erster Liniedavon abhängig, wie ich mich selbst in die-ser Beziehung sehe. Ein Beispiel hierfür bie-tet die unterschiedliche Positionierung derjeweils „eigenen“ geographischen Lage inaustralischen und europäischen Weltkarten.In Australien sieht man sich selbst verständ-licherweise nicht „am Rand der Welt“:

Dass das jeweils „eigene“ Land den Mit-telpunkt der Darstellungen einnimmt, umden sich alles andere herumgruppiert, kann

Deutsche Weltkarte

Australische Weltkarte

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53auch als Hinweis darauf verstanden werden,dass man ethnozentrisches Denken selbstdann nicht unterbinden kann, wenn mansich dessen negativer Auswirkungen bewusstist. Ähnliche Belege hierfür gibt es in derGeschichte im Überfluss: Das christliche Eu-ropa sah sich dem Zentrum der Welt, Gott,am nächsten, während für die Chinesen das„Reich der Mitte“ in Asien lag. Und dassdie moderne Drittelung der Welt in einenwestlich-kapitalistischen, einen östlich-sozia-listischen und einen entwicklungsbedürftigenTeil nicht in der „Dritten“ Welt erfunden wor-den ist, liegt auf der Hand. Teilweise hatsich eine solche ethnozentrisch vom „Ei-genen“ ausgehende Weltsicht auch in derSelbstbezeichnung vieler Völker niederge-schlagen: „Bantu“, „Inuit“ oder auch „Co-manche“ bedeutet jeweils „Mensch“, womitnatürlich gleichzeitig auch eine Abgrenzunggegenüber Fremdem impliziert ist.

Selbst- und Fremdbilder stehen in einemwechselseitigen Zusammenhang und wärenaußerhalb dieses konkreten Zusammen-hangs auch nicht denkbar. So können sichSelbsteinschätzungen in Abhängigkeit zuunterschiedlichen Fremdbildern vollkommenverändern. Das lässt sich an einem Beispielgut vorstellen, wenn man überlegt, wie sichein nationales Selbstverständnis z.B. inHinblick auf die weltpolitische Geltung ausdeutscher Perspektive einerseits in Bezug aufdie USA, andererseits in Bezug auf Mali for-muliert.

Unsere Wahrnehmung von Eigenem undFremden ist über das direkte Wechselspielvon Selbst- und Fremdverstehen hinaus auchwesentlich durch das geprägt, was wir an-nehmen bzw. vermuten, was andere vonuns denken und erwarten. Man spricht indiesem Zusammenhang von „Metabildern“.Wenn ich z.B. vermute, dass der Anderevon mir erwartet, dass ich in einer bestimm-ten Kleidung zu einer Veranstaltung gehe,die derjenige auch besucht, so kann dieseVermutung bzw. dieses Metabild für michdurchaus handlungsleitend sein und michzur Wahl entsprechender Kleidungsstückemotivieren (die ich „von mir aus“ eventuellgar nicht in Betracht gezogen hätte). Hie-raus folgt: Wenn wir Fremdes (und Eigenes)wahrnehmen und verstehen, dann geschiehtdies auf der Grundlage des wechselseiti-gen Zusammenhangs von Selbst-, Fremd-und Metabildern:

Wie bei Selbstbildern, so gibt es auch beiFremdbildern positive und negative Extre-me, die so genannten Freund- bzw. Feind-bilder. Beide haben fast immer die Funk-tion, die eigene Identität zu stärken:„Freundbilder“ in dem Sinne, dass Verbün-dete das Eigene stärken und bestätigen,Feindbilder dadurch, dass sie Abgrenzun-gen etwa in dem Sinne von „das will ich aufgar keinen Fall“ oder „ich bin das Gegen-teil“ ermöglichen.

Dass es sich auch hierbei um Prozessehandelt, die ständigen Veränderungen un-

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54terliegen, lässt sich gut anhand der Fremd-bildveränderungen im Zusammenhang mitden politischen Umwälzungen in Osteuropadokumentieren. So hat mit dem Wegfall desverbindenden Elements eines gemeinsamenFeindes beispielsweise das Fremdbild Euro-pas in den USA seine Qualität als „Freund-bild“ verloren; genauso wie Russland nichtmehr als „großer“ Bruder mittelosteuropäi-scher Staaten und auch nicht mehr als„Feind“ Westeuropas dient.

3.3Über die Unvermeidbarkeit vonStereotypen und Vorurteilen

Dass Stereotypen eine bestimmte Form undFunktion von Wahrnehmungsschemata dar-stellen, haben wir bereits gesehen. Schema-ta sind demzufolge vorstellbar als „Typen“,denen bestimmte Wahrnehmungen zugeord-net werden, die dann als „Subtypen“ Spe-

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ten Images („Bildes“) maßgeblich für daseigene Handeln verantwortlich. Wer nachAustralien fährt, glaubt, den Zweck seinerReise erst dann erfüllt zu haben, wenn erdas erste Känguru gesehen hat, und austra-lische Waren werden bei uns erst dann als„echt“ australische akzeptiert, wenn sie inirgendeiner Form mit einem Känguru-Sym-bol versehen sind. Wie sich Bilder (Images)bzw. Vorstellungen von etwas Fremdem zuStereotypen verfestigen, so fossilieren nachgenau dem gleichen Mechanismus Einstel-lungen und Meinungen zu Vorurteilen.

Welche Konsequenzen dies haben kann,lässt sich an einem Beispiel aus der Wirt-schaft zeigen: Von Mitte der neunziger Jahrebis 2006 wurde unter den Typenbezeich-nungen VW Sharan, Ford Galaxy und SeatAlhambra ein nahezu identischer Minivanproduziert und vertrieben. Obwohl die Fahr-zeuge auch hinsichtlich des Verkaufspreiseskaum differierten, wurden vollkommen unter-schiedliche Absatzzahlen erzielt. In der Pha-se der größten Differenz wurden Volkswa-gen in Deutschland fast doppelt so oftverkauft wie die entsprechenden Ford-Mo-delle und sogar um das Neunfache mehrals der Seat Alhambra:

Da die Absatzzahlen in anderen europäi-schen Ländern wieder ganz anders aus-sehen – so wird der in Großbritannien alsbritisch und damit als „eigenes“ Produkt re-klamierte Ford Galaxy viermal mehr verkauft

55zifizierungen des übergeordneten Typs dar-stellen („Schimpanse>“ in Bezug auf „Affe“).

Die Definition von „fremd“ im Sinne voneinerseits „fern von“ und andererseits „vor-wärts“ beinhaltet zum einen, dass etwas ge-nau dann „fremd“ ist, wenn entsprechendeErfahrungen nicht vorliegen. Das heißt: wasich nicht kenne, ist mir fremd. Verräterisch fürunseren Umgang mit Fremdheit ist allerdingsdie zweite Bedeutung „vorwärts“: Sie zeigtan, dass wir stets versucht sind, Fremdes zuerkunden, uns verständlich und es zu unse-rem „Eigenen“ zu machen.

Kommen wir zunächst noch einmal zumZusammenhang von Fremdheit und Erfah-rungsmangel zurück, der zwangsläufig auchbeinhaltet, dass zumindest eine minimaleErfahrungsbasis vorhanden sein muss, um et-was überhaupt als „fremd“ und nicht als„nichts“ zu klassifizieren: Indem wir vomFremden weder genaueres wissen noch er-warten, nähern wir uns ihm mit relativ undif-ferenzierten Rastern, Schemata oder „Ty-pen“. So wird jemand, der noch nicht inAustralien gewesen ist, aufgrund von Me-dienberichten, Postkarten, Filmen etc. hin-sichtlich seiner Wahrnehmungen und Er-wartungen vermutlich in erster Linie aufKängurus und nicht unbedingt auf Blech-dächer ausgerichtet sein. Von daher kann esleicht passieren, dass Australien durch dennach und nach verfestigten (→ gr. stereos)Schematyp „Känguru“ repräsentiert wird.Dieses Stereotyp ist im Sinne eines verfestig-

Zulassungszahlen in Deutschland von VW Sharan,Ford Galaxy und Seat Alhambra lt. Angaben desKFZ-Bundesamtes in Flensburg (http://www.kba.de/)

VW Ford SeatSharan Galaxy Alhambra

1997 29.913 16.733 3.436

2003 22.171 13.968 7.055

Stereotype = fossilierte Images

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56als der VW Sharan – liegt die Vermutungnahe, dass Vorurteile über die Herkunft desjeweiligen Autos Einfluss auf die Kaufent-scheidung nehmen. Aus deutscher Sicht giltdabei immer noch die Überzeugung von„deutscher Wertarbeit“, während der Seat-Sitz Spanien als Produktionsort nicht unbe-dingt mit Zuverlässigkeit assoziiert wird.Dass derartige Vorurteile auch durch Faktennur schwer veränderbar sind, belegt die tat-sächliche Produktionssituation. Was diemeisten Käufer nämlich nicht wissen: Alledrei Fahrzeugtypen wurden im Werk „Auto-Europa“ in Portugal hergestellt, in der End-phase der Kooperation entstand der FordGalaxy sogar in Lohnarbeit von VW.

Ob die spärlichen Erfahrungen, auf denenStereotype und Vorurteile basieren, nun po-sitiven oder negativen Inhalts sein mögen:allgemein werden sie mit großer Skepsisbzw. Ablehnung betrachtet. So zutreffenddies einerseits ist, weil sie aufgrund ihrergroben Rasterung immer auch Ungerech-tigkeit (sowohl zum Positiven als auch zumNegativen hin) beinhalten, so unverzichtbarsind sie andererseits, um überhaupt Orien-tierungen in Bezug auf Fremdes geben zukönnen.

Von daher wird sich niemand davon frei-sprechen können, mit Stereotypen und Vor-urteilen zu arbeiten. Sie sind sozusagen dererste Schritt „vorwärts“ zum Fernen, Frem-den. Gleichzeitig bilden sie aber auch nurein Skelett, das angereichert werden will miteiner Fülle differenzierender Erfahrungen.Und wenn wir uns bewusst sind, dass Ste-reotype nur einen vorläufigen, zur Orien-tierung dienenden Behelf darstellen, sind sieauch nicht negativ, sondern als erster Schrittzum Positiven zu bewerten.

3.4Was Stereotype und Vorurteile überdiejenigen verraten, die sie äußern

Wie wir bislang unter eher formalen As-pekten gesehen haben, stellen Stereotypeund Vorurteile eine Reduktion von Wahrneh-mungen auf sehr häufig und in immer glei-cher Weise aktivierte Schemata dar. Erfah-rungen in Bezug auf Fremdes werden, demDrang nach „Integration“ folgend, in dasje-nige Schema eingeordnet, von dem manglaubt, dass es am besten passt. Anders ge-sagt: Menschen erklären das Fremde im-mer aus der Perspektive des Eigenen. Dahersagen inhaltliche Bestimmungen von Stereo-typen und Vorurteilen notwendiger Weiseauch sehr viel über den Wissensvorrat jenerMenschen aus, die diese Stereotypen ver-wenden.

Deutlich wird dies, wenn wir uns Fremd-bild-Formulierungen der deutschen Pres-se zur Zeit des Golfkonfliktes 1990/91vor Augen führen. Zur CharakterisierungSaddam Husseins wurden damals dieSchemata (a) „unmenschlicher Politiker derschlimmsten Form“ und (b) „aus dem Orient“verwendet, wobei inhaltliche Verfestigun-gen von (a) auf eigenkulturelle Erfahrungenmit dem Nationalsozialismus und insbeson-dere mit Hitler und von (b) auf die Märchenaus 1001 Nacht verweisen. Wie die Her-kunft der Presseartikel zeigt, sind derartigeReduktionen keineswegs nur spezifisch fürdie Sensationspresse. Sie dokumentieren,wie zu einer bestimmten Zeit vor dem Hin-tergrund eines spezifischen gesellschaftlichenSelbstverständnisses auf bestimmte Teile deskulturellen Wissensvorrats zurückgegriffen

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57wird, weil diese als bestmögliche Erklä-rungsform angesehen werden:

(a) „Der Hitler von Bagdad überfällt einwehrloses Volk im Morgengrauen“(Bild, 3.8.90); „Irak richtet Konzentra-tionslager für ausländische Geiselnein“ (Welt am Sonntag, 29.8.90)

(b) „Hussein hat seinen Krummsäbeldolchan die Halsschlagader der westlichenIndustrienationen gesetzt“ (Die Zeit,31.8.90); „Ein wildgewordener Tep-pichflieger aus dem Orient“ (Westdeut-sche Allgemeine Zeitung, 25.8.90)

Umgekehrt bediente sich Hussein in sei-nen Äußerungen über die USA nach dem11. Sept. 2001 freilich ebenfalls eines his-torisch tradierten Stereotyps:

„Die amerikanischen Cowboys ernten dieFrüchte ihrer Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit.“ (zit. TLZ 28.9.2001)

Dass aus der Perspektive eines anderenkulturellen Wissensvorrats Stereotype unter-schiedlich kontextualisiert werden könnenund insofern auch unterschiedliche Bedeu-tungen aufweisen, verdeutlicht eine in Tai-wan veröffentlichte Werbeanzeige für Hon-da-PKWs. Unter der Überschrift „Auch Siekönnten ein Hitler sein! Damals wurden vie-le Juden von Hitler mit Giftgas ermordet.Heute könnte das Auspuffrohr Ihres Autosebenfalls eine Gaswaffe sein“ wird hier ineiner Form für die Umweltfreundlichkeit vonHonda-Fahrzeugen geworben, die in Euro-pa so sicherlich nicht akzeptabel wäre, weildie mit der Person „Hitler“ verknüpften Wis-sensvorräte in einer Weise präsent sind, diein der Regel Tabuisierung, Scham und Be-troffenheit erzeugt. Eine Vermarktung alsWerbefigur wäre dementsprechend absurd.In ganz anderem Zusammenhang, aberdennoch erkenntnistheoretisch vergleichbar,lässt sich der 2006 von einer dänischenZeitschrift ausgelöste „Karikaturenstreit“ ver-stehen.

Zusammengefasst können wir hieraus fol-gern, dass Stereotype den Umgang mitFremden einerseits erleichtern und in gewis-ser Weise auch erst ermöglichen, indem sieOrientierungsfunktionen bieten. Andererseitssind sie inhaltlich auch immer ein Spiegelder Erfahrungen und des Wissensvorra-tes derjenigen, die sie äußern. Wie insbe-sondere das taiwanesische Werbebeispielzeigt, muss interkulturelle Kompetenz folg-lich nicht nur beinhalten, dass man sich imSinne einer permanenten (inter)kulturellenLernbereitschaft um die fortschreitende Diffe-renzierung seiner eigenen Schemata bzw.Stereotype bemüht. Ebenso wichtig ist es,die Zusammenhänge zu verstehen, in denenin anderen Kulturen beispielsweise Stereo-type als Fremdstereotype in Bezug auf dieeigene Kultur gebildet werden. Das hat sehrviel mit dem Bestreben zu tun, den Anderenzumindest bis zu gewissen Grenzen in sei-nem Anderssein zu verstehen. Dieses Verste-

Quelle: D.T.Lo, Die Bedeutung kultureller Selbst- undFremdbilder in der Wirtschaft. Sternenfels 2005,159

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58hen bedeutet nicht unbedingt, die Denk- undVerhaltensweisen des anderen zu akzeptie-ren. Zu akzeptieren ist zunächst vor allemdas Anderssein als solches.

3.5Wie fremd kann, darf oder mussdas Fremde sein? Über die Grenzen der Integration

Die Akzeptanz des Anderen, des Fremden,fällt vor allem dann leicht, wenn die Be-ziehungen dazu sporadisch sind, wenn wiruns nur oberflächlich damit auseinander set-zen müssen. Typische Beispiele hierfür sindUrlaubsreisen, alle Formen des kurzfristige-ren Schüler- und Studentenaustauschs oderauch internationale Geschäftsbeziehungen,die von Zeit zu Zeit mit kürzeren Arbeits-aufenthalten im Ausland verbunden sind.

Ganz anders sieht es hingegen aus, wennjemand aus privaten, ökonomischen oderauch politischen Gründen in ein anderesLand übersiedelt, um sich dort auf langeSicht eine neue Existenz, eine neue Le-benswelt aufzubauen. In solchen Fällen,vollzieht sich ein Bruch in der eigenen So-zialisationsgeschichte.

Die Enkulturation (a) wird über den Zwi-schenschritt der Akkomodation (b) als Akkul-turation (c) fortgesetzt. Im Einzelnen bedeu-tet dies:

(a) Enkulturation: Auf den Sozialisations-prozess der Herkunftskultur bezogenerErwerb von Werten, Normen, Spra-che, Verhaltensstilen etc. Enkulturationist stets auf die Primärsozialisation be-zogen, während Akkomodation undAkkulturation hierauf aufbauen und vondaher der Sekundärsozialisation zuge-rechnet werden.

(b) Akkomodation: Phase der Aneignungvon Kommunikations- und Interaktions-regeln derjenigen Kultur, in die einMensch seinen Lebensmittelpunkt verla-gert hat. Hierzu zählt insbesondere dieAneignung fremdkulturellen Wissens,

um in der fremden Gesellschaft hand-lungsfähig sein zu können. Akkomoda-tion als eine funktionale Form der An-passung schließt nicht ein, dass manseine in der Primärsozialisation erwor-benen Werte und Denkweisen ändert.Dies ist erst der Fall, wenn sich dereigene Sozialisationsprozess vollziehtals

(c) Akkulturation: Aufbauend auf die Pha-se der Akkomodation werden infolgeeines längeren Aufenthaltes in einer an-deren Kultur nach und nach deren Wer-te, Normen, Denkweisen etc. übernom-men und als „eigene“ deklariert.

Schematisch lässt sich dieser Prozess wiefolgt darstellen:

Wie wir gesehen haben, ist es nicht mög-lich, sich während des Akkulturationspro-zesses in der Lebenswelt B von der Bin-dung an den (en-)kulturellen Wissensvorratder Lebenswelt A zu lösen. Bei Problemen,

Zum Verhältnis von Enkulturation, Akkomodation undAkkulturation

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59in Konfliktsituationen, zum Teil aber auch ineinfachen Alltagshandlungen wird unwei-gerlich in der im zweiten Kapitel beschrie-benen Weise auf Wissensvorräte des En-kulturationskontextes der Lebenswelt zurück-gegriffen, weil diese den Grundstock füralles spätere Wahrnehmen, Verstehen usw.darstellen. Was in individueller Hinsicht gilt,trifft auch für Gesellschaften zu.

3.6Was heißt „Interkulturelle Kompe-tenz“ (III)? Dritte Zusammenfassungmit weiteren Empfehlungen zur in-terkulturellen Kompetenzentwicklung

• Fremd erscheint uns etwas dann, wennes Normalitätserwartungen widerspricht,wenn es nicht plausibel ist, wenn es(für uns) „keinen Sinn macht“ und/oderwenn dementsprechend Routinehandlun-gen nicht mehr „in der gewohnten Wei-se“ möglich sind.Neunte Empfehlung: Das Ignorieren desFremden oder auch das Zurückweichenvor dem Unbekannten geschieht oft ausBequemlichkeit oder Angst vor Verun-sicherung. Ein solches Verhalten nütztweder dem Fremden noch dem „Eige-nen“, weil Parallelwelten entstehen, indenen es mangels neuem „Input“ auchnur schwer innovative Entwicklungen ge-ben kann. Auch wenn das Verharren vor dem Un-bekannten, wenn das Verstehenwollendes Unplausiblen zum Durchbrecheneigener Alltagsroutinen führen und viel-leicht sogar Angstempfindungen hervor-rufen kann: die Auseinandersetzung mitdem Fremden ist grundsätzlich schon des-halb bereichernd, weil sie neue Erfah-

rungen ermöglicht, die den eigenen Hori-zont – in welcher Weise auch immer – zuerweitern vermögen.

• Selbst-, Fremd,- und Metabilder bedin-gen sich wechselseitig. Urteile, Meinun-gen und Einstellungen anderen gegen-über sind daher weder „objektiv“ nochunwandelbar, sondern formulieren sichimmer in Bezug auf den Urteilenden.Zehnte Empfehlung: Wir können dasFremde nicht kennen und verstehen ler-nen wollen, wenn wir das Eigene nichtreflektieren – vor allem die Bezie-hung zwischen Eigenem und Fremdem.Aus diesem Grund sollten Maßnahmenzur interkulturellen Kompetenzentwick-lung auch immer eine Förderung desSelbstverständnisses, des Wissens umZusammenhänge der eigenen Kultur, ein-beziehen.

• Die Verwendung von Stereotypen undVorurteilen wird man gerade in interkultu-rellen Handlungszusammenhängen nichtvermeiden können, weil eine entspre-chend differenzierte Weltsicht nicht er-reichbar ist. Einerseits ist das Spektrumunserer Möglichkeiten Erfahrungen zusammeln notwendigerweise begrenzt,andererseits wird Alltagskommunikation– um überhaupt funktionieren zu können– immer darauf angewiesen sein, Kom-plexität zu reduzieren und „einfache“Bilder zu Orientierungszwecken zu ver-wenden.Elfte Empfehlung: Vorurteile und Stereo-type stellen nicht per se eine Misslin-gensbedingung für interkulturelle Kommu-nikation dar. Wir sollten uns jedoch derKonsequenzen der Verwendung von Ste-reotypen und Vorurteilen bewusst seinund uns selbst zu einer so weit wie mög-lich differenzierten Sichtweise zwingen.Wichtig ist es dabei, die Zusammen-hänge zu verstehen, in denen in ande-

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60ren Kulturen beispielsweise Stereotypeals Fremdstereotype in Bezug auf dieeigene Kultur gebildet werden. Das hatsehr viel damit zu tun, den Anderen zu-mindest bis zu gewissen Grenzen in sei-nem Anderssein verstehen zu wollen. Die-ses Verstehen bedeutet nicht unbedingt,die Denk- und Verhaltensweisen des An-deren zu akzeptieren. Zu akzeptieren istzunächst vor allem das Anderssein alssolches.

• Erfolgreiche Integration funktioniert nurauf der Grundlage der Anerkennung vonHeterogenität. Homogenitätsstreben –von welcher Seite auch immer – provo-ziert Gefahren der Identitätspreisgabe.Zwölfte Empfehlung: Akkomodationspro-zesse sollten als Prozesse bewussterund angeleiteter Dialogführung zwischenAusgangs- und Aufnahmekultur moderiertwerden. Dies zu leisten ist Aufgabe inter-kultureller Coaches (und gegebenenfallsMediatoren).

3.7Zum Nachdenken und Diskutieren

3.7.1 „Kulturschock“

Ein sog. „Kulturschock“ kann, muss aberkeineswegs zwangsläufig auftreten, wennman für einen längeren Zeitraum im Auslandlebt. Kalvero Oberg9, von dem der Begriffstammt, hatte bereits 1960 verschiedenePhasen des Kulturschocks beschrieben, diesich idealtypisch in einem U-förmigen Ver-lauf anordnen lassen. Sie lassen sich wiefolgt beschreiben:

(1) Euphorie: Man freut sich auf das Neueund reagiert anfangs überschwäng-

lich, weil man nur das (positiv) Erwar-tete wahrnimmt.

(2) Missverständnisse: Man erkennt dieNormalitätsregeln der Zielkultur teil-weise nicht und erzeugt Missverständ-nisse, weist sich aber als Neuankömm-ling die Schuld selbst zu.

(3) Kollisionen: Die Ursachen der Missver-ständnisse bleiben einem verborgen,man weist den anderen die Schuld zu,resigniert teilweise und neigt zu einerstarken Aufwertung der eigenen Kultur.

(4) Unterschiede werden akzeptiert undWidersprüche ausgehalten. Man be-müht sich um ein Verstehen.

(5) Akkulturation: Man versteht die Unter-schiede weitgehend und tendiert zurÜbernahme fremdkulturspezifischer Ver-haltensmerkmale.

Wie wir gesehen haben, hängt die Artund Weise der Selbsteinschätzung (Identi-tätsausbildung) immer auch von der Be-ziehung zum Fremden ab: Je vertrauter dasFremde ist, desto geringer ist das Strebennach Selbstbehauptung – und umgekehrt.

(a) Wie stellt sich dieses Verhältnis vonSelbst- und Fremdbild in den einzelnenPhasen der U-Kurve des Kulturschocksdar?

(1) Euphorie

(2) Missverständnisse

(3) Kollisionen

(5) Akkulturation

(4) Akzeptanz der Unterschiede

Zeit

Anpassungsbereitschaft

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623.7.3Aus der Rechtsprechung

Wie hätten Sie in den beiden nachstehen-den Fällen entschieden?

Frankfurter Rundschau, 19.1.01 Frankfurter Rundschau, 25.1.06

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634.Multikulturalität undInterkulturalität:Vom Nebeneinanderzum Miteinander

Wie wir im ersten Kapitel festgestellt haben,bezeichnet „Multikulturalität“ eine sozialeOrganisationsstruktur, während „Interkultu-ralität“ auf die Dynamik des Zusammenle-bens und damit auf die sozialen Prozessein einer solchen multikulturellen Lebensweltverweist. Insofern bezeichnet Interkulturali-tät eine Qualität von Multikulturalität. Sie istzum einen durch die Motivation bzw. Offen-heit der Beteiligten einer „Multikultur“ ge-prägt. Zum anderen wird sie aber auchwesentlich bestimmt durch Handlungsspiel-räume, die aufgrund politischer Strukturvor-gaben in sehr unterschiedlicher Form mar-kiert sein können. Dass es diesbezüglich imparteilpolitischen Spektrum der Bundesre-publik äußerst kontroverse Vorstellungen von„Multikulturalität“ gibt, vereinfacht den Um-gang mit dem Begriff nicht unbedingt. Je-der, der im Bereich der interkulturellen Kom-petenzvermittlung engagiert ist, sollte sichdaher sehr bewusst in diesem breiten Spek-trum zu positionieren versuchen:

4.1Multikulturelle Perspektiven – oder:Drei Varianten von Multikulturalität

Am gleichsam „geschlossenen Ende“ derSkala werden mit „Multikulturalität“ in erster

Linie Identitätsbedrohungen der ‚Aufnahme-kultur‘ assoziiert. Ist dies der Fall, bestehteine deutliche Tendenz dazu, aktuelle Struk-turen zu bewahren. Und zwar dadurch,dass interkulturelle Prozessdynamiken nur ander Oberfläche einer Lebenswelt – auf Be-suchsebene sozusagen – zugelassen wer-den. In diesem Sinn argumentiert das Grund-satzprogramm der CSU unter dem Titel„Bayern – weltoffen und ausländerfreund-lich, aber nicht multikulturell“:

„Für die CSU ist die europäische weltoffene Kulturdes Verstandes und des Herzens die Grundlage jeg-lichen politischen Handelns und friedlichen mensch-lichen Zusammenlebens. Christentum, Humanismusund Aufklärung gebieten Toleranz. Das wollen wirerhalten. Wertordnungen, die Toleranz nicht res-pektieren, schaffen Anlässe für tiefgreifende gesell-schaftliche Konflikte. Daher lehnen wir die Selbst-aufgabe in einer multikulturellen Gesellschaft ab.“(http://www.csu.de/home/Display/Politik/Grund-satzprogramm/grpr_ii_17; Zugriff Juni 2006)“

Aus dieser Perspektive bestehen die politi-schen Aufgaben der multikulturellen Struktur-organisation vor allem im Schutz von Wer-ten der „Aufnahmegesellschaft“. Angriffegegen diese Ordnung können im Grundenur durch Interessenseparierung und letztlichdurch die Schaffung von Stillhalteabkom-men und Ignoranzfeldern zwischen den Be-teiligten verhindert werden. Die Warnungdes CSU-Vorsitzenden Stoiber anlässlichdes CDU-Parteitags im August 2005 inDortmund skizziert ein aus Sicht der CSUdüsteres Szenario für den Fall, dass besag-te Besuchsebene verlassen wird, und mansich als „Einwanderungsland“ tatsächlichauf eine multikulturelle gesellschaftlicheStrukturierung einlassen wolle:

„Denn multikulturelle Gesellschaft ist nicht inerster Linie Pizzeria oder griechische Taverne. Die

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64harte Realität der multikulturellen Gesellschaftheißt Parallelgesellschaften, Gettoisierung, Konflikt,Zwangsheiraten, Ehrenmorde“. (http://www.cdu.de/doc/pdf/05_08_28_Rede_Stoiber_Parteitag_Dortmund.pdf; Zugriff: Juni 2006)

Eine deutlich „offenere“ Bedeutung erhältder Begriff „Multikulturalität“, wenn kulturelleVielfalt nicht als Bedrohung, sondern alsBereicherung verstanden wird. Politisch re-sultiert dann das Bestreben, die Trennungzwischen den einzelnen kulturellen Grup-pen zu lockern oder auch ganz aufzulösen.Je mehr eine solche Dynamik unterstütztwird, desto ausgeprägter vollzieht sich Inter-kulturalität. Dass diesbezüglich wiederumdeutliche Unterschiede hinsichtlich der Qua-lität der gewünschten Prozessdynamik be-stehen, geben Formulierungen der Par-teiprogramme nicht nur zwischen den Zei-len zu erkennen. Die SPD tritt für „Ver-ständnis, Achtung und Zusammenarbeitzwischen unterschiedlichen Nationen undKulturen“ ein, (http://www.spd.de/ser-vlet/PB/show/1588244/programmde-batte_grundsatzprogramm.pdf; Zugriff Juni2006) und wirbt damit für eine Praxisgegenseitiger Anerkennung und Toleranz.Ähnlich, aber konkreter in Hinblick auf diepolitische Realisation von Multikulturalitätbesteht das Ziel der „Linkspartei PDS“ darin„den Dialog der Kulturen, Weltoffenheit undAustausch zu ermöglichen“. (http:/sozialis-ten.de/partei/dokumente/programm/view_html?zid=28575&bs=1&n=17;Zugriff Juni 2006). Die Grünen hingegenerweitern in ihrem Wahlprogramm von2005 den Toleranz- zu einem Akzeptanzas-pekt: „Die multikulturelle Gesellschaft ist Rea-lität, die wir demokratisch gestalten wollen.Sie ist Bereicherung und Herausforderung.Sie ist nicht bequem, beinhaltet aber immen-se Potenziale. Migrantinnen und Migrantensind selbstverständlicher Teil unserer Gesell-

schaft“ (http://www.gruene-portal.de/6_kapitel.79.0.html#51; Zugriff Juni 2006).

Wir können drei Varianten von Multikul-turalität unterscheiden, die ihrerseits durchein Mehr oder Minder an Interaktion cha-rakterisiert sind: Je intensiver die Interak-tionen zwischen den Angehörigen unter-schiedlicher Lebenswelten sind, desto deut-licher ist die organisationale Multikulturalitätdurch interkulturelle Prozessdynamiken cha-rakterisiert. Bezogen auf die Einschätzungkultureller Vielfalt lässt sich dabei eineEntwicklung feststellen, die vielleicht am tref-fendsten als Stufenfolge von „Ignoranz“ –„Toleranz“ – „Akzeptanz“ beschrieben wer-den kann:

„Multikulturalität I“ ist also geprägt durchdie deutliche Vorherrschaft einer übergrei-fenden und im besten Fall „gast“gebendenLebenswelt, die ihre in der Regel schwa-chen Identitätsstrukturen durch strikte Anpas-sungsforderungen zu wahren sucht. Ihrer In-tention nach weist sich Multikulturalität I alsMonokulturalität aus. „Integration“ impliziertdementsprechend die vollständige Unterord-nung unter das Regelsystem einer „Leitkul-tur“. Aufgrund der latenten Angst, die eige-ne Kultur werde durch „fremde“ Einflüsse un-terhöhlt, vollzieht sich Handeln im Sinne ei-ner präventiven Gefahrenabwehr. Dies giltletztlich für jede Lebenswelt, die ihre Iden-tität im Sinne des Beck’schen „Containers“zu wahren sucht. Politisch lässt sich ein sol-ches Denken in Deutschland vor allem beiden rechtsextremen Parteien nachweisen. Jegrößer die Ängste vor kulturellem Identi-tätsverlust sind, desto extremer ist die Wahlder Mittel, mit denen selbst noch eine in sicherstarrte und statische Multikulturalität verhin-dert werden soll.

„Die derzeit stattfindende Masseneinwanderungstellt eine Aushöhlung und schleichende Änderung

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unserer Verfassung dar, die weder rechtlich nochdemokratisch legitimiert ist. Wir fordern daher dieRückkehr zu dem bis vor kurzer Zeit noch aner-kannten Grundsatz, dass Deutschland kein Einwan-derungsland ist“. (Aus: Positionen zur Ausländer-und Asylpolitik: Auszug aus dem Grundsatzpro-gramm der REP; http://www.rep.deindex.aspx?ArticleID=6f0f68dc-bbc6-47e0-8e84-3762f8b9ab98).

Im Kontext von Multikulturalität II wird Inte-gration demgegenüber nicht als Vereinnah-mung verstanden. Auch in organisationalerHinsicht bleiben hier Freiräume bestehen,die gerade in Krisensituationen identitäts-stiftende und -stärkende Funktion erfüllenkönnen.

Unter diesem Aspekt sind die in westdeut-schen Großstädten zu beobachtenden „eth-nischen communities“ auch keineswegs nurnegativ zu werten. Sie bieten den ange-sprochenen Freiraum kultureller Selbstver-ständigung, wobei sie nicht in jedem Fallmit Ghettos verwechselt werden dürfen.

Gerade für die Einwanderer der zweitenund dritten Generation geht es nicht um dieAlternativen „Abschottung“ oder „vollständi-ge Integration“ in Bezug auf die deutsche

Gesellschaft. Anpassung erfolgt immer alspartielle, während auf anderen GebietenEigenständigkeit gewahrt wird und die eth-nischen communities die Möglichkeit bie-ten, dies auch zu realisieren.

In diesem Sinn ist Multikulturalität II ei-nerseits durch ein gebilligtes Maß an In-teraktion zwischen Angehörigen unter-schiedlicher Lebenswelten charakterisiert.Andererseits wird aber in einem ebensobreiten Spektrum sehr deutlich die Unterord-nung unter die bestehende „Leitkultur“ gefor-dert. Ziel ist letztlich eine Vereinheitlichungvon Differenzen durch die Förderung friedli-cher Koexistenz. Ein immer wieder ange-führtes Beispiel für ein solches auch räumlichfixiertes Nebeneinander ist New York, woganze Stadtviertel wie Spanish Harlem,Chinatown und Little Italy oder aber größe-re Straßenzüge primär von derartigen ethni-schen communities bevölkert sind:

Kaum ein US-Amerikaner würde vor die-sem Hintergrund auf den Gedanken kom-men, New York – wie es viele Nicht-Ame-rikaner tun – als „typisch“ für die USA zubezeichnen. New York steht gerade we-gen seiner Multikulturalität (II) nicht stellver-tretend für die USA. Ebenso wenig korrekt

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wäre es dementsprechend, von der US-amerikanischen Identität zu sprechen – esgeht unter gesellschaftlichen Aspekten im-mer um „American identities“. Von daher istauch die auf die USA bezogene „melting-pot“-Hypothese sehr umstritten: Eine „Ver-schmelzung“ der Kulturen hat gerade nichtstattgefunden, wie gegenwärtig beispiels-weise das Verhältnis zwischen Hispanics,Asiaten und Afro-Americans in den Süd-staaten der USA sehr deutlich vor Augenführt.

In Deutschland dokumentieren zumindestdie Grundsatzprogramme der Parteien derGroßen Koalition ebenfalls eine Politik derMultikulturalität II. Aus der Sicht der CDUbedeutet dies:

Integration heißt für uns, dass Menschen ande-rer Herkunft die Erfordernisse des Zusammenle-bens, -wohnens und -arbeitens in unserer Gesell-schaft erfüllen, und dass der Wunsch, die eigeneIdentität in Kultur, Sprache und Lebensform zu be-wahren, als ein menschliches Grundanliegen ge-

achtet wird. (aus: http://www.cdu.de/partei/15.htm; Zugriff: Juni 2006)

Und bei der SPD:

Kulturelle Vielfalt bereichert uns. Daher wollen wiralles tun, was Verständnis, Achtung und Zusam-menarbeit zwischen unterschiedlichen Nationenund Kulturen fördert, Integration und Teilhabe er-möglicht. Doch auch darüber hinaus gilt: Wer hierlebt, der muss sich an die demokratische Ordnungdes Grundgesetzes halten und die Sprache desLandes lernen. Beides ist Voraussetzung für dasMiteinander von Menschen und Kulturen. (aus:http://www.spd.de/servlet/PB/menu/1588241/index. htm; Zugriff: Juni 2006)

Auch wenn im Grundsatzprogramm derSPD Multikulturalität explizit im Sinne eines„Miteinander“ verstanden wird, dokumentiertder Textduktus letztlich doch das, was wiroben als einbahnstraßenorientierten „Trans-missionsbegriff von Kommunikation“ kennengelernt haben.

66Abstammung Anzahl bevorzugte Wohnorte in New York

spanisch 1.150.000 Spanish Harlem

italienisch 653.000 Little Italy, East Harlem

jiddisch 543.000 Brooklyn, Lower East Side

deutsch 264.000 Yorkville, beiderseits der East 86th Street

polnisch 105.000 Manhattan (7th /8th Street östlich der 3rd Ave.)

griechisch 68.000 Borough Queens (Astoria, Flushing, Forest Hill)

chinesisch 62.000 Chinatown

russisch 46.000 Broadway /160th Street

norwegisch 18.000 Brooklyn: Bay Ridge

arabisch 15.000 Brooklyn: Atlantic Avenue

japanisch 10.000 West 57th Street

Ethnische Gruppierungen in den Stadtvierteln New Yorks

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67Zwar besagt auch der Begriff Multikul-

turalität III nicht, dass sich das Nebenei-nander von Lebenswelten im Sinne einerhomogenen „Weltkultur“ oder dgl. vollstän-dig auflöst. Differenzen werden und müs-sen bestehen bleiben, aber die einzelnenLebenswelten überwinden ihre „Contai-ner“-Statik und die damit verbundenenAbschottungstendenzen, indem über dieGrenzen der eigenen ethnischen Gruppehinweg im Sinne des gleichberechtigtenund wechselseitigen „Gemeinschaftlich-Ma-chens“ (→communicare) auch gemeinsameHandlungsmöglichkeiten realisiert werden.Ein solches Handeln ist per definitioneminterkulturell, weil es sich im Zwischenraumder Lebenswelten abspielt.

Multikulturalität existiert dann nicht mehrals Ordnungsprinzip, sondern als Prozess,innerhalb dessen neue Gedanken, Pläneund Handlungen entstehen können, die beistrikter räumlicher Trennung der Lebenswel-ten nicht denkbar wären.So weiß man, dass Schüler in gut moderier-ten multikulturellen Klassen insgesamt kreati-ver sind und weniger Vorurteile gegenüberMenschen anderer ethnischer Herkunft ha-ben als Kinder aus Klassen mit einem gerin-gen Ausländeranteil. Zu den Bedingungenzählt allerdings, dass die Kinder zu gemein-samen Aufgaben und Problemlösungen mo-tiviert werden und dass sie merken, dassder häufige interkulturelle Kontakt allen Sei-ten Vorteile verschafft. Hierzu gehört in ers-ter Linie, dass man im Sinne des „communi-care“ etwas gemeinschaftlich macht. ImGrundsatzprogramm der PDS heißt es:

Tatsächlich beschreibt Integration einen Prozess,der von beiden Seiten aus zu leisten ist, von derAufnahmegesellschaft aus genauso wie von denEinwandernden. Zum Erfolg führt er nur, wenn erauf gegenseitigem Respekt fußt, auf der Anerken-nung des anderen als gleichwertig und gleich-

berechtigt. (aus: http://sozialisten.de/partei/do-kumente/programm/index.htm; Zugriff: Juni 2006)

Dennoch: was mittels interkultureller Er-ziehung in Schulen bereits ansatzweise ge-lingt, müsste auch in anderen für die Sozia-lisation wichtigen Subkulturen praktizierbarsein: in Kindergärten, in Hochschulen undnicht zuletzt am Arbeitsplatz dürfte es erheb-lich leichter sein, multikulturelle Gruppen zueinem Miteinander zu motivieren als dies ingesellschaftlichen Makrobereichen der Fallist. In diesem Sinne „von unten“, vom „ge-meinschaftlichen Handeln“ der Individuenausgehend, ist es denkbar, dass sich lang-fristig trotz aller Idealtypik zumindest dieTendenz zu einem Miteinander von Kultu-ren im Sinne der Multikulturalität III heraus-bildet. Kein Zweifel besteht zumindest da-ran, dass angesichts der gegenwärtigenund zu erwartenden weltweiten Migranten-ströme Multikulturalität (in welcher Formauch immer) in den kommenden Jahrzehn-ten ein zentrales Thema darstellen wird:

Zu fragen ist allerdings, mit welchen Mit-teln eine Multikulturalität des Miteinander(III) sinnvoll forciert werden kann und waseine solche Entwicklung eher verhindert.

4.2Synergien fördern statt Synthesen planen

Die Schwierigkeiten, die sich mit der Zielset-zung verbinden, Multikulturalität aus einemNebeneinander in ein interkulturell-dynami-sches Miteinander zu überführen, könnenheute vor allem im internationalen Unterneh-mensalltag beobachtet werden. Zu einerZeit, in der Unternehmenszusammenschlüs-se im Sinne von Fusionen oder sog. mergersauf der Tagesordnung stehen, in der virtuelle

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Während aus deutscher Sicht ausschließ-lich bewahrende und kontinuitätsorientier-te Werte genannt wurden, dominieren aufjapanischer Seite innovative, dynamischeund teamorientierte Zielvorstellungen. In vielexistenziellerer Form als auf der Makro-ebene „ethnischer communities“ stellt sich imMikrobereich sozialer Gruppen die Frage,wie ein Miteinander und damit eine Inter-kultur in die Praxis umgesetzt werden kann.Dies fängt, um bei unserem deutsch-japani-schen Beispiel zu bleiben, mit der Formu-lierung gemeinsamer Leitbilder, Führungs-grundsätze und Anreizsysteme an. Es istoffenkundig, dass die Gegensätzlichkeitder Ausgangspositionen jeden Synthesever-such in einen halbherzigen Kompromissmünden lassen würde. Eine in diesem Sin-

ne „Best of both“-Lösung würde keinen derPartner zufrieden stellen und mit großerWahrscheinlichkeit über kurz oder langzum Scheitern des gemeinsamen Vorhabensführen.

Eines der bekanntesten Beispiele für eine„Best-of-both“-Synthese ist die sog. „TheoryZ“, mittels derer US-Unternehmen den inden Achtzigerjahren entbrannten Wettbe-werb mit der japanischen Automobilindus-trie gewinnen wollten. Den Ausgangspunktfür dieses Synthesemodell bildete eine Ana-lyse der Ursachen des damaligen Wett-bewerbsvorsprungs japanischer Automobil-hersteller auf dem amerikanischen Marktund auf Auslandsmärkten amerikanischerAutomobilunternehmen. Dabei wurde sehrschnell deutlich, dass die mit 16,8 gegen-

68Teams als Staffeln über den Globus verteiltrund um die Uhr z. B. Konstruktionsaufträgebearbeiten, erschöpft sich Multikulturalitätnicht mehr im Nebeneinander der Fließ-bandarbeit.

Mega-Zusammenschlüsse wie die vonDaimlerChrysler, Hoechst/Rhone-Poulencoder auch das gescheiterte Vorhaben derBMW-Rover-Kooperation sind nur die pro-minentesten Beispiele einer sich sehr raschvollziehenden, mehr oder weniger erfolg-reichen Internationalisierungswelle. Dabeigeht es in Wesentlichen auch darum, her-auszufinden, wie kulturell unterschiedlicheArbeits- und Führungsstile, unternehmerischeZielvorstellungen oder Produktideen auf

„einen Nenner“ gebracht werden können,ohne dass sich einer der Partner unterdrücktoder ausgebootet fühlt.

Am Beispiel eines Joint Ventures zwischeneinem thüringischen und einem japanischenUnternehmen lässt sich die Ausgangsprob-lematik des Auslotens von gemeinsamenHandlungszielen sehr pointiert aufzeigen. Inbeiden Unternehmen wurden die Führungs-kräfte auf Bereichs- und Abteilungsleiterebe-ne nach den grundlegenden Zielsetzungenihrer Managementtätigkeit befragt und ge-beten, diese Zielsetzungen in eine Rang-folge zu bringen. Das Ergebnis dokumen-tiert Wertepräferenzen, die unterschiedlicherkaum sein können:

Rang Deutsche Japaner1 Sicherung des Unternehmens Gute Zusammenarbeit im Team („wa”)

2 Arbeitsplatzsicherung zu Fleiß motivieren

3 Arbeitsdisziplin herstellen Innovationskraft des Unternehmens stärken

4 Zuverlässigkeit garantieren Verbesserung der Unternehmensumwelt

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69tion, ein anderes Personalmanagement undein anderes Zuliefersystem zurückzuführenwar:

über 25,1 Stunden erheblich kürzere Pro-duktionszeit für japanische Autos ursächlichvor allem auf eine andere Arbeitsorganisa-

Merkmale Japanische Werke Amerikanische Werkein Japan in den USA

Produktivität (Std./Fahrzeugherstellung) 16,8 25,1

Lagerbestand (Tage für 8 ausgewählte Teile) 0,2 2,9

Anteil Teamarbeiter in % der Belegschaft 69,3 17,3

Verbesserungsvorschläge je Beschäftigtem 61,6 0,4

Ausbildungsdauer neuer Produktionsmitarbeiter (Std.) 380,3 46,4

Montagefehler pro 100 Fahrzeuge 60 82,3

Quelle: Gerd Zülch, Vereinfachen und verkleinern: die neuen Strategien in der Produktion. Stuttgart 1992

Ein wesentlicher Grund für die Unter-schiedlichkeit der Ergebnisse besteht in demeindeutig an langfristiger Beschäftigungbzw. Mitarbeitertreue, Teamdenken und Un-ternehmensvernetzung orientierten japani-schen Modell, das dem „hire-and-fire“-Prin-zip in amerikanischen Unternehmen eben-so entgegengesetzt ist, wie es in Bezug aufdie Wettbewerbs- und Einzelkämpfermen-talität der amerikanischen Arbeitsorganisa-tion der Fall ist. Gehen wir noch weiter zu-rück, werden wir sehr schnell den religiösenEinfluss entdecken: einerseits das buddhis-tische Prinzip der unteilbaren Einheit, das„Sowohl als auch“, andererseits den protes-tantischen Individualismus mit seinem Prin-zip des „Entweder – Oder“.

In diesem Sinne formuliert die „Theory Z“ausgehend von einer Merkmalsbeschrei-bung des amerikanischen Systems (Typ A)und des japanischen Systems (Typ J) „Best-of-Both“-Synthese:

Obwohl die Theory Z in das Ausgangs-modell für die heute auch in europäischenWerken praktizierte Methode des „LeanManagement“ bzw. der „Lean Production“

gebildet hat, ist sie in dieser synthetischenForm nirgendwo realisiert worden. EtlicheAnpassungen sowohl in den USA als auchin Westeuropa waren notwendig, umschwerwiegende Krisen zu meistern. DerGrund für solche Krisen bestand unter ande-rem darin, dass das japanische Modell sei-nes kulturellen Kontextes bedurfte um zufunktionieren. Als Beispiel genannt sei dieenge Bindung japanischer Unternehmenuntereinander, die noch sehr stark mit derfrüheren Konglomerats-Organisation zusam-menhängt. Ein Prinzip wie die just-in-timeLagerhaltung, bei der sich Unternehmen da-rauf verlassen können, dass ein Zuliefererein bestimmtes Produktionsteil zu einem be-stimmten Zeitpunkt im Werk abliefert, funk-tioniert in Europa schon deshalb nicht, weilbeispielsweise Streiks, die in Japan weitge-hend unbekannt sind, sehr schnell für Lie-ferverzögerungen sorgen und damit auchProduktionsausfälle zur Folge haben kön-nen. Weiterhin bildet die gesamte Arbeitsor-ganisation in einer Kultur ein System, in demalle Teile dieses Systems miteinander ver-flochten sind und sich gegenseitig prägen.

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70

So kann die Ausbildungszeit neuer japani-scher Produktionsmitarbeiter nur deshalb solang sein, weil sich diese Investition ange-sichts der langfristigen Beschäftigungsver-hältnisse und damit der „Treue“ gegenüberdem Unternehmen lohnt. Ähnliches gilt inBezug auf die Job Rotation, also dem Tat-bestand, dass jeder Mitarbeiter möglichstviele Arbeitsplätze eines Unternehmens ken-nen lernt. Dies wiederum führt zu einer Ge-neralistenprägung usw. Für das amerikani-sche Modell lässt sich ein entsprechendanders akzentuierter Systemzusammenhangaufweisen, der deutlich macht, dass ein Vor-gehen nach der Synthese- oder Implantat-methode der Theory Z nicht praktikabel ist.

So hat die Praxis des Lean Managementsvielmehr gezeigt, dass es nicht möglich ist,ein kulturübergreifendes Handlungsmodellzu realisieren. Tatsächlich hat das Manage-ment des Unternehmens im Einzelfall sehrviel dem Zufall und der Selbstorganisationüberlassen, denn es standen keine Lösungs-strategien zur Verfügung. Wie sich inzwi-schen herausgestellt hat, waren und sinddiejenigen Umsetzungen am erfolgreichs-ten, die derartigen Selbstorganisationspro-zessen Raum gelassen haben. Wo die Fle-xibilität hingegen gering war, wo man amSchreibtisch erarbeitete Synthesemodelleunterschiedlicher kultureller Ausgangsbedin-gungen in der Realität erproben wollte,

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71waren in der Regel auch Misserfolge vor-programmiert.

Warum dies so ist, zeigt unsere Definitionvon Interkultur im ersten Kapitel: wenn wirdavon ausgehen, dass sich Interkulturen imMoment des gemeinsamen Handelns vonAngehörigen unterschiedlicher Kulturen „er-eignen“, dieses Ereignis aber aufgrund etli-cher stets in Veränderung begriffener Be-stimmungsfaktoren wie u.a. das Selbst- undFremdbildverhältnis der Beteiligten in derspezifischen Form seines Auftretens nie mitGenauigkeit voraussagbar ist, dann ist esauch nicht planbar. Genau dies bezwecktaber ein Synthesemodell wie die Theory Z. Synthesemodelle sind in gewisser Weisestatisch und letztlich realitätsfern, insofernals sie weder der Ereignishaftigkeit interkul-turellen Handelns noch der Unberechenbar-keit der Entfaltungsweise der jeweiligen kul-turellen Energien Rechnung tragen können.

Ungeachtet aller geplanten Vorgaben undzumindest teilweise hinter deren Rückendürfte sich das Zusammenspiel, das Mitei-nander der verschiedenkulturellen „Energi-en“ tatsächlich viel ungesteuerter und eherselbst- als fremd organisiert vollziehen. Manspricht dann von synergetischen Prozessen.

Zuerst entdeckt und beschrieben wurdenderartige synergetische Prozesse in der La-sertechnik.10 Um zu erklären, wie aus einemmikroskopischen Chaos ein hoch organisier-ter Prozess sich gegenseitig angleichen-der Lichtwellen entsteht, deren „Takt“ aller-dings nicht voraussagbar ist, nimmt maneben jene beschriebenen Selbstorganisa-tionsprozesse an. Die Instabilität und Unge-ordnetheit der Ausgangssituation wird mitzunehmender Komplexität des „Miteinan-der“ mittels der organisatorischen Kraft einer„unsichtbaren Hand“ in eine neue Ordnunghinübergeführt. Derartige „invisible-Hand-Prozesse“ werden beispielsweise auch unter-stellt, wenn man bei Prozessen des Sprach-

wandels zu erklären versucht, warum sichbestimmte Begriffe durchsetzen und anderenicht (wie z. B. in Deutschland „Handy“gegenüber „Mobiltelefon“). Eine vollständi-ge Erklärbarkeit ist gerade wegen der„Unsichtbarkeit“ des selbstorganisatorischenOrdnungsprinzips nicht zu erreichen. Diesgilt erst recht in Hinblick auf die Prognos-tizierbarkeit spezifischer Formen von Selbst-organisation in komplexen Systemen: Hiersind allenfalls tendenziell Aussagen übermögliche Verläufe solcher Prozesse mög-lich. Hierbei werden wesentliche Ordnungs-funktionen vor allem von älteren Subsyste-men übernommen, weil diese bereits über„geebnete“ Netzwerkzugänge und -bindun-gen verfügen. Ansonsten besteht das Selbst-organisationsprinzip anscheinend nur in dervagen Maxime: „Es soll eine Ordnungsein“.

Die beschriebene selbstorganisatorischeProzessualität entspricht dem, was wir unterinterkultureller Interaktion und unter einerrealisierten Multikulturalität (III) verstehen.„Synergien statt Synthesen“ könnte dement-sprechend auch das Motto lauten, das je-dem Management interkultureller Prozessezugrunde liegen müsste, gleichgültig, obdieses „Management“ im Unternehmens-oder im sozialen Bereich stattfindet.

Der Vorteil einer synergetischen Organisa-tion von Interkulturalität zwischen multikultu-rellen Gruppen kann als doppelter gesehenwerden: zum einen vermeiden die Beteilig-ten, dass der interkulturelle Prozess, der sichzwischen A und B abspielt, von außen ge-steuert wird. Weiterhin wird gerade durchdas Zulassen von Selbststeuerungsprozes-sen die Entstehung von „Interkulturen“ er-möglicht, die qualitativ wirklich Neues her-vorbringen, zu dem allein weder A noch Bin der Lage gewesen wären.

Die Notwendigkeit eines Umdenkens,einer Verabschiedung von überhöhten Steu-

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72erungszwängen, wird deutlich, wenn wiruns die Bedingungen vor Augen führen,unter denen sich Unternehmen heute in Glo-balisierungszusammenhängen zusammen-schließen und Unternehmenskulturen entwi-ckeln: Vor allem für strategische Allianzen,inzwischen aber auch für Merger, gilt, dasssie – anders als in der Ersten Moderne –nicht mehr im Bewusstsein einer unbefris-teten Dauer eingegangen werden. Selbstwenn die Zusammenarbeit über längereZeit hinweg währt, können sich aufgrundder Netzwerkeinbindung und der Netz-werkdynamik der Partner (oder des fu-sionierten Unternehmens) sehr schnell dieKonstellationen ändern, innerhalb derer ge-arbeitet wird. Als Beispiele seien die Ak-quise und Wiederabstoßung von Mitsubishi

aus dem DaimlerChrysler-Konzern oder wiebei Vodafone/Mannesmann die vollkomme-ne Neuorientierung in Bezug auf Geschäfts-felder genannt (innerhalb Deutschlands z.B.:Bäckerei Kamps kauft „Nordsee“, Jenoptikverkauft M+W Zander).

Damit sind die Planungs- und Steuerungs-kapazitäten eines Unternehmens erheblichreduziert. Während in der „Ersten Moder-ne“ Steuerungs- und Gestaltungsvorgabennoch in relativ festen Unternehmensstruktu-ren verankert werden konnten und Eigendy-namiken aufgrund ihrer Unberechenbarkeitals Störfaktoren galten, entwickelt sich dasVerhältnis von Strukturvorgabe und Prozess-dynamik unter den aktuellen Globalisie-rungsbedingungen in umgekehrt proportio-naler Weise:

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73Interessant ist heute nicht mehr so sehr dieStrukturplanung eines Unternehmens odereiner Institution, sondern die Frage, welcheFaktoren die Eigendynamik bestimmen undwie derartige Prozesse so moderiert werdenkönnen, dass sie synergetisch verlaufen.

4.3Konsens nicht um jeden Preis

Die Realität interkulturellen Handelns ist al-lerdings zumindest dann, wenn sie in einembestimmten organisationalen Rahmen statt-findet, fast immer noch dadurch charakteri-siert, dass seitens der Beteiligten ein mehroder minder großes Steuerungsbedürfnisvorhanden ist, obwohl dies eine Gegen-läufigkeit zu dem beschriebenen Synergie-denken beinhaltet. Ein Beispiel hierfür istdas Missverständnis, internationale Fusio-nen möglichst schnell realisieren zu müssen,indem – wie bei „DaimlerChrysler“ – Na-men zusammengeschweißt oder CorporateIdentity-Modelle formuliert werden, die nichtverhehlen können, dass sich eigentlich nureiner der beiden Partner besser „durchset-zen“ konnte oder wollte. Wirklich identifi-zieren mit dieser neu gesetzten Identitätkann sich zumeist jedoch keiner der Partner.

Dass das Bewusstsein der Eigenständig-keit der Partner letztlich zur Konfliktvermei-dung beiträgt, dass die „Einheit angesichtsder Vielfalt“ in einer pluralistischen Werte-welt die friedfertigste Lösung darstellt, ist be-kannt. Und trotzdem suchen die Teilnehmerimmer wieder den Konsens, weil es sichhierbei um ein Verhaltensschema handelt,dass – durchaus kulturübergreifend – Sozia-lisationskontexte prägt. Denn gerade weilAlltagshandeln auf Routinen angewiesen istund nur unter den Prämissen der Fraglosig-keit, der Normalität und der Plausibilität

funktioniert, erlässt es quasi imperativischdie Maxime: „Es soll ein Konsens sein“ –damit ein Maximum an Handlungsautomati-sation und damit auch ein Höchstmaß anHandlungseffizienz erreicht wird.

Jeder Konflikt wirkt sich aus der Perspek-tive des Alltagshandelns hemmend und stö-rend aus, so dass alle Kulturen mehr oderminder subtile Konfliktvermeidungsstrategienbzw. Konfliktlösungsinstanzen entwickelt ha-ben. Dissens ist aus dieser Perspektive dasSchlechte, zu Vermeidende, während dergesamte Sozialisationsprozess darauf aus-gerichtet ist, Konsens positiv zu werten.

Interkulturelles Handeln unterliegt freilichnicht den Gesetzen intrakulturellen Alltags-handelns, weil eine Fraglosigkeit der Hand-lungsvoraussetzungen etwa in einem ge-meinsamen „kulturellen Gedächtnis“ geradenicht gegeben ist. Von daher ist das In-Fra-ge-Stellen und Thematisieren sowohl der je-weils eigenen Handlungsvoraussetzungenals auch das derjenigen der fremdkulturellenPartner Bedingung, um den Erfolg interkultu-rellen Handelns langfristig zu sichern: DieReflexion des Dissenses, die Fähigkeit, dieSpannung zwischen Unvereinbarem aus-halten, Gegensätzlichkeiten akzeptieren zukönnen, ist damit Bedingung einer tragfähi-gen interkulturellen Handlungsbasis. Insofern sind Syntheseversuche wie die amBeispiel der Theory Z beschriebenen in ge-wisser Weise auch immer von dem Zwanggeleitet, Konsens finden und praktizierenzu müssen. Wie leicht einzusehen ist, gehtdies jedoch immer zu Lasten des jeweils „Ei-genen“ der Beteiligten. Vernachlässigt mandieses Eigene, fehlt beispielsweise in Krisen-situationen auch die Möglichkeit, sich ineinem solchen Refugium regenerieren zukönnen.

Zusammengefasst: Gemeinsame Hand-lungsorientierungen und Ziele sind notwen-dig. Sie sollten in ihrer Formulierung jedoch

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74inhaltlich nicht einengend bis ins Detail fest-gelegt, sondern so vage sein, dass sie eineVielheit angesichts der Einheit, einen Kon-sens im Bewusstsein der Unterschiedlich-keit ermöglichen. Die Fähigkeit, auf dieserGrundlage handeln zu können, ist ein unver-zichtbarer Bestandteil interkultureller Kom-petenz.

Um auf unsere deutsch-japanische Fallstu-die zurückzukommen, ist es einerseits offen-sichtlich, dass eine Initiierung synergetischerProzesse die Anerkennung der einzelnenKräfte voraussetzt. Diversity Management istdabei allerdings nicht mit einem „Segeln imChaos“ gleichzusetzen, bei dem die Betei-ligten sich selbst überlassen sind. Genausowenig wie man von dritter Seite eine „Leit-kultur“ vorgeben dürfte, wäre es wenig Er-folg versprechend eine nur abwartendePosition nach der Maxime „es werden sichschon Synergien ergeben“ einzunehmen.Ohne eine bewusste Initiierung von Lernpro-zessen wird dies aller Wahrscheinlichkeitnach nicht eintreten. Die Initiierung selbstsollte jedoch nur unter methodischen, nichtaber unter inhaltlichen Vorgaben erfolgen.Und genau hierin besteht die Aufgabe voninterkulturellen Prozessmoderatoren und Me-diatoren.

4.4Interkulturelle Missverständnisse und Metakommunikation

Interkulturen sind Synergieprodukte, diedurchaus über eine eigene Normalität, ei-gene Handlungsschemata und damit aucheigene Wissensvorräte verfügen können.Die gemeinsame Wissensbasis, auf der beiintrakulturellem Handeln aufgebaut werdenkann, muss in einer Interkultur erst erzeugtwerden.

Das bedeutet, es konkurrieren bei denMitgliedern einer solchen Interkultur zweiHandlungsschemata: Eines, das (oberflä-chenstrukturell) auf die aktuelle interkulturelleRealität des Miteinander bezogen ist sowieeines, das dieser Realität (tiefenstrukturell)vorgelagert und durch den Wissensvorratder jeweiligen unterschiedlichen Herkunfts-kulturen determiniert ist. Insofern spielen dieAgenten einer Interkultur stets eine Doppel-rolle.

Entsprechend dem klassischen Merger-Motto „Wir verändern uns gemeinsam“11

werden sie dabei im Idealfall bemüht sein,Handlungsspielräume nicht nach Maßgabeder jeweils eigenen Kultur zu definieren,sondern so, dass für alle Beteiligten einegrößtmögliche Akzeptanz erzielt wird. Jestärker sich die Mitglieder eines interna-tionalen Teams in Bezug auf ihre kulturelleHerkunft unterscheiden, desto bewussterwerden sie bemüht sein, gegenseitige Ak-zeptanzgrenzen zu erkennen und zu wah-ren. Vertrautheit und Routine werden sichzwar einstellen; sie werden aber zunächstnoch von dem Bewusstsein der Differenzder jeweiligen kulturellen Handlungsvoraus-setzungen begleitet sein: Jeder Konsens, derausgehandelt wird, beruht auf dem Be-wusstsein, dass ihm tiefenstrukturell ein Dis-sens zugrunde liegt.

Interessanterweise lehrt die Praxis interna-tionaler Kooperationen, dass interkulturelleZusammenarbeit zumindest dann, wenn sienicht von international unerfahrenen Betei-ligten gesteuert wird, keineswegs zu Be-ginn, sondern in der Regel erst nach einigenJahren gefährdet ist. Ein wesentlicher Grundhierfür ist darin zu sehen, dass sich in derinterkulturellen Beziehung nach und nachHandlungsroutinen etablieren, die das Dif-ferenzbewusstsein auf ein Minimum redu-zieren und eine Normalität bzw. einenKonsens suggerieren, der zumindest tiefen-

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75strukturell nicht existiert. Dies kann dazuführen, dass interkulturelle und eigenkul-turelle Handlungsschemata reflexiv nichtmehr auseinander gehalten werden, dassinter-kulturelles Handeln auf der Folie deseigenkulturellen Wissensvorrats gedeutetwird. Gerade weil dies nicht bewusst ver-läuft, sind Missverständnisse vorprogram-miert.

Sofern diese Missverständnisse nicht recht-zeitig bemerkt und thematisiert werden, kön-nen sie durchaus irreparabel sein. UnterUmständen ist den Beteiligten noch nichteinmal deutlich, worin das Missverständnisbesteht und zu welchem Zeitpunkt es ur-sprünglich auftrat. Letztlich entlarvt sich da-mit die Paradoxie des Konsenses. Die häu-fig mit dem Konsensstreben verbundenebewusste oder unbewusste Ausklammerungvon tatsächlich bestehender kultureller Un-terschiedlichkeit fördert gerade die Produk-tion von Missverständnissen und negativerGegensätzlichkeit. Anders gesagt: Unreflek-tierter Konsens begünstigt die Entstehungvon Missverständnissen.

Damit stellt sich die Frage, wie wir unsvor einem solchen anscheinend durchausverbreiteten unreflektierten Konsenshandelnschützen und dementsprechend die Gefahrinterkultureller Missverständnisse wenn nichtausschließen, so doch zumindest reduzieren.

Als erfolgreiche Verhaltensweisen genanntwerden in diesem Zusammenhang vor al-lem (a) Rollendistanz, (b) Empathie und (c)Metakommunikation:

(a) Unter „Rollendistanz“ verstehen wir dieFähigkeit, sich gleichsam selbst „auf denKopf gucken“, sich also bei seinem eige-nen Handeln beobachten zu können. Da-mit vergegenständlichen wir in gewisserWeise natürlich auch den gesamten (inter-kulturellen) Handlungskontext. Das erleich-tert, die Differenz zwischen Eigenem undFremdem zu reflektieren. Selbstbeobach-

tung in diesem Sinne ist letztlich auch ei-ne Grundlage für selbst kontrolliertes Han-deln, was – um keine Missverständnisseaufkommen zu lassen – keineswegs aufEmotionslosigkeit hinauslaufen soll odermuss.(b) Im Gegenteil: die Distanz gegenüberdem eigenen Handeln und letztlich auchgegenüber dem Situationskontext erleich-tert es, auf den anderen einzugehen, zuversuchen die Hintergründe seines Han-delns zu verstehen. Man spricht dann vonEinfühlungsvermögen oder Empathie. Undso wie die Rollendistanz den Raum fürSituationsbeobachtungen öffnet, so bietetEmpathie auf der Grundlage dieser Be-obachtungen überhaupt erst die Möglich-keit, für den anderen und sein HandelnVerständnis aufzubringen.(c) Obwohl Rollendistanz und Empathiewichtige Voraussetzungen darstellen, ummögliche Missverständnisquellen umge-hen zu können, wird niemand davor ge-feit sein, in so genannte „Fettnäpfchen“ zutreten. Dies kann nun entweder offenkun-dig und einem selbst hinsichtlich der Ur-sachen bewusst sein, es kann aber auchin der Anfangsphase sehr verdeckt ge-schehen und man „fühlt“ erst lange nach-dem die Ursache des Missverständnis-ses sich ereignet hat, dass „etwas nichtstimmt“. In beiden Fällen gilt, dass mandie empfundene Unnormalität der Situa-tion anspricht, thematisiert. Dies kann inder einfachsten Form beispielsweise durchein Nachfragen („Wie meinen Sie das“)bzw. eine Entschuldigung geschehen oderaber durch ein Gespräch über die ent-standene und zumindest für einen selbstals „ungut“ empfundene Situation. Manspricht in diesen Fällen, in denen (misslun-gene) Handlungen oder Kommunikations-prozesse selbst zum Gegenstand derKommunikation werden, von Metakommu-

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76nikation. Metakommunikation zählt wieRollendistanz und Empathie zu den grund-legenden Bestandteilen eines interkulturellkompetenten Verhaltens, wobei freilich diekulturelle Besonderheit des Thematisierenszu unterschiedlichen Formen der Meta-kommunikation führen. Dies gilt übrigensauch für ostasiatische Kulturen, bei denenman häufig glaubt, der Grundsatz desGesicht-Wahrens würde Metakommunika-tion ausschließen. Dem ist keineswegs so– nur die Art und Weise der Metakom-munikation ist indirekter als beispielsweisein westeuropäischen Kontexten.

Wichtig ist, dass insbesondere Metakom-munikation, aber auch Rollendistanz undEmpathie nicht als Kriseninstrumente verstan-den werden, sondern als permanent einzu-setzende Mittel interkulturellen Handelns.Anders gesagt: sie dienen dazu, „Entste-hungsbrände“ zu vermeiden oder derenAusweitung zu (kaum mehr reparablen)„Flächenbränden“ zu verhindern.

4.5Wo sind die Grenzen der„Einmischung in kulturelle Angelegenheiten“?

Jedes interkulturelle Handeln schließt ein,dass die Beteiligten mit anderen, mehr oderminder fremden Konventionen, Normalitäts-annahmen und Weltsichten ihrer jeweiligenPartner konfrontiert werden. In der Regelwird eine gemeinsame und in diesem Sinn„dritte“ Handlungsgrundlage im Prozess desZusammenarbeitens oder -lebens permanentausgehandelt und korrigiert. Dies geschiehtgrundsätzlich unterschwellig; es kann sichaber auch – vor allem im ökonomischen

und politischen Bereich – sehr geplant undreflektiert vollziehen.

In beiden Fällen kommt es vor, dassder „Aushandlungsprozess“ dadurch gestörtoder unterbrochen wird, dass eine gegen-seitige Akzeptanz der jeweiligen Hand-lungsvoraussetzungen nicht erzielbar ist.

Ein Beispiel hierfür ist die von Kultur zuKultur sehr unterschiedliche Korruptionspra-xis. So besteht zwar spätestens seit derVerabschiedung des OECD-„Übereinkom-mens über die Bekämpfung der Bestechungausländischer Amtsträger im internationalenGeschäftsverkehr“ (1997) seitens der Unter-zeichnerstaaten Übereinkunft in Hinblick aufdie grundsätzliche moralische Verurteilungvon Korruption. Ungeklärt lässt die Konven-tion allerdings, was genau unter Korruptionzu verstehen ist. In Artikel 1, Abs. 1 heißt es:

„Jede Vertragspartei trifft die erforderlichenMaßnahmen, um nach ihrem Recht jede Person mitStrafe zu bedrohen, die unmittelbar oder über Mit-telspersonen einem ausländischen Amtsträger vor-sätzlich, um im internationalen Geschäftsverkehr ei-nen Auftrag oder einen sonstigen unbilligen Vorteilzu erlangen oder zu behalten, einen ungerecht-fertigten geldwerten oder sonstigen Vorteil für die-sen Amtsträger oder einen Dritten anbietet, ver-spricht oder gewährt, damit der Amtsträger inZusammenhang mit der Ausübung von Dienst-pflichten eine Handlung vornimmt oder unterlässt“(Hervorh. J.B.).

Was im einzelnen Fall unter „unbillig“ und„ungerechtfertigt“ verstanden wird, ist kul-turell genauso unterschiedlich wie das je-weilige Länderrecht, auf dessen Grundlagedie Strafbemessung erfolgt. Die Tatsache,dass die OECD-Konvention in ihren For-mulierungen eher vage ist und mit derSouveränität der Mitgliedsstaaten auch de-ren Entscheidungsspielraum innerhalb desgemeinsamen Rahmens offen hält, belegt

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77die Unmöglichkeit eines streng universa-listischen Vorgehens. Ein solches Vorge-hen würde beispielsweise voraussetzen,dass man über einen weltweit identischenBegriff von Korruption verfügt.

Wie wir verschiedentlich gesehen haben,ist ein solches identisches Begriffsverständ-nis allerdings schon deshalb nicht möglich,weil die Bedeutung von Begriffen einerseitsWandlungsprozessen ausgesetzt ist, dienicht weltweit synchron verlaufen. Anderer-seits entstehen Bedeutungen erst dadurch,dass sie – in der Regel innerhalb kulturellerGruppen – kommuniziert, vereinbart und inHandlungen erprobt bzw. korrigiert werden.

Um es am Beispiel von Korruption zu kon-kretisieren: Ab welcher Grenze eine Hand-lung als korrupt bezeichnet wird, hängtdamit zusammen, wie sich die „Normalität“der Gegenseitigkeit zwischenmenschlicherBeziehungen in einer Kultur definiert. Aussehr vielfältigen Ursachen, zu denen klima-tische ebenso zählen wie religiöse, ist diesvon Kultur zu Kultur sehr verschieden, wasman etwa an der unterschiedlichen Praxisdes Schenkens ablesen kann. So wie einNicht-Beschenken aus der Sicht der einenKultur als unhöflich bewertet werden kann,mag umgekehrt ein Beschenken aus derPerspektive der anderen Kultur bereits alsBestechung registriert werden. Beispielswei-se sind in China Zahlungen zwecks Auf-bau oder Erhalt einer Geschäftsbeziehungkeineswegs ungewöhnlich. Anders als einWesteuropäer würde ein Chinese normaler-weise nicht auf den Gedanken kommen,derartige Zahlungen unter dem Begriff „Kor-ruption“ zu verbuchen.

Problematisch wird es zweifellos dann,wenn entsprechende Zahlungen aus chine-sischer Sicht von einem Westeuropäerselbstverständlich erwartet werden, weil sie„normal“ sind, der westeuropäische Partnerallerdings in moralische Konflikte geriete,

wenn er tatsächlich (aus seiner Sicht:Schmiergeld) zahlen und sich der Korrup-tion schuldig machen würde.

Keiner der Partner wird an den bestehen-den kulturellen „Normalitätssystemen“ etwasändern: dem Westeuropäer werden seinemoralischen Bedenken kaum genommenwerden können und auf chinesischer Seitewird es sicherlich für diesen konkreten Fallnicht zu einer Systemänderung kommen.Eine ausweglose Situation? Zumindest dann,wenn eine Lösung oktroyiert wird, welchedie Souveränität einer der beiden Positio-nen missachtet. Unter der Behauptung vonSouveränität ist hierbei nicht das Beharrenauf ursprünglichen Standpunkten gemeint,sondern die Wahrung eigener und die Res-pektierung der fremden Identität im Vorwa-gen an die äußersten Akzeptanzgrenzen.Werden diese Akzeptanzgrenzen über-schritten, wird es zumindest von einem derbeiden Partner keine Grundlage für gemein-sames Handeln geben. In einem solchenFall, in dem eine Verständigung über dieunterschiedlichen Positionen zu keinem ge-meinsamen Aushandlungsergebnis führt, istes ratsam, sich nicht anzupassen, sonderndie Geschäftsbeziehungen vorerst aufzuge-ben oder – wenn möglich – so zu führen,dass der strittige Punkt bewusst ausgeklam-mert wird.

Während in Fällen wie den beschriebe-nen eine Einmischung nicht sinnvoll ist, so-fern sie die Souveränität der Partner in Fra-ge stellt, gibt es natürlich auch Situationen,in denen eine derartige „Einmischung infremde Angelegenheiten“ legitim und not-wendig ist. Gemeint sind vor allem Men-schenrechtsverletzungen wie Völkermord,Kriegsverbrechen und Verbrechen gegendie Menschlichkeit.

Die immer wieder aufflammenden Diskus-sionen über die Universalität bzw. die Re-lativität von Menschenrechten oder auch

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78die Tatsache, dass erst 1998 ein Interna-tionaler Strafgerichtshof als Gerichtshof fürMenschenrechte eingerichtet werden konn-te, zeigt, dass auch in diesem Zusammen-hang keineswegs unstrittig feststeht, wannund unter welchen Grenzvoraussetzungeneine Einmischung gerechtfertigt ist. So resul-tiert eines der am häufigsten vorgebrachtenArgumente gegen den universalen Gel-tungsanspruch der Menschenrechte daher,dass deren Wiege in den USA bzw. derwestlichen Welt steht. Insofern sind auchdie ursprünglichen Formulierungen eindeu-tig durch eine kulturell determinierte Sicht-weise bestimmt, die nicht unbedingt mit denSichtweisen anderer Kulturräume vereinbarist. Dementsprechend ist es für viele Ethnienauch gar nicht plausibel, Werte oder Hand-lungsweisen zu übernehmen, die in derwestlichen Welt als moralisch „richtig“ beur-teilt werden. Erinnert sei in diesem Zusam-menhang beispielsweise an die Kastenein-teilung im Hinduismus. Ungleichheit ist hierals sinn- und realitätskonstituierendes Ele-ment für einen ganzen Kulturkreis festge-schrieben, ohne dass sich jemand auch nurannähernd negativ dadurch beeinträchtigtfühlen würde. Mit dem euro-amerikanischenGleichheitsprinzip, das letztlich auch denMenschenrechten zugrunde liegt, wäre diesallerdings kaum vereinbar.

Die Beispiele zeigen, dass die Fragenach der Legitimität von Einmischungen infremde Kulturkonventionen nicht eindeutigbeantwortbar ist. Es handelt sich letztlichimmer um eine Gratwanderung zwischenkulturellem Relativismus und kulturellem Uni-versalismus. Gleitet jemand zu stark in kul-turrelativistische Positionen ab, verkehrt sichdie angenommene „gleiche Gültigkeit“ vonKulturen in Gleichgültigkeit. Überwiegt eineuniversalistische Sichtweise, kann dies zukulturellen Dominanzbildungen und Ethno-zentrismen führen.

Interkulturelle Kompetenz bedeutet in die-sem Zusammenhang, dass man sowohl inMikro- wie in Makrobereichen sozialer Inter-aktion in der Lage ist, größtmögliche Akzep-tanzspielräume auszuhandeln. Hierzu ist esnotwendig, die Souveränität der Partner an-zuerkennen und zu respektieren, in der Lagezu sein, Unvereinbarkeiten zu erkennen undzu thematisieren, seine eigene Position zuerklären, die Fremde zu verstehen und fürdie Permanenz von Aushandlungsprozessenwerben zu können.

4.6Was heißt „InterkulturelleKompetenz“ (IV)? Vierte Zusammenfassung mitweiteren Empfehlungen zur interkul-turellen Kompetenzentwicklung

•Das Spektrum, innerhalb dessen der Be-griff „Multikulturalität“ in der Öffentlichkeitverwendet wird, ist breit und wesentlichgeprägt durch das Ausmaß an Interaktion,das zwischen den einzelnen Lebenswel-ten stattfindet bzw. zugelassen ist. Je grö-ßer die Interaktionsdichte ist, desto stärkerist die Interkulturalität der jeweiligen „Mul-tikultur“ ausgeprägt.Dreizehnte Empfehlung: MultikulturelleSzenarien sollten so strukturiert sein,dass – unter Wahrung monokulturellerRefugien – möglichst viele Anreize zugemeinsamem Handeln geschaffen wer-den. Diese Anreize sollten so vage wiemöglich und so konkret wie nötig formu-liert sein – nach Möglichkeit aber von denBeteiligten weitgehend selbst entwickeltwerden. Was möglich und was nötig ist,wird sich von Fall zu Fall sehr unterschied-lich darstellen: Ein multikultureller Kinder-

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79garten arbeitet natürlich unter anderen Be-dingungen als ein multikultureller Jugend-club oder als ein Unternehmen.

•Integration sollte nicht von der aufnehmen-den Kultur „vollzogen“ werden, sondernist als beiderseitiger Prozess des Aushan-delns von Akzeptanzspielräumen denk-bar, in denen auf diese Weise ein Mitei-nander geschaffen wird. Das Aushandelnselbst ist ein synergetischer Prozess, derdementsprechend eher moderiert als ge-steuert werden sollte.Vierzehnte Empfehlung: Auch wenn wirIntegration als zweiseitigen Prozess verste-hen, gibt es neben fördernden Faktorensolche, die sich negativ auswirken können.Hierzu zählen eine lange Enkulturations-phase in der Ausgangskultur, mangeln-de Erfahrungsvielfalt; entweder-/oder-Den-ken, ethnische Isolation (Wohngebiete,Gruppenbildungen) sowie Anpassungs-druck seitens der neuen Umgebung. Posi-tiv wirken Neugierde auf Fremdes, Lern-bereitschaft, Erkennen des Mehrwertsvon Fremderfahrungen, Aushandlungsbe-reitschaft in Bezug auf Akzeptanzspiel-räume, Sowohl-als-auch-Denken, Fähigkeitzu vernetztem Denken sowie sehr guteKenntnisse der „Interkultur-Sprache“.

•Eine gegenseitige Wahrung der Eigen-ständigkeit der Partner verhindert Ho-mogenitäts- und Konsensforderungen, dieletzten Endes von keinem der Beteiligteneingelöst werden können. Ziel sollte essein eine „Einheit angesichts der Vielfalt“im Sinne der Akzeptanz einer pluralisti-schen, sich permanent weiter entwickeln-den Wertewelt zu realisieren.Fünfzehnte Empfehlung: Die „gleicheGültigkeit“ von Werten in einer pluralis-tischen Gesellschaft darf nicht in Gleich-gültigkeit oder Ignoranz münden. Zielmuss die permanente Verständigung über

gemeinsame Handlungsorientierungen undZiele angesichts der Verschiedenheit sein.Nur so kann ein Konsens im Bewusstseinder Unterschiedlichkeit ermöglicht werden.Unverzichtbar für die Realisation einessolchen interkulturellen Verständigungspro-zesses sind Empathie, Rollendistanz undMetakommunikation, aber auch das Ver-mögen, eigene Standpunkte erklären zukönnen und in nicht akzeptablen Situa-tionen „Gesicht zu zeigen“.

4.7Zum Nachdenken und Diskutieren

4.7.1 Deutschpflicht auf Schulhöfen

Ostthüringer Zeitung, 27.1.06

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80Wie beurteilen Sie aus der Perspektive derbeschriebenen Multikulturalitätsstandpunkteden Vorstoß einer Berliner Schule in derHausordnung zu verankern, dass auf demSchulhof ausschließlich Deutsch gesprochenwird?

4.7.2Deutschkenntnisse an Schulen:Bußgeldanordnung

In Bayern und Berlin wird die Verpflichtungzum Besuch von Sprachkursen für auslän-dische Kinder gegebenenfalls auch mittelsZwangsgeldern realisiert. Andere Bundes-länder kennen verpflichtende Sprachtests,wieder andere setzen auf fallbezogene För-derung. Welche Position würden Sie als Po-litikerIn mit welchen Gründen vertreten?

Thüringische Landeszeitung, 5.4.2006

4.7.3Interkulturelle Missverständnisse

Welche Kenntnisse benötigt man, um er-klären zu können, wodurch die beidennachfolgenden interkulturellen Missverständ-nissituationen hervorgerufen sind? WelcheProblemlösungsstrategien würden Sie je-weils vorschlagen?

4.7.3.1 Ein Mitarbeiter eines deutschenUnternehmens hat sich mit seiner Familievorübergehend in den USA niedergelas-sen, um Aufgaben in der dortigen Tochter-firma zu übernehmen. Bereits wenige Tagenach der Ankunft findet seine siebenjährigeTochter im Briefkasten den nebenstehendenZettel eines gleichaltrigen Mädchens ausder Nachbarschaft. Das deutsche Mäd-chen freut sich sehr auf die Begegnung mitdem Nachbarskind, obwohl sie es bislangnur kurz im Vorbeifahren gesehen hatte.Nachdem in den nächsten Tagen mehrereVersuche der Kontaktaufnahme gescheitert

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81sind, ist das deutsche Mädchen verzwei-felt und würde am liebsten sofort nachDeutschland zurückkehren.

4.7.3.2 In einem deutsch-thailändischenGemeinschaftsprojekt kommt es immer wie-der vor, dass thailändische Mitarbeiter ei-nerseits zur Ableistung unbezahlter Über-stunden bereit sind, andererseits aber ausdeutscher Sicht die alltägliche Aufgaben-bearbeitung aufgrund der Einflechtung so-zialer Aspekte (Gespräche, Essen, Feiernetc) wenig stringent verläuft. Die deutschenProjektleiter haben dies als Faulheit gewer-tet und Sanktionen eingeführt.

5.InterkulturellesLernen

In den vergangenen Kapiteln haben wirbereits eine Reihe von Fähigkeiten, Fertig-keiten und Kenntnissen herausarbeiten kön-nen, die für erfolgreiches interkulturellesHandeln unerlässlich sind. Hierbei habenwir uns im Wesentlichen auf theoretischeÜberlegungen und Fallbeispiele gestützt,die verdeutlichen sollten, was in idealtypi-scher Hinsicht die Grundlage interkulturellerKompetenz darstellt.

Nur wenig berücksichtigt haben wir bis-lang, welche Strategien in der Praxis tat-sächlich besonders häufig – und vor allemauch spontan – angewendet werden. Hier-bei muss es sich keineswegs immer um po-sitive oder erfolgreiche Strategien handeln.Sehr häufig werden, ohne besonders darü-ber nachzudenken, auch Verhaltensweisenergriffen, die zunächst durchaus angemes-sen erscheinen, sich im nachhinein aberdoch oft als kontraproduktiv erweisen. Undgerade deshalb ist das Wissen um dieProblematik eines solchen zumeist intuitivenVorgehens von Bedeutung (5.1). Es ist zu-gleich der letzte Baustein, um eine Zusam-menfassung hinsichtlich dessen vornehmenzu können, was wir in diesem Bändchenunter „interkultureller Kompetenz“ verstehenwollen (5.2). Wenn man weiß, was „in-terkulturelle Kompetenz“ im einzelnen bein-haltet, wird es möglich, Trainingstypologienund Übungen für interkulturelles Lernen aufihre Qualität und Leistungsfähigkeit hin be-urteilen zu können bzw. eigenständig Trai-nings zu erarbeiten (5.3). Hierauf aufbau-end können dann Überlegungen formuliert

S. Rathje, Unternehmenskultur als Interkultur. Sternenfels 2004, 182

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82werden, wie interkulturelles Lernen in derSchule und im tertiären Bildungssektor sinn-voll durchführbar ist (5.4). Vor diesem Hin-tergrund sind die abschließenden „Aufga-ben zum Weiterdenken“ in diesem Kapitelinsbesondere für den Bereich der interkultu-rellen Aus- und Weiterbildung konzipiert(5.5).

5.1Kernprobleme undBewältigungsstrategien deutscherEntsandter im Ausland

Wie wir bereits im Rahmen der Ausführun-gen zum Kulturschock (3.7) gesehen haben,können bei einem Auslandsaufenthalt An-passungsschwierigkeiten auftreten, müssenes aber keinesfalls. Dies gilt in gleicher Wei-se, wenn man sich Berichte z. B. von Aus-landsmitarbeitern einer Organisation odereines Unternehmens ansieht: Was dort anpositiven wie negativen Erfahrungen be-schrieben wird, kann anderen Entsendungs-kandidaten schon deswegen allenfalls alsOrientierung und nicht als Regelwerk die-nen, weil es sich immer um sehr individuelleund von daher auch um nicht generalisier-bare Erfahrungen handelt.

Trotzdem gibt es Erfahrungen, die unterstatistischen Gesichtspunkten häufiger alsandere gemacht werden und die zu ken-nen wichtig ist, wenn man effektive Kon-zeptionen für interkulturelles Lernen erarbei-ten möchte.

Wir wollen uns an dieser Stelle auf Prob-lemkontexte konzentrieren, die bei Auslands-tätigkeiten im beruflichen Bereich besondersgehäuft auftreten. Eine Gesamtstatistik, diealle Berufsgruppen in allen denkbaren Ent-sendungsländern umfassen würde, existiertnicht und ist vermutlich auch nicht erstellbar.

Beispielhaft sei das Ergebnis einer Befra-gung angeführt, die unlängst unter deut-schen Führungskräften aus der Industrie mitden Entsendungszielen USA und Japan vor-genommen wurde12. Interessant ist hierbeieinerseits, welche Problemkategorien zu deninsgesamt häufiger genannten zählen. Aufdiese Weise lassen sich in systematischerForm zielgruppenspezifisch relevante Ge-genstandsbereiche für interkulturelles Lernenableiten: (siehe Tabelle nächste Seite).

Je länger die Entsendung dauert und jeaktueller die Rückkehr wird (in der Regelnach 4–6 Jahren), desto mehr haben dieBefragten mit ihrer Entsandtenrolle zu kämp-fen. Sie sind noch nicht genügend in dieZielkultur integriert, um von den Einheimi-schen als einer von ihnen anerkannt zu wer-den. Gleichzeitig sind sie aber auch nichtmehr genügend in der Ausgangskultur ver-ankert, um sich dort problemlos wieder re-integrieren zu können. Dies wird zum einendadurch bestätigt, dass Gastlandkontakteunverändert von der Hälfte der Befragtenals problematisch eingestuft werden, zumanderen dadurch, dass Stammhausbezie-hungen und Reintegrationsängste in dieserPhase zu den dominierenden Problemklas-sen gezählt werden.

Damit spielt der Entsandte eine für ihnselbst sehr unbefriedigende und konflikt-trächtige Rolle, da er vom Stammhaus kriti-siert wird, weil er eventuell bereits zu starkdie „fremde“ Position einnimmt und bei-spielsweise zu wenig auf das Erreichendeutscher Leistungsnormen eingeht. Dassletzteres z.B. aus klimatischen oder welt-anschaulichen Gründen gar nicht funktionie-ren kann, wird im Stammhaus oft nichtakzeptiert. Vielmehr erfährt der Entsandte„Druck“, den er dann zumindest bedingt anseine Mitarbeiter weitergeben muss (undsich damit aber andererseits auch Gastland-kontakte erschwert).

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83Problemklasse/Beispiele Häufigkeit gesamt 2 Jahre 2–6 Jahre > 6 Jahre

Reintegration(berufliche/private Rückkehrprobleme, 65% 46% 76% ➚ 61% ➘Zukunftsängste)

Stammhausbeziehungen(Autonomiekonflikt, fehlende Unterstützung) 60% 50% 61% ➚ 63% ➞

Personal/Führung(Personalbeschaffung, -führung, -entwicklung) 48% 50% 48% ➞ 47% ➞

Sprache/Kommunikation(Verständigungs-/Orientierungsprobleme) 47% 58% 54% ➞ 32% ➘

Gastlandkontakte(fehlende/unbefriedigende Kontakte) 44% 46% 50% ➞ 34% ➘

Arbeitszeit/-menge(lange Arbeitszeiten, Termindruck, 43% 25% 56% ➚ 37% ➘Geschäftsreisen)

Entsandtenrolle(Interessen-/Loyalitätskonflikte, Vermittlerrolle) 39% 29% 35% ➚ 50% ➚

(Ehe-)Partner(Fehlende Arbeitsmöglichkeiten, Isolation) 38% 58% 44% ➘ 16% ➘

Lebensqualität(Freizeit, Wohnverhältnisse, Klima) 35% 33% 37% ➞ 34% ➞

Arbeitsinhalte/-abläufe(Aufgabenneuheit, Überforderung, 29% 33% 30% ➞ 26% ➘interne Abläufe)

Geschäftspraktiken(Kontaktaufbau, abweichende 23% 22% 22% ➞ 26% ➚Geschäftsgepflogenheiten)

Probleme entsandter Manager

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84Verschärft wird diese in sich schon wider-

sprüchliche Situation dadurch, dass vieleEntsandte nicht wissen, was auf sie nachder Rückkehr zukommt. Während der Ent-sandte im Ausland in der Regel ein höhe-res Gehalt bezieht und einen höheren so-zialen Status genießt als in der Heimat,wird er bei seiner Rückkehr nicht nur auf dasdiesbezügliche Ursprungsniveau „zurück-geschraubt“, sondern häufig ist ihm selbstnoch zum Zeitpunkt der Rückkehr unbe-kannt, welche Position er künftig im Unter-nehmen bekleiden wird. Reintegrationspro-gramme sollten daher sinnvoller Weisebereits während der Entsendung beginnen.Das Wissens- und Erfahrungspotential vonRückkehrern wird immer noch unterschätzt,obwohl moderne Technologien eine früheEinbindung in das interkulturelle Wissens-management des Stammhauses oder in dieinterkulturelle Kompetenzentwicklung dernächsten Expatriat-Generation geradezuherausfordern. Am Anfang der Entwicklungstehen in diesem Zusammenhang sog.„Knowledge Cities“; in Plattformen integrier-te interaktive Datenbanken die zu spezifi-schen Ländern oder Konfigurationen multi-kultureller Teams Erfahrungsberichte oderz. B. infrastrukturelles Wissen genauso spei-chern wie Blogs, Foto-Impressionen und aufden jeweiligen Kontext bezogene firmen-spezifische Daten und Fakten.

Über die Kenntnis der eigentlichen Prob-leme hinaus ist es aufschlussreich, einenBlick darauf zu werfen, welche Problemlö-sungsstrategien von der zu betreuendenZielgruppe häufig intuitiv gewählt werdenund welche dieser Strategien sich als erfolg-

reich bzw. als kontraproduktiv erweisen.Dass interkulturelle Lernprogramme nichterfolgreiche Strategien thematisieren, son-dern gerade auch vor Augen führen soll-ten, warum bestimmte Strategien erfolglossind, wird noch viel zu wenig bedacht. Dieerwähnte Befragung deutscher Führungs-kräften zeigt beispielsweise, dass sich aus-gerechnet die drei erfolglosesten Problem-lösungsstrategien in der Gruppe der amhäufigsten eingesetzten Bewältigungsformenwieder finden: (siehe erste Tabelle auf näch-ster Seite).

Umgekehrt zählen die nach Auskunft derbefragten Führungskräfte erfolgreichstenStrategien zu den in der interkulturellen Pra-xis eher selten eingesetzten Problembewäl-tigungsformen: (siehe zweite Tabelle aufnächster Seite).

Zu den mit Abstand erfolgreichsten Stra-tegien zählt – und dies dürfte nicht nur fürManager gelten – die Bereitschaft, sich mitder fremden Kultur nicht nur kognitiv ausei-nander zu setzen, sondern auch emotional,indem man sich auf den fremden Kontext„einlässt“, das Neue beobachtet und aus-probiert, ohne freilich seine eigene Identi-tät damit preiszugeben. Die damit voraus-gesetzte Flexibilität und Offenheit ist letzt-lich auch für die anderen aufgeführten undals erfolgreich bewerteten Strategien grund-legend. Dass Flexibilität nichts mit Planlo-sigkeit zu tun hat, sondern im Idealfall miteinem erheblichen Maß an Selbstdisziplingekoppelt ist, zeigt die große Bedeutung,die der Durchführung von Organisations-maßnahmen als positiver Strategie beige-messen wird.

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Bewältigungsform Beispiel Häufigkeit in % Bewältigungserfolg*

Negativer Vergleich „Im Vergleich zum Herkunftsland 21% 0,10ist alles schlechter” ⇒ Ethnozentrismus

Duldung/Akzeptanz Unthematisiertes und resignatives 22% 0,39Sich-Abfinden mit Gegebenheiten, die man eigentlich nicht akzeptiert

Identitätsbewahrung Man versucht den eigenen Standpunkt 25% 0,59ohne als vermeintlich grundsätzlich besserenAnpassungsbereitschaft durchzusetzen ⇒ Ethnozentrismus

Konfrontation Aggressives Verdeutlichen von entgegen- 13% 0,92gesetzten Standpunkten, bei dem Emotio-nalität gegenüber Sachlichkeit dominiert

Selbstentlastung Für Missverständnisse und negative 14% 0,99Entwicklungen wird die fremde Situation verantwortlich gemacht ⇒Fremdbeschuldigung

85

*Mittelwert M = 0-4: erfolgreich: M > 2,0; uneinheitlich: M 1,0 – 1,99; erfolglos: M < 1,0.13

Die erfolglosesten interkulturellen Problembewältigungsstrategien

Bewältigungsform Beispiel Häufigkeit in % Bewältigungserfolg*

(Kultur-)Lernen Beobachtungslernen; permanente 16% 2,76interkulturelle Lernbereitschaft; Offenheit gegenüber dem Fremden

Organisationsmaß- Fähigkeit zur Regeleinführung, zum 9% 2,43nahmen realistischen Selbst- und Zeitmanagement

Beziehungsaufbau Kontakte knüpfen und auf andere 18% 2,38zugehen können

Positiver Vergleich Situationsaufwertungen vornehmen 24% 2,22können; an fremden Erfahrungen dasPositive sehen und schätzen lernen

Problemumbewertung Probleme nicht übergewichten, sich nicht 36% 2,20davon mitreißen lassen und versuchen bewusst daraus zu lernen ⇒Bagatellisieren ohne unkritisch zu nivellieren

*Mittelwert M = 0-4: erfolgreich: M > 2,0; uneinheitlich: M 1,0 – 1,99; erfolglos: M < 1,0.14

Die erfolgreichsten interkulturellen Problembewältigungsstrategien

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865.2Vorsicht Mythos: „InterkulturelleKompetenz“ ist keine eigenständigeHandlungskompetenz!

Bei genauerer Betrachtung der für erfolgrei-ches interkulturellen Bausteine wichtigen Teil-kompetenzen fällt auf, dass sie teilweise ineinem direkten Verweisungszusammenhangstehen (Rollendistanz mit Empathie, Syner-giebewusstsein mit Flexibilität usw.). Wei-terhin ist offensichtlich, dass nahezu alleTeilkompetenzen auch auf den Handlungs-erfolg in der eigenkulturellen Lebenswelt Ein-fluss haben und insofern zumindest nichtals spezifisch interkulturelle Teilkompetenzenbezeichnet werden können. So wäre einerfolgreiches Handeln in der „eigenen“ Le-benswelt ohne Einfühlungsvermögen, Rol-

lendistanz oder Flexibilität kaum vorstellbar.Zu Recht stellt sich damit die Frage, ob es

überhaupt eine eigenständige „interkulturel-le Kompetenz“ geben kann. Sehen wir unssozial- und verhaltenswissenschaftliche Mo-delle zur Differenzierung von Handlungs-kompetenzen an, scheint die Antwort zu-nächst einmal negativ auszufallen. Gehenwir von der üblichen Einteilung einer Hand-lungskompetenz in (a) individuelle, (b) so-ziale, (c) fachliche und (d) strategischeTeilkompetenzen aus, so lassen sich dieFertigkeiten und Fähigkeiten, die oben alsBasis für erfolgreiches interkulturelles Han-deln genannt wurden, fast alle problemloseinordnen. Übrig bleiben lediglich Fremd-sprachenkenntnisse, kulturelles Wissen so-wie die Fähigkeit, eigen-, fremd- und inter-kulturelle Prozesse sich selbst und anderenplausibel beschreiben und erklären zu kön-

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87nen. Die Instrumente einer solchen Trans-ferleistung (Empathie, Metakommunikations-fähigkeit, Fachkenntnisse etc.) sind aller-dings wiederum in jenen Kompetenzberei-chen zu finden, die erfolgreiches Handelngenerell prägen.Vor diesem Hintergrund er-scheint es in der Tat sinnvoll, interkulturelleKompetenz nicht als einen eigenständi-gen Kompetenzbereich zu verstehen, son-dern – in der Bedeutung von lat. competere:„zusammenbringen“ – als Fähigkeit, indivi-duelle, soziale, fachliche und strategischeTeilkompetenzen in ihrer bestmöglichen Ver-knüpfung auf interkulturelle Handlungskon-texte beziehen zu können. Unterschiedlichgegenüber eigenkultureller Handlungskom-petenz ist dementsprechend die Realisa-tion der einzelnen Teilkompetenzen in demjeweiligen interkulturellen Umfeld. Es gehtz.B. in einem Entwicklungshilfeprojekt nichteinfach darum, eine landwirtschaftlicheMaschine in ihrer Funktionsweise zu er-klären, sondern darum, diese Erklärung ineiner fremden Sprache, in anderen Sinn-zusammenhängen und unter anderen Um-weltbedingungen einer bestimmten „frem-den“ Zielgruppe so zu formulieren, dass dieMaschine nicht etwa als unheimlicher, un-plausibler o.ä. Gegenstand gemieden, son-dern den Gegebenheiten entsprechend op-timal eingesetzt wird.

Inwieweit die genannten Teilkompetenzenin interkulturellen Handlungszusammenhän-gen miteinander verknüpft sind, verdeutlichtdas Fallbeispiel einer misslungenen interkul-turellen Handlung:

Um die Verbindungen zum Präsidenten einer ja-panischen Partnerfirma auf eine freundschaft-liche, dauerhafte Basis zu stellen, beschloss einjunger amerikanischer Firmenrepräsentant, dieBarriere der Förmlichkeit einzureißen, die nochnach vielen Monaten zwischen ihm und diesemeinschüchternd würdevollen, älteren Herrn be-stand.

Auf einer Cocktailparty in Tokio näherte er sichalso dem Präsidenten, klopfte ihm jovial auf dieSchulter, raffte sein spärliches Japanisch zusam-men und sagte, für jedermann vernehmbar, soetwas wie: „Hey, schön Sie hier zu sehen, alterBock.“ Der Präsident wurde aschfahl, verließgrußlos die Party und kündigte innerhalb dernächsten Tage die Zusammenarbeit mit deramerikanischen Firma auf.

Das Versagen des jungen amerikanischenFirmenrepräsentanten ist eindeutig: Es man-gelt ihm offenkundig an Einfühlungsver-mögen und Kommunikationsfähigkeit in Be-zug auf den „Normalitätsrahmen“ japani-scher Handlungszusammenhänge, der ihmaugenscheinlich unbekannt ist. Dies sprichtnicht generell gegen seine soziale Hand-lungskompetenz, da sein Verhalten inner-halb seiner eigenen Lebenswelt vielleicht so-gar als angemessen bewertet werdenkönnte. Es zeigt allerdings, dass ihm derTransfer seiner (eigenkulturellen) sozialenHandlungskompetenz auf interkulturelle Si-tuationen nicht gelingt. In dieser Transfer-leistung, die eigen- und fremdkulturellesWissen ebenso einbezieht wie beispiels-weise vorangegangene interkulturelle Erfah-rungen, besteht folglich auch der qualita-tive Unterschied zwischen sozialer Hand-lungskompetenz und interkultureller sozialerHandlungskompetenz. In gleicher Weiseunterscheiden sich dann auch interkulturelleSelbstkompetenz, interkulturelle fachlicheKompetenz und interkulturelle strategischeKompetenz von ihren „eigen“kulturellen Ent-sprechungen dadurch, dass sie Transferleis-tungen auf interkulturelle Handlungskontextebeinhalten.

Zusammenfassend können wir dement-sprechend interkulturelle Kompetenz alsdas erfolgreiche ganzheitliche Zusam-menspiel von individuellem, sozialem,fachlichem und strategischem Handeln ininterkulturellen Kontexten definieren. „Inter-

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88kulturelle Kompetenz“ erweist sich damit alsein synergetischer Prozessbegriff, der folg-lich auch nicht auf den Bereich der „softskills“ reduziert werden kann, sondern derdas gesamte Handlungsspektrum betrifft.Jemand ist dann interkulturell kompetent,wenn er in der Lage ist, dieses synerge-tische Zusammenspiel von individuellem,sozialem, fachlichem und strategischemHandeln ausgewogen zu gestalten. Andersgesagt: eine fachlich exzellente Kraft, deres aber deutlich an sozialer Integrationsfä-higkeit mangelt, wird bezogen auf ihren ge-

samten Handlungserfolg eventuell schlech-ter abschneiden als eine fachlich wenigerprofilierte Kraft, die dafür aber größere Stär-ken im Bereich der sozialen Kompetenz auf-weist. Das Gleiche gilt in organisationalerHinsicht: Eine perfekte Finanz- oder Produk-tionsplanung nützt wenig, wenn sie nichtauf der Ebene „weicher“ Faktoren entspre-chend kommuniziert und umgesetzt werdenkann. Umgekehrt kann eine gelungene Öf-fentlichkeitsarbeit Defizite in der Produkt-qualität oder im Zeitmanagement nicht wett-machen.

trainerorientiert/kognitiv trainerorientiert/kognitiv

Seminare zu Besonder- Kulturspezifische Informa-heiten interkulturellen tionstrainings, BearbeitungHandelns, zu Kulturtheorie interkultureller Fallstudien,und -anthropologie Diskursanalysen, Culture

Assimilator-Training

erfahrungsorientiert erfahrungsorientiert

Simulationen, Rollenspiele Interkulturelle Planspiele mit Interkulturelles Coaching,und interkulturelles Sensi- bi- und multikulturellen Mediation und Teambuil-tivitätstraining mit fiktiven Gruppen (integrierte inter- dingHandlungskontexten kulturelle Trainings)

Interkulturelles Lernen

off the job on the job

kulturübergreifend kulturspezifisch

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895.3Trainingstypen und Übungen zuminterkulturellen Lernen

Interkulturelle Lernangebote sind gegenwär-tig außer in der Schule und der Jugendarbeit(➞ 5.4) insbesondere in den BereichenWirtschaft und Politik zu finden. Hier gehtes im Rahmen der Personalentwicklung inder Regel darum, Führungs- und Nach-wuchskräfte aus der Wirtschaft und demdiplomatischen Dienst sowie Facharbeiterund Entwicklungshelfer auf Auslandsentsen-dungen oder auf Tätigkeiten in internationa-len Teams vorzubereiten.

Das Spektrum der Angebote zur inter-kulturellen Kompetenzentwicklung gliedertsich zunächst in Maßnahmen off-the-job undMaßnahmen on-the-job. Hierunter verstehtman zum einen Trainings, die abgekoppeltvon der Arbeitssituation stattfinden (etwa imSinne von Weiterbildungsmaßnahmen: „off-the-job“) und andererseits Betreuungsmaß-nahmen, die vor Ort am Arbeitsplatz durch-geführt werden („on-the-job“).

Trainings-off-the-job wiederum werden in-haltlich danach kategorisiert, ob sie „allge-mein-kultursensibilisierend“ oder „kulturspe-zifisch“ ausgerichtet sind. Methodisch kannzwischen konventionellen dozentenbezoge-nen und eher teilnehmerzentrierten, erfah-rungsorientierten Unterrichts- bzw. Seminar-formen unterschieden werden: (siehe S. 88)

Welche der Maßnahmentypen im Einzel-fall gewählt werden, hängt vor allem vonder Zielgruppe und den Trainingsbedingun-gen ab. So werden beispielsweise Rollen-spiele mit fiktiven Handlungskontexten vonFührungskräften erfahrungsgemäß wenigerakzeptiert als von Jugendlichen, währendletztere nicht unbedingt für kulturtheoretischeFragestellungen zu begeistern sind. Als Bei-spiel sei auf eine der bislang wenigen

Untersuchungen verwiesen, die Aufschlussüber die in interkulturellen Trainings (hier fürFührungskräfte) am häufigsten verwendetenTrainingstypen und -inhalte gibt:(siehe S. 90)

Um besser einschätzen zu können, wiedie genannten Trainingstypen in der Praxisrealisiert werden und für welche Zielgrup-pen sie geeignet sind, sollen im folgendeneinige dieser Trainingsmodule eingehendervorgestellt und kritisch beurteilt werden.

5.3.1Trainings off the job

5.3.1.1 Kulturübergreifende Trainings

Kulturübergreifende Trainings bezweckeneine eher allgemeine Sensibilisierung für dieBesonderheiten, Chancen und Probleme in-terkulturellen Handelns. Sie sind vor allemfür solche Zielgruppen geeignet, die nochkeine umfangreichen interkulturellen Erfah-rungen haben sammeln können und für dienoch keine kulturspezifische Entsendungs-planung besteht.

5.3.1.1.1Trainerorientierte/kognitiveTrainingsformen zur allgemeinen interkulturellen Sensibilisierung

Hierbei handelt es sich weniger um Trai-nings in konventionellem Sinn als vielmehrum Einführungsveranstaltungen und Semi-nare, in denen Begriffe wie z.B. „Kultur“,„Fremdheit“ oder „Interkulturalität“ thema-tisiert werden. Klassische Beispiele hier-für sind einschlägige universitäre Studien-gänge oder Weiterbildungsveranstaltungenz.B. an Volkshochschulen. Konkrete Kul-turen bilden hier meistens nur den Stoff für

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Falldarstellungen, die aber im Wesentlichendarauf abzielen, überhaupt ein Verständnisdafür zu erlangen, in welcher Hinsicht undwarum Wahrnehmen und Verhalten in ande-ren Kulturen anders geprägt sind als in dereigenen.

Häufig bearbeitete Themen neben der er-wähnten Begriffsarbeit sind beispielswei-se: Images, Stereotype und Vorurteile; Eth-nozentrismus; das Verhältnis von Selbst-,Fremd- und Metabildern, Umgang mitFeindbildern, Probleme und Chancen desLebens in multikulturellen Gesellschaften so-wie Versuche, den wechselseitigen Zusam-menhang der verschiedenen Konstituentenvon Kulturen wie natürliche Umwelt, Reali-tätserkenntnis, Technologie, Religion, Me-dien, Politik und Wirtschaft als Systemzu-sammenhang zu erklären.

Die eingesetzten Methoden beschrän-ken sich auf das für informatorisches Ler-nen übliche Spektrum: Vorträge, Diskussio-nen, Gruppenarbeiten zu kleineren Fallstu-dien sowie Themen-Workshops dürften dieam häufigsten gewählten Darbietungsfor-men sein.

Eine effektive Übung zur Bewusstmachungder eigenen Vorurteilsstrukturen bietet dieBild- bzw. Fotoanalyse: Am Beispiel von ver-meintlich „typischen“ Personen- oder Situa-tionsdarstellungen (z. B. Mann mit dunklerSonnenbrille und Anzug; Feier mit weißge-kleideten Personen etc.) werden Symbolat-tribuierungen gesammelt (aus deutscherSicht vermutlich „Mafiosi“, „Hochzeit“), dieauf den fremdkulturellen Kontext, in dem dieBilder entstanden sind, gerade nicht an-wendbar sind. Diese Einsicht kann bei-

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Konradt/Behr Interkulturelle Managementtrainings. Eine Bestandsaufnahme von Konzepten, Methoden undModalitäten in der Praxis. In: Zs für Sozialpsychologie 33 (2002), 198: Häufig vermittelte Inhalte in interkul-turellen Trainings für Expatriat-Kandidaten (Training 1), für Teams, die entsandt werden (Training 2) und fürMitarbeiter, die in ihrer Heimat mit Expatriats zusammenarbeiten (Training 3)

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* Positiv: Hoher kognitiver Lerneffekt in Bezug auf das Verständnis interkulturellerKommunikationsprozesse.

* Negativ: Gefahr eines für manche Zielgruppen zu akademischen bzw. abstraktenthematischen Zugangs.

spielsweise dazu beitragen, den eigenenStandpunkt zu relativieren und die kulturelleDeterminiertheit von Wahrnehmung zu er-kennen.

Mit einer vergleichbaren Zielsetzung ar-beiten Assoziationsaufgaben: Die Teilneh-mer erhalten – sofern sie aus unterschied-lichen Kulturen stammen – eine Wortliste(z.B. „Kuss“, „Heimat“, „sauber“ etc.). Zuden Ausgangswörtern werden Assoziatio-nen gebildet, notiert und danach mit denErgebnissen einer anderen Kulturgruppe ver-glichen.

Kommunikationsanalytisch verfährt ein als„Linguistic Awareness of Cultures“ oder kurzLAD bezeichneter Trainingstyp13. Vermitteltwerden soll hier die Fähigkeit zu erkennen,inwieweit u.a. sprachliche Register, para-verbale und nonverbale Kommunikations-formen kulturell geprägt sind. Eine solcheSensibilisierung kann darin bestehen, dassmittels Audio- oder Videoaufzeichnung ei-

ne Kommunikationssituation beispielswei-se zwischen einem deutschen und einemFinnen vorgestellt wird. Anhand dieserAufzeichnung wird deutlich, dass Finnenaufgrund ihrer eher monotonen und pau-sendurchsetzten Sprechweise häufig Spre-cherwechsel provozieren, ohne dies zubeabsichtigen. Sie selbst empfinden dieSprecherwechsel als „Dazwischenreden“,während z. B. ein deutscher Gesprächspart-ner glaubt, er habe an dieser Stelle legiti-mes Rederecht.

In der Übung geht es nun nicht um die kul-turspezifischen Formen deutschen und finni-schen Gesprächsverhaltens, sondern darum,grundsätzlich stärker auf die kulturelle De-terminiertheit von Kommunikation zu achten.

Die meisten trainerorientierten/kognitivenTrainingsformen zur allgemeinen interkultu-rellen Sensibilisierung lassen sich mit folgen-den Charakteristika zusammenfassen:

5.3.1.1.2 ErfahrungsorientierteTrainingsformen zur allgemeinen interkulturellen Sensibilisierung

Zu den in interkulturellen Trainings am häu-figsten eingesetzten Übungstypen zählen fik-tive Simulationen und Rollenspiele. Ihr Zielbesteht darin, Interkulturalität – und stärkernoch Fremdheit – erfahrbar zu machen, in-dem Zusammenhänge konstruiert werden,die aus Teilnehmersicht jedweder Vertraut-

heit entbehren und Normalitätserwartungenunerfüllt lassen. Das Simulationsspiel „Bafa-Bafa“, ohne Frage der Klassiker auf diesemGebiet, hat inzwischen eine Reihe ähnlichkonzipierter Nachfolger gefunden, die imwesentlichen alle nach dem gleichenGrundschema aufgebaut sind: Die Trai-ningsteilnehmer werden in zwei Gruppeneingeteilt, die fiktive und einander vollstän-dig entgegengesetzte Kulturen repräsentie-ren:

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„Ecotonos“ relativ breit gefächert ist, kon-zentrieren sich andere Übungen auf dasTraining einzelner Teilkompetenzen wie Rol-lendistanz, Ambiguitätstoleranz oder dieFähigkeit zur Korrektur von Verhaltenserwar-tungen. Die Strukturmuster, denen die Kon-zeptionen solcher eher punktuellen Übun-gen folgen, sind sehr ähnlich.

Beispielhaft sei an dieser Stelle ein Trai-ningsmodul angeführt, das vor allem derVerbesserung der interkulturellen Empathie-fähigkeit dienen soll. Die Teilnehmer wer-den wiederum in zwei Gruppen aufgeteiltund müssen eine der beschriebenen Rollenübernehmen:

A.Sie gehören zu einer Gruppe von Lisa-nern, die als Touristen durch das LandJanisa reisen. Unglücklicherweise habenSie Ihr gesamtes Geld verloren und be-finden sich etwa 30 Meilen von IhremHotel entfernt in einem abgelegenenDorf an einer Bushaltestelle. Andere Ver-kehrsmittel (Züge, PKWs etc.) gibt esnicht, sodass Sie darauf angewiesensind, ein Busticket zu kaufen. Ihre Auf-gabe besteht darin, janisäische Einwoh-ner, die sich in der Nähe der Bushal-testelle aufhalten, darum zu bitten, Ihnen

92Kultur A („Gapalachen”) Kultur B („Cybolaner”)

Traditionelle Gesellschaft Moderne und technologieorientierte Gesellschaft

Handwerker Dienstleister/Händler

Patriarchat Matriarchat

beziehungsorientiert sachorientiert

Gemeinschaftsstreben Konkurrenz der Individuen untereinander

Begrüßung per Handschlag; während Begrüßung, indem man die Ohren des PartnersGesprächen werden die Hände des anfasst; ansonsten denkbar größte KörperdistanzGesprächspartners festgehalten

Zwischen den Gruppen wird ein Hand-lungsrahmen inszeniert, innerhalb dessendie eine Gruppe der anderen beispielswei-se etwas verkaufen, sie von einem Stand-punkt überzeugen oder sie zu einer be-stimmten Handlung veranlassen soll. DieTeilnehmer erhalten Rollenkarten, auf denendie Merkmale und Verhaltensweisen dereigenen Kultur detailliert beschrieben sind.In Bezug auf die Mitspieler-Kultur werdennur sehr vage Hinweise gegeben. Nacheiner angemessenen Vorbereitungszeit in-nerhalb der eigenen Gruppe beginnt die indiesem Sinn „interkulturelle“ Handlung.

Missverständnisse sind aufgrund der entge-gengesetzten Rollenvorgaben vorprogram-miert, so dass die Hauptaufgabe darinbesteht, auf Besonderheiten der anderenKultur zu schließen, einen gemeinsamenHandlungsraum auszuhandeln, Metakom-munikation zu praktizieren und gegebenen-falls auftretende Missverständnisse zu repa-rieren. Analysen von Videoaufzeichnungentragen dazu bei, die Beteiligten in die Lagezu versetzen, ihr Verhalten in derartigen Si-tuationen zu beobachten und sich die spe-zifischen Anforderungen an erfolgreiches in-terkulturelles Handeln bewusst zu machen.

Während dieses Anforderungsspektrum inkomplexen und zeitintensiven Simulations-spielen wie „Bafa-Bafa“, „Barnga“, oder

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93Geld für den Kauf der Tickets zu gebenoder zu leihen. Leider sprechen Sie keinJanisäisch.

B.Sie sind Einwohner des abgelegenenDorfes Suski im Land Janisa. Sie haltensich an einer Bushaltestelle auf und er-zählen sich die Neuigkeiten des Tages,als eine Gruppe Fremder kommt und Sieanscheinend um etwas bitten möchte.Leider sprechen die Fremden nicht IhreSprache. Als Janisäer sind Sie zwargrundsätzlich sehr hilfsbereit. Fremdengegenüber verhalten Sie sich allerdingseher scheu und zurückhaltend. Insbeson-dere dann, wenn Fremde laut sprechendauf Sie zukommen, rücken Sie noch en-ger zusammen und sprechen noch leiserals dies normalerweise schon der Fallist. Sie schotten sich solange ab, bis dieanderen ebenfalls sehr leise sprechenund ihre Körperdistanz verringern.

„Gewonnen“ haben die Touristen, wennsie innerhalb eines festgesetzten Zeitrah-mens (ca. 10 Minuten) die Verhaltensregelnder Janisäer erkennen und in der Lage sind,so zu reagieren, dass Sie das Geld fürdie Bustickets geschenkt oder geliehen be-kommen. Die Steuerung von Verhalten undVerhaltenserwartungen geschieht mit Hil-fe einer „Anker-Lexik“ in den Rollenbeschrei-bungen: Hinweise auf die Entfernungsan-gabe „Meilen“ oder die Lautgestalt derSprachbezeichnung „Janisäisch“ wecken be-stimmte Assoziationen und prägen mit einerbildlichen Vorstellung des fiktiven Kontextesauch das Verhalten der Teilnehmer. Eine sol-che Ankerlexik ist beliebig auswechselbar,so dass für derartige Übungen mit geringemAufwand komplett veränderte Handlungszu-sammenhänge erzeugt werden können.

Positiv: Rahmenbedingungen interkultu-rellen Handelns (Fremdheitserfahrungen,fehlgeleitete Verhaltenserwartungen etc.)werden inszeniert und erfahrbar.Negativ: Aufgrund der fiktiven Kontextewerden die Spiele häufig nicht ernst ge-nommen, was dazu führen kann, dassdie Verantwortung für Misserfolge nichteingesehen oder übernommen wird („InWirklichkeit hätte ich mich anders verhal-ten“). Sofern die „exotischen“ Kulturen sokonstruiert sind, dass sie Bezüge zu tat-sächlich existierenden Kulturen nahe le-gen, kann es zu unbeabsichtigten Vorur-teilsverstärkungen kommen.

5.3.1.2 Kulturspezifische Trainings

Kulturspezifische Trainings zielen auf kog-nitive und erfahrungsbezogene Auseinan-dersetzungen mit konkreten Zielkulturen. Siesind vor allem für solche Zielgruppen geeig-net, die für eine Entsendung oder die Arbeitin einem internationalen Team ausgewähltsind und entsprechend vorbereitet werdensollen.

5.3.1.2.1Trainerorientierte/ kognitiveTrainingsformen für kulturspezifischeTrainings

Kognitiv orientierte kulturspezifische Trai-ningsmodule dürften zu den mit Abstand amhäufigsten angebotenen Bausteinen inter-bzw. zielkultureller Trainings zählen. Sie be-ziehen sich (a) vorwiegend auf Darstellun-gen von Alltagskultur, beruflichem Leben,Wertewandel, Geschichte etc. einer be-stimmten Kultur, (b) auf einen Vergleich aus-gewählter ziel- und eigenkultureller Merk-

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94male oder (c) auf konkrete interkulturel-le Prozesse, die zwischen Ausgangs- undZielkultur etwa auf Unternehmensebene, imRahmen der politischen Beziehungen usw.stattgefunden haben. Als Darstellungs-formen werden ähnlich wie bei den allge-mein-sensibilisierenden kognitiven Trainingszumeist Seminare, Workshops oder Vor-tragsveranstaltungen gewählt.

Aus der Vielfalt der angebotenen Übungs-typen können hier nur die wichtigsten vor-gestellt werden. Hierzu zählt der in nahe-zu allen Trainings zu findende „Culture Assi-milator“.

Culture-Assimilator-Übungen beginnen wieim folgenden Beispiel mit der Darstellungeiner kritischen Interaktionssituation („criticalincident“), die zwischen Angehörigen unter-schiedlicher Kulturen aufgetreten ist:

Herr M. ist Deutscher und arbeitet im BereichRechnungswesen eines großen deutschen Auto-mobilkonzerns in Spanien. Häufig hat er Problemezu delegieren. Er weiß, dass die Anforderungen,die er an seine Mitarbeiter stellt, hoch sind, undgerade deshalb steht er jederzeit für Auskünfte undRatschläge zur Verfügung. Umso mehr wundert esihn, dass die spanischen Mitarbeiter seine Anwei-sungen zumeist ohne große Vorbehalte akzeptie-ren und ihm auch kaum Fragen zu den Aufgabenstellen. Das Arbeitsergebnis entspricht allerdingshäufig nicht seinen Erwartungen. Herr M. ist sichsicher, dass durch Nachfragen bei ihm die auftre-tenden Fehler größtenteils vermeidbar wären. Erversteht nicht, dass ihn die Spanier fast nie umRatschläge oder Erklärungen bitten.

Die Aufgabe besteht bei einer Culture-Assimilator-Übung darin, Gründe für dasVerhalten der spanischen Mitarbeiter zu fin-den, um auf diese Weise zu einem tiefergehenden Verständnis der Situation zu ge-langen. Zu diesem Zweck werden alterna-

tive Erklärungen angeboten, von denendiejenige auszuwählen ist, die am plausi-belsten erscheint:

Wieso richten Ihrer Meinung nach die Spanier sowenig Fragen an Herrn M.?a. Fragen gegenüber Vorgesetzten werden in

Spanien nicht als konstruktiv angesehen, sodass spanische Angestellte ein nachfragennicht gewohnt sind.

b. Fragen werden nur zwischen Mitarbeitern glei-chen Ranges gestellt.

c. Nachfragen bedeutet, den Dialog mit demChef zu suchen, was von den Kollegen als„sich profilieren wollen“ gedeutet und missbil-ligt wird.

d. Die Spanier warten ab, bis sich noch mehrFragen ergeben, die dann gebündelt gestelltwerden.

Der eigentliche Lerneffekt besteht darin,dass die Erklärungsalternativen nachfol-gend begründet werden, wobei dann zu-meist auch kulturhistorische Entwicklungenund Zusammenhänge thematisiert werdenkönnen. Bei den meisten Culture-Assimilator-Übungen kommt allerdings gerade dieserTeil zu kurz. In unserem Beispiel würden siesich darauf beschränken zu erklären, dassdie Antworten (a) und (b) richtig, die beidenanderen falsch seien. Ein wenig differen-zierter sind zusätzliche Angaben, wie vielProzent der spanischen Befragten sich für dieeinzelnen Alternativen entschieden hätten.Die Problematik derartiger Übungen wirddeutlich, wenn man als Kommentar zuAntwort (d) beispielsweise die folgendeAussage erhält:

„Das ist nicht richtig. Unabhängig von dieser Situa-tion sind Spanier eher ungeduldig, wenn sie etwasinteressiert.“

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95Ausgehend von dem Einzelfall eines be-

stimmten Deutschen in einer bestimmtenspanischen Arbeitumgebung mit einer in-dividuenspezifischen Beziehung zu spa-nischen Kollegen wird hier eine Gene-ralisierung in Hinblick auf „die“ Spaniervorgenommen. Selbst wenn dies bedingtlegitim sein mag, weil derartige Fälle indeutsch-spanischen Beziehungen statistischbesonders häufig auftreten, muss einedeutsch-spanische Interaktion keineswegsso verlaufen. Abgesehen davon, dass sug-geriert wird, interkulturelle Kontakte wür-den per se problematisch verlaufen. Beiderartigen Übungen ist die Gefahr sehrgroß, dass Verhaltenserwartungen geschaf-fen und Stereotype untermauert werden, diees eigentlich abzubauen gilt. In diesemSinne sollten Culture-Assimilator-Übungennur unter Hinweis auf die Einmaligkeit undNicht-Übertragbarkeit des dargestellten „cri-tical incident“ durchgeführt werden.

Eine ähnliche Einzelfallspezifik verfolgendiskursanalytische Trainingsmodule, die zu-meist mit Videoaufzeichnungen von inter-kulturellen Kommunikationssituationen arbei-ten. Das Ziel besteht darin, interkulturelleMissverständnisse aus dem Kommunika-tionsverhalten der Beteiligten heraus be-schreiben und begründen zu lernen. Auchhier können Generalisierungen von der imVideo dargestellten individuellen Teilneh-merebene auf eine allgemein-kulturelle Ebe-ne in die Irre führen und sollten daher nichtvorgenommen werden.

Andere Ansätze wie insbesondere die inder Nachfolge von Geert Hofstede entwi-ckelten Kulturdimensionen-Trainings gehenvon außen herangetragenen (und zumeistsehr westlich geprägten) Kategorisierungenmenschlichen Handelns und Verhaltens aus.Verwendet werden Kategorien wie z. B.„Machtdistanz“, „Unsicherheitsvermeidung“oder „Maskulinität“ etc. Hofstede hatte in

den sechziger Jahren des vergangenenJahrhunderts in über 50 Ländern der Weltauf der Grundlage umfangreicher Befragun-gen länderspezifische Ausprägungen dieserKategorien zu bestimmen versucht. So weistMexiko hiernach in der Kategorie „Indi-vidualismus“ einen Indexwert von 31 (ge-ring) auf, während die USA einen Wertvon 91 (hoch) erreichen. Unter kulturver-gleichenden Gesichtspunkten lässt sichlaut Hofstede hieraus folgern, dass dieUSA individualistischer orientiert sind alsMexiko.

Abgesehen von der mangelnden Erklä-rungskraft einer solchen Aussage ist dieProblematik des Vorgehens offenkundig: Ei-nerseits sagt ein Kulturvergleich noch nichtsüber die Besonderheiten interkultureller Be-gegnungen zwischen konkreten Ethniemit-gliedern aus, andererseits entwickeln sichKulturen in bestimmte Richtungen weiter,sodass die von Hofstede vor 40 Jahrenermittelten Indexwerte vielfach nicht mehrgültig sein dürften. Verwendet der Lehrendesie, werden stereotype Denkmuster eher ver-tieft als abgebaut.

Zunehmend größer geworden ist das An-gebot an kulturspezifischen und interkultu-rellen Trainingsfilmen. Sie dienen in ersterLinie der Veranschaulichung, bilden gleich-zeitig aber auch gute Gesprächsanlässefür Diskussionen zu Spezifika intra- und in-terkulturellen Handelns. Als ein grobesOrientierungsmerkmal zur Qualitätsbestim-mung derartiger Filme kann ihre inhaltlicheVielfalt dienen: Je differenzierter und viel-fältiger die dargestellten Themen sind, des-to weniger werden sie zu einer Stereoty-penbildungen Anlass geben.

Im Verbund mit Presseberichten, Unterneh-mensdarstellungen etc. können authentischeFilmdokumentationen zu konkreten Fällender interkulturellen Zusammenarbeit (z.B.„Fusionsstories“ wie DaimlerChrysler) wei-

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96terhin ausgezeichnetes Ausgangsmaterialfür die Erstellung von Fallstudien darstellen.Unter methodischen Gesichtspunkten erfreutsich die Fallstudienbearbeitung auch des-halb zunehmender Beliebtheit, weil sie eingruppenorientiertes und realitätsnahes Ler-nen ermöglicht, dessen Komplexitätsgradwiederum leicht über die Ausgestaltung derFallstudie steuerbar ist.

Positiv: Ein tiefer gehendes Verständnis in Bezugauf die Entwicklung eines konkreten zielkulturellenSystems wird dann erreicht, wenn als kulturspezi-fisch erkannte Merkmale in ihren historischen Ent-wicklungszusammenhängen erklärt werden.Negativ: Ein lediglich deskriptives und faktenori-entiertes oder an „Kulturdimensionen“ orientiertesVorgehen führt zu kulturellem Rezeptwissen undleistet Stereotypisierungen Vorschub.

5.3.1.2.2Erfahrungsorientierte kulturspezifischeTrainings

Im Gegensatz zu den kulturspezifisch-infor-matorischen Trainings sind erfahrungsorien-tierte Trainings mit monokulturellen Grup-pen nicht durchführbar. Denn auch bei nochso gut inszenierten Rollenspielen wird kei-ne Interkulturalität erzeugt: Selbst wenn bei-spielsweise ein Franzose mit der chinesi-schen Kultur bestens vertraut ist, wird er ineinem Rollenspiel – ob er will oder nicht –keinen „authentischen“ Chinesen repräsen-tieren können.

Eine Möglichkeit, eine fremde Kultur inihren Besonderheiten zu erfahren, bietet die

bedeutungsanalytische Praxisforschung: DieTrainingsteilnehmer werden beauftragt, inzielkulturellen Umgebungen im Stil der teil-nehmenden Beobachtung und mit Hilfeeiner Videokamera Feldforschungen zu be-stimmten Begriffen (z.B. „Arbeit“, „Café“,„Bar“, Begrüßungen am Flughafen) durch-zuführen und darüber zu berichten. DieErfahrungsauswertung und Analyse derVideoaufzeichnungen erfolgt dann imGespräch mit Angehörigen der Zielkultur.Internationale Schulpartnerschaften, Aus-tauschgruppen und Arbeitsteams stellendiesbezüglich besonders ideale Foren dar.

Ebenfalls in einen solchen Rahmen ein-bezogen werden kann das im Bereichdes Fremdsprachenerwerbs sehr erfolgreichpraktizierte Tandem-Lernen, bei dem An-gehörige zweier unterschiedlicher Kulturensich gegenseitig unterrichten. Diese Lern-form, die nicht unbedingt nur auf Fremd-sprachenvermittlung bezogen sein muss,bietet den Vorteil, dass interkulturelle Erfah-rungen in der Regel während des Lernpro-zesses nicht nur gemacht, sondern auchreflektiert werden.

Punktuell kann eine solche Kombinationvon interkultureller Erfahrung und interkultu-reller Reflexion auch im Rahmen der Durch-führung interkultureller Imageanalysen er-zielt werden:

Zwei Trainingsteilnehmern unterschiedli-cher kultureller Herkunft werden eine Reihevon Eigenschaften-Items vorgegeben, zudenen sie sich auf einer siebenstufigenSkala jeweils dreifach äußern müssen; näm-lich in Hinblick auf (a) ihr Selbstbild (b) ihrFremdbild in Bezug auf den Partner und (c)ihr Metabild:

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97Bitte markieren Sie in der Skala jeweils den Wert, von dem Sie glauben, dass er (a) aufSie selbst (bitte ankreuzen: „X“) und (b) auf Ihren Partner am besten zutrifft (bitte mit einemKasten versehen: ❏ ). Umkreisen Sie (c) bitte denjenigen Wert („0“), den Ihr Partner IhnenIhrer Ansicht nach zuschreiben wird. Der Wert „3“ bezeichnet die jeweils größte Zu-stimmung, mit „0“ ist ein neutraler Wert zwischen den gegensätzlichen Eigenschaften be-zeichnet. Sofern Sie einen Wert mehrfach nennen möchten, notieren Sie Ihre Markie-rungszeichen untereinander:

3 2 1 0 1 2 3

offen 0 0 0 0 0 0 0 verschlossenpünktlich 0 0 0 0 0 0 0 unpünktlichlaut 0 0 0 0 0 0 0 leise

Die beiden Übungsteilnehmer bearbeitendie Eigenschaftslisten zunächst getrennt. Dieausgefüllten Bögen werden dann ausge-tauscht. Insbesondere größere Abweichun-gen zwischen Fremdbild-Einschätzungeneinerseits und Metabild-Einschätzungen an-dererseits rufen in der Regel sehr intensiveund für die Teilnehmer aufschlussreiche Dis-kussionen hervor.

Einen Schritt weiter gehen auf Fallstudienaufbauende interkulturelle Planspiele, indemhier nicht nur der „theoretische“ interkulturel-le Erfahrungsaustausch, sondern das inter-kulturelle Handeln selbst in den Vordergrundgestellt wird. Das konzeptionelle Musterbesteht darin, dass Teams unterschiedlicherkultureller Herkunft einen bestimmten Fallgemeinsam bearbeiten und damit natürlichauch interagieren müssen.

Das Planspiel „InterAct“15 geht beispielswei-se von einer Fallstudie aus dem Textilbereichaus, demzufolge der Weltmarkt für Jogging-Anzüge durch starke Unternehmenskonzen-trationen geprägt ist: Langfristig werdensich nur diejenigen Unternehmen behaup-ten können, die international kooperieren.Ein Beispiel hierfür ist das in der Grafik mitE/F bezeichnete Joint-Venture, das aufgrundeiner solchen Zusammenarbeit für erhebli-che Umsatzeinbußen der einzeln agieren-den Unternehmen A, B, C und D gesorgthat. Das Ziel der letztgenannten Unterneh-men muss folglich darin bestehen, mit Hilfevon Kooperationen Marktanteile zurück zugewinnen. An dieser Stelle setzt das sowohlbetriebswirtschaftlich als auch interkulturellkonzipierte Planspiel ein:

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Die Unternehmen A–D werden durch Teil-nehmer aus jeweils unterschiedlichen Kul-turen repräsentiert, sodass beispielsweiseein deutsches, ein französisches, ein russi-sches und ein britisches (oder auch ein mul-tikulturelles) Team versuchen müssen, demcomputersimulierten Joint Venture E/F Markt-anteile abzunehmen. Neben mehrsprachi-gen Kooperationsverhandlungen besteht dasPlanspielszenario aus zahlreichen Aufga-ben wie etwa der Erstellung von gemeinsa-men Werbestrategien und Unternehmens-grundsätzen oder auch der Anforderung,konkrete Marktentscheidungen in Hinblickdarauf zu treffen, wie viel auf den einzelnenMärkten zu welchem Preis abgesetzt wer-den soll.

Die Vorteile eines solchen interaktivenPlanspiels bestehen darin, dass interkultu-relle Handlungsfähigkeit im beschriebenenZusammenspiel von individueller, sozialer,strategischer und fachlicher Kompetenz un-ter Beweis gestellt werden muss. Auf dieseWeise wird der faktisch ganzheitliche Cha-rakter interkulturellen Handelns in einem für

Trainings off-the-job optimalen Maß reali-siert. Die Effizienz derartiger Trainings istauch deshalb sehr hoch, weil sie zumin-dest indirekt auch zu einer Verbesserungder fremdsprachlichen Kompetenz beitra-gen.

Bislang existieren erst sehr wenige solcherinterkulturellen Planspiele, aber es ist zu er-warten, dass sie sich in den kommendenJahren sukzessive durchsetzen dürften. Of-fenkundig ist auf jeden Fall, dass sie demdynamischen und ganzheitlichen-integra-tiven Charakter dessen, was wir als „inter-kulturelle Handlungsfähigkeit“ bezeichnethaben, am nächsten kommen.

Der in jüngster Zeit verschiedentlich vor-geschlagene Methodenmix führt zwar auchdazu, dass innerhalb eines einzelnen Trai-nings kognitive und verhaltensbezogene As-pekte kombiniert werden. In der Praxis er-folgt diese Kombination jedoch zumeist imSinne eines vormittags-/nachmittags-Sche-mas, so dass letztlich doch nur additiv undnicht wie in interkulturellen Planspielen inte-grativ gelernt wird.

98Märkte:

Asien

Ost-europa

USA

West-europa

Joint-VentureUnternehmen

E/F

UnternehmenA

UnternehmenC

UnternehmenB

UnternehmenD

mögliche Kooperationen(zwischen maximal 2 Unternehmen)

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99Positiv: Unter der Voraussetzung, dass die Trai-nings multikulturell besetzt sind, können authenti-sche interkulturelle Erfahrungen vermittelt und – beiPlanspielen – in die tatsächlichen Handlungskon-texte der Teilnehmer integriert werden.

Negativ: Die Konzeption und Durchführung inter-kultureller Planspiele ist aufwendig und zeitintensi-ver als dies bei punktuell einsetzbaren Trainings-modulen der Fall ist.

Abzuwarten bleibt, inwieweit künftig auchE-Learning als geeignetes Instrument inter-kultureller Kompetenzentwicklung eingesetztwerden kann. Der Vorteil gegenüberPräsenztrainings besteht darin, dass dasInternet in seiner Eigenschaft als „interkultu-relles Medium“ fruchtbar gemacht werdenkann, um Interkulturalität in einer in jederHinsicht authentischen Form zu erzeugen.Gut geeignet für die Konstruktion solcherauthentischer interkultureller Handlungs-szenarien sind E-Planspiele, die mit Un-terstützung synchroner Werkzeuge wie vir-tual classroom, voice over IP, Telefon, OlineMeeting oder Witheboards von mehrerenTeilnehmern oder Teilnehmergruppen zurgleichen Zeit an verschiedenen Orten derWelt gespielt werden. Die Interaktion viaInternet ist hier bereits interkulturell und stelltdamit einen wesentlichen Bestandteil desLernprozesses dar, der gegenüber dembeschriebenen Präsenz-Planspiel „InterAct“beispielsweise u. a. durch die Anordnungcharakterisiert ist, über Zeitzonen hinweginteragieren zu müssen.

Trainings dieser Art dürfen insbesondereden Ansprüchen multiinternational agieren-der Unternehmen und Institutionen entge-genkommen. Aufgrund ihrer Komplexitätstellen die allerdings sehr hohe Anforderun-gen an die Trainer und setzen zudem eine

sehr gute Medienausstattung von Anbieternund Abnehmern voraus.

Mit geringem Aufwand, dafür aber auchnur in eingeschränkter Form als „ganzheit-lich“ zu bezeichnen arbeiten vorwiegendasynchron konzipierte interkulturelle E-Lear-ning-Angebote. Interkulturalität kann auchhier – z. B. im Rahmen von Lernpartner-schaften – über eMails, Foren, News-groups, Weblogs, e-Tandems etc. erzeugtwerden – allerdings zeitlich versetzt, wo-mit natürlich auch besondere Anforderun-gen virtuellen interkulturellen Handelns weg-fallen, wie etwa die Einbeziehung vonAspekten der Zeitverschiebung. Nahezu un-verzichtbar ist der Einsatz von Lernplatt-formen: sie bieten nicht nur die Grundla-ge, um interkulturelle Gruppenbeziehungenkonstituieren zu können, sondern ermög-lichen gleichzeitig auch die Steuerungvon Lernprozessen z.B. durch Teletutoren.Häufig werden solche Angebote im Rah-men von Blended-Learning-Konzepten durchPlanspiele, Blockseminare etc. ergänzt. EinBeispiel hierfür sind zahlreiche vom Hoch-schulverbund „Interkulturelles Lernen imNetz“ angebotenen Kurse (vgl. www.inter-kulturelles-portal.de).

5.3.1.3Lerneinheiten erstellen: Die didaktische Spirale

Sammlungen mit kulturspezifischen oderinterkulturellen Übungen – sei es in Printformoder im Internet – sind in den seltensten Fäl-len didaktisch aufbereitet. Oft fehlen die An-gaben zum Design der Übung (Zielgruppe,Lernziel, Dauer etc.); noch häufiger fehlenjedoch Hinweise darauf, wie eine Übungim Trainingskontext eingeführt und wie einmöglichst hoher Lerneffekt erzielt werdenkann.

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100Ein Grund für die Beschränkung auf den

inhaltlichen Kern von Übungen besteht da-rin, dass sie auf diese Weise in unterschied-lichsten Kontexten einsetzbar sind, währendjede Didaktisierung auch zu einer gewissenFestlegung des Kontextes führt, in dem dieÜbung eingesetzt wird. Dies dokumentiertsich letztlich auch in dem Unterschied zwi-schen den zahlreichen steinbruchartig-varia-blen Materialiensammlungen und den eherraren didaktisch ausgearbeiteten Trainings-kompendien.

So legitim bei Publikationen eine Be-schränkung auf den Materialkern dement-sprechend auch sein mag, um potenziellviele Zielgruppen anzusprechen: für die kon-krete Trainingspraxis ist es unerlässlich eineÜbung kontextuell so einzubinden, dass sie• eine klar definierte Funktion innerhalb

der übergreifenden Lernzielformulierungwahrnimmt (Nie Aufgaben um ihrer selbstwillen durchführen oder „weil sie immerdurchgeführt werden“!)

• an die Vorkenntnisse der Teilnehmer an-knüpft – nur so gelingt Lernmotivation

• für die Teilnehmer einen erkennbarenMehrwert an Wissen und/oder Erfah-rungen enthält – sonst wird leicht Lange-weile empfunden

• ausdrücklich nicht nur an vorhergehendeLernschritte anknüpft, sondern auch nach-folgende Lernschritte bzw. Anwendungs-szenarien vorbereitet.Gut visualisierbar ist dieser Gesamtzusam-

menhang im Bild einer Raute. Die Raute istgleichzusetzen mit einer beliebig umfang-reichen Lerneinheit, die ihrerseits an voran-gegangene Lerneinheiten anschließt unddarüber hinaus weitere Lernprozesse initi-iert. Jede Lerneinheit bzw. „Raute“ solltedabei – abgestimmt auf konkrete Zielgrup-pen- und Lernzielvorgaben – aufeinanderaufbauende Lehr-/Lernstufen umfassen:

Beispiele für Übungsformen, die auf deneinzelnen Stufen eingesetzt werden können,entsprechen vielfach dem, was auch ausden Fachdidaktiken bekannt ist:

Wie eine einzelne Übung im Sinne desRautenmodells didaktisch strukturierbar ist,so gilt gleiches auch für eine komplexeFallstudie, für eine Trainingssequenz mitmehreren Übungen und nicht zuletzt für eingesamtes Training: Bildlich gesprochenwerden hier viele „kleine“ Rauten innerhalbeiner übergreifenden Raute miteinander ver-kettet. Da die einzelnen Rauten i.S. vonLernsequenzen aufeinander aufbauen, voll-zieht sich der Lernprozess insgesamt i.S.einer fortschreitenden Spiralbewegung. ImRahmen einer solchen „didaktischen Spi-rale“, werden zahlreiche „kleine Rauten"durchlaufen und gleichzeitig miteinander zueinem progressiven Lernprozess verknüpft.

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101Stufe Lehrprozess: Aufgabe Realisiert durch Übungs- Lernprozess: Intendierte

des Trainers formen wie z.B.: Wirkung auf Seiten des Trainees

1 an Vorkenntnisse anknüpfen; * Brainstorming, offene Fragen Reaktivierung des Vorwissensauf das Thema hinleiten * Mind Map erstellen der Vorerfahrungen zum

* Quiz Themenbereich; Einstieg * Assoziogramm in das Thema finden

2 Input neuer Wissensbestän- * Materialsammlung via zielgerichtete Erweiterung de/Erfahrungen, die für Internetrecherche des Vorwissens/der die Themenbearbeitung * Filme, Kurzvortrag Vorerfahrungennotwendig sind * Kontexterklärungen

(z.B. zu Spielen)* Spiele/Simulationen

durchführen

3 Bearbeitung einer Kernübung * problemorientierte Gruppen- „Verstehen“ der zum Themenfocus; diskussion Problemstellung/des Themas Realisierung der kognitiven * Videoanalyse und ggf. der Anforderung des Lernziels * Fallanalyse Problemlösungswege

* Auswertung eines Rollen-spiels o.ä

4 Umsetzung/Anwendung der * multiple-choice-Übungen mit erworbenen Kenntnissenerworbenen Kenntnisse/ Kritische Zusammenfassung und Fähigkeiten unter Fähigkeiten in vergleichbaren von Sachverhalten/ Anleitung experimentieren Zusammenhängen wie denen Ergebnissen können der Kernübung; Wissensüber- * Lösungen zu vorgegebenemprüfung Problem erarbeiten

* Anwendung des Gelernten in einem Planspiel

5 Transfer der erworbenen * eigenes Fallbeispiel finden/ erworbene Kenntnisse/ Kenntnisse/Fähigkeiten auf formulieren Fähigkeiten in anderen andere Zusammenhänge als * Projektauftrag selbstständig Zusammenhängen als in denauf die gelernten durchführen gelernten selbstständig

anwenden können

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1025.3.2.Interkulturelle Kompetenzentwicklung on the job

Vor dem Hintergrund, dass mit zuneh-mender Internationalisierungsgeschwindig-keit auch Personalentscheidungen immerschneller getroffen werden müssen, bleibthäufig zu wenig Zeit, um interkulturelle Wei-terbildungsmaßnahmen im Sinne intensi-ver off-the-job-Trainings durchzuführen. Hin-zu kommt, dass sich der Anteil längerfristigentsandter Mitarbeiter (mit Auslandswohn-sitz) seit der Jahrtausendwende deutlichreduziert hat: Bei den 50 größten deut-schen Unternehmen beträgt er gegenwärtignur noch 0,5% bis maximal 1%, so dassinternationale Kontakte in deutlich größe-rem Ausmaß als früher „ambulant“ stattfin-den – sei es virtuell oder im Rahmen vonKurzzeitentsendungen. Wesentliche Ursa-chen liegen im steigenden Anteil von Di-rektinvestitionen, in der raschen Entwicklungvon Transport- und Kommunikationstechno-logien sowie in der zunehmenden Bedeu-tung virtueller Kooperationen. Dies bestätigtdas Ergebnis einer aktuellen Umfrage der„WirtschaftsWoche“ unter 193 börsenno-tierten deutschen Unternehmen. Demzufol-ge gilt z. B. für DAX-Unternehmen, dass siedurchschnittlich nur noch 26% ihres Umsat-zes in Deutschland erwirtschaften und ledig-lich 47% ihrer16 Mitarbeiter in Deutsch-land beschäftigen. Die Auslandsbeschäftig-ten stammen überwiegend aus dem Ziel-oder einem Drittland.

Im Zusammenhang mit dieser Entwick-lung lässt sich eine insgesamt wachsendeAbneigung von Nachwuchsführungskräftengegenüber langfristigen Auslandseinsätzenfeststellen. Bezeichnend ist der bildungsbe-dingt zunehmende Anteil von dual-career-Partnerschaften, die eine Rolle als „mitaus-reisende Begleitperson“ inzwischen vielfachals inadäquat erscheinen lassen. Nur fol-gerichtig ist daher die stark zunehmendeZahl der Pendler und Vielflieger. Aus diesemGrund zeichnet sich zumindest im Wirt-schaftsbereich derzeit eine Schwerpunktver-schiebung von Trainings off the job zu Per-sonalentwicklungsmaßnahmen on the jobab. Damit verbunden ist eine stärkere Ak-zentuierung von interkulturellem Coachingund interkultureller Mediation. Die Notwen-digkeit interkultureller Trainings off-the-jobentfällt damit freilich nicht. Vor Entsendun-gen oder als Personalentwicklungsmaßnah-men im Gefolge interkultureller Assessment-Center werden derartige Trainings in allihren Variationen auch künftig Berechtigungbesitzen. In diesem Sinne sind on-the-job-Maßnahmen wie interkulturelles Coachingnicht als Ersatz, sondern als Ergänzung unddamit als Mehrwert zu verstehen.

Die Aufgaben eines Coaches bzw. einesMediators bestehen darin, „vor Ort“ inter-nationale Teams zu begleiten und ihnen ent-weder Hilfestellungen hinsichtlich der Op-timierung ihrer gemeinsamen Tätigkeit zugeben bzw. in Konfliktfällen zu vermitteln.Der Coach fungiert hierbei eher als Super-visor, der Mediator als Konfliktmanager:

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5.3.2.1 Interkulturelles Coaching

„Coaching“ (von coach: „Kutsche“) wurde1848 in England erstmals als Bezeichnungeines privaten Tutors für Studenten ge-braucht. 1885 erfolgte i.S. der „individuel-len Betreuung“ eine Übertragung auf denBereich des Spitzensports. Heute wird„coaching“ im Englischen allgemein imSinne des Unterweisens, Anleitens und Be-ratens verwendet. Im Deutschen bezeichnetman mit „Coaching“ entweder einen ent-wicklungsorientierten Führungsstil oder abereher allgemein die individuelle Beratungvon Teammitgliedern und Projektverantwort-lichen.

Interkulturelles Coaching bezieht sich dem-entsprechend sowohl auf die individuel-le Beratung/Betreuung von Einzelpersonen,die in interkulturelle Prozesse involviert sindals auch auf die interkulturelle Beratung,Begleitung und Entwicklung multikulturellerTeams. Im Gegensatz zu interkulturellemTraining ist es primär auf on-the-job-Prozessekonzentriert. Die Dynamik derartiger Prozes-se gestaltet die Konzeption eines Coa-chings erheblich schwieriger als es bei ei-

nem in seinem Verlauf weitgehend abseh-baren und damit planbaren Training derFall ist.

Typologien existieren für ein Coachingebenso wenig wie der Schutz einer Labor-situation Der Coach ist vielmehr daraufangewiesen, Handlungen z.B. eines inter-nationalen Teams in ihrer spontanen undrealen Dynamik zu beobachten und zu ana-lysieren, um auf dieser Grundlage mit denTeammitgliedern Zielvereinbarungen für einkünftig ggf. effizienteres Verhalten zu ent-wickeln.

Viel stärker noch als es bei einem interkul-turellen Trainer der Fall ist, gilt für einenCoach daher, dass er – von der eigeneninterkulturellen Kompetenz abgesehen –neutral und sachorientiert arbeiten muss unddass er selbst mögliche Wege einer Opti-mierung des interkulturellen Handlungskon-textes lediglich öffnen, nicht aber vorgebendarf. Er sollte im besten Sinne des Wortesals Moderator fungieren, nicht aber eigeneWertungen vornehmen. Kurz: seine Aufga-be besteht darin, Perspektiven zu öffnen,

Maßnahmen off-the-job Maßnahmen on-the-job

interkulturelle Trainings interkulturelles Coaching(als konventionelle kognitive und sensitive Trainings); (Betreuung und Supervision multikultureller Teams

mit dem Ziel, eigenes kulturspezifischesinterkulturelle Planspiele Handeln bewusst zu machen, zu thematisieren(Berufsfeldbezogene Planspiele, in denen und Synergiepotenziale als Zielvorgaben interkulturelle on-the-job-Situationen simuliert werden) zu formulieren)

interkulturelles Consulting interkulturelle Mediation(interkulturelle Beratung des Personalmanagements (Mittlertätigkeit bei offenen und verdecktenbei Fragen der Besetzung internationaler Teams Konflikten in multikulturellen Teams)sowie bei Entsendungs- und Reintegrationsprozessen)

Interkulturelles Training, Consulting, Mediation und Coaching im Fadenkreuz von on-the-job- und off-the-job-Tätigkeit

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104die dann von den Teammitgliedern bzw.den Coachees individuell und außerhalbdes Teams formuliert werden müssen.

Zu den größten Schwierigkeiten, mit de-nen ein Coach konfrontiert wird, zähltvermutlich die Akzeptanzfrage seitens derCoachees. Gerade weil es sich um Prozes-se on-the-job handelt, die er als Supervisorbegleiten muss, wird der Coach auch beibestmöglicher Integration in den Handlungs-kontext des Teams immer ein Außenstehen-der und in diesem Sinne ein „Fremdkörper“bleiben. Sofern die Handlungsnormalitätdes Teams dadurch nicht längerfristig ge-stört wird, muss man diese Außenseiterrollehinnehmen. Wichtig ist allerdings, dass dasCoaching selbst von dem Team gewolltist – ansonsten würden sich zumindest beieinzelnen Coachees Handlungshemmun-gen einstellen, die das Team nicht mehr inder Normalität seines beruflichen Alltags-handelns zeigen. Ein Coaching wäre indiesen Fällen wenig sinnvoll, weil die on-the-job-Situation sich nicht mehr als authen-tisch erweisen würde.

Methoden interkulturellen Coachings sindin der Forschung kaum systematisch erar-beitet worden. Der nachstehende Vorschlagfür einen in fünf Phasen gegliederten Ablaufeines Teamchoachings ist daher auch eherals Beispiel denn als Orientierungsrichtliniezu verstehen.

(a) Abstimmungsphase

Die Abstimmungsphase findet vor demeigentlichen Team-Coaching statt und dientin erster Linie der Orientierung des Coachesin Bezug auf Motive und Erwartungen derAuftraggeber. Sie haben zumeist die Be-obachtung gemacht oder sind darauf hin-gewiesen worden, dass bestimmte interna-tionale Teams innerhalb des Unternehmensbzw. der Institution nicht frei von Reibungs-

verlusten arbeiten. Als Ursachen werden in-terkulturelle Missverständnisse bzw. kultur-bedingte Handlungsunterschiede vermutet;eine klare Ursachenanalyse ist jedoch nichtmöglich. Der in solchen Fällen zumeist ex-tern arbeitende Coach wird dementspre-chend beauftragt, die Ursachen der gestör-ten Gruppendynamik herauszufinden, siemit den Teammitgliedern zu thematisierenund gemeinsam mit ihnen eine Optimierungder Teamarbeit in die Wege zu leiten.

Entscheidend für den Erfolg des Coa-chings ist in dieser Phase, dass sich derCoach ein detailliertes Bild vom Arbeits-und Aufgabenumfeld des Teams verschaf-fen kann, dass er dem Team vorgestellt wirdund über erste Gespräche einen Einblick inStrukturen der alltäglichen und „normalen“Beziehungsdynamik des Teams erhält.

Hierfür sind mindestens zwei Arbeitsta-ge zu veranschlagen, in denen der Coachdas Team als Lernender begleitet und indenen er von den Teammitgliedern mit de-ren jeweiligen Aufgabenstellungen vertrautgemacht wird. Dass der Coach mit denBesonderheiten der Herkunftskulturen derTeammitglieder vertraut ist – und zwar so-wohl in fundiertem kulturhistorischem Sinneals auch aus Erfahrung – ist eine unabding-bare Voraussetzung der Befähigung zur Co-aching-Tätigkeit. Je nach Teamzusammen-setzung empfiehlt sich dringend der Einsatzmehrerer native Co-Coaches.

(b) Aufzeichnungsphase

Sobald der Coach in seiner Funktion akzep-tiert und zumindest partiell in das berufsbe-zogene Alltagshandeln des Teams integriertist und sich ein erstes Bild über die Be-ziehungsdynamik des Teams verschafft hat,sollte er mit dem Team einen oder bessermehrere Zeiträume vereinbaren, in denener Videoaufzeichnungen von Team-Interak-

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tionen durchführen kann. Dies erleichertnicht nur die eigene Vorbereitung auf daseigentliche Coaching, sondern bietet in ge-wisser Weise auch einen neutralen „Be-weis“ für problematische Interaktionssequen-zen, die eventuell von dem Coach gar nichtwahrgenommen oder von den betroffenenTeammitgliedern abgestritten würden.

Wichtig für die Planungsarbeit desCoachs sind Angaben zu den vorgesehe-nen inhaltlichen Abläufen des jeweiligenBeobachtungszeitraums (Was werden dieTeammitglieder voraussichtlich in dem fest-gelegten Zeitraum wo tun; wie lauten dieinhaltlichen Zielvorgaben für die einzelnenTeammitglieder bzw. für das gesamteTeam?).

(c) Pre-Analyse

Eine erste Analyse der Videoaufzeichnun-gen aus (2) sollte ebenso wie die Aus-wertung der weiteren Team-Beobachtungenohne Beteiligung der Teammitglieder statt-finden – vor allem dann, wenn die Coachsnoch nicht über umfangreiche Analyseerfah-rungen verfügen. Der/die Coachs werdenzunächst Hypothesen hinsichtlich der Be-sonderheiten der Team-Interaktionen bilden.Dass sie auch bei einem noch so großenBemühen um Neutralität ihre eigene kultu-relle Bindung nicht leugnen können, kannnicht genügend bewusst gemacht werden.

Daher ist es auch wichtig, Analyseinstru-mente zu verwenden, die nicht intuitiv ge-prägt sind. Hierzu zählen z.B.• Aufzeichnung von Interaktionsnetzen

(Wer wendet sich wie oft mit welcherIntention an wen?)

• Wo liegen kulturspezifische Handlungs-bzw. Kommunikationsformen der Mitglie-der vor; wie äußert sich dies (z.B. verbal,paraverbal, nonverbal etc.)

• Wer gibt auf welche Weise und mit wel-cher kulturellen Prägung Regeln der Inter-aktion vor, die für die „Normalität“ desTeamhandelns entscheidend sind?

• Analyse der Stärken und Schwächen dereinzelnen Teammitglieder in Bezug auf in-dividuelles, soziales, fachliches und stra-tegisches interkulturelles Handeln.

• Sofern Vermutungen bestehen, dass eine„Normalität“ der Interkultur in bestimmtenPhasen des Interaktionsverlaufs nicht her-gestellt oder verletzt wurde, bietet sich fürdie genaue Problembestimmung eineDiskursanalyse dieser Phasen an. Glei-ches gilt in Bezug auf etwaige „criticalincidents“.Der umfangreichere Teil der Videoauf-

zeichnungen wird für die Dokumentationinterkulturell aufschlussreicher Teamprozessekaum verwertbar sein. Dozenten sollten beider nachfolgenden gemeinsamen Analy-se mit den Teammitgliedern entsprechend„langweilige“ Mitschnitte aussparen undsich auf die wirklich aussagekräftigen Pha-sen konzentrieren. Wenn möglich, bietetsich diesbezüglich ein Zusammenschnitt derAufzeichnungen an.

(d) Gemeinsame Analysephase

In der gemeinsamen Analysephase mit denMitgliedern des Teams sollte der Coachstrikt auf die Einhaltung seiner so weit wiemöglich neutralen Moderatorfunktion ach-ten. Lösungen müssen vom Team selbst erar-beitet werden. Jedwede Lösungsvorgabedurch den Coach gefährdet den Erfolg derMaßnahme. Daher lässt der Coach ambesten schon vor der Präsentation derVideoaufzeichnungen Besonderheiten desInteraktionsverlaufs sowie gruppenatmos-phärische Merkmale durch die Teammit-glieder beschreiben. Nicht der Coach, son-

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106dern die Teammitglieder formulieren, wiesie die Beziehungsebene und deren Dy-namik beschreiben bzw. erklären würden.

In gleicher Weise erfolgt die Videoana-lyse durch das Team selbst; der Coach soll-te z.B. mit Hilfe des Einsatzes von Frage-strategien dem Diskussionsverlauf lediglichOrientierungsmarken geben. Ein Ziel kannes z.B. sein, dass die Teammitglieder ihreigenes Verhalten hinsichtlich der jeweili-gen Kulturspezifik erklären oder zumindestmetakommunikativ thematisieren, was inbestimmten Phasen der Interaktion ihrerMeinung nach passiert ist. Dabei kann esdurchaus sein, dass im Vergleich zur Sichtdes Coachs in der Pre-Phase andere As-pekte zur Sprache kommen. Sofern dieseplausibel sind, müssen sie vom Coach auf-gegriffen und als Bausteine des gesamtenErklärungszusammenhangs erneut zur Dis-kussion gestellt werden.

Die gemeinsame Analysephase ist idea-lerweise dann abgeschlossen, wenn dieunter (3) genannten Punkte von den Team-mitgliedern selbstständig thematisiert unddiskutiert worden sind. Dass dies in derRealität nie in dem Umfang geschehenwird, wie es in der Pre-Analysephase derFall ist, liegt an der Bereitschaft der einzel-nen Teammitglieder, sich zu öffnen und z.B.über die eigenen Stärken und Schwächenzu sprechen. Letzteres hat individuelle Ur-sachen, es kann aber mit der kulturbezo-genen Zusammensetzung des Teams oderder Dauer der Zusammenarbeit seiner Mit-glieder zusammenhängen. In diesem Zu-sammenhang versteht sich von selbst, dassdas Steuerungspotenzial des Coachs dortzum Tragen kommen muss, wo die Dis-kussion z.B. zum Gesichtsverlust einzelnerTeam-Mitglieder führen würde.

(e) Phase der gemeinsamen Zielvereinbarung

Aufbauend auf den gemeinsam erarbei-teten Befunden zur Interaktionsspezifik desTeams geht es in der Abschlussphase desCoachings darum, mit den Teammitgliederndie Formulierung gemeinsamer Zielverein-barungen zu moderieren, die künftig hand-lungsleitend sein sollen. Dies kann – je nachAnalyseergebnis – eher die Formulierungvon Regeln zur Konfliktprävention betreffen,es kann aber auch z.B. stärker auf eineBennennung von Synergiezielen und derenRealisierungsschritte hinauslaufen. Denkbarist auch, dass der Coach gemeinsam mitden Coachees Empfehlungen für spezielleund weiterführende Personalentwicklungs-maßnahmen (z. B. interkulturelle Trainings)formuliert.

Sinnvoll ist es in jedem Fall, die vonden Teammitgliedern erarbeiteten Ergebnis-se auf Moderationskarten zu notieren. DieKarten werden gut sichtbar an der Wandeines Raumes angeordnet, in dem dasTeam überwiegend arbeitet oder sich zuBesprechungen trifft.

Dem Team wird abschließend die Auf-gabe gestellt, die Zielvereinbarungen undderen Realisierungsgrad in regelmäßigenAbständen zu Beginn von Arbeitssitzungeno.ä. zu thematisieren.

Andere Möglichkeiten einer kontinuier-lichen Weiterführung von Präsenz-Coa-chings werden sich mit der Entwicklungvon „E-Coachings“ eröffnen: Ergänzend zuinterkulturellen E-Learning-Programmen ar-beiten E-Coachings auf der Grundlagekonventioneller Lernplattformen und VirtualClassrooms. Sie ermöglichen den Mei-nungs- und Erfahrungsaustausch mit demCoach auch vor Ort in „brenzligen“ Situa-tionen der Entsendung oder der interkulturel-len Teamarbeit. Darüber hinaus gestatten

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107die Lernplattformen mittels Lernmodulen undE-Bibliotheken einen vom Coach unabhän-gigen Zugriff auf Informationen über dasZielland oder auf Wissenswertes zu Fragender interkulturellen Zusammenarbeit.

5.3.2.2 Interkulturelle Mediation

Mediationsverfahren sind vor allem bekanntaus dem Bereich der Rechtspflege, wo esdarum geht, in Konflikten und Streitsitua-tionen zu „vermitteln“ und außergerichtlicheLösungen herbeizuführen.

Interkulturelle Mediation ist als eigenstän-diger Aufgabenbereich noch relativ neu,obwohl damit nur ein Spezialfall derKonfliktvermittlung bezeichnet ist, nämlichderjenige, der sich auf Beteiligte unter-schiedlicher kultureller Herkunft bezieht.Derartige Konflikte hat es freilich immerschon gegeben, nur dass man sich bei-spielsweise in der Rechtspflege stets in

erster Linie von „Fakten“ und weniger vonkulturbedingten Handlungsmotivationen hatleiten lassen.

Dies ist in den letzten Jahren verstärkt imRahmen der Ausländerpädagogik gesche-hen, wo auch teilweise sehr innovative undpraxistaugliche Konzepte entwickelt wordensind. Für den Unternehmensbereich liegenbislang eher allgemeiner gehaltene Me-diationshandbücher vor, die interkulturelleFragestellungen noch weitgehend unberück-sichtigt lassen (z.B. Altmann u.a. 1999).

Der wesentliche Unterschied zwischen in-terkulturellem Coaching und interkulturellerMediation besteht vor allem in dem konkre-ten Interaktionsgefüge des zu betreuendenTeams: Während ein Coaching sich in derRegel nicht mit offenen Konflikten beschäf-tigt, bilden diese für Mediationstätigkeitenden Ausgangspunkt. Es geht darum, Konflik-te in ihren ggf. kulturbedingten Ursachen zuerkennen und zwischen den Konfliktpartei-en zu vermitteln.

Positionierung des interkulturellen Mediators/Coachs in on-the-job-Kontexten

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108Als Prämisse gilt gerade für die Media-

tion, dass „Lösungen“ vom Mediator nichtvorgegeben werden dürfen. Dies muss imTeam selbst entwickelt werden – der Me-diator kann hierzu nur Anregungen undInitiativen geben; vor allem besteht seineAufgabe aber darin, dafür Sorge zu tra-gen, dass der Konflikt von den Beteiligtenthematisiert und ggf. hinsichtlich seiner kul-turellen Ursachen erklärt wird: „Die Fragebei einer interkulturellen Mediation ist alsonicht, wie verhindert werden kann, dasssich die Konfliktparteien über unterschied-liche Werte auseinandersetzen, sonderndie Frage lautet hier, wie diese Ausei-nandersetzung in den Prozess integriert wer-den kann“17.

Ähnlich wie beim interkulturellen Coachingstehen auch bei der interkulturellen Media-tion Zielvereinbarungen am Abschluss desBetreuungsprozesses. Unterschiede, die et-wa unter Bezugnahme auf die Feststellungkulturbedingter Handlungsvoraussetzungenmit den Konfliktparteien erarbeitet wor-den sind, dürfen in den Zielvereinbarungennicht verschwiegen werden. Im Sinne deroben beschriebenen neueren Tendenzender interkulturellen Theoriebildung würdendie Beteiligten in diesem Zusammenhangnicht einen Konsens um jeden Preis anstre-ben, sondern z.B. dafür plädieren, dassdie Differenzen bewusst gehalten und alsspezifische Eigenarten des jeweils anderenakzeptiert werden.

Zeichnet sich ab, dass diese Differenzensich gegenseitig ausschließen und auch län-gerfristig nicht in synergetisches Handelnumgewandelt werden können, kann eineTrennung der Konfliktparteien empfohlenwerden.

5.4Thesen zum interkulturellen Lernenin der Schule

Interkulturelles Lernen ist bislang eine Do-mäne des tertiären Bildungsbereiches. Dieswird sich vor dem Hintergrund der Inten-sivierung von Angeboten zum lebensbeglei-tenden Lernen vermutlich auch in nächsterZukunft nicht ändern. Andererseits ist jedochvor dem Hintergrund der immer dringlicherwerdenden Migrations- und Globalisierungs-probleme offenkundig, dass interkulturellesLernen nicht auf autodidaktischen Schienenverlaufen darf.

Benötigt werden folglich qualifizierteAus- und Weiterbildner, die gelernt haben,mit Problemen wie „Fremdheit“, „Ausländer-feindlichkeit“ etc. umzugehen.

Über punktuelle Fort- und Weiterbildungs-programme für Pädagogen, Entwicklungs-helfer und Führungs- und Nachwuchskräf-te der Wirtschaft hinaus bestehen umfassen-dere Ausbildungsangebote in Deutschlanderst seit den späten achtziger bzw. denfrühen neunziger Jahren. Entsprechende Im-pulse gingen von universitären Fächer-gründungen wie „Interkultureller Pädago-gik“, „Interkultureller Kommunikationswissen-schaft“, „Interkultureller Psychologie“, „Inter-kultureller Wirtschaftskommunikation“ usw.aus. Auf diese Weise konnten sich Wissen-schafts-disziplinen etablieren, die inzwi-schen vielfach eigenständige Ausbildungs-gänge entwickelt und zur Profilierung neuerBerufsbilder in der internationalen Zusam-menarbeit beigetragen haben. Die Leh-rerausbildung hat in den genannten Stu-dienangeboten bislang unmittelbar keineBerücksichtigung gefunden, da es sich hier-bei nicht um Lehramts- sondern um Magis-ter- und Diplomstudiengänge handelt. Schritt-weise Änderungen könnte die Reform der

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109Studiengänge vor dem Hintergrund der Bo-logna-Vereinbarung bewirken.

In den von der Kultusministerkonferenzausgesprochenen „Empfehlungen zur Inter-kulturellen Bildung und Erziehung in derSchule“18 ist die Lehrerausbildung in einemeigenständigen Lehramtsfach – zu Recht,wie wir sehen werden – nicht vorgesehen.Gefordert wird vielmehr die „Einbindungdes interkulturellen Aspekts in die zweitePhase der Lehrerausbildung und in die Leh-rerfortbildung, u.a. durch eine Verstärkungschulnaher und schulinterner Fortbildung.“19

Wie eine solche Einbindung organisato-risch und inhaltlich erfolgen kann, ist bis-lang allerdings noch nicht hinreichend ge-klärt.

Aus gutem Grund heißt es in der zitiertenEmpfehlung der Kultusministerkonferenz un-ter Bezugnahme auf die Umsetzung interkul-tureller Lernprogramme: „Der interkulturelleAspekt ist dabei nicht in einzelnen Themen,Fächern oder Projekten zu isolieren, sonderneine Querschnittsaufgabe in der Schule.“20

Wie interkulturelles Lernen in der Schuleim Sinne einer solchen „Querschnittsaufga-be“ realisiert werden kann und welche Kon-sequenzen für den Bereich der Lehreraus-und -fortbildung denkbar sind, soll im Fol-genden kurz skizziert werden.

Da fertige oder erprobte Konzepte nochnicht existieren, erfolgt die Darstellung inpointierter thesenartiger Form, um so auchzum Nachdenken und Diskutieren anzu-regen:

1. „Interkulturelle Kompetenz“ ist keinSchulfach

Die zitierte Empfehlung der Kultusminister-konferenz, interkulturelles Lernen als „Quer-schnittsaufgabe“ in der Schule zu verstehen,schließt die Einführung von „InterkulturellerKommunikation“ zumindest als Schulfach

aus. Gleiches gilt auch für eine Reduktioninterkultureller Lerninhalte auf ein einzelnes,bereits bestehendes Fach wie etwa denEthikunterricht. Ein wesentlicher Grund fürdie Notwendigkeit der Realisierung fächer-übergreifender Ansätze liegt in der be-schriebenen Uneigenständigkeit interkultu-reller Kompetenz. Denn wie wir gese-hen haben (5.2), bezeichnet interkulturelleKompetenz keine eigene Teilkompetenzoder „Schlüsselqualifikation“ neben indivi-dueller, sozialer, fachlicher und strategi-scher Kompetenz, sondern die Fähigkeit,diese Teilkompetenzen und entsprechendeSchlüsselqualifikationen ganzheitlich auf in-terkulturelle Handlungskontexte zu beziehen.

Wäre interkulturelle Kommunikation hin-gegen ein eigenes Schulfach, würde dieseFähigkeit preisgegeben. Interkulturelles Ler-nen liefe Gefahr, als Bestandteil fachlicherKompetenz mehr oder minder isoliert nebenanderen Fächern stehen und damit sein so-wohl inter- als auch transdisziplinäres Poten-tial verlieren.

2. Jedes Schulfach sollte interkulturelleFragestellungen integrieren und seineigenes inhaltliches Spektrum damiterweitern

Wie jeder schulische Fachunterricht zumin-dest idealiter immer auch individuelle, so-ziale und strategische Kompetenzen fördert,so ist dies in gleicher Weise auch in Hin-blick auf interkulturelle Handlungsfähigkeiterstrebenswert. Für die einzelnen Fächer istdamit ein Perspektivenwechsel verbunden,der auch eine Internationalisierung der Bil-dungsinhalte bewirkt. So kann der Mathe-matikunterricht die Zahlensymbolik als Aus-druck bestimmter Weltsichten behandeln,im Deutschunterricht kann die Rezeptiondeutscher Literatur im Ausland eine entspre-chende Rolle einnehmen, während sich im

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110Fremdsprachenunterricht über alltagskultu-relle und kulturhistorische Aspekte hinausbeispielsweise Fremdbilder in Bezug aufDeutschland oder spezifische interkulturelleErfahrungen mit Deutschen thematisierenließen.

Die Aufzählung ist um jedes beliebigeFach erweiterbar. Erste Zugänge zu ent-sprechenden interkulturellen Fachdidaktikensind an der Wende zum neuen Jahrtausenderöffnet worden21. Dies systematisch weiter-zuführen, wird zu den wichtigsten curricula-ren Aufgaben der kommenden Jahre zählen.

3. Eine effektive Vermittlung interkulturellerHandlungskompetenz in der Schulegelingt langfristig nur unter derVoraussetzung einer Überwindung vonFächergrenzen.

Ein immer wieder vorgebrachter Einwandgegen die Erweiterung des Schulunterrichtsum interkulturelle Lerninhalte besteht in demHinweis auf die ohnehin rasant anwach-sende Fülle des zu vermittelnden Unterrichts-stoffs. Platz für „noch mehr Inhalte“ sei beimbesten Willen nicht vorhanden.

Der Einwand ist insofern richtig, als der-zeit tatsächlich eine inhaltliche Überfrach-tung der einzelnen Fächer festzustellen ist.Hier liegt allerdings auch eine der wesentli-chen Schwächen des gegenwärtigen Schul-systems, weil viele Synergiepotenziale so-wohl des Lehrens als auch des Lernensaufgrund der mangelnden Kooperation dereinzelnen Fächer verschenkt werden. Einefächerübergreifende Zusammenarbeit wür-de nicht nur dazu führen, dass inhaltlicheDoppelungen vermieden werden. Es würdeauch die Lerneffizienz erhöhen, weil einaus verschiedenen Perspektiven beleuchte-ter Sachverhalt besser verstanden und be-halten wird. Wichtig ist, dass diese multi-und interdisziplinäre Perspektivierung nicht

nur inhaltlich, sondern auch zeitlich koordi-niert ist.

Eine Realisationsmöglichkeit besteht in derfächerübergreifenden Durchführung von Pro-jektunterricht zu bestimmten Themengebie-ten: „Fremdheit“ wäre beispielsweise einsolches Projektthema, das aus unterschied-lichsten Fächerperspektiven beleuchtet wer-den kann, und das gleichzeitig interkulturel-le Lerninhalte einbezieht.

Da die Motivation zur Realisierung fächer-übergreifender Unterrichtsformen in denSchulen derzeit trotz entsprechender Lehr-planvorgaben aus den verschiedenstenGründen nicht sonderlich hoch ist, könnteeine an diese Vermittlungsform gebundeneEinführung interkultureller Lerninhalte viel-leicht auch grundsätzlich die Bereitschafterhöhen, auf anderen Themenfeldern eineKooperation zu suchen. Gleichzeitig wäredamit ein wichtiger Schritt von der zuneh-mend reduktionistischeren Spezialistenaus-bildung hin zu der bildungspolitisch immerstärker geforderten Generalistenausbildungvollzogen.

4. Eine nachhaltige Wirkung interkulturel-len Lernens ist auch in der Schule ohneinterkulturelle Praxis nicht denkbar.

Über die Vermittlung von interkulturellenLerninhalten hinaus muss interkulturellesLehren immer auch Möglichkeiten bereit-stellen, damit interkulturelle Erfahrungengesammelt werden können. Was in West-deutschland durch den teilweise nicht un-erheblichen Ausländeranteil an Schulen oh-nehin als Rahmenbedingung schulischenLernens gegeben ist, muss in den NeuenBundesländern größtenteils auf anderemWeg geschaffen werden. Fest steht in je-dem Fall, dass die Vermittlung interkulturellerKompetenz gerade an Jugendliche nicht al-lein auf theoretischem Weg gelingt. Kultu-

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111relle Unterschiede, Fremdheitssituationenund interkulturelle Aushandlungsprozessemüssen selbst erfahren werden, um damitproduktiv umgehen zu können.

Möglichkeiten, derartige Kontakte herzu-stellen, werden traditionellerweise durchinternationale Schulpartnerschaften gebo-ten. Im Zeitalter der Internet-Kommunikationeröffnen sich allerdings auch ganz neueMöglichkeiten wie beispielsweise inter-national organisierte Themenchats22, dieüberdies den Vorteil einschließen, dassFremdsprachen auch in fachlichen Kon-texten eingesetzt werden müssen, womitnicht zuletzt auch die Akzeptanz des fremd-sprachigen Fachunterrichts erhöht werdenkann.

5. Zum wichtigsten Medium derLehrerfortbildung im Bereich desInterkulturellen Lernens wird künftig dasInternet zählen.

Wie bereits skizziert, ist – sinnvoller Weise –nicht davon auszugehen, dass interkulturellesLernen in naher Zukunft als eigenständigesFach im Rahmen der Lehrerausbildung an-geboten wird. Wahrscheinlicher sind ent-sprechende Schwerpunktsetzungen im Be-reich der Fachdidaktiken, die damit nichtnur eine inhaltliche Neubestimmung, son-dern einen insgesamt deutlichen Innova-tionsschub erfahren dürften. In Lehrerfort-bildungsmaßnahmen sowohl während derzweiten Phase der Lehrerausbildung alsauch während der Berufstätigkeit wird manzwangsläufig sehr selektiv vorgehen undsich auf einige wenige Teilaspekte einesäußert breit gefächerten inhaltlichen Spek-trums beschränken müssen. Um sich dies vorAugen zu führen, braucht man nur daran zudenken, welche Unzahl von Möglichkeitengleichberechtigt zur Auswahl stehen, wennman beispielsweise den konventionellen

Deutsch- oder Geschichtsunterricht um fremd-kulturelle Perspektiven ergänzt. An Kanon-bildungen ist hier kaum mehr zu denken,was erst recht gilt, wenn man sich umfächerübergreifendes Projektarbeiten be-müht. Vor diesem Hintergrund wird dieFähigkeit des Wissensmanagements genauso wichtig sein wie das Wissen selbst: Esgeht vor allem darum, Inhalte zu finden, dieeine hohe Passfähigkeit in Bezug auf das –bei Projektarbeiten sehr flexible – Gesamt-system des Unterrichtsprozesses aufweisen.

Ohne Rückgriffsmöglichkeiten auf entspre-chende Datenbanken oder Internetrecher-chen werden derartige Zielsetzungen kaumzu verwirklichen sein. Hinzu kommt, dassdie interkulturelle Lern- und Kommunika-tionsforschung als relativ junge Wissen-schaften in kurzer Zeit viel weit greifendereEntwicklungen vollziehen als dies bei an-gestammten Wissenschaftsdisziplinen derFall ist. Lehrerfortbildung in diesem Bereichwird daher ohne Computer vermutlich nurschwer in zufrieden stellender Weise reali-siert werden können. Dies bedeutet freilichnicht, dass interkulturelles Lernen auch in derSchule durch Internetlernen ersetzt wird. Ge-rade im Bereich der interkulturellen Erzie-hung spielen Klassen- und Projektunterrichtals Sozialformen eine Rolle, die durch inter-kulturelle Medienkontakte (Emailkontakte,Themenchats etc.) optimal ergänzt werdenkönnen.

6. Interkulturelle Handlungskompetenzist im 21. Jahrhundert eine unerlässlicheVoraussetzung für den Lehrerberuf

Mag diese abschließende These auf denersten Blick und aus der gegenwärtigenSituation heraus auch überzogen klingen,so spricht dennoch vieles dafür, dass sie ineinigen Jahren als selbstverständliche Erfah-rungstatsache gewertet wird. Dies betrifft

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112nicht nur die multikulturelle Lehr- und Lern-situation. Eine mindestens genauso wichtigeRolle dürfte die Veränderung der Legitima-tionsgrundlagen und allgemeinen Zielformu-lierungen des Unterrichts spielen: Es gehtkünftig nicht mehr nur darum, Kinder undJugendliche auf Lebens- und Berufswirklich-keiten im multikulturellen Umfeld „ihrer“ Eth-nie vorzubereiten, sondern darum, sie fürdas erfolgreiche Bewältigen von zuneh-mend interkulturellen Lebenszusammenhän-gen auch außerhalb ihrer eigenen Ethnieauszubilden.

5.5Was heißt „Interkulturelle Kompe-tenz“ (V)? Fünfte Zusammenfassungmit Empfehlungen zur interkulturel-len Kompetenzentwicklung

•Interkulturelle Kompetenz stellt keineneigenständigen Kompetenzbereich dar,

sondern ist im Sinne. von lat. competere:„zusammenbringen“ am besten als Fähig-keit zu verstehen, individuelle, soziale,fachliche und strategische Teilkompetenzenin ihrer bestmöglichen Verknüpfung aufinterkulturelle Handlungskontexte bezie-hen zu können. Interkulturelle Kompetenzist dementsprechend keine Schlüsselquali-fikation, sondern eine Querschnittsaufga-be, deren Gelingen das Zusammenspielverschiedener Schlüsselqualifikationen vo-raussetzt.Sechzehnte Empfehlung: Schlüsselqualifi-kationen, die interkulturelles Handeln posi-tiv beeinflussen, sollten nach Möglichkeitnicht selektiv oder gar einseitig, sondernganzheitlich-integrativ vermittelt werden.Zentrale Schlüsselqualifikationen bzw. Teil-kompetenzen, die es dabei zu berück-sichtigen gilt, sind nachstehend zusam-mengefasst und kurz erläutert:

Ambiguitätstoleranz

Akzeptanzgrenzenerkennen undAkzeptanzspielräumeaushandeln können

Dissensbewusstsein

Empathie

Fähigkeit, das Spannungsverhältnis zwischen unvereinbarenGegensätzen und Mehrdeutigkeiten „aushalten“ zu können.

In interkulturellen Kontexten geht es letztlich immer darum,einen „gemeinsamen Nenner“ als Handlungsgrundlage aus-zuhandeln, der von allen Beteiligten akzeptiert wird. Wich-tig ist es daher, die entsprechenden Akzeptanzgrenzen er-kennen, formulieren und wahren zu können.

Ein voreiliger oder zwanghaft herbeigeführter Konsens wirktlangfristig in der Regel negativ, weil er (kulturelle) Unter-schiede nur verdeckt, aber nicht beseitigt. UnterschiedlichePositionen und Standpunkte bewusst zu halten, ist dement-sprechend wichtig, um eine Akzeptanz aller Beteiligten her-beiführen zu können.

Einfühlungsvermögen in Bezug auf die Befindlichkeiten undDenkweisen der fremdkulturellen Partner.

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113Bereitschaft, Neues zu lernen, Denk- und Verhaltensschematades primären Sozialisationssystems kritisch betrachten kön-nen; Fähigkeit, sich auf ungewohnte/fremde Situationschnell einstellen zu können, Spontanität.

Sprache und Kultur bedingen sich wechselseitig, so dass dieKenntnis der Zielkultursprache auch über den reinen Höf-lichkeitsgestus hinaus unverzichtbar ist, um die „fremde“ Le-benswelt verstehen zu lernen.

Bereitschaft, interkulturelle Situationen als Lernsituationen undnicht als Bedrohung oder notwendiges Übel betrachten. Diessollte verknüpft sein mit einer Neugierde auf Fremdes.

Vermögen, kommunikativ auf andere zuzugehen, Beziehungenaufbauen und Kommunikationsnetzwerke errichten zu können.Dies gilt vor allem dann, wenn Situationen problematischerscheinen und man sich am liebsten zurückziehen würde.

Wissen primär nicht über kulturelle Fakten und „Normen“ alsvielmehr über deren Hintergründe und die Systemzusammen-hänge der eigenen und der fremden Lebenswelt.

Fähigkeit, über Kommunikationsprozesse zu kommunizierenoder m.a.W.: Probleme, die im interkulturellen Handeln auf-treten mit allen Beteiligten früh genug und in angemessenerWeise thematisieren können.

Fähigkeit, kulturelle Unterschiede auch dann bewusst zu hal-ten, wenn oberflächenstrukturell gemeinsame Zielvorstellun-gen verfolgt werden.

Als Gegenteil von Ethnozentrismus: Der Versuch, interkulturel-le Handlungszusammenhänge nicht vor dem Hintergrundprimärer Sozialisationserfahrungen zu interpretieren; Aner-kennen der Eigenständigkeit anderer Kulturen; Bereitschaft,kulturspezifische Wertungen zu relativieren.

Fähigkeit sich neben sich zu stellen, sich in seinem Handelnvergegenständlichen bzw. beobachten zu können.

Flexibilität

Fremdsprachen-kenntnis

InterkulturelleLernbereitschaft

Kommunikations-fähigkeit

Kulturwissen

Metakommunikation

Oberflächen-/undTiefenstrukturen unterscheiden

Polyzentrismus

Rollendistanz

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114Selbstkontrolliertes Verhalten praktizieren; Fähigkeit zu Selbst-organisation und Zeitmanagement ohne dies i.S. einer Erwartungshaltung auf andere Lebensweltzusammenhängezu übertragen.

Nicht an bestehenden Strukturen festhalten, sondern prozess-orientiert handeln, Zufälligkeiten zulassen („kreatives Cha-os“) und die Entstehung von qualitativ Neuem, das weder fürdie eine noch für die andere Kultur „typisch“ ist, befördern.

Unklare und eventuell missverständliche Situationen themati-sieren bzw. offen legen und das eigene Verhalten anderenerklären können.

Überschreitungen von Akzeptanzgrenzen seitens anderer zu-nächst aus deren Perspektive verstehen und erklären suchenohne dabei Selbstaufgabe zu betreiben.

Selbstdisziplin

Synergiebewusstsein

Thematisieren können

•Ganzheitlich-integrative Kompetenzver-mittlung wird durch eine bewusste Didak-tisierung von interkulturellen Lehrmateria-lien unterstützt. In den seltensten Fällenliegen entsprechend ausgearbeitete Lern-einheiten vor. „Steinbruch“- Materialienwie Rollenspiele, Critical Incidents oderFallbeispiele verleiten zu einer unausge-wogenen und oftmals vernetzten Vertei-lung der Lerninhalte. Siebzehnte Empfehlung: Um bestmögli-che und dementsprechend nachhaltigeLernerfolge erzielen zu können, bietet sichder Aufbau von Lerneinheiten nach Pro-zessgesichtspunkten wie z.B. denen derdidaktischen Spirale an. Auf diese Weisewird einerseits der individuellen Lern-kompetenz Rechnung getragen, anderer-seits besteht die Gewähr, dass erworbe-nes Wissen in eigenständigem Handelnerprobt, gefestigt und fortgeschriebenwerden kann.

• Interkulturelle Kompetenz wird je nachden primären Sozialisationskontexten derBeteiligten sehr unterschiedlich realisiert.Es handelt sich folglich nicht um eine uni-

versale, sondern um eine dezidiert kultur-spezifische Kompetenz. Achtzehnte Empfehlung: InterkulturelleKompetenzentwicklung kann nicht instandardisierter Form erfolgen. Daher soll-te genau überprüft werden, in welchenBereichen die eigenen Konzeptionen sinn-voll einsetzbar sind. Wenig Erfolg ver-sprechend wäre es z. B., ein „westliches“Konzept ohne Anpassungen für interkul-turelle Trainings in Zentralasien zu ver-wenden.

•Eine systematische Entwicklung interkultu-reller Kompetenz erfolgt in der Regel ent-weder „off the job“ als Unterricht bzw.Training oder „on the job“ in Form vonCoaching- und Mediationsmaßnahmen. Neunzehnte Empfehlung: Jeder, der alsLehrender mit interkultureller Kompetenz-entwicklung befasst ist, sollte sich der Stär-ken und Schwächen seiner eigenen Per-sönlichkeit bewusst sein. Abgesehen vonder eigenen fortgeschrittenen interkulturel-len Kompetenzentwicklung sind die Anfor-derungen, die an Lehrende einerseits undan Coaches bzw. Mediatoren anderer-

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115seits gestellt werden, deutlich voneinanderunterschieden: Während erstere über dieFähigkeit zur Vermittlung (und damit ingewisser Weise auch zur Selbstin- sze-nierung) verfügen sollten, zeichnen sichletztere durch das Vermögen aus, zuhö-ren, moderieren und sich selbst zurückneh-men zu können.

•Insbesondere in den Neuen Bundes-ländern ist aufgrund des geringen Aus-länderanteils die Motivation eines Enga-gements in der interkulturellen Kompetenz-entwicklung gering. Als Folge hiervonwerden die entsprechend der Bedarfssi-tuation ohnehin spärlichen Aus- und Wei-terbildungsangebote zu wenig genutzt umKontinuität schaffen zu können. Geradedies wäre aber wichtig, um Fremdenfeind-lichkeit und Rechtsextremismus nachhaltigbekämpfen zu können.Zwanzigste Empfehlung: InterkulturelleKompetenzentwicklung ist vor allem imschulischen Bereich sowie in der Lehrer-aus- und Weiterbildung durch eine deutli-

che „Innenorientierung“ in Hinblick aufdie Migrantensituation innerhalb Deutsch-lands geprägt. In Ostdeutschland ist dieRelevanz eines solchen Ansatzes nurschwer vermittelbar. Hier ist der Lehrendegut beraten, zusätzlich über Außenorien-tierungen (z. B. Vorbereitung auf spätereTätigkeiten im Ausland oder in internatio-nalen Teams) zu interkulturellem Lernen zumotivieren.

5.6Zum Nach- und Weiterdenken

5.6.1Aus dem Bericht eines deutschen Entsandten in Brasilien

Der folgende Kurzbericht beschreibt in einerauthentischen Sichtweise, wie ein nach Bra-silien entsandter deutscher Manager seinefamiliäre Situation in der ersten Zeit nach

Der Mann hat über die Firma ähnliche Verhältnisse wie in Deutschland und ist denganzen Tag beschäftigt. Im Allgemeinen ist die Arbeitsbelastung sehr hoch(eher höher als in Deutschland), man hat weite Wege zu bewältigen undeinen chaotischen Verkehr. Das sind aber keine grundsätzlichen Probleme.

Die Kinder gehen in die Schule und haben ein ähnliches Arbeitsumfeld wie inDeutschland. Es gilt im Prinzip das, was auch für den Mann gilt. Kinderfinden sich erfahrungsgemäß sehr schnell mit den Verhältnissen ab undhaben sehr schnell Freunde. Kinder machen erfahrungsgemäß vor derAbreise die größeren Probleme, kommen dann aber schnell gut zurecht.Mit der Sprache des Gastlandes muss man sich bei Kindern auch keineGedanken machen. Nach einer gewissen Anfangszeit muss man eherdafür sorgen, dass die Kinder das Deutsch nicht vergessen und dieFremdsprache nicht als einzige Sprache übernehmen.

Die Frau Die Frauen tragen im Allgemeinen die Hauptbelastung, weil sie wenigersoziale Kontakte haben, weil sie weniger die Sprache des Gastlandessprechen müssen. Frauen haben objektiv wie subjektiv die größtenUmstellungsprobleme.

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116der Umsiedlung empfunden hat. WelcheMaßnahmen würden Sie – vielleicht auchschon im Vorfeld – ergreifen, um dem Ehe-partner den Einstieg in den Auslandsaufent-halt zu erleichtern?

5.6.2Gestaltung interkultureller Lerninhalte für die Schule

Die nachstehende Auflistung von Lerninhalt-en ist dem Thüringer Lehrplan für das FachEthik an 10. Klassen in Gymnasien entnom-

men. In der Lernzielbeschreibung wird dazuaufgefordert, dass sich die Schüler „einzel-ne Themen des Stoffgebietes [...] fächer-übergreifend in Gruppen- und Projektarbeit“erarbeiten sollen23.

Wie könnten konkrete Aufgabenstellun-gen aussehen? Welche Materialgrundlagewürde sich zur Bearbeitung der einzelnenThemenstellungen anbieten? Welche fächer-übergreifenden Projekte könnten begonnenwerden? Bestehen Anknüpfungspunkte zuThemen aus den Philologien, den Naturwis-senschaften und anderen Fachgebieten?

Inhalt Hinweise

Lebenswirklichkeit * Denk- und Handlungsweisen der Menschen aus verschie-in verschiedenen denen Kulturkreisen und ihre traditionellen und religiösenKulturkreisen Hintergründe untersuchen

Multikulturalität, * Durchdringung der Kulturen als immanenten Bestandteil Identität der Menschheitsgeschichte und ihre gegenwärtige und Toleranz Dimension erkennen

* Verschiedene Interpretationen des Begriffs „multikulturell“diskutieren

* Unterschied zwischen Fremdheit und Anderssein und derenBedeutung für die eigene Identität reflektieren

* Multikulturalität als Aufgabe zur Befähigung des Umgangesmit Unterschieden begreifen

* Gefahren durch Negation von Unterschieden bzw. derenÜberwindung erkennen.

* Bezüge zwischen Toleranz und Pluralismus erörtern* Philosophische Ansätze zur Deutung von Toleranz

diskutieren

Sind Menschenrechte * Kontroverse Argumentationen zum Anspruch deruniversalisierbar? Allgemeingültigkeit der Menschenrechte kennen lernen und

werten* Anhand aktueller Erscheinungsformen die Komplexität ethi-

scher Probleme verstehen und nach Wegen für ein Mitei-nander suchen

Thüringer Kultusministerium, Lehrplan für das Gymnasium: Ethik, Klasse 10 („Zusammenleben in einer multikul-turellen Gesellschaft“). Erfurt 1999, S.56f

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1175.6.3Interkulturelle Kompetenzentwicklung vor dem Hintergrund desZuwanderungsgesetzes

Mit der Verabschiedung des Zuwanderungs-gesetzes sind 2004 politische Strukturvorga-ben formuliert worden, die auf Maßnahmenzur interkulturellen Kompetenzentwicklungeinen nicht unerheblichen Einfluss habenwerden. Welches Verständnis von „Multikul-turalität“ wird in § 43 des Zuwanderungs-gesetzes realisiert, wenn Sie an unsereÜberlegungen im 4. Kapitel denken?

Welche Lernziele lassen sich für interkultu-relle Kursangebote formulieren, wenn wirden Vorgaben in § 43 folgen? WelcheMöglichkeiten sehen Sie, um ganzheitlich-integrative Lernmodelle implementieren zukönnen?

Bundesgesetzblatt (BGBl I Nr. 41 vom 5. August 2004)

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1186.Informationspool

Der Informationspool möchte zur Vertiefungder vermittelten Wissensinhalte, zum eige-nen Weiterforschen und zum Kontaktauf-bau mit interkulturell orientierten Institutio-nen anregen.

Die nachstehend aufgeführten Daten undInternetadressen beziehen sich auf denStand von Juni 2006.

6.1.Literaturhinweise

6.1.1Allgemeine Einführungen undübergreifende Darstellungen

Aschenbrenner-Wellmann, Beate; Buchholtz,Volkhard; Pöschel, Thorsten: Interkulturelle Kompetenz in Verwaltung und Wirt-schaft. Theorie und Praxis eines Change-Prozes-ses von der Monokulturellen zur Globalen Kom-petenz. Berlin 2003

Auernheimer, Georg: Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Pro-fessionalität. Opladen 2003

Benseler, F. u.a., Hrsg., Interkulturelle Kompetenz – Grundlagen, Probleme und Konzepte. In: Erwägen, Wissen, Ethik Jg. 14, 2003, H.1,137–228

Bolten, Jürgen/Ehrhardt, Claus, Hrsg., Interkulturelle Kommunikation. Texte und Übungenzum interkulturellen Handeln. Sternenfels 2003

Büttner, Christian u.a. (Hg.: Brücken und Zäune. Interkulturelle Pädagogikzwischen Fremdem und Eigenem. Gießen 1998

Fischer, Veronika u.a. (Hg.): Interkulturelle Kompetenz. Fortbildung – Transfer –Organisationsentwicklung. Schwalbach 2005

Gudykunst, William B: Theorizing about intercultural communication:Thousand Oaks u.a. 2005

Hepp, Andreas/Löffelholz, Martin (Hg.):Grundlagentexte zur transkulturellen Kommuni-kation. Konstanz 2002

Kumbier, Dagmar/Schulz von Thun, F: Interkulturelle Kommunikation: Methoden, Model-le, Beispiele. Reinbek 2006

Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Stuttgart 2005

Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hg.): Konzepte der Interkulturellen Kommunikation. St.Ingbert 2004

Nicklas, Hans u.a. (Hg.): Interkulturell denken und handeln: theoretischeGrundlagen und gesellschaftliche Praxis. Frank-furt/Main u.a. 2006

Osterwalder, Alois: Interkulturelle Kompetenz in der beruflichen Bil-dung. Bielefeld 2003

Samovar, Larry A. (Hg.); Intercultural communication: a reader. Belmont,Calif. 2006

Schönhuth, Michael: Glossar Kultur und Entwicklung. Trier 2005

Schugk, Michael: Interkulturelle Kommunikation. Kulturbedingte Un-terschiede in Verkauf und Werbung. München2004

Sökefeld, Martin: Ethnologie und interkulturelle Kommunikation.Hamburg, 2005

Thomas, Alexander u.a. (Hg.): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Ko-operation. 2 Bde., Göttingen 2003

Ting-Toomey, Stella: Understanding intercultural communication. LosAngeles, Calif. 2005

6.1.2Kulturbegriff und Kulturtheorie

Allolio-Näcke, Lars/Kalscheuer, Britta/Manzeschke,Arne (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einerKulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/NewYork 2005

Page 119: Interkulturelle Kompetenz - AMS-Forschungsnetzwerk€¦ · dem Fachgebiet Interkulturelle Wirtschafts-kommunikation der Universität Jena, inter-culture.de und der Landeszentrale

119Assmann, Aleida und Jan:

Das Gestern im Heute. Medien und sozialesGedächtnis, in: K. Merten u.a. (Hg.), Die Wirk-lichkeit der Medien, Bonn 1994, S.114-140

Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung undpolitische Identität in frühen Hochkulturen. Mün-chen1997

Assmann, Jan: Nachwort. In: Esposito, Elena: Soziales Verges-sen. Formen und Medien des Gedächtnisses derGesellschaft. Fft./M. 2002, 400–414.

Beck, Ulrich: Was ist Globalisierung. Frankfurt/M.1997

Breidenbach, Joana/Zukrigl, Ina: Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer glo-balisierten Welt. Reinbeck 2000

Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frank-furt/M. 1992

Giddens, Anthony: Modernity and Self-Identity. Cambridge 1999

Hansen, Klaus-Peter: Kultur und Kulturwissenschaften. 4. Aufl. Tübin-gen/Basel 2006

Harris, Marvin: Kulturanthropologie. Frankfurt/ M. 1988

Hitzler, Ronald: Die ‚Entdeckung’ der Lebenswelten. Individualisie-rung im sozialen Wandel. In Willems, H./Hahn,A. (Hg.), Identität und Moderne. Frankfurt/M.,1999, S. 231–249

Karmasin, Helene/Karmasin, Matthias: Cultural Theory. Ein neuer Ansatz für Kommunika-tion, Marketing und Management. Wien 1997

Moosmüller, Alois: Das Kulturkonzept in der Interkulturellen Kommuni-kation aus ethnologischer Sicht. In: Lüsebrink, H.-J.(Hg.): Konzepte der Interkulturellen Kommunika-tion. St. Ingbert 2004, 45–67

Nünning, Ansgar und Vera (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart/Weimar 2003

Rathje, Stefanie: Unternehmenskultur als Interkultur. Sternenfels2003.

Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Die Lebenswelt als unbefragter Boden der natür-lichen Weltanschauung. In: J.Bolten/C.Ehrhardt(Hg.): Interkulturelle Kommunikation. Sternenfels2003, 43–58

Sowell, Thomas: Migrations and Cultures. A World View. NewYork. 1996

6.1.3Wahrnehmung, Images, Stereotype,Vorurteile; Interaktionstheorie

Allport, Gordon W.: Die Natur des Vorurteils. Köln 1971

Aronson. E./Wilson, T.D./Akert, R.M.:Sozialpsychologie. 4. Aufl., München 2004

Bausinger, Herrmann: Typisch deutsch. München 2000

Bolten, Jürgen: Die Entwicklung von Nationalstereotypen im Glo-balisierungsprozess. Hypothesen zum Auftakteiner international durchgeführten Langzeitunter-suchung zu Veränderungen des Deutschlandbil-des bei Studierenden. In: Zs. für interkulturellenFremdsprachenunterricht. H.2, 2006

Dettmar, Erika: Rassismus, Vorurteile, Kommunikation, Hamburg/Berlin 1989

Gegenfurtner, Karl R.: Gehirn & Wahrnehmung. Frankfurt a.M.(2) 2004

Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisa-tion von Alltagserfahrungen. Suhrkamp 1992

Goldstein, Bruce: Wahrnehmungspsychologie. Heidelberg: Spek-trum Akademischer Verlag, 2002

Lo, Daniel Tsann-ching: Die Bedeutung kultureller Selbst- und Fremdbilderin der Wirtschaft. Sternenfels 2005

Rock, Irvin: Wahrnehmung. Heidelberg/Berlin 1998

Rusterholz, Peter: Wie verstehen wir Fremdes? Bern u.a. 2005

Schäfer, Alfred: Selbstauslegung im Anderen. Münster 2006

Seebauer, Renate (Hg.):Das Fremde und das Eigene. Wien 2005

Spitzer, Manfred: Semantische Netzwerke. In: Ders., Geist imNetz. Heidelberg u.a. 2000

Stiersdorfer, Klaus. (Hg.): Deutschlandbilder im Spiegel anderer Nationen.Reinbek 2003

Page 120: Interkulturelle Kompetenz - AMS-Forschungsnetzwerk€¦ · dem Fachgebiet Interkulturelle Wirtschafts-kommunikation der Universität Jena, inter-culture.de und der Landeszentrale

120Suessmuth, Hans (Hrsg.):

Deutschlandbilder in Dänemark, England, Frank-reich und den Niederlanden. Baden-Baden1996.

Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Femden.Fft./ M. 2006

Wimmer, Andreas: Kultur als Prozess. Zur Dynamik des Aushandelnsvon Bedeutungen. Wiesbaden 2005

Wodak, Ruth u.a.: Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität.Frankfurt/ M. 1998

6.1.4Kulturelle Stile

Ackermann Peter: Japanische Kultur und japanischer Wirtschaftsstil.In: R.Klump (Hg.), Wirtschaftsstruktur, Wirtschafts-stil und Wirtschaftsordnung: Methoden und Er-gebnisse der Wirtschaftskulturforschung. Mar-burg 1996, 141–160

Ammon, Günther: Der französische Wirtschaftsstil. München 1989

Ammon, Günther/Knoblauch, J.: Der französische Managementstil. Zum Verständ-nis des Verhaltens französischer Führungskräfte. In:J.Bolten/D.Schröter (Hg.), Im Netzwerk interkultu-rellen Handelns. Sternenfels 2001, 226–241

Barmeyer, Christoph: Interkulturelles Management und Lernstile. Frank-furt/Main. 2000

Barmeyer, Christoph 2001: Kulturelle Lernstile. Erfahrungslernen und Bildungs-systeme in Frankreich und Deutschland. In: Bol-ten, J./Schröter, D. (Hg.), Im Netzwerk interkultu-rellen Handelns. Sternenfels, 155–175

Bolten, Jürgen, zus. mit M.Dathe, S.Kirchmeyer, M.Roennau, P.Witchalls, S.Ziebell-Drabo:

Interkulturalität, Interlingualität und Standardi-sierung bei der Öffentlichkeitsarbeit von Unter-nehmen. Gezeigt an britischen, deutschen, fran-zösischen, US-amerikanischen und russischen Ge-schäftsberichten. In: Baumann, K.D./Kalverkäm-per, H. (Hg.): Fachliche Textsorten. Komponenten– Relationen – Strategien. Tübingen 1996,389–425

Bolten, Jürgen: Kommunikativer Stil, kulturelles Gedächtnis undKommunikationsmonopole. In: Geißner, Hellmutu.a. (Hg.): Wirtschaftskommunikation in Europa.Tostedt 1999,113–132

Clyne, Michael: Pragmatik, Textstruktur und kulturelle Werte. Eineinterkulturelle Perspektive. In: Schröder (Hg.) Fach-textpragmatik. Tübingen 1993, 3–18

Clyne, Michael: Cultural differences in the organization of acade-mic texts. In: Journal of Pragmatics 11.1987,201–238

Duszak, Anna (Hg.): Culture and styles of academic discourse. Berlin/New York 1997

Galtung, Johan : Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein verglei-chender Essay über sachsonische, teutonische,gallische und nipponische Wissenschaft. In:Wierlacher, A. (Hg.): Das Fremde und das Eige-ne. München 1985, 151–193

Klump, Rainer (Hg.): Wirtschaftskultur, Wirtschaftsstil und Wirtschafts-ordnung. Marburg 1996

Münch, Richard: Code, Struktur und Handeln. In: Haferkamp, H.(Hg.): Sozialstruktur und Kultur. Fft./M. 1990,54–94

Schröder, Hartmut: Interkulturelle Fachkommunikationsforschung. As-pekte kulturkontrastiver Untersuchungen schrift-licher Wirtschaftskommunikation. In: Bungarten,Theo (Hg): Fachsprachentheorie. Bd.1. Tostedt1993, 517–550

6.1.5Interkulturelles Lernen

Barmeyer,Christoph/Bolten, Jürgen (Hg.): Interkulturelle Personalorganisation. Sternenfels/Berlin (2) 2006

Bolten, Jürgen: Förderung interkultureller Kompetenz durch E-Learning. In: A.Hohenstein/K.Wilbers: Hand-buch E-Learning, H.16. München/Unterschleiß-heim 2006

Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Interkulturelles Lernen. Bonn 1998

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121Büttner, Christian:

Lernen im Spiegel des Fremden: Konzepte, Methoden und Erfahrungen zur Ver-mittlung interkultureller Kompetenz. Frankfurt/M.2005

Busch, Dominic: Interkulturelle Mediation. Eine theoretische Grund-legung triadischer Konfliktbearbeitung in interkul-turell bedingten Kontexten. Fft./M. 2005

Busch, Dominic/Schröder, Hartmut (Hg.): Perspektiven interkultureller Mediation. Fft. u.a.2005

Dreissig, Verena: Interkulturelle Kommunikation im Krankenhaus: ei-ne Studie zur Interaktion zwischen Klinikpersonalund Patienten mit Migrationshintergrund. Bielefeld2005

Ehnert, Ina: Die Effektivität von interkulturellen Trainings : Überblick über den aktuellen Forschungsstand.Hamburg 2004

Götz, Klaus: Interkulturelles Lernen/Interkulturelles Training. 6.Aufl. München/Mering 2006

Grünhage-Monetti, Matilde: Interkulturelle Kompetenz in der Zuwanderungsge-sellschaft: Fortbildungskonzepte für kommunaleVerwaltungen und Migrantenorganisationen. Bie-lefeld 2006

Konradt, Udo/Behr, B.: Interkulturelle Managementtrainings. Eine Be-standsaufnahme von Konzepten, Methoden undModalitäten in der Praxis. In: Zs für Sozialpsycho-logie 33 (2002), 197–207

Landis, Dan: Handbook of intercultural training – ThousandOaks, Cal. u.a. (3) 2004

Litters, Ulrike: Interkulturelle Kommunikation aus fremdsprachen-didaktischer Perspektive. Konzeption eines ziel-gruppenspezifischen Kommunikationstrainings fürdeutsche und französische Manager. Tübingen1995

Müller-Jacquier, Bernd: Linguistic Awareness of Cultures. Grundlageneines Trainingsmoduls. In: J. Bolten (Hg.), Studienzur internationalen Unternehmenskommunikation.Waldsteinberg 2000

Podsiadlowski, Astrid:Interkulturelle Kommunikation und Zusammenar-beit: interkulturelle Kompetenz trainieren; mitÜbungen und Fallbeispielen. München 2004

Reich, Hans H. u.a. (Hg.): Fachdidaktik aktuell. Ein Handbuch. Opladen2000

Rummler, Monika: Interkulturelle Weiterbildung für Multiplikator/in-nen in Europa. Frankfurt/M. u.a. 2006

Stoklas, Katharina: Interkulturelles Lernen im Sachunterricht. Historieund Perspektiven Frankfurt/M. 2004

6.1.6Interkulturelle Trainingsmaterialien

BMW AG (Hg.): LIFE – Ideen und Materialien für interkulturellesLernen. Lichtenau 1997

Bolten, Jürgen: InterAct. Ein wirtschaftsbezogenes interkulturellesPlanspiel für die Zielkulturen Australien, China,Chile, Deutschland, Dänemark, Frankreich, Groß-britannien, Italien, Niederlande, Polen, Russland,Spanien und USA, Sternenfels / Berlin (2) 2001

Brot für alle (Hg.): Bafa Bafa: [ein Gruppen- und Simulationsspiel zum ThemaKulturbegegnung, Tourismus in Entwicklungslän-dern, wir und die andern]/[entwickelt vom NavyPersonnel Research and Development Center,San Diego (Kalifornien/USA). Basel 1993

Cushner, K./Brislin, R.W. (Hg.): Improving Intercultural Interactions. Modules forCross-Cultural Training Programs. Thousand Oaks1997

Deutsche Gesellschaft für Personalführung (Hg.): Interkulturelle Managementsituationen in derPraxis. Kommentierte Fallbeispiele für Führungs-kräfte und Personalmanager. Bielefeld 2004

Gilsdorf, Rüdiger: Sich spielerisch mit dem Fremden auseinander-setzen. Eine Variation des Simulationsspiels BafaBafa. In: gruppe & spiel, Nr.4, 1994, S.38–42

Haumersen, P./Liebe, F.: Multikulti: Konflikte konstruktiv. Trainingshandbuch Media-tion in der interkulturellen Arbeit. Mülheim 1999

Hoberg, Gerrit/Hoster, Hartmut: Trainingslager. Fairness – Toleranz – Zivilcourra-ge. Bonn 2005 (Bundeszentrale für PolitischeBildung)

Page 122: Interkulturelle Kompetenz - AMS-Forschungsnetzwerk€¦ · dem Fachgebiet Interkulturelle Wirtschafts-kommunikation der Universität Jena, inter-culture.de und der Landeszentrale

122Hofmann, Heidemarie:

Schlüsselqualifikation Interkulturelle Kompetenz:Arbeitsmaterialien für die Aus- und Weiterbil-dung. Bielefeld 2005

Huse, Birgitta: Interkulturelles Lernen: Materialien für offene Un-terrichtsformen. Braunschweig 2003

Kim, You-Ri: Handreichungen für interkulturelle Kommunika-tionstrainings. Tostedt 2005

Kumbruck, Christel: Interkulturelles Training: Trainingsmanual zur För-derung interkultureller Kompetenzen in der Arbeit;mit 67 Folien und Materialien. Heidelberg 2005

Losche, Helga: Interkulturelle Kommunikation. Sammlung prak-tischer Spiele und Übungen. Augsburg (2) 2000

Nipporica Associates:Ecotonos: a multicultural problem-solving simula-tion. New Edition. Yarmouth 1997

Pedersen, P.: Multipoly: A Board Game. In: Simulation & Ga-ming, Nr.1, 1995, S.109–112

Thiagarajan, S.: Barnga: a simulation game on cultural clashes.Yarmouth 1990

6.1.7Interkulturelle Wirtschaftskommunikation/Interkulturelles Management

Bergemann, Britta/Bergemann, Niels: Interkulturelle Management-Kompetenz. Anforde-rungen und Ausbildung. Heidelberg 2005

Bolten, Jürgen: Das Kommunikationsparadigma im internationa-len M&A-Prozess. Due Diligences und Post-Mer-ger-Management im Zeichen der „Zweiten Mo-derne“ In: Strähle, J. (Hg.), Interkulturelle Mergers& Acquisitions. Sternenfels 2004 ,10–37

Bolten, Jürgen/Schröter, Daniela (Hg.): Im Netzwerk interkulturellen Handelns. Sternenfels2001

Clermont A.u.a. (Hg.): Strategisches Personalmanagement in GlobalenUnternehmen. München 2001

Dülfer, Eberhard: Internationales Management in unterschiedlichenKulturbereichen. München, (7) 2003

Emmerling, Tanja, (Hg.).: Projekte und Kooperationen im interkulturellenKontext, Sternenfels 2005

Engelhard, Johannes (Hg.): Interkulturelles Management. Wiesbaden 1997

Hasenstab, Michael: Interkulturelles Management. Sternenfels/Berlin1998

Janich, Nina/Neuendorff, Dagmar: Europäische Kulturen in der Wirtschaftskommuni-kation. Wiesbaden 2002

Konradt, Udo/Hertel, Guido: Management virtueller Teams. Von der Telearbeitzum virtuellen Unternehmen. Stuttgart 2002

Kühlmann, Torsten M.: Auslandseinsatz von Mitarbeitern. Göttingen2004

Macharzina, Klaus: Interkulturelle Unternehmensführung. In J.Bolten/C.Ehrhardt (Hg.), Interkulturelle Kommunikation.Sternenfels 2003, 309–363

Mead, Richard: Cases and Projects in International Management.London 2000

Müller, Stefan/Gelbrich, Katja: Interkulturelles Marketing. München 2004.

Schlamelcher, Ulrike: Kultur und Management. Theorie und Praxisder Interkulturellen Managementforschung. München/Mering 2003

Schugk, Michael: Interkulturelle Kommunikation. Kulturbedingte Un-terschiede in Verkauf und Werbung. München2004

Stahl, Günther/Mayrhofer, Wolfgang/Kühlmann,Torsten (Hg.):

Internationales Personalmanagement. München2005

Stüdlein, Yvonne: Management von Kulturunterschieden: Phasen-konzept für internationale strategische Allianzen.Wiesbaden 1997

Vedder, Günther (Hg.): Diversity Management und Interkulturalität. Mün-chen/Mering 2004

Welge, Martin K./Holtbrügge, Dirk: Internationales Management. Theorien, Funktio-nen, Fallstudien. Stuttgart 2003

Windeler, Arnold: Unternehmensnetzwerke. Konstitution und Struktu-ration. Wiesbaden 2001

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1236.2 Links

Da Websites oft kurzlebig sind, sei auf zweiPortaladressen verwiesen, über die nahe-zu alle für den deutschsprachigen Bereichwichtigen Links zu den Themen „Interkulturel-le Kompetenz“ und „Interkulturelles Lehrenund Lernen“ gefunden werden können:

Interkulturelles Portal: www.interkulturelles-portal.de

Das Interkulturelle Portal ist dereit das um-fangreichste Forum für interkulturelle Praxisund Forschung im deutschsprachigen Raum.Es wurde 2005 von der Akademie für In-terkulturelle Studien (AIS) mit Unterstützungder DaimlerChrysler AG erstellt. Es enthältu.a. Datenbanken mit Anbietern interkul-tureller Dienstleistungen (Trainer, Berater,Dolmetscher/Übersetzer, Fremdsprachenins-titute, öffentliche Institutionen), Hochschul-institute, die sich mit interkultureller Lehre,Forschung und wissenschaftlicher Weiterbil-dung befassen, Länder- und themenspezifi-sche Expertendatenbanken, Angebote zuminterkulturellen Lernen in der Schule, Trai-ningsmaterialien, Länderinformationen, In-terkulturelle E-Learning-Angebote, eine Di-gitale Bibliothek mit Bibliographien undFachliteratur zum Download, Stellenbör-sen, Veranstaltungskalender, Foren, Chats,Newsletter und digitale Lernräume sowieLinks zu internationalen Zeitungen, Radio-stationen etc.

Deutscher Bildungsserver:http://www.bildungsserver.de

Unter der Rubrik „Interkulturelle Weiterbil-dung“ erschließen sich außer Weiterbil-dungsangeboten u.a. Links zu Institutionen,die im Bereich der interkulturellen Forschung

und Praxis tätig sind, Hinweise auf aktuelleVeranstaltungen sowie Hinweise auf Publi-kationen.

Zusätzlich sei die von interculture.de, unddem Fach Interkulturelle Wirtschaftskom-munikation der Universität Jena in Zusam-menarbeit mit der Landeszentrale für Poli-tische Bildung Thüringen erstellte Websitewww.ikkompetenz.thueringen.de erwähnt.Auf die Inhalte des vorliegenden Bandesabgestimmt, bietet sie eine Fundgrube fürLehrende und TrainerInnen, die Übungsma-terialien zur interkulturellen Kompeten-zentwicklung für den schulischen und wei-terbildenden Bereich suchen.

Anmerkungen

1 Petschenig, Der kleine Stowasser München1969, 114.

2 Zit. nach Heinz L.Kretzenbacher, Der „erwei-terte Kulturbegriff“ in der außenpolitischen Dis-kussion der BRD. In: Jahrbuch Deutsch alsFremdsprache 18 (1992), S.180

3 Ebd.4 Beck, Ulrich (1997): Was ist Globalisierung.

Frankfurt/M., S.465 Beck, Ulrich (1997): Was ist Globalisierung.

Frankfurt/M.6 Herder, J.G., Auch eine Philosophie der Ge-

schichte zur Bildung der Menschheit. <1774>.Fft./M. 1967, 44

7 Lt. Duden die Unwörter der Jahre 1991–1993(in dieser Reihenfolge). In: Duden. Die deut-sche Rechtschreibung. Mannheim 2000,Innenseite der hinteren Umschlagklappe.

8 vgl. E.Dülfer, Internationales Management. Mün-chen/Wien 1999 (6. Aufl.), S.221

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1249 K. Oberg, Cultural shock: adjustment to new

cultural environments. In: Practical Anthropo-logy, 7(1960), 177–182

10 Ausführlich dargestellt ist dies in einem Buchvon H.Haken: Erfolgsgeheimnisse der Natur.Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken.Fft./M. 1994

11 BMW AG, AK-4, Die langfristige Personal-politik im BMW Konzern. Alex – Aktuelles Lexi-kon. München 1996

12 Nach Günther Stahl, Internationaler Einsatzvon Führungskräften. München/Wien 1998,S. 183 u. 201

13 Nach Günther Stahl, Internationaler Einsatzvon Führungskräften. München/Wien 1998,S. 183 u. 201

14 Vgl. Beispiele in der Darstellung von B. Müller-Jacquier, Linguistic Awareness of Cultures.Grundlagen eines Trainingsmoduls. In: J.Bolten(Hg.),Studien zur Internationalen Unternehmens-kommunikation. Waldsteinberg 2000, 20–49.

15 InterAct. Interkulturelles Verhandlungstraining.Sternenfels/Berlin 1999

16 www.wiwo.de/pswiwo/fn/ww2/sfn/buildww/id/126/id/96500/fm/0/artpa-

ge/1/artprint/0/SH/0/depot/0/index.html; Zugriff: Mai 2006.

17 P. Haumersen/F. Liebe: Multikulti: Konfliktekonstruktiv. Trainingshandbuch Mediation derinterkulturellen Arbeit. Mülheim 1999, 27

18 Beschluss der Kultusministerkonferenz vom25.10.1996. In: Bundeszentrale für politischeBildung (Hg.), Interkulturelles Lernen. Bonn1998, S.310–316

19 ebd., S.31620 Beschluss der Kultusministerkonferenz vom

25.10.1996. a.a.O., S.31321 Vgl. die auf alle traditionellen Schulfächer be-

zogenen Überlegungen in dem von Hans H.Reich u.a. herausgegebenen Handbuch „Fach-didaktik aktuell“. Opladen 2000

22 Wertvolle Hilfestellungen zum schulbezogenenInternetlernen bietet die Initiative „Schulen ansNetz“: www.sanev. de

23 Thüringer Kultusministerium, Lehrplan für dasGymnasium: Ethik, Klasse 10 („Zusammenle-ben in einer multikulturellen Gesellschaft“). Er-furt 1999, S. 56