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Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Juristische Fakultät Examensklausurenkurs I, WS 2005/06 2. Klausur Öffentliches Recht (10.12.2005) PD Dr. Ekkehart Reimer Öffentliches Recht, Fall 2* In unmittelbarer Nähe der Autobahn A 5 hat die 25 km südlich von Mannheim gelegene baden- württembergische Gemeinde G-Dorf (Rhein-Neckar-Kreis) ein ausgedehntes Gewerbegebiet erschlossen. In den letzten Jahren haben dort diverse Investoren eine Vielzahl von großflächigen Verkaufsgeschäften eröff- net, die sich großer Beliebtheit in der Bevölkerung erfreuen. Der Einzugsbereich erfasst neben der Gemeinde G-Dorf das Gebiet der Städte Mannheim und Heidelberg, weite Teile des Rhein-Neckar-Kreises, ferner die Städte Schwetzingen und Speyer sowie diverse kleinere Ortschaften der Umgebung. Da noch große Flächen für eine Erweiterung des Gewerbegebiets zur Verfügung stehen, ist kein Ende des dynamischen Wachstums in Sicht. Ein Bebauungsplan besteht nicht; die Gemeinde G-Dorf steht einer weiteren Ausdehnung des Ge- werbegebiets aber erklärtermaßen positiv gegenüber. Dagegen mehren sich im Kreis der Einzelhändler aus den umliegenden Gemeinden die Bedenken gegen ei- nen weiteren Ausbau. Diese Bedenken teilt auch der Landrat des Rhein-Neckar-Kreises. Nachdem Gesprä- che mit der Gemeinde über eine Begrenzung des Gewerbegebiets erfolglos geblieben sind, erlässt das Land- ratsamt einen Bescheid, durch den der Gemeinde aufgegeben wird: 1. für das Gewerbegebiet … [im einzelnen näher bezeichnet] die Aufstellung eines Bebauungs- plans zu beschließen, 2. für dasselbe Gebiet eine Veränderungssperre des Inhalts zu beschließen, dass Vorhaben, die die Errichtung und Änderung von Einzelhandelsbetrieben zum Gegenstand haben, nicht durchgeführt werden dürfen, und 3. zu beschließen, dass bezüglich noch nicht beschiedener Bauanträge, die die Errichtung und Änderung von Einzelhandelsbetrieben zum Inhalt haben, Anträge auf Zurückstellung nach § 15 BauGB gestellt werden sollen. Der für sofort vollziehbar erklärte Bescheid ist damit begründet, dass eine Eindämmung des Gewerbegebiets aus Gründen der Raumordnung und Landesplanung geboten sei. Der bereits vorhandene Bestand an Spezial- einzelhandel und insbesondere an großflächigem Einzelhandel sei weit übersetzt. Er lasse keine Erweiterung mehr zu. Es komme schon jetzt zu empfindlichen Beeinträchtigungen umliegender Städte und Gemeinden. Dadurch werde die angestrebte gleichgewichtige Entwicklung in Verbindung mit einer polyzentrischen Struktur unterlaufen. Eine Erweiterung der Verkaufsflächen widerspreche dem städtebaulichen Integrations- gebot, wie es im Landesentwicklungsplan festgeschrieben sei, und dem Konzentrationsgebot. Dass die Ge- meinde G-Dorf ausschließlich eigene Interessen verfolge, verstoße schließlich auch gegen das Gebot inter- kommunaler Kooperation. Der Bürgermeister von G-Dorf reagiert mit Unverständnis auf diesen Bescheid des Landratsamts. Für eine Planungspflicht der Gemeinde (Ziff. 1) fehle es bereits an einer Rechtsgrundlage. Insbesondere verfolge das Landratsamt keine städtebaulichen Ziele. Auch im Hinblick auf Ziff. 2 und Ziff. 3 könne das Landratsamt sein Ermessen nicht an die Stelle des gemeindlichen Ermessens setzen. Zudem befürchtet der Bürgermeister, die Gemeinde könne Schadensersatzansprüche von Investoren auf sich ziehen, denen er mündlich in den letzten Monaten eine Fortführung der bisherigen Genehmigungspraxis zugesagt habe. Schließlich sei das Verhalten des Landratsamts widersprüchlich, weil doch das Landratsamt selber in den letzten Jahren stets alle Bauanträge für das Gewerbegebiet ordnungsgemäß genehmigt habe. Aus allen diesen Gründen möchte er rasch gegen den Bescheid vorgehen. Er will vor allem Zeit gewinnen. Was ist dem Bürgermeister zu raten? Abwandlung: Das Landratsamt hat von rechtsaufsichtlichen Maßnahmen gegen die Gemeinde G-Dorf abge- sehen. Nun möchten aber die angrenzenden Gemeinden aktiv werden und verhindern, dass das Gewerbege- biet weiter wächst. Wie? Bearbeitervermerk: Vorschriften des Landesplanungsgesetzes (LplG) bleiben außer Betracht. * Der Sachverhalt ist gegenüber der am 10.12.2005 gestellten Klausur leicht abgewandelt.

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Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Juristische Fakultät Examensklausurenkurs I, WS 2005/06 2. Klausur Öffentliches Recht (10.12.2005) PD Dr. Ekkehart Reimer

Öffentliches Recht, Fall 2*

In unmittelbarer Nähe der Autobahn A 5 hat die 25 km südlich von Mannheim gelegene baden-württembergische Gemeinde G-Dorf (Rhein-Neckar-Kreis) ein ausgedehntes Gewerbegebiet erschlossen. In den letzten Jahren haben dort diverse Investoren eine Vielzahl von großflächigen Verkaufsgeschäften eröff-net, die sich großer Beliebtheit in der Bevölkerung erfreuen. Der Einzugsbereich erfasst neben der Gemeinde G-Dorf das Gebiet der Städte Mannheim und Heidelberg, weite Teile des Rhein-Neckar-Kreises, ferner die Städte Schwetzingen und Speyer sowie diverse kleinere Ortschaften der Umgebung. Da noch große Flächen für eine Erweiterung des Gewerbegebiets zur Verfügung stehen, ist kein Ende des dynamischen Wachstums in Sicht. Ein Bebauungsplan besteht nicht; die Gemeinde G-Dorf steht einer weiteren Ausdehnung des Ge-werbegebiets aber erklärtermaßen positiv gegenüber. Dagegen mehren sich im Kreis der Einzelhändler aus den umliegenden Gemeinden die Bedenken gegen ei-nen weiteren Ausbau. Diese Bedenken teilt auch der Landrat des Rhein-Neckar-Kreises. Nachdem Gesprä-che mit der Gemeinde über eine Begrenzung des Gewerbegebiets erfolglos geblieben sind, erlässt das Land-ratsamt einen Bescheid, durch den der Gemeinde aufgegeben wird:

1. für das Gewerbegebiet … [im einzelnen näher bezeichnet] die Aufstellung eines Bebauungs-plans zu beschließen,

2. für dasselbe Gebiet eine Veränderungssperre des Inhalts zu beschließen, dass Vorhaben, die die Errichtung und Änderung von Einzelhandelsbetrieben zum Gegenstand haben, nicht durchgeführt werden dürfen, und

3. zu beschließen, dass bezüglich noch nicht beschiedener Bauanträge, die die Errichtung und Änderung von Einzelhandelsbetrieben zum Inhalt haben, Anträge auf Zurückstellung nach § 15 BauGB gestellt werden sollen.

Der für sofort vollziehbar erklärte Bescheid ist damit begründet, dass eine Eindämmung des Gewerbegebiets aus Gründen der Raumordnung und Landesplanung geboten sei. Der bereits vorhandene Bestand an Spezial-einzelhandel und insbesondere an großflächigem Einzelhandel sei weit übersetzt. Er lasse keine Erweiterung mehr zu. Es komme schon jetzt zu empfindlichen Beeinträchtigungen umliegender Städte und Gemeinden. Dadurch werde die angestrebte gleichgewichtige Entwicklung in Verbindung mit einer polyzentrischen Struktur unterlaufen. Eine Erweiterung der Verkaufsflächen widerspreche dem städtebaulichen Integrations-gebot, wie es im Landesentwicklungsplan festgeschrieben sei, und dem Konzentrationsgebot. Dass die Ge-meinde G-Dorf ausschließlich eigene Interessen verfolge, verstoße schließlich auch gegen das Gebot inter-kommunaler Kooperation. Der Bürgermeister von G-Dorf reagiert mit Unverständnis auf diesen Bescheid des Landratsamts. Für eine Planungspflicht der Gemeinde (Ziff. 1) fehle es bereits an einer Rechtsgrundlage. Insbesondere verfolge das Landratsamt keine städtebaulichen Ziele. Auch im Hinblick auf Ziff. 2 und Ziff. 3 könne das Landratsamt sein Ermessen nicht an die Stelle des gemeindlichen Ermessens setzen. Zudem befürchtet der Bürgermeister, die Gemeinde könne Schadensersatzansprüche von Investoren auf sich ziehen, denen er mündlich in den letzten Monaten eine Fortführung der bisherigen Genehmigungspraxis zugesagt habe. Schließlich sei das Verhalten des Landratsamts widersprüchlich, weil doch das Landratsamt selber in den letzten Jahren stets alle Bauanträge für das Gewerbegebiet ordnungsgemäß genehmigt habe. Aus allen diesen Gründen möchte er rasch gegen den Bescheid vorgehen. Er will vor allem Zeit gewinnen. Was ist dem Bürgermeister zu raten? Abwandlung: Das Landratsamt hat von rechtsaufsichtlichen Maßnahmen gegen die Gemeinde G-Dorf abge-sehen. Nun möchten aber die angrenzenden Gemeinden aktiv werden und verhindern, dass das Gewerbege-biet weiter wächst. Wie? Bearbeitervermerk: Vorschriften des Landesplanungsgesetzes (LplG) bleiben außer Betracht. * Der Sachverhalt ist gegenüber der am 10.12.2005 gestellten Klausur leicht abgewandelt.

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Lösungsvorschlag

Ausgangsfall

Im Ausgangsfall will der Bürgermeister „vor allem Zeit gewinnen“. Die nachfolgende Musterlö-sung prüft daher vorrangig, ob die Gemeinde mit Aussicht auf Erfolg einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes stellen kann (nachfolgend A.). Die Prüfung der Erfolgsaussichten ei-nes Rechtsbehelfs in der Hauptsache kann dann sehr kurz ausfallen (unten B.).

A. Einstweiliger Rechtsschutz

Ein Verwaltungsgericht könnte die aufschiebende Wirkung eines – noch einzulegenden – Wider-spruches der Gemeinde G-Dorf gegen den Bescheid des Landratsamts anordnen, wenn der entspre-chende Antrag der Gemeinde zulässig und begründet wäre.

Zum Verständnis: Nach dem Wortlaut von § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist nicht eindeutig, ob das Gericht im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zur (Wieder-)Herstellung der aufschiebenden Wir-kung verpflichtet ist. Richtigerweise ist diese Frage aber – wie auch im Rahmen von § 123 VwGO – wegen Art. 19 Abs. 4 GG zu bejahen, wenn nach Maßgabe der gerichtlichen Interessenabwägung das Aussetzungsinteresse des Adressaten das öffentliche Interesse am Sofortvollzug deutlich über-wiegt.

I. Zulässigkeit eines Antrags der Gemeinde G-Dorf nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO

1. Verwaltungsrechtsweg Nach der Natur des geltend gemachten Anspruchs liegt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit (§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO) vor, da sich die Antragstellerin – wie die Auslegung ihres Antrags (§ 122 VwGO i.V.m. § 88 2. Halbs. VwGO) ergibt – auf die Vorschrift des § 80 VwGO i.V.m. den Nor-men des materiellen Rechts über die Rechtmäßigkeit der vom Landratsamt getroffenen rechtsauf-sichtlichen Anordnung stützt. Bei diesen Normen handelt es sich durchgehend um dem öffentlichen Recht zuzuordnende Bestimmungen: Das Recht der staatlichen Kommunalaufsicht ist Sonderrecht des Staates, das sein Verhältnis zu den Gemeinden, Landkreisen und Bezirken (soweit diese im je-weiligen Bundesland eigenständige Gebietskörperschaften sind) subordinationsrechtlich regelt.

Zum Aufbau: Auf die Frage, ob – und ggf. unter welchen Voraussetzungen – aufsichtlichen Maß-nahmen gegenüber eine Gemeinde echte Außenwirkung i.S.v. § 35 Satz 1 LVwVfG zukommt, ist an dieser Stelle noch nicht einzugehen (dazu nachfolgend 2.a.bb.).

Eine verfassungsrechtliche Streitigkeit liegt nicht vor, da verfassungsrechtliche Normen nicht allein und auch nicht in erster Linie streitentscheidend sein werden. Auch eine anderweitige Sonderzuwei-sung ist nicht ersichtlich. Insbesondere greift § 217 BauGB (Zivilrechtsweg zur Kammer für Bau-landsachen) nicht ein. Vielmehr ist allein der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.

Zur Vertiefung: Auch Art. 76 LV BW ändert daran nichts. Die Zuständigkeit des Staatsgerichts-hofs bezieht sich allein auf spezifische Verfassungsverstöße des Landes bei der Wahrnehmung der Kommunalaufsicht (Art. 75 Abs. 1 Satz 1 LV), nicht aber auf die Vereinbarkeit mit einfachem Ge-setzesrecht.

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2. Statthaftigkeit des Antrags Die Antragstellerin begehrt einstweiligen Rechtsschutz. Dabei läge ein nach § 123 Abs. 5 VwGO vorrangig zu prüfender Fall des § 80 VwGO vor, wenn die angegriffene Maßnahme des Land-ratsamts einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 Satz 1 LVwVfG darstellte und in der Hauptsache die An-fechtungsklage statthaft wäre.

a. Verwaltungsaktqualität der Verfügung des Landratsamts Aufsichtliche Maßnahmen sind zwar vielfach, aber nicht durchgehend Verwaltungsakte. Jedenfalls für rechtsaufsichtliche Maßnahmen stellt § 125 GemO die Anfechtbarkeit in der Hauptsache aus-drücklich klar.

Zum Aufbau: Wer – wie hier vorgeschlagen - mit § 125 GemO argumentiert, muss nachfolgend nur prüfen, ob es sich bei den drei Regelungen um rechtsaufsichtliche Maßnahmen handelt (dazu unten aa.). Wer sich dagegen nicht auf § 125 GemO stützt, muss an Hand von § 35 Satz 1 LVwVfG im einzelnen prüfen, ob die drei Anordnungen (je für sich) Verwaltungsakte sind. Dabei kommt es vor allem auf die Merkmale der Regelungswirkung und der Außenwirkung an (dazu s. das Hilfsgut-achten unten bb. und cc.).

aa. „Verfügungen auf dem Gebiet der Rechtsaufsicht“ Fraglich ist deshalb allein, ob das Landratsamt im Hinblick auf alle drei in dem Schreiben genann-ten Punkte in seiner Eigenschaft als Rechtsaufsichtsbehörde gehandelt hat. Das ist zu bejahen, wenn die dort geforderten Maßnahmen sich auf weisungsfreie Angelegenheiten der Gemeinde beziehen (§ 118 Abs. 1 GemO).

(1) Aufforderung zur Aufstellung eines Bebauungsplans Die Anordnung in Ziff. 1 des Bescheids (Pflicht zum Erlass eines Aufstellungsbeschlusses) betrifft die Gemeinde in der Ausübung ihrer gemeindlichen Planungshoheit, also in einer weisungsfreien Angelegenheit (§ 2 Abs. 1 GemO, Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG). Daher kann diese Anordnung nur als Maßnahme der Rechtsaufsicht zulässig sein (§ 118 Abs. 1 i.V.m. §§ 119 ff. GemO). Bei rechtsauf-sichtlichen Maßnahmen tritt die Gemeinde dem Staat auch materiell stets als eigenständige und staatsferne juristische Person gegenüber. Hier liegt daher unproblematisch eine Außenwirkung vor.

(2) Aufforderung zum Erlass einer Veränderungssperre Gleiches gilt für den Erlass einer Veränderungssperre. Die Veränderungssperre sichert die gemeind-liche Planungshoheit ab und liegt deshalb ebenfalls in der Zuständigkeit der Gemeinde (nicht etwa der Bauaufsichtsbehörde) im eigenen Wirkungskreis. Daher kommt auch insoweit nur eine recht-saufsichtliche Maßnahme in Betracht, der unproblematisch Außenwirkung beizumessen ist.

(3) Aufforderung zum Zurückstellen von Baugesuchen Das Zurückstellen von Baugesuchen (Ziff. 3 des Bescheids) ist als solches zwar eine Handlung der Baugenehmigungsbehörde (§ 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB), in Baden-Württemberg ist dies die untere Baurechtsbehörde (§ 48 Abs. 1 LBO), vorliegend (wenn man unterstellt, dass G-Dorf keine beson-ders leistungsfähige Gemeinde i.S.d. § 46 Abs. 2 i.V.m. Abs. 5 LBO ist) also das Landratsamt als untere Verwaltungsbehörde (§ 46 Abs. 1 Nr. 3 LBO i.V.m. §§ 1 Abs. 3 Satz 1 LKrO bzw. 13 Abs. 1 Nr. 1 LVG). Das Zurückstellen ist aber strikt antragsgebunden. Das Stellen eines Zurückstellungs-antrags ist eine Angelegenheit der Gemeinde. Das Antragserfordernis dient wiederum der Absiche-rung der gemeindlichen Planungshoheit; die in § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB angelegte Zweistufigkeit wäre überflüssig, wenn das Stellen des Antrags zu den Pflichtaufgaben der Gemeinde gehörte. Das belegt, dass der Bescheid auch in seiner Ziff. 3 die Gemeinde G-Dorf in ihrer Planungshoheit be-trifft.

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(4) Zwischenergebnis In allen drei Punkten hat das Landratsamt als Rechtsaufsichtsbehörde gehandelt. Damit ist in der Hauptsache durchgehend die Anfechtungsklage gegeben (§ 125 GemO).

bb. Hilfsgutachten: Regelungswirkung der drei Gegenstände des Schreibens

Zum Aufbau: Diesen Teil der Prüfung muss vornehmen, wer sich nicht auf §125 GemO gestützt hat.

Eine Regelungswirkung entfällt, wenn die Aufsichtsbehörde die Rechtsverhältnisse der Gemeinde nicht umgestaltet. Ein bloßer Hinweis auf die Rechtslage ist daher kein Verwaltungsakt. Umstritten ist, ob z.B. die Ausübung des aufsichtlichen Informationsrechts (§§ 120 bzw. 129 Abs. 2 Satz 1 GemO) und hier insbesondere die Anforderung von Informationen gegenüber der Gemeinde als „Regelung“ zu qualifizieren ist1. Beanstandungen und Weisungen entfalten dagegen stets Rege-lungswirkung. Im vorliegenden Fall werden der Erlass eines Bebauungsplanes und einer Veränderungssperre so-wie das Stellen von Anträgen nach § 15 BauGB verlangt. In jedem der drei Begehren liegt eine Aufforderung nach § 122 GemO, die die Gemeinde verpflichten soll und mithin Regelungswirkung entfaltet.

cc. Hilfsgutachten: Außenwirkung Fraglich ist zweitens, ob den Maßnahmen auch Außenwirkung zukommt. Dabei soll es nach h.M. nicht genügen, dass die Gemeinde formell eine eigenständige (ursprüngliche) Gebietskörperschaft des öffentlichen Rechts ist, also dem Staat als rechtlich selbstständige juristische Person (§ 1 Abs. 4 GemO) gegenübertritt. Vielmehr soll eine materielle Betrachtungsweise maßgeblich sein. Es kommt also darauf an, ob die Gemeinde durch die aufsichtlichen Maßnahmen in ihrem Recht auf Selbstverwaltung betroffen wird. Das wäre jedenfalls insoweit zu bejahen, als die Maßnahmen sich auf Kompetenzen beziehen, die in den eigenen Wirkungskreis der Gemeinde fallen. Das ist für alle drei Maßnahmen zu bejahen (siehe oben aa.).

dd. Zwischenergebnis Damit haben alle drei in dem Bescheid des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis enthaltenen Anord-nungen sowohl Regelungsqualität als auch Außenwirkung. Es handelt sich daher um drei Verwal-tungsakte, nicht um bloße Verwaltungsinterna.

b. Keine Bestandskraft oder Erledigung der Verwaltungsakte Mangels entgegenstehender Angaben im Sachverhalt ist davon auszugehen, dass für diese Verwal-tungsakte die Fristen der §§ 70, 74 VwGO noch nicht abgelaufen sind. Damit steht der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes keine formelle Bestandskraft entgegen. Auf die tatsächliche Erhebung von Anfechtungswiderspruch bzw. Anfechtungsklage kommt es für die Zulässigkeit des Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO nach hier vertretener Auffassung nicht an (vgl. § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO, dessen Wertung sich auf den Fall des Anfechtungswiderspruchs übertragen lässt)2. Die Verwal-tungsakte haben sich auch nicht erledigt.

1 Grundsätzlich ablehnend etwa Becker/Heckmann/Kempen/Manssen, Öffentliches Recht in Bayern, 2. Teil (Kom-

munalrecht), Rdnr. 602. 2 Das ergibt sich v.a. aus einem Vergleich des § 80 VwGO heutiger Fassung mit dem früheren § 80 Abs. 4 Satz 1

VwGO (bis zum 4. VwGO-ÄndG), ferner aus Art. 19 Abs. 4 GG. Hierzu VGH Mannheim, VBlBW 1995, 17 (18); Schenke, JZ 1996, 1160; ders., Verwaltungsprozessrecht, Rn. 993 m.w.N.; für die Gegenauffassung Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 80 Rn. 314; Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 1498; Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 32 Rn. 34.

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c. Anfechtungsklage als statthafte Klageart in der Hauptsache Die Gemeinde G-Dorf möchte in der Hauptsache die Kassation dieses Verwaltungsaktes erreichen. Statthafte Rechtsbehelfe hierfür sind (Anfechtungs-)Widerspruch und Anfechtungsklage.

d. Zwischenergebnis Damit ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft.

3. Antragsbefugnis Die Antragsbefugnis der Gemeinde im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ergibt sich aus der Mög-lichkeit, dass sie durch die Anordnung des Sofortvollzugs in ihrer Planungshoheit (Art. 28 Abs. 2 GG; Art. 71 Abs. 1 LV BW; § 2 Abs. 1 GemO) beeinträchtigt ist.

4. Rechtsschutzbedürfnis Der Gemeinde G-Dorf fehlt auch das Rechtsschutzbedürfnis nicht. Insbesondere ist irrelevant, dass sie noch keinen Rechtsbehelf in der Hauptsache eingelegt hat (s. oben 2.b.). Auch setzt die Gewäh-rung gerichtlichen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 Nr. 4 VwGO keinen vorherigen Antrag bei der Behörde auf Aussetzung der Vollziehung voraus (arg. § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO e contrario).

5. Passive Prozessführungsbefugnis Nach § 78 Abs. 1 VwGO ist der Antrag gegen den Träger der handelnden Behörde zu richten. Wo - wie das Landratsamt in Baden-Württemberg – eine Behörde zwei Träger hat, hängt die passive Prozessführungsbefugnis davon ab, ob die Behörde in ihrer Eigenschaft als Verwaltung der kom-munalen Gebietskörperschaft (Landkreis) oder in ihrer Eigenschaft als Staatsbehörde tätig gewor-den ist (§ 1 Abs. 3 LKrO). In Fragen der Kommunalaufsicht über die Gemeinden wird das Land-ratsamt als „untere Verwaltungsbehörde“ (§ 119 Satz 1 Fall 1 GemO), mithin als Staatsbehörde (§ 1 Abs. 3 Satz 2 LKrO) tätig. Mangels entsprechender Anordnung im baden-württembergischen Lan-desrecht ist das Landratsamt nicht als solches zur Prozessführung befugt. Deshalb liegt die passive Prozessführungsbefugnis (allein) beim Land Baden-Württemberg.

Zum Aufbau: Davon ist die materiellrechtliche Frage zu unterscheiden, wer richtiger Antragsgeg-ner ist, d.h. wer Schuldner des geltend gemachten Antrags ist. Ob diese Prüfung in den (stark verob-jektivierten) Verfahren nach §§ 42, 80 VwGO überhaupt zu prüfen ist, ist allerdings nicht eindeutig. Hierzu siehe die Begründetheitsprüfung (unten A.II.1.). § 78 Abs. 1 VwGO betrifft aber nach (bun-desweit, a.A. in Bayern) h.M. eine Zulässigkeitsfrage. Insbesondere § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO „macht nur dann einen Sinn, wenn man sie als prozessuale Bestätigung dessen versteht, daß die Klage gegen den Hoheitsträger zu richten ist, der nach materiellem Recht […] verpflichtet ist“3.

Mit anderen Worten: Es kommt nicht – wie in den Fällen des § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO - zu einer Prozessstandschaft der Behörde für die juristische Person „Land“.

Zur Vertiefung: Eine solche passive Prozessstandschaft fehlt im baden-württembergischen Lan-desrecht. Das bedeutet allerdings nicht, dass nicht auch in Baden-Württemberg ausnahmsweise Landesbehörden als solche zur Prozessführung befugt sein können. Vielmehr sind z.B. die Finanz-ämter kraft bundesrechtlicher Anordnung als solche prozessführungsbefugt (§ 63 Abs. 1 FGO).

3 Happ, in: Eyermann/Fröhler, 10. Aufl. (1998), § 78 Rdnr. 2.

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Wo einzelne Bundesländer dagegen auch für das Verwaltungsprozessrecht eine Prozessstandschaft der Behörde als solcher vorsehen (also von § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO Gebrauch gemacht haben), finden sich die entsprechenden Vorschriften in den Ausführungsgesetzen zur VwGO4.

6. Zulässigkeitsvoraussetzungen in der Hauptsache Anfechtungswiderspruch bzw. -klage müssten in der Hauptsache zulässig sein. Einzugehen ist hier-bei (nur) noch auf die „kleinen Zulässigkeitsvoraussetzungen“, die in den vorstehenden Prüfungs-punkten nicht bereits inzident mitbehandelt wurden5: Beteiligtenfähigkeit, Prozessfähigkeit, Klage-befugnis und Fristwahrung hinsichtlich der Hauptsache. Die Beteiligten- und Prozessfähigkeit der Gemeinde G-Dorf, vertreten durch ihren Bürgermeister (§ 62 Abs. 3 VwGO analog i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 2 GemO), sind unproblematisch zu bejahen. Gleiches gilt für die Beteiligten- und Pro-zessfähigkeit des Landes Baden-Württemberg als Antragsgegner. Anwaltszwang besteht nicht (§ 67 Abs. 1 VwGO e contrario). Auch im übrigen ergeben sich keine Zweifel an der Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs in der Hauptsache.

7. Zuständigkeit Die Gemeinde wird ihren Antrag beim Gericht der Hauptsache (§ 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO), also beim Verwaltungsgericht Karlsruhe (§§ 45, 52 Nr. 1 VwGO, § 1 Abs. 2 AGVwGO) einzureichen haben.

8. Form und Frist Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist nicht formgebunden. Auch eine besondere Frist ist nicht zu beachten (zur Widerspruchs-/Klagefrist in der Hauptsache vgl. aber oben 2.b.).

9. Zwischenergebnis Der Antrag der Gemeinde G-Dorf ist nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig.

II. Begründetheit Ein Erfolg des Antrags der Gemeinde G-Dorf in der Sache setzt zunächst voraus, dass der Antrag sich gegen den richtigen Antragsgegner richtet (unten 1.). Weiter ist erforderlich, dass die Anord-nung des Sofortvollzugs formell rechtswidrig war (unten 2.) oder dass die vom Verwaltungsgericht eigenständig vorzunehmende Interessenabwägung die Aussetzung der sofortigen Vollziehung als geboten erscheinen lässt (unten 3.).

Zur Vertiefung: Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Begründetheitsvoraussetzungen ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (arg. § 80 Abs. 7 VwGO6).

1. Passivlegitimation Der Antrag muss gegen den Rechtsträger derjenigen Behörde gerichtet sein, die über den Vollzug entschieden hat oder entscheidet. Über den Sofortvollzug entscheidet die in der Hauptsache zustän-dige Behörde, vorliegend das Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis als untere Baurechtsbehörde, mithin als Staatsbehörde. Ihr Träger ist insoweit das Land Baden-Württemberg. Eine Klage der Gemein-de G-Dorf wäre also von vornherein unbegründet, wenn sie sich gegen einen anderen Beklagten als das Land Baden-Württemberg richtete.

4 § 8 Abs. 2 BbgVwGG: § 14 Abs. 2 GOrgG MV; § 8 Abs. 2 AGVwGO Nds.; § 5 Abs. 2 AGVwGO NW; § 17

Abs. 2 AGVwGO Saarland; § 8 Abs. 2 AGVwGO SAnh; § 6 Satz 2 AGVwGO SH. 5 Vgl. zutr. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 994. 6 Decker, in: Wolff/Decker, Studienkommentar VwGO/VwVfG (2005), § 80 VwGO Rdnr. 61.

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Zur Vertiefung:

1. Dass an dieser Stelle die Passivlegitimation („ist der Antragsgegner materiell-rechtlich richtig gewählt?“) zu prüfen ist, ist unumstritten. Streitig ist nur, ob diese Frage nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO oder allein nach dem (oft: Landes-)Verwaltungsverfahrens- und -organisationsrecht zu ent-scheiden ist. Bundesweit hat sich die letztgenannte Auffassung als herrschend durchgesetzt. Sie geht davon aus, dass § 78 VwGO mangels einer entsprechenden Bundeskompetenz keine Regelung zur Begründetheit eines Antrags, sondern lediglich die besondere Zulässigkeitsvoraussetzung „pas-sive Prozessführungsbefugnis“ betrifft7.

2. Zwar entspricht die Passivlegitimation im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO regelmäßig der Passivlegitimation in der Hauptsache. Es gibt aber – seltene - Fälle, in denen der Beklagte in der Hauptsache und der Antragsgegner im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO auseinanderfallen. Bei-spiel: Anfechtungsklage gegen einen gemeindlichen VA, dessen Sofortvollzug aber erst von der Widerspruchsbehörde angeordnet worden ist. Hier ist in der Hauptsache i.d.R. die Gemeinde pas-sivlegitimiert, im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO dagegen der Träger der Widerspruchsbehörde.

2. Formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung des Sofortvollzugs

Zum Aufbau: Die formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung des Sofortvollzugs ist nur im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO zu prüfen. In den andern Fällen tritt Sofortvollzug kraft Gesetzes ein, es gibt also keine entsprechende behördliche Anordnung, die fehlerhaft sein könnte.

Fraglich ist zunächst, ob die Anordnung des Sofortvollzugs durch das Landratsamt den formellen Voraussetzungen des § 80 Abs. 2 und Abs. 3 VwGO entsprach. Keine Besonderheiten ergeben sich im Hinblick auf die Zuständigkeit und das behördliche Verfahren. Zweifel sind allerdings im Hin-blick auf die Form der Anordnung des Sofortvollzugs anzumelden.

a. Besondere Anordnung Erforderlich ist zunächst eine besondere Anordnung (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO a.E.). Von ihrer E-xistenz ist nach dem Sachverhalt auszugehen.

b. Schriftliche Begründung Der Bescheid ist insgesamt schriftlich begründet worden. Dem speziellen Schriftformerfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist insofern Genüge getan, als die besondere Anordnung (oben a)) offensichtlich Teil des insgesamt schriftlich ergangenen Verwaltungsakts (Bescheids) ist.

c. Gesonderte Begründung Allerdings zeigt die Formulierung „besondere Begründung“ in § 80 Abs. 3 Satz 2 VwGO, dass die Begründung für die Anordnung des Sofortvollzugs nicht mit der Begründung des Bescheids in der Hauptsache (den Regelungen unter Ziff. 1. bis 3.) identisch sein darf. In formeller Hinsicht bedeutet das, dass die Begründung für die Anordnung des Sofortvollzugs textlich von der Begründung der zu vollziehenden Anordnung abgesetzt (abgesondert) werden muss. In materieller Hinsicht erfordert die „besondere Begründung“ eigenständige Argumente, aus denen sich die Dringlichkeit des Voll-zugs ergibt.

7 Hierzu mit eingehender Begründung Meissner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO (Stand: 11. Erg.-

Lfg., 2005), § 78 Rdnr. 8 ff.

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Im vorliegenden Fall fehlen derartige Argumente. Der Bescheid lässt jede gesonderte Begründung i.S.d. § 80 Abs. 3 VwGO vermissen. Aus diesem Grund ist die Anordnung des Sofortvollzugs for-mell rechtswidrig.

Zur Vertiefung: Nicht ausreichend sind insbesondere formelhafte Verweise auf § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO oder Paraphrasen des Gesetzeswortlauts, Verweise auf die Begründung der Hauptsache oder die bloße Behauptung der Dringlichkeit ohne nähere Begründung.

d. Heilung? Fraglich ist allerdings, ob dieser Mangel gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 2 LVwVfG durch Nachholung ge-heilt werden kann. Die h.M. verneint diese Heilungsmöglichkeit unter Hinweis auf die Schutzbe-dürftigkeit des Betroffenen und die besondere Teleologie des § 80 Abs. 3 VwGO (Behörde soll ge-zwungen werden, die Notwendigkeit des Sofortvollzugs vor Ergehen der entsprechenden Anord-nung zu überlegen und abzuwägen)8.

Zur Vertiefung: Natürlich nutzt die Berufung auf die bloße formelle Rechtswidrigkeit der Anord-nung des Sofortvollzugs dem Antragsteller häufig nicht viel, da die Behörde – mit nunmehr ord-nungsgemäßer Begründung – den Sofortvollzug sogleich, nach h.M. noch im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO9, erneut anordnen kann10.

Die Anordnung des Sofortvollzugs ist damit formell rechtswidrig. Sie ist schon aus diesem Grund aufzuheben11.

Zum Aufbau: Angesichts dessen ist die nachfolgend geprüfte Interessenabwägung ein reines Hilfsgutachten. Wer es hier nicht verfasst, muss die nachfolgende Prüfung im Rahmen der Be-gründetheit des Anfechtungswiderspruchs in der Hauptsache (unten B.) vornehmen.

3. Interessenabwägung Die vom Verwaltungsgericht vorzunehmende Interessenabwägung müsste ergeben, dass das Inte-resse der Gemeinde G-Dorf an einer Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung das öffentliche Interesse am Sofortvollzug überwöge. Das wäre dann der Fall, wenn sich die aufsichtsrechtliche Maßnahme bei der – im Verfahren um den einstweiligen Rechtsschutz – gebotenen summarischen Prüfung nach Maßgabe der einschlägigen Befugnisnorm (unten a.) als formell (unten b.) oder mate-riell (unten c.) rechtswidrig erwiese.

a. Befugnisnorm Da alle drei Anordnungen in Rechte der Gemeinde G-Dorf eingreifen (s.o. A.I.2.a.bb)), stehen sie unter dem Vorbehalt des Gesetzes. Sie bedürfen also einer gesetzlichen Befugnisnorm, die dann als Hauptmaßstab für die Prüfung der formellen und der materiellen Rechtmäßigkeit der Anordnungen dient. Hier kommen in erster Linie die Vorschriften über die Kommunalaufsicht (§§ 118 ff. GemO) in Betracht. Dabei ist für die einzelnen Regelungsgegenstände je gesondert zu untersuchen, ob das Landratsamt als Rechtsaufsichtsbehörde oder als Fachaufsichtsbehörde gehandelt hat.

8 Vgl. statt aller Kopp/Schenke, VwGO, § 80 Rn. 87. 9 Auch hierzu im Einzelnen Kopp/Schenke, VwGO, § 80 Rn. 87 m.w.N. 10 Vgl. Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 32 Rn. 40. 11 Wohl h.M.; vgl. m.w.N. Decker, in: Wolff/Decker, Studienkommentar VwGO/VwVfG (2005), § 80 VwGO

Rdnr. 65.

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aa. Anordnung, die Aufstellung eines Bebauungsplans zu beschließen Der Erlass von Bauleitplänen fällt den Bereich der – weisungsfreien - kommunalen Selbstverwal-tung (Art. 28 Abs. 2 GG; Art. 71 Abs. 1 LV BW; § 2 Abs. 1 GemO; § 2 Abs. 1 Satz 1 BauGB). Gleiches gilt für den – hier geforderten – sog. Planaufstellungsbeschluss, der dem Erlass eines Be-bauungsplanes vorgelagert ist. Für weisungsfreie Angelegenheiten gibt es keine Fachaufsicht. Es kommt daher nur ein rechtsaufsichtliches Handeln des Landratsamtes in Betracht (§§ 118 Abs. 1, 119 ff. GemO). Danach könnte die Anordnung des Landratsamtes eine Anordnung zur Durchfüh-rung der notwendigen Maßnahmen (§ 122 GemO) sein.

bb. Anordnung, eine Veränderungssperre zu beschließen Die Veränderungssperre wird nach § 16 Abs. 1 BauGB von der Gemeinde als Satzung beschlossen. Damit handelt es sich auch hier um eine Maßnahme des eigenen Wirkungskreises, sodass wiederum nur ein rechtsaufsichtliches Handeln des Landratsamtes im Wege einer Anordnung (§ 122 GemO) in Betracht kommt.

cc. Anordnung, Anträge auf Zurückstellen von Baugesuchen zu stellen Schließlich ist auch das Stellen eines Antrags auf Zurückstellen von Baugesuchen nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB eine Angelegenheit, die bei der örtlich betroffenen Gemeinde in den eigenen Wir-kungskreis fällt. Denn auch sie dient allein dem Zweck, die Planungshoheit der Gemeinde abzusi-chern. Die Entscheidung darüber, ob ein Antrag nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB gestellt werden soll, liegt folgerichtig allein bei der Gemeinde. Die Bauaufsichtsbehörde kann eingereichte Bauan-träge nicht von Amts wegen zurückstellen. Daher kommt auch in diesem Punkt allein § 122 GemO als Befugnisnorm in Betracht.

Zur Vertiefung [nur für die Besprechung am 3.2.2006]: Anders wäre der Fall zu entscheiden gewesen, wenn das Landratsamt die Gemeinde unmittelbar zur Zurückstellung von Baugesuchen angewiesen hätte. Da die Zurückstellung von Baugesuchen Sache der Baugenehmigungsbehörde (= der unteren Baurechtsbehörde) ist, wäre eine entsprechende Weisung gegenüber einer gewöhnli-chen kreisangehörigen Gemeinde (die nicht Baurechtsbehörde ist) ins Leere gegangen und schon aus diesem Grunde materiell rechtswidrig, möglicherweise sogar nichtig (§ 44 Abs. 1 LVwVfG) gewesen. Hier wäre allerdings – auch im Fall der Nichtigkeit12 - eine Umdeutung in die hier vorlie-gende Anweisung unter Ziff. 3 in Betracht gekommen (§ 47 LVwVfG).

Aber auch gegenüber

− einem Stadtkreis (hier ist die Gemeinde untere Verwaltungsbehörde (§ 13 Abs. 1 Nr. 2 LVG), die insoweit eine Pflichtaufgabe nach Weisung zu erfüllen hat (§§ 2 Abs. 3 GemO, 13 Abs. 3 LVG),

− einer Großen Kreisstadt (sie nimmt grundsätzlich alle Aufgaben der unteren Verwaltungsbehör-de wahr, soweit § 16 LVG keine abweichende Regelung trifft; auch die Große Kreisstadt wäre im Rahmen einer Pflichtaufgabe nach Weisung (§ 2 Abs. 3 GemO) betroffen gewesen (§ 13 Abs. 3 LVG)) oder

− einer leistungsfähigen kreisangehörigen Gemeinde, der aber nach § 46 Abs. 2 i.V.m. Abs. 5 (Leistungsfähigkeit) oder Abs. 3 (Altfälle) einschlägige Aufgaben der unteren Baurechtsbehörde anvertraut sind,

12 Und (aus historischen Gründen) gerade in diesem Fall: Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. (2001),

§ 47 Rdnr. 31.

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hätte eine solche Anweisung nicht als fachaufsichtliche Weisung ergehen dürfen. Denn in Baden-Württemberg rücken diese Gemeinden (ebenso wie die Große Kreisstadt und der Stadtkreis) voll-ständig in die Rolle der unteren Baurechtsbehörde ein; die Fachaufsicht über sie obliegt deshalb nicht dem Landratsamt, sondern dem Regierungspräsidium als höherer Baurechtsbehörde (§ 46 Abs. 1 Nr. 2 LBO, auf den § 129 Abs. 1 GemO verweist). Für die Große Kreisstadt ist das aus-drücklich in § 25 Abs. 2 LVG angeordnet. Zudem stellt sich auch in diesem Fall die Frage, ob das Antragserfordernis des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB angesichts der Tatsache, dass der Antrag eine freie Selbstverwaltungsangelegenheit bildet, durch aufsichtliche Weisung überwunden werden kann. Aus den oben genannten Gründen (Art. 28 Abs. 2 GG; Art. 71 Abs. 1 LV BW; § 2 Abs. 1 GemO) ist das abzulehnen. Daher wäre die Weisung auch gegenüber einem Stadtkreis, einer Gro-ßen Kreisstadt oder einer leistungsfähigen kreisangehörigen Gemeinde materiell rechtswidrig.

b. Formelle Rechtmäßigkeit der aufsichtsrechtlichen Maßnahme

aa. Zuständigkeit Nach dem oben (a.aa.–cc.) Gesagten hat das Landratsamt im Hinblick auf alle drei Teilregelungen des Bescheids als Kommunalaufsichtsbehörde (Rechtsaufsichtsbehörde) gehandelt. Die einschlägi-ge Zuständigkeit des Landratsamts ergibt sich aus § 119 Satz 1 Fall 1 GemO.

Zur Vertiefung: Fraglich könnte allenfalls sein, ob den – hier nicht zu prüfenden - Vorschriften des Landesplanungsrechts ein Vorrang zukommt. Danach ist an eine Kompetenz anderer Behörden, insbesondere des Regionalverbands (§ 21 LplG) oder des Regierungspräsidiums Karlsruhe als hö-here Raumordnungsbehörde (§ 30 Abs. 2 LplG zu denken. Diese – nicht zentrale – Frage hat das OVG Koblenz für das rheinland-pfälzische Landesrecht verneint: Es fehle jedenfalls an der Anord-nung eines Vorrangs des Landesplanungsrechts. An der kommunalrechtlich begründeten Zustän-digkeit des Landratsamtes, die letztlich Reflex des materiellen Rechts (hier: § 1 Abs. 4 BauGB; dazu s.u.) ist, können die Vorschriften des Landesplanungsrechts daher nichts ändern. Es kommt allenfalls zu konkurrierenden Kompetenzen zweier Behörden. Für Baden-Württemberg könnte sich allerdings aus § 21 LplG allerdings etwas anderes ergeben (s.u. S. 18).

bb. Verfahren, Form Hinweise auf Verfahrens- oder Formfehler sind nicht ersichtlich. Insbesondere fehlt es nicht an der nach § 28 LVwVfG erforderlichen Anhörung der Gemeinde G-Dorf (arg. Erfolglosigkeit bisheriger Gespräche). Der Bescheid des Landratsamts ist damit formell rechtmäßig.

c. Materielle Rechtmäßigkeit der aufsichtsrechtlichen Maßnahmen Die rechtsaufsichtlichen Maßnahme besteht aus drei Anordnungen i.S.d. § 122 GemO. Diese An-ordnungen sind materiell rechtmäßig, wenn die Gemeinde G-Dorf die angeordneten Maßnahmen bislang pflichtwidrig unterlassen hat („die ihr gesetzlich obliegenden Pflicht nicht [erfüllt]“: § 122 GemO), positiv gewendet: wenn sie auch ohne die Anordnungen, d.h. allein nach Maßgabe der ge-setzlichen Vorschriftenzur Vornahme dieser Maßnahmen verpflichtet ist.

Zur Vertiefung: Etwas Anderes gilt bei der Fachaufsicht: Eine fachaufsichtliche Maßnahme ist auch dann rechtmäßig, wenn das vorangegangene gemeindliche Unterlassen zwar rechtmäßig, aber unzweckmäßig war.

Zum Aufbau: An sich verlangt § 122 GemO eine Inzidentprüfung des bisherigen Verhaltens der Gemeinde, also eine (Inzident-)Prüfung der formellen und materiellen Rechtmäßigkeit ihres Vorverhaltens. Wenn die Gemeinde allerdings – wie hier – bislang untätig geblieben ist, entfällt

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die Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit zwar im Hinblick auf das gemeindliche Vorverhalten: Denn ein Unterlassen kann in formeller Hinsicht niemals rechtswidrig sein. Trotzdem steht im Fol-genden nicht allein die materielle Rechtmäßigkeit des gemeindlichen Unterlassens zur Prüfung; vielmehr ist zusätzlich (vorab) zu prüfen, ob die Gemeinde zur Vornahme der aufsichtlich angeord-neten Maßnahmen zuständig ist.

aa. Pflicht der Gemeinde G-Dorf zur Aufstellung eines Bebauungsplanes Im Hinblick auf Ziff. 1 des Bescheids des Landratsamts ist mithin fraglich, ob die Gemeinde G-Dorf zum Erlass eines Beschlusses über die Aufstellung eines Bebauungsplanes (zum sog. förmli-chen Aufstellungsbeschluss; vgl. § 14 Abs. 1 BauGB) verpflichtet war. Eine solche Pflicht setzt ihrerseits voraus, dass ein Bebauungsplan mit dem geforderten Inhalt überhaupt hätte beschlossen werden dürfen (unten (1)). Sodann ist zu prüfen, ob das grundsätzlich bestehende gemeindliche Planungsermessen hier auf null reduziert war, sodass sich die Kompetenz zum Erlass eines Bebau-ungsplanes nunmehr zu einer – rechtsaufsichtlich durchsetzbaren – Pflicht zu seinem Erlass ver-dichtet hat (unten (2)).

(1) Rechtmäßigkeit des geforderten Beschlusses über die Aufstellung eines Bebauungsplanes Die Gemeinde G-Dorf ist für den Erlass von Bebauungsplänen, die das Gemeindegebiet betreffen, unproblematisch zuständig. Damit obliegt ihr zugleich die Zuständigkeit für den Erlass des – hier geforderten – Aufstellungsbeschlusses nach § 14 Abs. 1 BauGB. Auch die weiteren formell-rechtlichen Voraussetzungen für den Erlass eines solchen Aufstellungsbeschlusses müssten gewahrt sein.

Zum Aufbau gilt, wie gesagt: Da es noch keinen Aufstellungsbeschluss gibt, erübrigt sich hier eine nähere Prüfung dieser formell-rechtlichen Anforderungen.

Fraglich ist damit nur, ob der Rechtmäßigkeit des Aufstellungsbeschlusses materiell-rechtliche Be-denken entgegenstehen. Käme es hier zum unmittelbaren „Durchgriff“ auf die materielle Rechtmä-ßigkeit eines jede Bebauung untersagenden Bebauungsplans, könnten sich aus dem grundsätzlichen Verbot der Negativplanung Bedenken ergeben13. Ein solcher Durchgriff ist hier aber problematisch. Denn zu beurteilen ist nur die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen, die die Rechtsaufsichtsbehörde gefordert hat – also in erster Linie des Beschlusses nach § 14 Abs. 1 BauGB zur Aufstellung eines (sc. späteren) Bebauungsplanes. Solange der Inhalt des Bebauungsplanes noch nicht feststeht, kann ein solcher Beschluss von vornherein nicht gegen das Verbot der Negativplanung verstoßen; die Gemeinde hat ja gerade die Chance zu rechtmäßigem Handeln und insbesondere zu einer anderwei-tigen Positivplanung. Im Übrigen wäre selbst auf der Stufe des (späteren) Bebauungsplanes eine reine Negativplanung im vorliegenden Fall angesichts der einschlägigen Festlegungen des Rau-mordnungs- und Landesplanungsrechts (dazu näher sogleich) möglicherweise nicht verboten. Mit-hin greifen – bei der gebotenen normativen Betrachtung – die Bedenken hinsichtlich der materiellen Rechtmäßigkeit des geforderten Planaufstellungsbeschlusses im Ergebnis nicht durch. Der durch Ziff. 1 geforderte Planaufstellungsbeschluss wäre deshalb materiell rechtmäßig.

(2) Reduzierung des gemeindlichen Planungsermessens auf Null? Die Rechtmäßigkeit der vom Landratsamt getroffenen Weisung setzt aber weiter voraus, dass sich das grundsätzlich bestehende gemeindliche Planungsermessen (in Form eines Entschließungs- und Gestaltungsermessens) hier – ausnahmsweise – zu einer Planungspflicht verdichtet hat, dass also zumindest das Entschließungsermessen entfällt. Das setzt voraus, dass die vorhandenen städtebauli-

13 Wenn man einen solchen Grundsatz überhaupt annimmt, was umstritten ist (dagegen etwa Kratzberger, in: Bat-

tis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 9. Aufl. (2005), § 1 Rdnr. 26 unter Verweis auf BVerwG NVwZ 1991, 875), hier aber aus den nachfolgend angeführten Gründen dahinstehen kann.

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chen Bedürfnisse nicht anders als durch die von der Rechtsaufsichtsbehörde skizzierte Bauleitpla-nung in geordnete Bahnen gelenkt werden könnten. Aus welchen Normen sich eine solche Reduzie-rung des Planungsermessens ergeben könnte, ist umstritten. In Betracht kommen § 1 Abs. 3, § 1 Abs. 4 und § 2 Abs. 2 BauGB.

Zum Aufbau: Die nachfolgende Abschichtung in drei separate Prüfungspunkte (a)–(c) ist nicht zwingend. Die Rechtsprechung hat z.B. die Punkte (a) und (c) zusammengefasst, also § 2 Abs. 2 BauGBgemeinsam mit § 1 Abs. 3 BauGB geprüft. Denkbar ist sogar eine gemeinsame Abhandlung aller drei Vorschriften, also auch des § 1 Abs. 4 BauGB.

(a) § 1 Abs. 3 BauGB In erster Linie stützt die Rechtsprechung die Pflicht der Gemeinde zur Aufstellung von Bebauungs-plänen auf § 1 Abs. 3 BauGB. Die Vorschrift setzt voraus, dass die Aufstellung eines Bebauungs-plans für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist.

(aa) § 1 Abs. 3 BauGB als mögliche sedes materiae einer Erstplanungspflicht? Anders als für § 1 Abs. 4 BauGB (dazu unten (b)(aa)) ist in Rechtsprechung und Literatur eine sich aus § 1 Abs. 3 BauGB ergebende Pflicht zum Erlass eines Bebauungsplans für ein bislang unbe-plantes Gebiet (Erstplanungspflicht) einhellig anerkannt14.

Zur Vertiefung: Dogmatik des § 1 Abs. 3 BauGB § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB hat eine Doppelfunktion. Zum einen gebietet er unter bestimmten Voraus-setzungen der Gemeinde die Aufstellung von Bauleitplänen (FN-Plan und B-Plan: § 1 Abs. 2 BauGB). Diese Variante des § 1 Abs. 3 BauGB steht vorliegend in Rede. Zum andern wirkt § 1 Abs. 3 BauGB aber auch als Verbot der Aufstellung von Bauleitplänen in allen Fällen, in denen eine Bauleitplanung nicht „erforderlich“ i.S.d. Vorschrift ist15. Allerdings gilt für diesen zweiten Aspekt eine sehr niedrige Schwelle; die Gemeinde hat eine Art Selbsteinschätzungsrecht16. Die konkrete Erforderlichkeit ist eine Frage der Abwägung widerstreitender planerischer Belange, die dann nicht mehr das „Ob“, sondern den Inhalt des Bauleitplans betrifft. Die grundstufige Verbotskomponente des § 1 Abs. 3 BauGB dient aber der Abwehr einer nur privatnützigen, nicht städtebaulich motivier-ten Positiv- oder Negativplanung.

Zudem gilt § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB nicht nur – wortlautgemäß – für die Aufstellung, sondern e-benso für die Änderung und die Aufhebung von Bauleitplänen17.

(bb) Voraussetzung: „Qualifizierte städtebauliche Gründe von besonderem Gewicht“ Dies gilt aber nur, soweit der Tatbestand des § 1 Abs. 3 BauGB reicht. Die Voraussetzungen, die sich aus § 1 Abs. 3 BauGB für die Annahme einer solchen Erstplanungspflicht ergeben, hat das BVerwG erst in jüngster Zeit konkretisiert. Danach ist erforderlich, dass „qualifizierte städtebauli-che Gründe von besonderem Gewicht vorliegen […]. Ein qualifizierter (gesteigerter) Planungsbe-darf besteht, wenn die Genehmigungspraxis auf der Grundlage von § 34 Abs. 1 und 2 BauGB städ-tebauliche Konflikte auslöst oder auszulösen droht, die eine Gesamtkoordination der widerstreiten-

14 Hierzu statt aller OVG Koblenz, Urt. v. 20.1.1998, 1 B 10056/98.OVG, Umdruck S. 14. 15 Krautzberger, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 9. Aufl. (2005), § 1 Rdnr. 25. 16 Hierzu näher BVerwG NVwZ 1999, 1338: Die Gemeinde ist planungsbefugt, wenn sie hierfür hinreichend gewich-

tige städtebauliche Allgemeinbelange ins Feld führen kann. Welche städtebaulichen Ziele sie sich setzt, liegt in ih-rem planerischen Ermessen. Sie ist ermächtigt, eine „Städtebaupolitik“ entsprechend ihren städtebaulichen Ord-nungsvorstellungen zu betreiben.

17 Krautzberger, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 9. Aufl. (2005), § 1 Rdnr. 25.

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den öffentlichen und privaten Belange in einem förmlichen Planungsverfahren dringend erfor-dern“18. Keine Selbsteinschätzungskompetenz. Zunächst ist hier klarzustellen, dass für die Gebotskompo-nente des § 1 Abs. 3 BauGB (Planungspflicht der Gemeinde) nicht – wie grundsätzlich bei der Ver-botskomponente des § 1 Abs. 3 BauGB – ein Selbsteinschätzungsrecht der Gemeinde besteht, das die Justiziabilität des § 1 Abs. 3 BauGB auf eine Schlüssigkeitskontrolle reduzieren würde19. In der Sache ist deshalb zunächst zu prüfen, ob die Konzentration von Kaufkraft im Gebiet einer kleinen Gemeinde (G-Dorf) zu Lasten der umliegenden Städte und Gemeinden überhaupt ein „städ-tebaulicher“ Belang i.S.v. § 1 Abs. 3 BauGB ist. Im Grundsatz ist das zu verneinen. Interkommuna-le Fragen der Ansiedlung von Gewerbebetrieben, insbesondere Verkaufsgeschäften werden traditi-onell als Themen des Raumordnungsrechts angesehen; und dieses ist an sich gerade komplementär zum Städtebaurecht20. Soweit dieser Grundsatz reicht, können Gemeinden also zueinander in einen Wettbewerb um die Ansiedlung von Gewerbebetrieben treten. Darin ist gerade ein Ausfluss ihrer Selbstverwaltungsautonomie (Art. 28 Abs. 2 GG; Art. 71 Abs. 1 LV BW; § 2 Abs. 1 GemO) zu sehen. Dieser Grundsatz stößt aber dort an Grenzen, wo eine Auslegung von § 1 Abs. 3 BauGB ergibt, dass ausnahmsweise eine kommunale Pflicht zur Berücksichtigung raumordnungsrechtlicher Vor-gaben besteht. § 1 Abs. 3 BauGB wird dabei einerseits durch § 1 Absatz 5, anderseits durch § 1 Abs. 6 und § 2 Abs. 2 BauGB konkretisiert.

Zum Aufbau: § 1 Abs. 4 BauGB, der ausdrücklich ein Gebot zur Anpassung der Bauleitpläne an die „Ziele der Raumordnung“ statuiert, braucht an dieser Stelle noch nicht angesprochen zu werden. Da § 1 Abs. 4 nur ein Anpassungsgebot enthält, aber – zumindest seinem Wortlaut nach – gerade keine Erstplanungspflicht begründet, bildet er zweckmäßigerweise einen eigenständigen Prüfungs-maßstab (dazu unten (b)). Eine kombinierte Prüfung (z.B. „§ 1 Abs. 3 im Lichte von § 1 Abs. 4 BauGB“) sollte aber nicht als falsch angestrichen werden, solange die Bearbeiter das Problem „Erstplanungspflicht“ der Sache nach erkannt haben.

§ 1 Abs. 5 BauGB lässt erkennen, dass der Begriff „städtebaulich“ der Sache nach sehr weit zu verstehen ist. Er umfasst also nicht nur architektonische Belange i.e.S. (ästhetische Fragen, d.h. Fragen des Orts- und Landschaftsbilds), sondern auch soziale, ökologische, „baukulturelle“ und - hier einschlägig: - wirtschaftliche Belange. Fraglich ist aber die räumliche (territoriale) Ausdeh-nung des Kreises zu berücksichtigender Belange: Erfassen § 1 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 BauGB auch überörtliche Belange? Innerhalb des Absatzes 3 trifft insoweit lediglich die Einfügung des Merk-mals „auch in Verantwortung für den allgemeinen Klimaschutz“ eine (Teil-)Regelung. Aus ihr lässt sich aber nicht entnehmen, ob Belange anderer Gemeinden generell erfasst werden, d.h. schon dann, wenn sie ihrer Art nach unter § 1 Abs. 3 BauGB fallen. Tendenziell legt die Existenz des Merkmals „allgemeiner Klimaschutz“ (angesichts des Umstands, dass der Umweltschutz ohnehin separat gennant ist) eher einen Umkehrschluss nahe. § 1 Abs. 6 und § 2 Abs. 2 BauGB sind dagegen als Grundlage für eine Pflicht der planenden Ge-meinde zur Berücksichtigung der Belange anderer Kommunen anzusehen. Sie lassen erkennen, dass sich das Erfordernis einer geordneten städtebaulichen Entwicklung und Ordnung i.S.d. § 1 Abs. 3 BauGB nicht auf das Gebiet der planenden Gemeinde beschränkt; es endet nicht an der Gemeinde-grenze. Vielmehr hat diese Gemeinde auch die Auswirkungen ihrer Planungen – und auch des Aus-bleibens einer Planung! – auf die benachbarten Gemeinden zu berücksichtigen. Dabei muss sie Fehlentwicklungen bauleitplanerisch begegnen.

18 BVerwG, Urt. v. 17.9.2003, 4 C 14/01, NVwZ 2004, 220 (222). 19 BVerwG, Urt. v. 17.9.2003, 4 C 14/01, NVwZ 2004, 220 (222). 20 Vgl., allerdings auch schon zu frühen Interdependenzen, Schmidt-Aßmann, Fortentwicklung des Rechts im Grenz-

bereich zwischen Raumordnung und Städtebau (1977).

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Insbesondere in Verdichtungsräumen – hier: der Rhein-Neckar-Region - erstreckt sich das Bedürf-nis nach einer städtebaulichen Ordnung auf den gesamten Ballungsraum. Denn städtebauliche Ent-wicklungen in einer Kommune tangieren nahezu unweigerlich auch die städtebauliche Ordnung der Nachbargemeinden und des gesamten Siedlungsraums. Insofern ist vorliegend die Gemeinde G-Dorf hier auch rechtlich in ein „Planungsgeflecht“ einge-bunden. Sie darf die bauliche Entwicklung auf ihrem Gebiet nicht dem freien Spiel der Kräfte über-lassen. Vorliegend können auch die §§ 34 und 35 BauGB, die zwar „Planersatzvorschriften, aber nicht Ersatzplanungsvorschriften“ sind (BVerwG), eine geordnete städtebauliche Entwicklung nicht mehr gewährleisten. Dementsprechend können sich ein Planungserfordernis und eine Planungs-pflicht auch dann aus § 1 Abs. 3 BauGB ergeben, wenn das Unterlassen einer Bauleitplanung die Belange einer benachbarten Gemeinde in schwerwiegender Weise beeinträchtigt. Nur ist für §§ 1 Abs. 6, 2 Abs. 2 BauGB wiederum zweifelhaft, ob sie wirtschaftliche Belange an-derer Kommunen einbeziehen. Denn grundsätzlich sollen diese Vorschriften andere Kommunen nicht vor Konkurrenz schützen21; sie decken allein die genuin planerischen Belage ab. Das öffentli-che Baurecht verhält sich wettbewerbsneutral22. Etwas anderes gilt aber dann, wenn die wirtschaft-lichen Belange die Nachbargemeinde zu planerischen Gegensteuerungsmaßnahmen herausfor-dern23. Subsumtion. Das ist vorliegend zu bejahen. Denn ohne einen Bebauungsplan kommt es zu „unor-ganischen Entwicklungen“ mit negativen Folgen für die städtebauliche Ordnung der umliegenden Städte und Gemeinden. Nach dem Sachverhalt ist bereits jetzt eine erhebliche Verschiebung an Kaufkraft eingetreten. Diese Tendenz würde sich ohne eine (eindämmende) Bauleitplanung auf breiter Front weiter verschärfen. Damit besteht die Gefahr eines Ausblutens der Innenstädte und der Verlust ihres urbanen Profils. Eine die Abstimmungspflicht auslösende städtebauliche Dimension ist auch deshalb zu bejahen, weil die Nahversorgung der Bevölkerung in den umliegenden Orten mit Waren des täglichen Gebrauchs gefährdet ist. Dies korrespondiert mit der normativen Wertung in § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO, wonach (in Bezug auf Satz 2 dieser Regelung) Auswirkungen städtebaulicher Natur auch auf die „Entwicklung zentra-ler Versorgungsbereiche […] in anderen Gemeinden“ bereits bei einer Überschreitung der geplan-ten Gesamtgeschossfläche von 1.200 qm vermutet werden24.

(cc) Anwendung auf den vorliegenden Fall Eine geordnete landesplanerische Entwicklung, eine Eindämmung des Ausblutens der Innenstädte und der Schutz hochverdichteter Innenstadträume sind taugliche Zwecksetzungen, die als Schran-ken des Rechts der kommunalen Selbstverwaltung herangezogen werden können25. Dem Konzentrationsgebot widerspricht das ungebremste Wachstum des Einzelhandels im G-Dorfer Gewerbegebiet in eklatanter Weise. Solange es keinen Bebauungsplan – oder zumindest die in Ziff. 2 und 3 des Bescheides angeordneten Vorfeldmaßnahmen (dazu s.u. bb), cc)) – gibt, hat die zustän-dige untere Bauaufsichtsbehörde neuen Bauanträgen wegen § 34 BauGB stattzugeben. Sie hat keine Möglichkeit, von sich aus der weiteren Ausdehnung des Gewerbegebietes Einhalt zu gebieten. Da-durch kommt es zu einer weiteren Vermehrung von Einkaufsmöglichkeiten und einem weiteren Abzug der Kaufkraft aus den betroffenen Nachbarstädten und -gemeinden. Ein derartiges Wachs-tum begründet zugleich einen sich selbst tragenden Effekt: gerade durch die Vielzahl einzelner Ge-

21 Vgl. Achim Seidel, in: Seidel/Reimer/Möstl, Besonderes Verwaltungsrecht, 2. Aufl. (2004), Fall 9. 22 OVG Greifswald, NVwZ 2000, 826; VG Neustadt, NVwZ 1999, 101 (103); Achim Seidel, Nachbarschutz,

Rdnr. 788 m.w.N. 23 BayVGH, BayVBl. 2000, 273 (274); OVG Greifswald, NVwZ 2000, 826; VG Neustadt, NVwZ 1999, 101 (103);

Achim Seidel, in: Seidel/Reimer/Möstl, Besonderes Verwaltungsrecht, 2. Aufl. (2004), Fall 9. 24 BayVGH, BayVBl. 2000, 273 (274 f.). 25 OVG Koblenz, Urt. v. 20.1.1998, 1 B 10056/98.OVG, Umdruck S. 13; BVerwG, Urt. v. 17.9.2003, 4 C 14/01,

NVwZ 2004, 220 (unter II.4.2.).

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schäfte wird das Einkaufsgebiet insgesamt weiter attraktiv. Davon geht ein erheblicher wirtschaftli-cher Druck auf auf anderweits betriebene Geschäfte aus, sich ebenfalls in G-Dorf anzusiedeln. Dar-aus ergibt sich eine Reduzierung des gemeindlichen Planungsermessens dem Grunde nach auf null. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist gewahrt. Die Anordnung des Landratsamtes belässt der Ge-meinde G-Dorf den nötigen planerischen Gestaltungsspielraum. Die Rechtsaufsichtsbehörde hat insbesondere nicht den Erlass eines bestimmten Bebauungsplans vorgegeben. Danach rechtfertigt bereits § 1 Abs. 3 BauGB die Anordnung zur Aufstellung eines Bebauungsplans (Ziff. 1 des Bescheides des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis).

(b) § 1 Abs. 4 BauGB Als zweite Rechtsgrundlage zieht die neuere Rspr. neben § 1 Abs. 3 auch § 1 Abs. 4 BauGB heran. Nach § 1 Abs. 4 BauGB haben die Gemeinden ihre Bauleitpläne den Zielen der Raumordnung an-zupassen.

(aa) Erstplanungspflicht? Fraglich ist zunächst, ob sich aus § 1 Abs. 4 BauGB überhaupt eine Erstplanungspflicht ergeben kann. Nach ihrem Wortlaut erfasst die Vorschrift an sich nur die Veränderung bestehender Bauleit-pläne: „anpassen“ lässt sich nur, was bereits existiert. In der Literatur ist eine aus § 1 Abs. 4 BauGB folgende Erstplanungspflicht allerdings schon seit längerem vielfach bejaht worden26. In der Rechtsprechung war die Frage bislang unentschieden geblieben. Aus drei Gründen hat neuerdings aber auch das BVerwG die Einbeziehung der Erstpla-nungspflicht in den Kreis möglicher Rechtsfolgen des § 1 Abs. 4 BauGB angenommen: • historisch-genetische Auslegung (Rspr. zur Vorgängervorschrift), • subjektiv-historische Auslegung (Auffassung im Antrag der Bundesregierung zum Erlass des

BauGB), • teleologische Auslegung (nur die Annahme einer Erstplanungspflicht gewährleiste eine voll-

ständige Umsetzung der Ziele der Raumordnung und Landesplanung; Grundsatz umfassender materieller Konkordanz).

Zum Verständnis: Letztlich geht es um die klassische Frage, wie die staatliche Planung im Großen und die gemeindliche Selbstverwaltungsautonomie im Kleinen so miteinander in Einklang gebracht werden können, dass ein schonender Ausgleich gefunden wird, bei dem beide Güter möglichst weitgehend zur Geltung kommen.

In der Klausur sind vor allem die teleologischen Argumente zu verlangen. Dabei ist mit dem BVerwG darauf abzustellen, dass oft erst ein Bebauungsplan die Gewähr für die Verwirklichung raumordnungsrechtlicher Ziele und Erfordernisse (vgl. § 3 ROG) bietet. Das arbeitsteilige System der Gesamtplanung funktioniert daher nur, wenn die Entwicklung der gemeindlichen Planungsräu-me mit der des größeren Raums in Einklang gebracht wird. Gerade weil die Ziele der Raumordnung grundsätzlich keine unmittelbare bodenrechtliche Wirkung entfalten, ist die Annahme einer raum-ordnerisch bedingten Erstplanungs- und Änderungspflicht der Gemeinde gerechtfertigt27. Auch die Regelung des § 1 Abs. 3 BauGB (kein Anspruch auf Aufstellung von Bauleitplänen und städtebaulichen Satzungen) steht diesem Ergebnis nicht entgegen. Denn § 2 Abs. 3 BauGB betrifft nicht das Verhältnis der Aufsichtsbehörde zur Gemeinde, sondern das Verhältnis der öffentlichen Hoheitsträger (hier: der Gemeinde) zu betroffenen Privaten. Der die Rechtsaufsicht wahrnehmende

26 Vgl. die Nachweise des OVG Koblenz, Urt. v. 20.1.1998, 1 B 10056/98.OVG, Umdruck S. 9 oben. Dagegen v.a.

Gierke, in: Brügelmann, BauGB, § 1 Rdnr. 435 unter Hinweis auf Meinungsverschiedenheiten im Gesetzgebungs-verfahren.

27 BVerwG, Urt. v. 17.9.2003, 4 C 14/01, NVwZ 2004, 220 (unter II.2.1.).

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Staat braucht gerade keinen materiellen „Anspruch“ gegen die Gemeinde. Vielmehr liegt es im We-sen der Rechtsaufsicht, dass die Beachtung objektiver Pflichten angemahnt und notfalls durchge-setzt wird. Damit kann § 1 Abs. 4 BauGB als prinzipiell taugliche, d.h. eine Ermessensreduzierung auf null begründende Norm herangezogen werden.

(bb) Bestehen einschlägiger raumordnungsrechtli-cher Vorgaben Der Sachverhalt lässt in der mitgeteilten Begründung der Rechtsaufsichtsbehörde erkennen, dass einschlägige raumordnungsrechtliche (landesplanungsrechtliche) Vorgaben bestehen.

Zur Vertiefung: Der Landesentwicklungsplan (LEP) ist das rahmensetzende, integrierende Gesamtkonzept für die räumliche Ordnung und Entwicklung des Lan-des. Derzeit gilt in Baden-Württemberg der LEP 2002, der seit 21.8.2002 rechtsverbindlich ist. Er sieht vor, dass fast der gesamte Rhein-Neckar-Raum, soweit er auf baden-württembergischem Gebiet liegt, ein „Verdichtungsraum“ ist (s. Abb.).

Die Vorgaben des Landesentwicklungsplans müssen hinreichend bestimmt oder zumindest bestimmbar sein; ferner müssen sie rechtmäßig sein. Vorliegend ist man-gels näherer Angaben im Sachverhalt davon auszugehen, dass die raumordnungsrechtlichen Ziele klar benannt und auch rechtmäßig sind. Abzu-stellen ist dabei maßgeblich auf das raumordnungsrechtliche Konzentrationsgebot. Es enthält eine Zielaussage, nach der großflächige Einzelhandelsbetriebe grundsätzlich in zentralen Orten vorzuse-hen sind. Es soll zu einer Konzentration von Einkaufsmöglichkeiten in den klassischen gewachse-nen Strukturen der Innenstadt- und Dorflagen kommen. Große Geschäftszentren auf dem Gebiet kleiner Gemeinden sind damit tendenziell zu unterbinden.

Zur Vertiefung: Das Konzentrationsgebot betrifft also die Frage, in welcher Gemeinde die Ein-kaufsmöglichkeiten vorzusehen sind. Ob es zugleich eine weitergehende Aussage darüber enthält, wo innerhalb der richtigen Gemeinde die Einkaufsmöglichkeiten eröffnet werden sollen, ist sehr fraglich. Denn wäre auch dies vorgezeichnet, so liefe die gemeindliche Planungshoheit faktisch leer. Die Bauleitplanung würde zu einer bloßen Exekution der Landes- und Raumordnungsplanung degradiert. Insofern ist es zumindest irreführend, von einem „städtebaulichen Konzentrationsver-bot“ zu sprechen29. Diese Überlegung spricht auch dagegen, dass man dem Konzentrationsgebot die generelle Aussage entnimmt, „auf der grünen Wiese“ sollten keine großen Geschäftszentren entste-hen.

Dem läuft freilich das in der Begründung ebenfalls genannte Gebot gleichgewichtiger Entwicklung und die Herausbildung polyzentrischer Strukturen zuwider. Das sog. „Konzentrationsgebot“ wirkt vorliegend also zugleich als „Konzentrationsverbot“, genauer: als Verbot einer Zusammenballung künstlicher neuer Gewerbegebiete. Dadurch soll einem Bedeutungsverlust des Oberzentrums Mannheim entgegengesteuert werden. Es darf nicht zu einer überhöhten Kaufkraftbindung in der

29 So aber das OVG Koblenz, Urt. v. 20.1.1998, 1 B 10056/98.OVG.

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Gemeinde G-Dorf oder anderen „Grundzentren“ (= dezentralen, örtlichen Einkaufsbereichen außer-halb der Städte) kommen.

(cc) Raumordnungsrechtliche (landesplanerische) Vorgaben als taugliche Schranken für das Recht der kommunalen Selbstverwaltung? Derartige raumordnungsrechtliche Vorgaben des Landes bilden nach der Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Stadtplanung in Wilhelmshaven grundsätzlich taugliche Schranken der gemeindlichen Planungshoheit30. Die gemeindliche Selbstverwaltung kann danach nicht nur durch Gesetze im formellen Sinne (vgl. § 2 Abs. 1 und Abs. 4 Satz 1 GemO), sondern auch durch auf gesetzlicher Grundlage ergangene untergesetzliche Rechtsnormen ausgestaltet und einge-schränkt werden (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG). Jede Einschränkung der gemeindlichen Selbstverwal-tungsautonomie ist aber rechtfertigungsbedürftig. Das gilt umso stärker, je mehr einer Gemeinde im Vergleich zu anderen Gemeinden eine Sonderbelastung auferlegt wird. Eine solche Sonderbelas-tung darf zunächst nicht willkürlich sein, muss also einen zureichenden Grund in der Wahrung ü-berörtlicher Interessen besitzen. Freilich genügt nicht jedes überörtliche Interesse. Vielmehr muss der Eingriff in die Planungshoheit der einzelnen Gemeinde gerade angesichts der Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung verhältnismäßig sein31. Entscheidende Bedeutung soll dabei einer genauen Sachverhaltsanalyse im Einzelfall zukommen: „Das Spannungsverhältnis zwischen Staat und Gemeinden ist von Teilraum zu Teilraum und von Aufgabe zu Aufgabe unterschiedlich“32.

(dd) Anwendung auf den vorliegenden Fall In der Sache führen diese Maßstäbe zum selben Ergebnis wie die oben (a) erörterte Anwendung des § 1 Abs. 3 BauGB. Auch § 1 Abs. 4 BauGB begründet eine Reduzierung des gemeindlichen Pla-nungsermessens dem Grunde nach auf null, trägt also die Anordnung unter Ziff. 1 des Bescheids.

(c) § 2 Abs. 2 BauGB Drittens lässt sich die Ermessensreduzierung der Gemeinde auch unmittelbar auf § 2 Abs. 2 BauGB stützen. Wie oben (a) zu § 1 Abs. 3 BauGB bereits ausgeführt, können gerade auch interkom-munale, d.h. das Gebiet der einzelnen Gemeinde überschreitende Umstände die Erstplanungspflicht auslösen. Denn § 2 Abs. 2 BauGB wirkt nicht nur in der Planung (Konkretisierung von § 1 Abs. 6 BauGB), sondern erst recht vor der Planung: Die gemeindliche Planungshoheit aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG steht von vornherein unter dem „nachbarrechtlichen Vorbehalt“ des Gebots wechselsei-tiger kommunaler Rücksichtnahme (BVerwG).

(3) Zwischenergebnis Damit ist die Anordnung in Ziff. 1 des Bescheides des Landratsamts materiell rechtmäßig.

Zur Vertiefung: 1. Natürlich hätte die Abwägung der widerstreitenden Interessen des Landes einerseits und der Ge-meinde anderseits auf der Grundlage der vorstehenden Überlegungen auch zu einem anderen Er-gebnis führen können. Insofern ist hier auch die Gegenauffassung vertretbar. Ein möglicher – aber den Erwartungshorizont weit übertreffender – Begründungsstrang für diese Gegenauffassung hätte auch sein können: § 1 Abs. 4 bzw. Abs. 3 BauGB verpflichten die Gemeinde allenfalls zum Erlass eines Bebauungsplans. Hier wird aber – im Vorfeld des Bebauungsplans – der förmliche Aufstellungsbeschluss i.S.v. § 14 Abs. 1 BauGB angeordnet. Ein solcher Aufstellungsbeschluss ist kein zwingender Bestandteil des bauleitplanerischen Verfahrens. Die Gemeinde kann nämlich einen

30 BVerfGE 76, 107. 31 BVerfGE 76, 107 (119f.). 32 OVG Koblenz, Urt. v. 20.1.1998, 1 B 10056/98.OVG, Umdruck S. 12 unten m. Nachweis Gierke, in: Brügelmann,

§ 1 BauGB, Rdnr. 398 ff.

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Bebauungsplan gerade auch ohne vorangehenden förmlichen Aufstellungsbeschluss erlassen. Ob für eine analoge Anwendung der §§ 1 Abs. 3 und 4, 2 Abs. 2 BauGB auf der Ebene des § 14 Abs. 1 BauGB Raum wäre, ist sehr zweifelhaft.

In der kommunalen Praxis empfiehlt sich allerdings ein förmlicher Aufstellungsbeschluss, gerade weil die Gemeinde auf diese Weise die Möglichkeit hat, eine Veränderungssperre zu erlassen (§ 14 BauGB) oder eine Zurückstellung von Baugesuchen (§ 15 BauGB) zu verlangen. Der Beschluss wird durch den Gemeinderat (§§ 24 Abs. 1 Satz 2, 37 GemO) oder einen seiner beschließenden Ausschüsse (§§ 39 f. GemO) gefasst. Er ist nach § 2 Abs. 1 Satz 2 BauGB, § 4 Abs. 3 GemO orts-üblich bekanntzumachen. Fehler beim Erlass des Aufstellungsbeschlusses haben keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit des späteren Bebauungsplans.

2. Außerhalb der besonderen Klausursituation, in der auf die Vorschriften des Landesplanungsge-setzes (LplG) nicht einzugehen war, ist das hier vertretene Ergebnis „Erstplanungspflicht“ dagegen zwingend. Das ergibt sich aus dem Planungsgebot nach § 21 Abs. 1 Fall 2 LplG. Diese Vorschrift ermächtigt den Regionalverband dazu, die Träger der Bauleitplanung dazu zu verpflichten, die Bau-leitpläne den Zielen der Raumordnung und Landesplanung anzupassen, insbesondere Bauleitpläne aufzustellen, wenn dies zur Verwirklichung von regionalbedeutsamen Vorhaben gemäß § 11 Abs. 3 oder – hier einschlägig: - zur Erreichung anderer Ziele der Raumordnung erforderlich ist.

bb. Pflicht der Gemeinde G-Dorf zum Erlass einer Veränderungssperre Fraglich ist, ob das Landratsamt die Gemeinde G-Dorf auch zum Erlass einer Veränderungssperre anweisen durfte. Die Veränderungssperre müsste zunächst formell rechtmäßig sein; nach § 16 Abs. 1 BauGB ist sie als gemeindliche Satzung zu beschließen. Die Gemeinde müsste in formeller Hin-sicht also insbesondere die Vorgaben der §§ 4, 34 ff. GemO beachten. Die Voraussetzungen für die materielle Rechtmäßigkeit einer Veränderungssperre ergeben sich aus § 14 Abs. 1 BauGB. Erforderlich ist zunächst der förmliche Aufstellungsbeschluss. Er muss nach hier vertretener Ansicht erlassen werden (oben aa)). Sobald er erlassen ist, steht der nachfolgende Erlass einer Veränderungssperre an sich wiederum im Ermessen der Gemeinde (§ 14 Abs. 1 BauGB). Aus den oben (S. 11 ff., unter A.II.3.c.aa(2)) angegebenen Gründen lässt sich aber auch in diesem Punkt eine Ermessensreduzierung auf null bejahen. Mithin durfte das Landratsamt als Rechtsaufsichtsbehörde auch den Erlass einer Veränderungssper-re anordnen.

cc. Pflicht der Gemeinde G-Dorf zum Zurückstellen von Baugesuchen Gleiches gilt sinngemäß für die Anordnung in Ziff. 3 des Bescheides des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis, nach der die Gemeinde G-Dorf einen Antrag nach § 15 Abs. 1 BauGB stellen solle, wonach die Baugenehmigungsbehörde ihre bauaufsichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit von Vorhaben bis zum Erlass des Bebauungsplanes auszusetzen habe. Der materiellen Rechtmäßig-keit dieser Anordnung des Landratsamtes steht insbesondere nicht entgegen, dass das Landratsamt selber die Baugenehmigungsbehörde ist. Denn nach dem klaren Wortlaut des § 15 Abs. 1 BauGB ist das Zurückstellen von Baugesuchen nur auf Antrag der Gemeinde möglich; die Baugenehmi-gungsbehörde (hier: das Landratsamt als untere Baurechtsbehörde) kann Baugesuche nicht von Amts wegen zurückstellen. Daher ist die Anordnung des Landratsamtes auch in diesem Punkt im Grundsatz rechtmäßig.

dd. Verstoß gegen Grundsatz gemeindefreundlichen Verhaltens?

Zum Aufbau: Dieser Abschnitt war im Sachverhalt nicht angelegt; die hier erörterten Aspekte werden deshalb nur von denjenigen Bearbeitern überhaupt angesprochen worden sein, die die zugrundeliegenden Entscheidungen kannten. Sein Fehlen soll nicht negativ bewertet werden.

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In allen drei Regelungspunkten könnte sich allerdings dann etwas Anderes ergeben, wenn die Rechtsaufsichtsbehörde gegen den allgemeinen Grundsatz gemeindefreundlichen Verhaltens ver-stoßen hätte. Dieser Grundsatz ergibt sich aus § 118 Abs. 3 GemO, Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG. Ein Verstoß gegen diesen Grundsatz wäre insbesondere dann anzunehmen, wenn sich die Gemeinde G-Dorf durch den Vollzug der aufsichtlichen Anordnungen Schadensersatz- oder Entschädigungs-pflichten aussetzen würde. Ob solche Staatshaftungspflichten bestehen, kann zwar nach dem vorlie-genden Sachverhalt nicht abschließend entschieden werden. In jedem Fall wäre die Gemeinde in diesem Punkt nicht schutzwürdig. Denn sie selber hat sich trotz diverser Vorgespräche und damit sehenden Auges in die gegenwärtige Situation hineinmanövriert. Insofern kann in der rechtsaufsichtlichen Maßnahme kein Verstoß gegen den Grundsatz gemeinde-freundlichen Verhaltens erblickt werden33.

ee. Verwirkung des Beanstandungsrechts Zweifelhaft ist auch, ob das Landratsamt sein Beanstandungsrecht deshalb verwirkt hat, weil es – in seiner Funktion als untere Bauaufsichtsbehörde – in der Vergangenheit stets alle Vorhaben im Be-reich des G-Dorfer Gewerbegebiets genehmigt hatte. Das Landratsamt hatte rechtlich keine Möglichkeit, die Baugenehmigungen zu versagen. Denn da es an einem Bebauungsplan fehlt, ist § 34 BauGB (evtl. i.V.m. den typologischen Beschreibungen der BauNVO) einziger Prüfungsmaßstab. Anders als § 34 BBauG enthält § 34 BauGB nicht mehr den Passus „wenn sonstige öffentliche Belange nicht entgegenstehen“. Daher darf die Kompatibili-tät des Vorhabens mit den Zielen der Raumordnung und Landesplanung von der unteren Bauauf-sichtsbehörde nicht geprüft werden. Das Landratsamt konnte also gar nicht anders, als die beantrag-ten Vorhaben zu genehmigen. Daher scheidet eine Verwirkung seines kommunalaufsichtsrechtli-chen Beanstandungsrechts vorliegend aus34.

ff. Ermessensfehlerfreiheit Auch Ermessensfehler des Landratsamtes (vgl. § 122 GemO) sind nicht ersichtlich.

Zur Vertiefung: In vielen Bundesländern galt im Rahmen der Rechtsaufsicht früher das Legalitäts-prinzip; die Rechtsaufsichtsbehörde war zu Beanstandungsverfügungen verpflichtet. Erst in den letzten 5-10 Jahren ist den Rechtsaufsichtsbehörden allgemein ein Ermessen („kann“) eingeräumt worden. Dadurch eröffnen sich Möglichkeiten der Kooperation zwischen Kommune und Aufsichts-behörden. Die Rechtsaufsicht ist aber auch weiterhin dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Ver-waltung (Art. 20 Abs. 3 GG) verpflichtet. Ermessen ist daher nicht mit Beliebigkeit gleichzusetzen. Da die Rechtsaufsichtsbehörde weiterhin (auch in Fragen freier Selbstverwaltungsangelegenheiten) Garantin für die rechtmäßige Gesetzesanwendung durch die überwachte Kommune ist, sind an ihre Ermessensentscheidung keine überzogenen Anforderungen zu stellen. Grundsätzlich gelten die Grundsätze des intendierten Ermessens. Die Rechtsaufsichtsbehörde genügt deshalb den Anfor-derungen aus § 40 LVwVfG, wenn sie zur Begründung ihres Einschreitens auf die Rechtswidrigkeit der beanstandeten Maßnahmen verweist und ihr Handeln allein damit begründet, rechtmäßige Zu-stände herstellen zu wollen.

d. Zwischenergebnis Die Interessenabwägung geht zugunsten des Landratsamts (genauer: der Anordnung des Sofortvoll-zugs) und zulasten der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs der Gemeinde aus.

33 OVG Koblenz, Urt. v. 20.1.1998, 1 B 10056/98.OVG. 34 OVG Koblenz, Urt. v. 20.1.1998, 1 B 10056/98.OVG, Umdruck S. 16.

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III. Ergebnis Damit ist der Antrag der Gemeinde G-Dorf zulässig und wegen des Fehlens einer gesonderten Be-gründung (= wegen formeller Rechtswidrigkeit der angegriffenen Anordnung des Sofortvollzugs) auch begründet. Er hat deshalb Erfolg.

B. Ausgangsfall: Rechtsschutz in der Hauptsache

Da es sich bei dem angegriffenen Bescheid um drei Verwaltungsakte i.S.v. § 35 Satz 1 LVwVfG handelt, kommen als statthafte Rechtsbehelfe in der Hauptsache Anfechtungswiderspruch und An-fechtungsklage in Betracht. Das grundsätzliche Erfordernis eines Widerspruchsverfahrens ergibt sich aus § 68 Abs. 1 VwGO. Aus den Vorschriften der §§ 6a bis 9 AGVwGO ergeben sich vorliegend keine Abweichungen. Auch § 125 GemO führt nicht zur Entbehrlichkeit des Vorverfahrens (Generalverweis auf den 8. Abschnitt der VwGO, damit gerade auch auf §§ 68 ff. VwGO). Damit ist für alle drei Regelungs-gegenstände (Ziff. 1 bis 3 des Bescheids) ein Vorverfahren erforderlich. Ein solcher Widerspruch wäre zwar zulässig, aber aus den oben (im Hilfsgutachten; siehe A.II.3.) genannten Gründen unbegründet. Da die Widerspruchsbehörde (das Regierungspräsidium Karlsru-he) allerdings auch die Zweckmäßigkeit der rechtsaufsichtlichen Maßnahme zu prüfen hat (Anord-nung als Ermessens-VA: § 122 GemO), sollte der Widerspruch gleichwohl erhoben werden. Die Erhebung einer (nachfolgenden) Anfechtungsklage empfiehlt sich aber in keinem Fall.

Abwandlung

In Betracht kommen Rechtsbehelfe gegen die Gemeinde G-Dorf, aber auch gegen das Land Baden-Württemberg als Träger der Rechtsaufsichtsbehörden.

A. Verpflichtungsklage gegen die Gemeinde G-Dorf

Eine Verpflichtungsklage gegen die Gemeinde G-Dorf scheidet schon deshalb aus, weil nicht er-sichtlich ist, was für ein Verwaltungsakt der Gemeinde G-Dorf hier begehrt werden könnte.

B. Allgemeine Leistungsklage gegen die Gemeinde G-Dorf (hier: Normerlassklage)

Allerdings scheidet die Gemeinde G-Dorf aus dem Kreis möglicher Beklagter nicht von vornherein aus. In Betracht kommt nämlich eine allgemeine Leistungsklage auf Erlass eines – das Gewerbege-biet eindämmenden – Bebauungsplans. Eine solche sog. Normerlassklage scheitert indes an der Klagebefugnis der Nachbargemeinden. Denn ihnen steht kein subjektives öffentliches Recht auf Aufstellung eines Bebauungsplans durch die Gemeinde G-Dorf und mithin auch nicht auf die Sicherung eines solchen Bauleitplanungsver-fahrens zu35. Daran ändert auch das in § 2 Abs. 2 BauGB verankerte interkommunale Abstimmungsgebot nichts. Zwar würde das Unterlassen einer Bauleitplanung durch die Gemeinde G-Dorf im Ergebnis dazu führen, dass dieses Gebot leerläuft, da § 34 BauGB nach dem oben Gesagten weder eine Berück-sichtigung der Belange der Raumordnung und Landesplanung zulässt noch den durch die Zulassung 35 OVG Koblenz, Urt. v. 20.1.1998, 1 B 10056/98.OVG; ebenso wohl auch BVerwG, Urt. v. 17.9.2003, 4 C 14/01,

NVwZ 2004, 220 (unter II.1.3.3.). Allgemein zum Anspruch auf Normerlass Sodan, Der Anspruch auf Rechtset-zung und seine prozessuale Durchsetzbarkeit, in: NVwZ 2000, 601 ff.

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von Vorhaben beeinträchtigten Nachbargemeinden eigene Abwehrrechte gibt. Die Rechtsprechung erachtet es aber als ausreichend, dass die Nachbargemeinden die Möglichkeit haben, ein rechtsauf-sichtliches Vorgehen anzuregen (wie dies im Ausgangsfall geschehen ist)36. Im Ergebnis wäre eine allgemeine Leistungsklage gegen die Gemeinde G-Dorf daher ebenfalls unzulässig.

C. Feststellungsklage gegen die Gemeinde G-Dorf

Ob eine verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage der Nachbargemeinden gegen die gemeinde G-Dorf zulässig (und ggf. auch begründet) wäre, ist ebenfalls zweifelhaft. Die Zulässigkeit setzt nach § 43 Abs. 1 VwGO einen Streit über ein „Rechtsverhältnis“ (unten I.) und ein berechtigtes Interesse der Kläger an der baldigen Feststellung (unten II.) voraus.

I. Rechtsverhältnis Rechtsverhältnisse sind „rechtliche Beziehungen (…), die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben, kraft deren eine der beteiligten Personen etwas Bestimmtes tun muss, kann oder darf oder nicht zu tun braucht“37. Das Vorliegen eines Rechtsverhältnisses lässt sich im vorliegenden Fall bejahen.

II. Feststellungsinteresse? Aus den oben (A., B.) genannten Gründen scheitert aber wohl auch eine allgemeine Feststellungs-klage der Nachbargemeinden gegen die Gemeinde G-Dorf. Mangels eines subjektiven Rechts steht ihnen kein hinreichendes Festellungsinteresse zu.

Zur Vertiefung: Eine a.A. wäre hier allerdings dann vertretbar, wenn man die Anforderungen an das Feststellungsinteresse gegenüber den oben zu prüfenden Anforderungen an eine (echte) Klage-befugnis i.S.v. § 42 Abs. 2 VwGO bewusst absenkt.

D. Verpflichtungsklage gegen das Land Baden-Württemberg auf rechtsaufsichtliches -Vorgehen gegen die Gemeinde G-Dorf

Ebenso wie für das Verhältnis Bürger-Rechtsaufsichtsbehörde ist anerkannt, dass auch Nachbarge-meinden keinen Anspruch auf rechtsaufsichtliches Einschreiten haben. Denn die § 118 ff. GemO sind keine Schutznormen, aus denen sich subjektive Rechtsansprüche ableiten ließen.

E. Ergebnis

Im Ergebnis steht den angrenzenden Gemeinden daher kein Rechtsbehelf zu. Rechtsprechungsvorlagen: BVerfGE 76, 107; OVG Koblenz v. 20.1.1998, 1 B 10056/98.OVG (un-veröffentlicht); BVerwG v. 17.9.2003, NVwZ 2004, 220.

36 Zur Problematik eines möglichen Anspruchs auf rechtsaufsichtliches Eingreifen s.u. die Abwandlung, Teil D. 37 BVerwGE 100, 262 (264f.); siehe auch: VGH München BayVBl. 1987, 239 (240); Schmitt Glaeser/Horn, Verwal-

tungsprozessrecht, Rn. 328; Stern, Verwaltungsprozessuale Probleme, Rn. 252.