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www.integrale-politik.ch INTEGRALES BEWUSSTSEIN Perspektiven für ein neues Menschen- und Weltbild Dokument zur Kultur der IP – Integrale Politik (Schweiz) – Nr. 07

Integrales Bewusstsein

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INTEGRALES BEWUSSTSEIN Perspektiven für ein neues Menschen- und Weltbild

Dokument zur Kultur der IP – Integrale Politik (Schweiz) – Nr. 07

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«Wir gehen immer verloren, wenn uns das Denken befällt,

und werden wiedergeboren, wenn wir uns ahnend der Welt

anvertrauen, und treiben wie die Wolken im hellen Wind, denn alle Grenzen, die bleiben, sind ferner als Himmel sind.»

Jean Gebser

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INHALTSVERZEICHNIS Zusammenfassung 4

Einleitung 5

1 / Annäherungen an das integrale Bewusstsein 6 1.1 / Erste Annäherung: Wichtige Fragen 6 1.2 / Zweite Annäherung: Was ist für mich integrales Bewusstsein? 7 1.3 / Dritte Annäherung: Wer bin ICH? 8

2 / Die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins 9 2.1 / Die Bewusstseinsstrukturen der Menschheit nach Jean Gebser und Ken Wilber 10 2.2 / Die Entwicklung des integralen Bewusstseins 14

3 / Die vier Dimensionen des menschlichen Seins 16 3.1 / Die leiblich-materielle Ebene 16 3.2 / Die emotionale Ebene 16 3.3 / Die mentale Ebene 17 3.4 / Die spirituelle Ebene 17 3.5 / Integrales Bewusstsein als eine Haltung 17

4 / Integrales Bewusstsein und Politik 19 4.1 / Das integrale Menschenbild 19 4.2 / Das integrale Politikverständnis 19

Weiterführende Literatur 21

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ZUSAMMENFASSUNG Integrales Bewusstsein steht für eine im Geistigen verankerte ganzheitliche Lebens-haltung, welche physische, emotionale, mentale und spirituelle Aspekte gleichermassen anerkennt und integriert. Integrales Bewusstsein leitet eine neue Evolutionsphase ein. Integral bewusste Menschen haben daher erkannt, dass wir mit der einseitigen Ausrich-tung auf rationale Grundsätze, Werte und Vorgehensweisen in eine Sackgasse geraten sind. Sie machen es sich zur Aufgabe, Dualismen zu überwinden und öffnen sich in ihrem Denken, Fühlen und Handeln allen Stufen und Errungenschaften menschlicher Entwick-lung. Integral bewusst zu leben löst die alte Habenhaltung durch eine neue Seinshaltung ab, aus der heraus auch Politik auf eine neue, umfassendere Art gestaltet werden kann.

Das Potenzial zur Entwicklung des integralen Bewusstseins ist in allen Menschen ange-legt. Der Weg zu diesem neuen Bewusstsein entsteht, wenn wir ihn gehen. Dabei erfahren wir uns in wachsendem Masse in Harmonie mit der ganzen Schöpfung und kommen mit unserer innersten Lebensquelle in Berührung. Dieser Quelle entspringt jede Tat wahrer Liebe und jedes wahrhaftige soziale und politische Engagement.

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EINLEITUNG Viele Menschen sorgen sich über die derzeitige Weltlage, über die Zukunft der Mensch-heit und über das Gedeihen unseres Planeten Erde. Obwohl wir in unserem Land eine vergleichsweise hohe Lebensqualität aufweisen, sind wir mehr und mehr konfrontiert mit existenziellen Herausforderungen in vielen Lebensbereichen. So sind unser Finanz-, Wirtschafts-, Bildungs- und Gesundheitswesen – um nur vier der wichtigsten zu nennen – von Grund auf erneuerungsbedürftig.

Die Erfahrung lehrt uns, dass alles in der ganzen Schöpfung einem steten Wandel unter-liegt. Leben ist Veränderung – Veränderung ist Leben. Aus zahlreichen Überlieferungen östlicher und westlicher Weisheitstraditionen wissen wir auch, dass alles, was existiert

aus einer Quelle fliesst. Diese Quelle nennen wir Bewusst-sein. Bewusstsein steht somit am Anfang von allem, was existiert, und unsere relative Wirklichkeit ist ein Abbild dieses Bewusstseins. Wenn wir in unserer weltlichen Reali-tät neue Probleme und Konflikte erkennen, so bedeutet dies, dass Wandlungen im Bewusstsein anstehen, denn Herausforderungen können nicht auf der gleichen Be-wusstseinsebene gelöst werden, auf der sie entstanden sind. So ist in dieser Zeit der Umbrüche eine grosse Be-wusstseinserweiterung im Gange, eine Erweiterung in Richtung des integralen Bewusstseins.

Das vorliegende Dokument hat zum Ziel, der immer wieder gestellten Frage nachzugehen, was denn integrales Bewusstsein sei. Es war der beauftragten Arbeitsgruppe von Anfang an klar, dass diese Aufgabe allein mit Mitteln des «wissenschaftlichen» Denkens nicht gelöst werden kann. Denn der Mensch wird sich seines Bewusstseins individuell und in-tuitiv bewusst. So versuchten wir vorerst gar nicht, Antworten auf die Frage zu finden, sondern begannen damit, uns Fragen zu stellen. Denn: Bewusstsein ist der Ort, an dem die Fragen entstehen.

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1 / ANNÄHERUNGEN AN DAS INTEGRALE BEWUSSTSEIN

1.1 / Erste Annäherung: Wichtige Fragen In einem ersten Schritt wollten wir wissen, welches unsere grundlegenden Fragen sind. Was beschäftigt Menschen, die sich zum integralen Bewusstsein hingezogen fühlen? Hier eine kleine Auswahl:

Kann Bewusstsein im Allgemeinen und integrales Bewusstsein im Speziellen über-haupt beschrieben werden oder ist integrales Bewusstsein nur als Lebensform, als Tun, Haltung oder Empfindung vermittelbar?

Verändert integrales Bewusstsein mein persönliches Leben?

Warum und wozu bin ich hier?

Was ist meine Aufgabe im Leben?

Wie kann ich die Wahrheit erkennen und dadurch frei werden?

Was befähigt uns zu lieben?

Was bedeutet Hingabe?

Ist integrales Bewusstsein für alle Menschen zugänglich?

Wie gelangen wir zum integralen Bewusstsein?

Warum regen sich so viele Menschen im Alltag wegen Kleinigkeiten auf?

Was können wir tun, um die Ressourcen dieser Erde gerechter zu verteilen?

Welche Einflüsse hat integrales Bewusstsein auf aktuelle Problemfelder wie Welt-frieden, Welthunger, die globale Finanzkrise und dergleichen?

Hat integrales Bewusstsein etwas mit Religion zu tun?

Ist integrales Bewusstsein ein spiritueller Weg?

Könnte die eine oder andere Frage auch von Ihnen sein? Wie würde Ihre Frage lauten?

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1.2 / Zweite Annäherung: Was ist für mich integrales Bewusstsein?

Angeregt durch die vielen Fragen versuchte jedes Mitglied der Arbeitsgruppe, in ein bis zwei Sätzen eine persönliche Antwort auf die Frage zu geben: Was ist für mich integrales Bewusstsein? In ihrer Summe ergeben die Antworten eine gute Einstimmung in die The-matik.

Integrales Bewusstsein initiiert eine neue Epoche in der kulturgeschichtlichen Entwick-lung der Menschheit. Es steht für eine im Geistigen verankerte Lebenshaltung, welche physische, emotionale, mentale und spirituelle Aspekte des Menschen als gleichwertig anerkennt und integriert.

Integral bewusste Menschen haben erkannt, dass wir mit der einseitigen Ausrichtung auf rationale Grundsätze und Sichtweisen in eine Sackgasse geraten sind.

Integrales Bewusstsein macht es sich zur Aufgabe, den Dualismus ebenso zu überwinden wie die von vielen als Gefängnis erlebte Zeit. Es ist eine grundlegend neue Seinsweise, in der die Welt nicht mehr ein Gegenüber ist, sondern Teil von etwas Grösserem, an dem wir alle teilhaben.

Integrales Bewusstsein ist für mich ein innerliches und äusserliches Sehen und Erkennen.

Integrales Bewusstsein ist die Fähigkeit, mehrere Perspektiven gleichzeitig wahrnehmen zu können und spielerisch zwischen ihnen zu wechseln, ohne sich mit einer von ihnen zu identifizieren.

Integrales Bewusstsein heisst für mich: Ich gestalte meinen Alltag, mein Umfeld und meine Beziehungen aus der Intelligenz des Herzens und handle authentisch.

Das Bewusstsein, Bewusstsein zu sein, drückt sich besonders dadurch aus, dass der Mensch Verantwortung übernimmt für all dasjenige, dessen er sich bewusst ist, also für sein Denken, Fühlen und Handeln und für alles, womit er in Beziehung steht. Diese Ver-antwortung entspringt dem inneren Wissen, dass alles mit allem verbunden ist und in liebevoller Kooperation zusammenspielen kann.

Integrales Bewusstsein ist für die Überwindung der globalen Krise unentbehrlich.

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1.3 / Dritte Annäherung: Wer bin ICH? Wenn wir neu in eine Gruppe von Menschen kommen, stellen wir uns auf die Frage «Wer bist Du?» normalerweise etwa wie folgt vor: Ich heisse Hans Huber, bin Arzt und Vater zweier Kinder… oder: Mein Name ist Anna Meier, ich bin Lehrerin und lebe allein…

Offensichtlich identifizieren wir uns mit von unseren Eltern übernommenen Namen, mit unserem Beruf, mit bestimmten Lebensumständen. Das sind alles Rollen, die wir zur Zeit spielen, die kommen und gehen und somit in Widerspruch zu unserer authentischen Er-fahrung stehen, dass unsere Identität, unser ICH, ein dauerhaftes, alle Lebensumstände überdauerndes Subjekt ist, unabhängig von Raum und Zeit: ICH BIN.

Plötzlich fällt uns auf: Ich bin bewusst. Ich nehme wahr, dass ich meine Lebensumstände, meine gespielten Rollen, also meine Vorstellungen, Gedanken und Gefühle als Objekte betrachten kann. Daraus folgt: Ich bin der Betrachter, der sich seiner selbst bewusst ist, die Betrachterin, die sich ihrer selbst bewusst ist. Ich bin die Bewusstheit.

Integrale Bewusstheit hat etwas mit dieser Identitätsverschiebung zu tun. Das frühere Subjekt «Ich bin Arzt» oder «Ich bin Lehrerin» wird zum Objekt. Das neue Subjekt, das, was sich der Objekte bewusst wird, nennt sich integrale Bewusstheit.

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2 / DIE ENTWICKLUNG DES MENSCHLICHEN BEWUSSTSEINS

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Entwicklungspsychologie viele

Aspekte der menschlichen Entwicklung untersucht. Berühmte Untersuchungen sind zum

Beispiel diejenigen von Jean Piaget (kognitive Entwicklung), Lawrence Kohlberg (morali-

sche Entwicklung), Clare Graves (Entwicklung der Werte), Robert Kegan, Jane Loevinger

und Susanne Cook-Greuter (Entwicklung der ICH-Identität). Alle diese Forschungen zei-

gen auf, dass die Entwicklung des Menschen als Individuum in Schritten, Wellen oder

Stufen abläuft, wobei jede neue Stufe die vorhergehenden durch eine differenziertere

Wahrnehmung und Weltsicht sowohl transzendiert als auch integriert. Es ist das Ver-

dienst von Ken Wilber, die Entwicklung in all diesen verschiedenen Bereichen in einer

grossen Zusammenschau gut verständlich beschrieben zu haben.

Eine ähnliche Beobachtung hat Jean Gebser in Bezug auf die kollektive, kulturelle Ent-

wicklung der Menschheit gemacht. Auch er kommt zu dem Ergebnis, dass menschliche

Entwicklung in Stufen erfolgt. Dies bedeutet, dass die Menschheit als Ganze historisch

Stufe um Stufe durchlaufen und «erobert» hat, wobei diese Entwicklung an verschiede-

nen Orten und in verschiedenen Gesellschaften in je eigenem Tempo erfolgt(e) und un-

terschiedlich weit fortgeschritten ist. Es bedeutet auch, dass jeder Gesellschaft neben den

Merkmalen und Errungenschaften der gerade erreichten auch diejenigen aller früheren,

bereits durchschrittenen Stufen weiterhin zur Verfügung stehen – und sich gelegentlich

Gehör verschaffen.

Gebser hat in Anlehnung an Sri Aurobindo als erster

Europäer das Erscheinen des integralen Bewusstseins als

Beginn einer neuen kulturgeschichtlichen Epoche der

Menschheit beschrieben. Wir sind mit Gebser der Ansicht,

dass wir uns in der westlichen Welt nunmehr an der

Schwelle zu dieser neuen, integralen Epoche befinden. Was

heisst das für integrale Politik heute?

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2.1 / Die Bewusstseinsstrukturen der Menschheit nach Jean Gebser und Ken Wilber

Jean Gebser unterschied fünf grosse Stufen oder Strukturen in der Evolution des men-

schlichen Bewusstseins, deren jüngste das integrale Bewusstsein ist. Die erste, archaische

Bewusstseinsstruktur beschreibt Gebser als noch vollkommen mit dem Ursprung iden-

tisch. Sie ist nulldimensional und geheimnisvoll, für den logischen Verstand letztlich

unbegreiflich. Bei der Entstehung dieser Struktur ging es um den mysteriösen «Sprung

vom Nichts ins Sein», in die Schöpfung, wobei dieses Sein ein vollkommen Geborgenes

war. Hinweise auf Menschen dieser Bewusstseinsepoche findet Gebser etwa in chinesi-

schen Überlieferungen von einem traumlosen Zustand, einer Zeit, in der «blau und grün»

(Himmel und Erde) noch nicht unterschieden, sondern mit dem selben Wort bezeichnet

wurden.

Aus diesem paradiesischen, vollkommen harmonischen Zustand des Einsseins von Kör-

per und Psyche entwickelt sich als nächstes die magische Struktur. Gebser beschreibt sie

als eindimensional, d.h. raum- und zeitlos, vorsprachlich und ichlos. Handlung wird

erstmals möglich dank dem Impuls zu wollen, etwas bewirken oder machen zu wollen.

Werkzeuge und Rituale werden ebenso entwickelt wie ein magischer Umgang mit Natur-

kräften und Dämonen. Es ist ein triebhaft-vitales Bewusstsein, das sich vollständig mit

der Familie, dem Clan, identifiziert. Der magische Mensch ist auch eng mit der Natur

verbunden, sein wichtigstes Sinnesorgan ist das Ohr: Empfangen und Lauschen sind

seine wesentlichen Umgangsformen mit der Wirklichkeit. Auf Bildern aus dieser Epoche

werden Menschen ohne Mund dargestellt, was ein deutlicher Hinweis darauf ist, dass es

Sprache noch nicht gab. Gebser geht davon aus, dass sich diese Menschen telepathisch

verständigt haben.

Erst mit dem mythischen Bewusstsein taucht Gebser zufolge das gesprochene Wort als

prägendes Element des Daseins auf. Hier erkennen die Menschen das Du, das Gegenüber

von Gut und Böse, Himmel und Erde, Götter und Menschen. So entstanden mythische

Geschichten, welche die Realität der Seele ausdrückten, und die von nun an die Entwick-

lung der Menschen wesentlich prägten. Die mythische Struktur ist zweidimensional. Alles

bewegt sich zwischen zwei Polaritäten. Die Wahrnehmung der Zeit orientiert sich wesent-

lich an den Kreisläufen der Natur. Die mythische Epoche ist vom Matriarchat geprägt, das

Mütterliche und Ur-Weibliche steht im Zentrum dieser kreisförmigen Wirklichkeit.

Gebser zufolge wird diese zweidimensionale, schwarz-weisse Welt der Polaritäten durch

die dritte-Person-Perspektive transzendiert, die mit der mentalen Struktur auftaucht. Sie

befähigt dazu, die Welt als Gegenüber wahrzunehmen, als eine objektive, vom wahrneh-

menden Individuum unterscheidbare oder sogar abgetrennte Wirklichkeit. Die mentale

Struktur ist rationalistisch geprägt. Zählen, Messen, Werten und Bewerten werden zu den

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Massstäben einer rational klassifizierten Welt. Der Verstand regiert und verlangt nach

der einen, allgemein gültigen Wahrheit, nach dem einen, alles beherrschenden Gott. So

wird der mythische Götterhimmel entthront und durch einen (bei Gebser) patriarchali-

schen Gott ersetzt. Während im mythischen Bewusstsein noch eine Einheit bestand zwi-

schen polaren Gegensätzen, verlangt das mentale Bewusstsein eine Entscheidung für oder

gegen etwas, die Dualität wird neben der linearen Zeit zum vorherrschenden Merkmal

des menschlichen Bewusstseins.

Da die Stufenfolge der kulturellen Entwicklung im Modell von Wilber nicht ganz mit den

Stufenbeschreibungen Gebsers übereinstimmt, führen wir sie hier gesondert an.

Ken Wilber beschreibt die archaische Stufe (gestützt auf die Arbeiten von Graves und

Beck/Cowan) als die des «grundlegenden Überlebens», auf welcher Instinkte und

Gewohnheiten allein der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse dienen. «Ein unter-

scheidbares Ich ist noch kaum erwacht, und es gibt kaum Bemühungen, ein solches zu

bewahren.» Zum Zweck des praktischen Überlebens werden auf dieser Ebene «Über-

lebenshorden gebildet». Als Beispiele hierfür nennt er neben den ersten menschlichen

Gemeinschaften auch neugeborene Kinder, senile alte Menschen, Alzheimerkranke im

letzten Stadium, aber auch Personen, die aus verschiedenen Gründen aus der «Normal-

gesellschaft» herausfallen, wie etwa bestimmte Stadtstreicher, hungernde Massen oder

Menschen mit schweren, unverarbeiteten Traumata.

Im Umgang mit Menschen auf dieser Stufe geht es schlicht darum, ihre grundlegenden, ja existenziellen Bedürfnisse zu befriedigen, um den Betreffenden ein menschenwürdiges Leben bzw. allenfalls auf dieser Grundlage eine weitere Entwicklung zu ermöglichen.

Auf der zweiten, magisch-animistischen Stufe ist «das Denken animistisch; magische

Geister, gute und böse, suchen die Erde heim und hinterlassen Segnungen, Verfluchun-

gen und Verzauberungen, die das Geschehen bestimmen.» Es werden ethnische Stämme

gebildet, die durch die Geister ihrer Ahnen zusammen gehalten werden. Auf dieser Stufe

begründen Blutsverwandtschaft und Familie politische Bindungen. Aktuelle Beispiele

hierfür sind der Voodoo-Glaube, die Blutrache, Familienrituale, magische ethnische

Vorstellungen und verschiedene Formen von Aberglauben, wie sie auch in westlichen

Gesellschaften beispielsweise in manchen Banden, Sportmannschaften und anderen

«verschworenen Gemeinschaften», in Familien oder Unternehmen zu finden sind.

Derartige Logiken und Rituale gilt es zunächst als solche zu verstehen und in ihrer Wirksamkeit für die Gemeinschaft derer, die an sie glauben und sie praktizieren ernst zu nehmen. Denn dass fokussierte Aufmerksamkeit ein kollektives Feld schafft, das gleich-sam magische Wirkungen auf die Beteiligten ausübt, ist eine Erkenntnis, die sich inte-grale Politik – jenseits der Inhalte der alten magischen Rituale selbst – positiv zunutze machen kann.

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Die nächste von Wilber in Anlehnung an Graves beschriebene machtbetont-egozentrische

Stufe findet bei Gebser keine direkte Entsprechung. Wilber zufolge ist sie gekennzeichnet

durch das «erste Auftreten eines sich vom Stamm unterscheidenden Ich; machtvoll, im-

pulsiv, egozentrisch, heroisch.» Nunmehr gibt es neben den magisch-mythischen Geis-

tern, Drachen und wilden Bestien auch machtvolle Menschen. «Archetypische Götter und

Göttinnen, Machtwesen, Mächte, mit denen man umgehen muss, und zwar gute wie

böse», machen die Welt zu einem «Dschungel voller Gefahren und Raubtiere», in dem es

darum geht, zu erobern, überlisten und beherrschen, aber auch «das Ich bis zum äussers-

ten zu geniessen, ohne Bedauern oder Gewissensbisse.» Historisch treten nun Lehns-

herren auf, die ihre Untergebenen im Austausch gegen Gehorsam und Arbeitsleistung

beschützen. Diese Struktur mit ihrem Fokus auf Macht und Ruhm ist die Basis feudaler

Reiche. Doch auch in der heutigen Zeit ist diese machtbetont-egozentrische Struktur noch

immer von erheblicher Bedeutung, wenngleich sie sich eher unter der Oberfläche der

«zivilisierten Welt» zeigt. Beispiele sind rebellische Jugendliche, wilde Rockstars, epische

Helden und James-Bond-Schurken, Banden- und Clanführer, die das selbst-bezogene

und unbekümmert rücksichtslose Verhalten von Kindern im Trotzalter (2-3 Jahre) an den

Tag legen. Dasselbe gilt für die Anführer so mancher religiöser oder politischer Funda-

mentalismen (auch wenn diese selbst oft mythisch begründet werden) sowie für gewisse

narzisstische Ausprägungen der New-Age-Bewegung.

Im Umgang mit der machtbetont-egozentrischen Struktur ist die entschiedene Eingren-zung überzogener Machtansprüche und –demonstrationen durch ein klares und unmiss-verständliches Setzen von Regeln für das gemeinsame Zusammenleben zentral, wie sie den Kern der folgenden Stufe ausmachen.

Auf der bei Wilber vierten Stufe mythischer Ordnung hat «das Leben Sinn, Richtung und

Zweck», die «von einem allmächtigen Anderen oder einer allmächtigen Ordnung be-

stimmt» werden. Diese «erzwingt einen Verhaltenskodex, der auf absoluten und unver-

änderlichen Prinzipien von ‚recht’ und ‚unrecht’ basiert», und dessen Verletzung «gravie-

rende und vielleicht ‚ewige’ Rückwirkungen nach sich zieht». Umgekehrt bringt die Befol-

gung des Kodex dem Gläubigen Belohnung und Zufriedenheit. Historische und aktuelle

Beispiele für die mythische Struktur sind die antiken und hochkulturellen Nationen,

ebenso wie andere stark konventionell und konformistisch geprägte Gesellschaften oder

Gruppen mit starren, häufig paternalistischen Hierarchien, etwa im puritanische Ame-

rika, in China unter Konfuzius, im Rahmen religiöser Fundamentalismen und in totalitä-

ren Gesellschaften.

Auch in der heutigen Zeit sind mythische Glaubensgemeinschaften, keineswegs nur in Gestalt der grossen Weltreligionen, von grosser politischer, gesellschaftlicher und kultu-reller Bedeutung. Im Umgang mit ihnen sollte integrale Politik ihren Beitrag zur mora-lischen Vervollkommnung und Entwicklung ihrer Mitglieder würdigen, übertriebene

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(imperiale oder totalitäre) Machtansprüche aber im Interesse interreligiöser Toleranz sowie universaler Werte und damit des sozialen, politischen und zwischenstaatlichen Friedens zurückweisen.

Nach Wilber entkommt das Ich der ‚Herdenmentalität’ der mythischen Struktur erst im Rahmen der wissenschaftlich-rationalen Struktur, wo es nun in individualistischen Be-griffen nach Wahrheit und Sinn sucht. Hier erscheint die Welt als eine rationale und gut geölte Maschine mit Naturgesetzen, die man erkennen, meistern und für die eigenen Zwecke manipulieren kann. Leistungs- und materielle Gewinnorientierung (führen zu) Marktallianzen und Manipulation der Ressourcen der Erde zugunsten eigener strategi-scher Vorteile. Beispiele für diese Struktur sind die Aufklärung, die Ideale und «Gesetze» von Wall Street, Kapitalismus und Kolonialismus, die Mode- und Kosmetikindustrie, aber auch der säkulare Humanismus. Insofern hier gleichsam neue atheistische Götter ge-schaffen werden, finden sich auf dieser Stufe gewisse, wenn auch nicht vollständige Ent-sprechungen zwischen Wilbers Stufenbeschreibung und der mentalen Stufe Gebsers. Diese mental-rational geprägte Stufe hat unsere Gesellschaften in den letzten Jahrhun-derten massgeblich geprägt und bestimmt unser Denken und Handeln bis heute sehr stark. Neben der grossen Errungenschaft dieser Entwicklungsstufe, dem aufklärerischen Impuls und dem Glauben an individuelle und kollektive Entwicklungs- und Vervoll-kommnungsmöglichkeiten werden heute indes auch die Schattenseiten eines unge-bremsten Fortschrittsglaubens unübersehbar. Neben der Ausbeutung der Natur und der Missachtung der Lebensrechte zahlreicher Mitgeschöpfe zählt hierzu auch die Vernach-lässigung unserer eigenen emotionalen und spirituellen Bedürfnisse im Zuge eines primär materialistisch definierten Wohlstandsstrebens.

Eines der vornehmsten Anliegen integraler Politik im Umgang mit diesem Erbe ist es daher, die aus den Fugen geratene Balance zwischen unseren materiellen, emotionalen, mentalen und spirituellen Bedürfnissen wieder herzustellen.

Im integralen Bewusstsein geht es Gebser zufolge sowohl um die Überwindung des «rationalen Absolutismus» als auch des Dualismus und der linearen Zeitvorstellung der mentalen Struktur. Dabei gelte es, alle Bewusstseinsstrukturen – die archaische, magi-sche, mythische und die mentale – bewusst zu machen und zu einem neuen Ganzen zu integrieren. Die Vormachtstellung des Verstandes muss dabei ebenso schwinden wie die patriarchalische Haltung, die dem mentalen Bewusstsein zugrunde liegt. Diese Struktur erweitert das Bewusstsein um eine weitere, vierte Dimension, die alle früheren Stufen, Formen und Strukturen der menschlichen Entwicklung zu einer neuen, bewussten und aperspektivischen Ganzheit integriert. Insofern geht sie über die von Graves und Wilber beschriebene Stufe des «Sensitiven Ich» hinaus.

Wilber selbst beschreibt die integrale (integrative bzw. holistische) Struktur hierzu ergän-zend als eine Gefühl und Wissen vereinende Haltung der «Flexibilität, Spontaneität und

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Funktionalität», die durch «voneinander abhängige, natürliche Fliessvorgänge» gekenn-zeichnet ist. «Gute Regierung» in diesem Verständnis «erleichtert das Emergieren von Entitäten auf allen Ebenen zunehmender Komplexität». «Multiple Ebenen sind zu einem bewussten System», einer «lebendigen und universalen Ordnung (verwoben), die nicht auf äusseren Regeln oder Gruppenbanden», sondern auf fliessender harmonischer Inter-aktion beruht.

Für weitere Gedanken zu einer aus dem integralen Bewusstsein heraus betriebenen Poli-tik siehe die Punkte 3 und 4.

2.2 / Die Entwicklung des integralen Bewusstseins Auch wenn die verschiedenen Entwicklungsmodelle (wie hier nur skizzenhaft angedeutet) die von ihnen beobach-teten Stufen zum Teil unterschiedlich beschreiben, voll-zieht sich der Übergang von einer Stufe der Entwicklung zur nächsten doch in allen Modellen ähnlich. Sie verläuft de facto in vieler Hinsicht unbemerkt und fliessend und ist gleichzeitig ein Sprung. Denn jede Stufe bringt etwas wesentlich Neues, das mehr ist als nur eine Synthese aus den bisherigen Stufen, sondern das Ergebnis einer Trans-formation hin zu einer neuen Qualität.

In diesem Prozess der fortschreitenden Entwicklung konnte man für alle bisherigen Be-wusstseins-Stufen der Menschheit jeweils zwei Phasen unterscheiden, nämlich jene der Entfaltung und jene des Niedergangs. Dies ist auch bei vielen Religionen, Kulturen und Gruppen zu beobachten. Oft erstarren z.B. Religionen, wenn sie institutionalisiert, orga-nisiert und verwaltet werden. Der lebendige Geist schwindet. Nur die äusseren Formen bleiben, bis die Gemeinschaft sich wieder auflöst.

Unsere Gesellschaft nähert sich heute der krisenhaften Endphase des mentalen, wissen-schaftlich-rationalen, individualistischen Bewusstseins. Diese Krise birgt jedoch auch eine Chance. Immer mehr Menschen erkennen Möglichkeiten, die gegenwärtigen sozio-ökonomischen, ökologischen, politischen usw. Herausforderungen sowohl individuell wie auch gesellschaftlich aus einem neuen Bewusstsein heraus anzugehen. Sie erfahren die schöpferischen Kräfte von Liebe und Kreativität, die neue Formen des Zusammenlebens auf der Basis von Weisheit und Mitgefühl hervorbringen, in Einklang und Harmonie mit der Schöpfung. Viele Zeichen deuten daher darauf hin, dass die Menschheit an der Schwelle eines neuen, dem integralen Zeitalter steht.

Der Weg zum integralen Bewusstsein ist immer sehr individuell. Er ist eher mit einem Pfad als mit einem breiten Gehweg zu vergleichen. Integral zu leben ist ein individueller

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und stetiger Prozess der zunehmenden Bewusstwerdung, der sehr bereichernd, aber auch sehr herausfordernd sein kann. Es gibt zwar eine Fülle von Möglichkeiten, um sich ein breites Wissen über den Charakter des Ziels und die Beschaffenheit des Weges anzueig-nen. Das allein genügt aber nicht. Auch wenn eine gute Landkarte in der Regel hilfreich ist: Der Weg, der das Ziel ist, entsteht erst beim Gehen!

Integrales Bewusstsein beruht somit auf einer neuen Form der Spiritualität. Sie schliesst alle Dimensionen des Menschseins ein, nämlich Leib, Gefühle, Verstand, Geist und Seele und gründet in der Erfahrung, dass wir mit unserer innersten Lebensquelle in Berührung kommen können.

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3 / DIE VIER DIMENSIONEN DES MENSCHLICHEN SEINS

Die vier Dimensionen des menschlichen Seins entsprechen den vier Bedürfnisebenen und unterscheiden sich durch je eigene Potenziale und Erkenntnisweisen und sind doch eng miteinander verbunden, ja voneinander abhängig. Sie agieren beständig in hochkomple-xer Wechselwirkung und bilden erst zusammen das ganze Spektrum des menschlichen Lebens ab. Sie gestalten das individuelle und das soziale Leben.

In jeder Dimension entfaltet sich der Ausdruck von Wünschen und Bedürfnissen gemäss einer spezifischen Art des Erkennens und Unterscheidens, auch Intelligenz genannt. In der Entfaltung einer jeden Dimension ringen die positiven Kräfte des Lichts und der Be-wusstwerdung stets auch mit Schattenseiten der Unbewusstheit, Triebhaftigkeit, Krank-heit und Negativität. Das durch das Letztere verursachte pathologische Verhalten gilt es zu erkennen und zu transzendieren.

3.1 / Die leiblich-materielle Ebene Der menschliche Leib als sichtbarer körperlicher Ausdruck unserer Seele ist ein Kosmos im Kleinen. Die uns unbewussten Funktionen der Organe und deren Zusammenwirken, auch körperliche Intelligenz genannt, machen ihn zu dem wohl grössten Wunder der materiellen Schöpfung überhaupt. Die physischen Grundbedürfnisse wie Hunger und Durst, der Wunsch nach einem sicheren und warmen Ort und das sexuelle Verlangen sind die grundlegendsten. Solange sie nicht befriedigt sind, ist unser Sein nicht in Balance. Zugleich ist unser Leib auch ein stimmbares Instrument, das durch geeignete Übungen wie sportliche Bewegung, Tanz und bewusste Ernährung aktiv im Sinne von Gesundheit und Wohlbefinden gefördert und in Balance gebracht bzw. gehalten werden kann.

3.2 / Die emotionale Ebene beinhaltet das ganze Spektrum unserer Gefühle sowie unsere Fähigkeit, uns zu diesen in Beziehung zu setzen, also sie bewusst wahrzunehmen und mit ihnen angemessen umzu-gehen. Dazu gehört auch, sie gezielt zur Unterstützung unseres Denkens und Verhaltens einzusetzen. So können wir beispielsweise Selbstmotivation, soziale und emotionale Kompetenz aktiv kultivieren. Wo diese Kompetenzen der emotionalen Intelligenz ver-nachlässigt werden, kommt es häufig zu einem Handeln aus der Angst heraus, Mangel

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erleiden zu müssen und aus der Suche nach Erfolg im Haben. Beides sind heute allge-genwärtige Verzerrungen der emotionalen Balance.

3.3 / Die mentale Ebene des Verstandes und der Vernunft wird häufig mit Intelligenz an sich gleichgesetzt. Dies führte in den letzten drei Jahrhunderten zu einem rasanten Aufschwung der rationalen Wissenschaft, Forschung und Technik, was wiederum in vielen Ländern eine Zunahme des materiellen Wohlstands nach sich zog. Immer deutlicher zeigt sich gleichwohl auch der Preis dieses Fortschritts: Denn nur ein kleiner Teil der Menschheit hatte Anteil an diesem Reichtum und kam zu Wohlstand und zu einem angenehmeren Leben. Ein Grossteil der Menschheit dagegen lebt heute immer noch in Armut und leidet Hunger.

Weitere Schattenseiten einer einseitigen Verabsolutierung der mentalen Intelligenz und der damit verbundenen Werte sind krankhaftes Streben nach mehr Gewinn, Besitz, Effi-zienz, Wissen, Kontrolle und Perfektion. Sie liessen die übrigen Seins-Dimensionen stark verkümmern und führten zu «sozialen Problemen» wie Vereinzelung, dem Verfall sozia-ler Beziehungen, zu emotionalen und spirituelle Krisen, die die Fundamente unserer heutigen Lebensweise untergraben und die Menschheit an den Abgrund zur Selbstaus-löschung zu bringen drohen.

3.4 / Die spirituelle Ebene ist diejenige Seins- und Bedürfnisdimension, die nach letzten Wahrheiten und nach dem Sinn der eigenen Existenz fragt. Ihre Art des Erkennens ist intuitiv und unterscheidet sich damit grundsätzlich von den anderen Intelligenzen, die ihre Einsichten durch Auswahl zwischen zwei Polen oder Gegensätzen treffen. Intuitiv erkennen heisst, Wissen aus dem unbewussten Innern, aus dem Ozean des der ganzen Menschheit zur Verfügung stehen-den kollektiven Wissens als Geschenk zu erhalten. Die spirituelle Intelligenz hilft uns z.B., unfruchtbar gewordene Lebensmuster zu erkennen und zu transformieren. So entwi-ckeln wir neue Möglichkeiten des Denkens und des Seins.

Durch die Erweiterung und Vertiefung unserer inneren und äusseren Erfahrungen nimmt unsere Lebensqualität im Sinne eines qualitativen Wachstums zu. Innere Ruhe, Gelassen-heit, Lebensfreude und die Erfahrung von Lebenssinn wachsen in dem Masse, wie wir uns als Mitwirkende unserer eigenen und der Evolution der Menschheit insgesamt erleben.

3.5 / Integrales Bewusstsein als eine Haltung Die Wahrnehmung, Anerkennung und Pflege der verschiedenen Bedürfnis- und Ent-wicklungsdimensionen setzt eine besondere Weite der (Selbst-)Wahrnehmung, des Den-kens und der Selbstreflexion voraus. Jean Gebser nannte diese Eigenschaft des integralen

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Bewusstseins «Aperspektivität», also die Fähigkeit und Bereitschaft, kontinuierlich zwi-schen den Perspektiven verschiedener Bedürfnisdimensionen und Entwicklungsstufen zu wechseln, sich gleichsam spielerisch zwischen ihnen zu bewegen oder mehrere von ihnen gleichzeitig ins Bewusstsein zu nehmen und dabei ihre jeweiligen Stärken zu würdigen, ohne ihre «blinden Flecken» zu verkennen.

Menschen im integralen Bewusstsein identifizieren sich nicht mehr primär mit ihrem Denken, ihren Gefühlen oder ihren Bedürfnissen. Sie sind in der Lage, diese wie ein un-beteiligter «Zeuge» zu beobachten – und damit zu transformieren. Sie identifizieren sich zunehmend mit dem Beobachter und damit mit dem Bewusstsein selbst. Durch die Auf-lösung und Transzendierung der Haftung an materiellen Besitz, bestimmte Emotionen oder Überzeugungen, werden diese zugleich relativiert und integriert.

Im integralen Bewusstsein ist sich der Mensch bewusst, dass die Bedürfnisse des Körpers, des Gefühlsbereichs, des Verstandesgeistes und der Seele gleichermassen wichtig sind und erfüllt werden müssen, da sie Teile seiner Ganzheit sind. Er erkennt, dass er mit den Objekten seines Erkennens verbunden, bzw. mit ihnen vereint ist. Er lebt und liebt aus der Fülle und ist sich zugleich seiner unbegrenzten Mitverantwortung bewusst, die sich beispielsweise in der Beschränkung seines Konsums aufs gerade richtige Mass ausdrückt. So gelangt er zu einer immer vollständigeren Erfahrung der Ganzheit seines

Seins. Aus dieser inneren Quelle entspringt jedes Tun und Lassen, jede Tat der Liebe, jedes soziale und politische Engagement.

Integrales Bewusstsein ist somit eine reflektierende und transrationale Haltung, die die Strenge aufgeklärter Vernunft um kreative Intuition und spirituelle Intelligenz erweitert und bereit ist, sich selbst und die eigene Wahrnehmung – wenn nötig – zugunsten des grösseren, sich entwickelnden Zusammenhangs (des grösseren Ganzen) zurückzunehmen und in dessen Dienst zu stellen. Eine Haltung also, die Respekt für das Hergebrachte, Be-stehende zeigt und zugleich bereit ist, das Alte zugunsten von Neuem, Umfassenderem loszulassen. Da dies direkte Auswirkungen auf unser Handeln und auf die Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen hat, ist Bewusstseinsentwicklung der Dreh- und Angelpunkt des integralen politischen Projekts – eines Projekts, das für die Gesundung der Mensch-heit und des Planeten wesentlich ist und beide tiefgreifend verändern kann.

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4 / INTEGRALES BEWUSST-SEIN UND POLITIK

Jeder politische Entwurf gibt direkt oder indirekt Antwort(en) auf die Frage «Wer oder was ist der Mensch?» und macht auf dieser Grundlage Aussagen darüber, wie die Welt und das Zusammenleben der Menschen beschaffen sind oder sein sollten – und wie sie folglich verändert werden können. Hieraus werden dann konkrete politische Handlungs-empfehlungen abgeleitet. Integrale Politik ist darum bemüht, den Menschen und die von ihm mitgestaltete Welt aus einem integralen Bewusstsein heraus wahrzunehmen und hieraus zu handeln.

4.1 / Das integrale Menschenbild Das integrale Menschenbild stützt sich sowohl auf Erkenntnisse der grossen Weisheits-traditionen (philosophia perennis) wie auch auf die Ergebnisse jahrzehntelanger For-schungen, etwa in Kognitions- und Entwicklungspsychologie, Neurowissenschaften, Soziologie, Ökologie, Systemwissenschaften und Meditationsforschung.

Aus dieser Sicht sind Menschen sowohl körperlich als auch emotional, geistig und see-lisch entwicklungsfähige, sich entwickelnde und nach Entwicklung und Vervollkomm-nung strebende Wesen mit individuellen, gemeinschaftlichen und objektiv-äusserlichen Erfahrungsdimensionen. Sie werden in ihrem Handeln nicht von einem einzigen, allein massgeblichen Antrieb «gesteuert», wie es manche politische und wissenschaftliche The-orien annehmen (z.B. dem Überlebensinstinkt, dem Sexualtrieb, der rationalen Nutzen- und Gewinnmaximierung oder der Suche nach Bedeutung). Vielmehr sind alle diese An-triebe, Bedürfnis- und Erfahrungsdimensionen in wechselndem Masse bedeutsam, je nachdem, in welcher konkreten Entscheidungs- oder Lebenssituation und auf welchem Entwicklungsstand sich eine Person gerade befindet.

4.2 / Das integrale Politikverständnis Integrale Politik macht es sich zur Aufgabe, die Balance zwischen den grundlegenden menschlichen Bedürfnis- und Entwicklungsdimensionen dort wiederherzustellen, wo sie aus dem Gleichgewicht geraten sind sowie jede Art von (Weiter-) Entwicklung auf indivi-dueller und kollektiver Ebene zu fördern.

Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei in der heutigen Zeit darauf liegen, «Ersatzbefrie-digungen» wie den Versuch, emotionale und spirituelle Bedürfnisse durch materiellen Konsum zu befriedigen, als solche zu erkennen und durch eine dezidierte gesellschaftliche

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Aufwertung emotionaler und spiritueller Entwicklungsmöglichkeiten letztlich überflüssig zu machen.

Integrale Politik kann den Versuch, eine bestimmte «Wahrheit» oder Perspektive als ein-zig richtige durchzusetzen, durch die Suche nach einer möglichst umfassenden, möglichst viele Perspektiven integrierenden Sicht der Dinge ersetzen und daraus handeln. Anstatt «Wer hat Recht?» oder: «Wie triumphiere ich über meinen politischen Gegner?» fragt sie immer wieder: «Was müssen wir (noch) alles berücksichtigen und transzendieren, um zu einem wahrhaft umfassenden, integralen Verständnis der komplexen Probleme und der vielgestaltigen Abhängigkeiten in unserer globalen Welt zu gelangen?» Somit kann inte-grale Politik Brücken bauen zwischen politischen Lagern, zwischen Wissenschaft und Spi-ritualität, zwischen individuellen Befindlichkeiten und den Interessen und dem Wohl des grösseren Ganzen.

Weiterhin legt eine dem integralen Bewusstsein entspringende Politik grossen Wert auf die Qualität von Entscheidungs- und Dialogprozessen. Dabei stehen weniger universale Modelle und Utopien im Zentrum als die Suche nach dem für den jeweiligen Kontext besten nächsten (Entwicklungs-) Schritt. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass auch die besten Ergebnisse stets vorläufige Vorläufer weiterer Entwicklungen und besserer, um-fassenderer Lösungen sind, die es in einem achtsamen, konstruktiven Prozess zu ermit-teln gilt.

Integrale Politik ist die Politik, die aus der Liebe geschieht, aus der Intelligenz des Herzens.

Das Volk ergreift man nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Herzen.

Mahatma Gandhi

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WEITERFÜHRENDE LITERATUR

Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, 1999

Steve McIntosh, Integrales Bewusstsein, 2009

Rudolf Steiner, Die Stufen der höheren Erkenntnis, 7. Auflage 1993

Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, 14. Auflage 2008

Ken Wilber, Eine kurze Geschichte des Kosmos, 2004

Ken Wilber, Eros, Kosmos, Logos, 2001

Ken Wilber, Ganzheitlich handeln, 2001

Ken Wilber, Integrale Lebenspraxis, 2010

Erstellt von der Arbeitsgruppe INTEGRALES BEWUSSTSEIN.

Genehmigt von der Programmkommission am 1. Dezember 2010.