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Gynäkologe 2014 · 47:219–222 DOI 10.1007/s00129-014-3333-0 Online publiziert: 7. März 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 R.W. Moser Merzligen (Bern)  Hans Guggisberg  (1880-1977) Tribut an einen Schweizer Gynäkologen Präambel Ein großer Schweizer Gynäkologe wäre beinahe in Vergessenheit geraten, wenn nicht eines Tages im Institut für Medi- zingeschichte (IMG) der Universität Bern ein besonderes Manuskript entdeckt wor- den wäre, das dessen Leben und Wir- ken in die Gegenwart geholt hätte: Prof. Dr. med. Hans Guggisberg (1880–1977; . Abb. 1, 2), von 1911–1950 Direktor und Chefarzt des Kantonalen Frauenspitals Bern sowie Ordinarius für Gynäkolo- gie und Geburtshilfe an der Universität Bern. Ein mit schwarzer Tinte geschrie- benes Manuskript „Geburtshülflicher Operationskurs“ 1 ist eines der zahlrei- chen Dokumente seines ärztlichen Wir- kens und seiner Lehrtätigkeit. Kein Ge- ringerer als Marc Chagall hat einmal ge- sagt, dass „nur Tinte den Dingen Dauer- haftigkeit verleiht“. 2 Diese Handschrift aus dem Jahr 1914 gibt uns die Möglich- keit, den Beitrag „Geburtshülflicher Ope- rationskurs“ von Professor Hans Guggis- berg mit späteren Druckausgaben (Lehr- 1  Hans Guggisberg: „Geburtshülflicher Opera- tionskurs“ (Vorlesungsmanuskript). Hand- schriftliches Original, verfasst von Hugo Rast,  cand. med., von Hochdorf (Luzern) im Som- mersemester 1914. Im Institut für Medizin- geschichte der Universität Bern. Von Prof.  Dr. med. Urs Boschung (Leiter des Instituts  für Medizingeschichte der Universität Bern  1985–2011) in das Handschrifteninventar  aufgenommen (Ms B88). 2     Virginia Haggard: Sieben Jahre der Fülle  .  Leben mit Chagall. Rowohlt, Reinbek bei  Hamburg (1995), rororo 1290, S. 157. büchern) zu vergleichen. Das Original- manuskript wurde dem Autor freundli- cherweise von Herrn Prof. Dr. med. Hu- bert Steinke für diese Arbeit überlassen. Im IMG befinden sich auch die Kran- kengeschichten des Frauenspitals aus den Jahren seines Wirkens. Bedeutung der Medizingeschichte Die Medizingeschichte ist eine geisteswis- senschaftliche Disziplin, ein Weg zurück in die Vergangenheit. Die historisch-kri- tische Arbeit besteht darin, Quellen zu suchen, Material zu sichten und zu ord- nen, Glaubwürdigkeit zu hinterfragen, Kontext und Absicht zu klären, Entste- hung, Strukturen und Regeln zu erfas- sen: partizipieren im engeren Sinn. Wer die Gegenwart verstehen will, der muss sich in der Vergangenheit auskennen. Das gilt nicht nur für die (operative) Geburts- hilfe. Medizinhistorische Forschung ver- sucht, den Zeitabstand zu überbrücken, damit Vergangenes Gegenwart wird. Sie kann Orientierungshilfe sein und Einla- dung zur Selbstkritik. „Die Kenntnis der Geschichte lernt relativieren: sie bewahrt vor rückwärtsgewandten wie vorwärts gerichteten Utopien“. 3 Die Geschichte der Geburtshilfe entfaltet ein interdisziplinä- res Netzwerk: Neonatologie, Plazentolo- gie, Gynäkologie, Chirurgie, Urologie, Anästhesie und innere Medizin. Guggis- 3  Albert Gasser: Kirchengeschichte. Skriptum  zur Vorlesung im TKL. Zürich (2004), Heraus- geberin: Studiengang Theologie (StTh). bergs „Operationskurs“ gab den Impuls zur Kontextualisierung mit den aktuellen Fragen der heutigen Geburtshilfe. 4 Die Medizingeschichte konfrontiert uns aber ebenso mit ärztlicher Fallbe- zogenheit sowie geschichtlicher Verant- wortung und am Beispiel der Zangen- operationen auch mit dem Segen und der Apokalypse dieser Eingriffe. Es geht da- rum, das ausgelagerte Wissensdepot aus dem inaktiven historischen Massenspei- cher in den aktiven Arbeitsspeicher zu la- den und es jungen Kollegen zugänglich zu machen: Kontextualisierung der Zan- genextraktion mit der Vakuumextraktion und der Sectio caesarea, allesamt gelobte und geschmähte Eingriffe. Bei welchem Lehrer kann sie der junge Arzt lernen? Der Altphilologe Klaus Bartels zitiert da- zu den altersgrauen Platon: „Jung seid ihr, allesamt: Ihr habt ja keinerlei Kunde von den Anfängen, keine altüberlieferte Lehre, kein Stück Wissen, das vom Alter grau ist“. 5 Das Leben und Wirken von Führungs- kräften in Politik, Wissenschaft und Wirt- schaft ist nicht nur „Privatsache“. In dem Nachschlagewerk Historisches Lexikon der Schweiz (HLS) findet sich allerdings bisher noch keine Biografie des Arztes und Gelehrten Hans Guggisberg. (Der im HLS aufgeführte Hans Rudolf Guggis- berg ist eine andere Persönlichkeit, ohne 4  Monographie in Vorbereitung. 5  Klaus Bartels: Jung seid ihr, allesamt. Ein Plä- doyer für den humanistischen Unterricht.  Manuskript vom 11.10.2008. Persönlich über- reicht. Redaktion H. Ludwig, Basel 219 Der Gynäkologe 3 · 2014| Geschichte der Gynäkologie und Geburtshilfe

Hans Guggisberg (1880-1977); Hans Guggisberg (1880-1977);

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Page 1: Hans Guggisberg (1880-1977); Hans Guggisberg (1880-1977);

Gynäkologe 2014 · 47:219–222DOI 10.1007/s00129-014-3333-0Online publiziert: 7. März 2014© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

R.W. MoserMerzligen (Bern) 

Hans Guggisberg (1880-1977)Tribut an einen Schweizer Gynäkologen

Präambel

Ein großer Schweizer Gynäkologe wäre beinahe in Vergessenheit geraten, wenn nicht eines Tages im Institut für Medi-zingeschichte (IMG) der Universität Bern ein besonderes Manuskript entdeckt wor-den wäre, das dessen Leben und Wir-ken in die Gegenwart geholt hätte: Prof. Dr. med. Hans Guggisberg (1880–1977; . Abb. 1, 2), von 1911–1950 Direktor und Chefarzt des Kantonalen Frauenspitals Bern sowie Ordinarius für Gynäkolo-gie und Geburtshilfe an der Universität Bern. Ein mit schwarzer Tinte geschrie-benes Manuskript „Geburtshülflicher Operationskurs“1 ist eines der zahlrei-chen Dokumente seines ärztlichen Wir-kens und seiner Lehrtätigkeit. Kein Ge-ringerer als Marc Chagall hat einmal ge-sagt, dass „nur Tinte den Dingen Dauer-haftigkeit verleiht“.2 Diese Handschrift aus dem Jahr 1914 gibt uns die Möglich-keit, den Beitrag „Geburtshülflicher Ope-rationskurs“ von Professor Hans Guggis-berg mit späteren Druckausgaben (Lehr-

1   Hans Guggisberg: „Geburtshülflicher Opera-tionskurs“ (Vorlesungsmanuskript). Hand-schriftliches Original, verfasst von Hugo Rast, cand. med., von Hochdorf (Luzern) im Som-mersemester 1914. Im Institut für Medizin-geschichte der Universität Bern. Von Prof. Dr. med. Urs Boschung (Leiter des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern 1985–2011) in das Handschrifteninventar aufgenommen (Ms B88).

2    Virginia Haggard: Sieben Jahre der Fülle . Leben mit Chagall. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (1995), rororo 1290, S. 157.

büchern) zu vergleichen. Das Original-manuskript wurde dem Autor freundli-cherweise von Herrn Prof. Dr. med. Hu-bert Steinke für diese Arbeit überlassen. Im IMG befinden sich auch die Kran-kengeschichten des Frauenspitals aus den Jahren seines Wirkens.

Bedeutung der Medizingeschichte

Die Medizingeschichte ist eine geisteswis-senschaftliche Disziplin, ein Weg zurück in die Vergangenheit. Die historisch-kri-tische Arbeit besteht darin, Quellen zu suchen, Material zu sichten und zu ord-nen, Glaubwürdigkeit zu hinterfragen, Kontext und Absicht zu klären, Entste-hung, Strukturen und Regeln zu erfas-sen: partizipieren im engeren Sinn. Wer die Gegenwart verstehen will, der muss sich in der Vergangenheit auskennen. Das gilt nicht nur für die (operative) Geburts-hilfe. Medizinhistorische Forschung ver-sucht, den Zeitabstand zu überbrücken, damit Vergangenes Gegenwart wird. Sie kann Orientierungshilfe sein und Einla-dung zur Selbstkritik. „Die Kenntnis der Geschichte lernt relativieren: sie bewahrt vor rückwärtsgewandten wie vorwärts gerichteten Utopien“.3 Die Geschichte der Geburtshilfe entfaltet ein interdisziplinä-res Netzwerk: Neonatologie, Plazentolo-gie, Gynäkologie, Chirurgie, Urologie, Anästhesie und innere Medizin. Guggis-

3   Albert Gasser: Kirchengeschichte. Skriptum zur Vorlesung im TKL. Zürich (2004), Heraus-geberin: Studiengang Theologie (StTh).

bergs „Operationskurs“ gab den Impuls zur Kontextualisierung mit den aktuellen Fragen der heutigen Geburtshilfe.4

Die Medizingeschichte konfrontiert uns aber ebenso mit ärztlicher Fallbe-zogenheit sowie geschichtlicher Verant-wortung und am Beispiel der Zangen-operationen auch mit dem Segen und der Apokalypse dieser Eingriffe. Es geht da-rum, das ausgelagerte Wissensdepot aus dem inaktiven historischen Massenspei-cher in den aktiven Arbeitsspeicher zu la-den und es jungen Kollegen zugänglich zu machen: Kontextualisierung der Zan-genextraktion mit der Vakuumextraktion und der Sectio caesarea, allesamt gelobte und geschmähte Eingriffe. Bei welchem Lehrer kann sie der junge Arzt lernen? Der Altphilologe Klaus Bartels zitiert da-zu den altersgrauen Platon: „Jung seid ihr, allesamt: Ihr habt ja keinerlei Kunde von den Anfängen, keine altüberlieferte Lehre , kein Stück Wissen, das vom Alter grau ist“.5

Das Leben und Wirken von Führungs-kräften in Politik, Wissenschaft und Wirt-schaft ist nicht nur „Privatsache“. In dem Nachschlagewerk Historisches Lexikon der Schweiz (HLS) findet sich allerdings bisher noch keine Biografie des Arztes und Gelehrten Hans Guggisberg. (Der im HLS aufgeführte Hans Rudolf Guggis-berg ist eine andere Persönlichkeit, ohne

4  Monographie in Vorbereitung.5   Klaus Bartels: Jung seid ihr, allesamt. Ein Plä-

doyer für den humanistischen Unterricht. Manuskript vom 11.10.2008. Persönlich über-reicht.

RedaktionH. Ludwig, Basel

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Geschichte der Gynäkologie und Geburtshilfe

Page 2: Hans Guggisberg (1880-1977); Hans Guggisberg (1880-1977);

Bezug zum Gynäkologen Hans Guggis-berg.)

Die hier entfaltete Biografie von Hans Guggisberg wurde aus Einzelpublikatio-nen von Kollegen und Schülern zu sei-nem 25. Amtsjubiläum sowie Gratula-tionen zum 70. Geburtstag und einem Nachruf zusammengestellt. Diese Doku-mente befinden sich im Archiv des IMG der Universität Bern.6,7,8,9,10 Auch die

6   Jakob Klaesi: Prof. Dr. med. Hans Guggisberg zum 70. Geburtstag am 5. Februar (1950). Bern: „Bund“ Nr. 59, Sonntag, 5. Februar 1950, S. 3.

7   Fritz Ludwig: Prof. Hans Guggisberg zum 70. Geburtstag. Schweiz. Med. Wochenschr. Nr. 10, 1950, 265–266.

8   Max Berger: Prof. Dr. med. Hans Guggisberg zum Gedenken. Bern: „Der Bund“ Nr. 86, 14. April 1977, S. 13.

9   Paul Dübi, Max Berger: 100 Jahre Kantonales Frauenspital Bern (1876–1976). Bern: Verlag Paul Haupt, Bern (1976), S. 42–46. Universität Bern, Medizinhistorische Bibliothek, Reg. Hist. Med. Bern (158) 976. WQ28 GS9, B517F.

10   Roland Moser: Hans Guggisberg (*3. Februar  1880 in Bern; †11. April 1977 ebenda). Die Biografie von Hans Guggisberg wurde aus Dokumenten, die sich im Archiv des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern befinden, zusammengestellt und am 17. Mai 2013 in der freien Enzyklopädie Wikipedia veröffentlicht.

Krankengeschichten der Universitäts-Frauenklinik Bern (Kantonales Frauen-spital) aus der Amtszeit von Prof. Hans Guggisberg befinden sich im IMG Bern. Ein reicher Schatz von Akten wartet auf die medizinhistorische Aufarbeitung.

Summa cum laude

Professor Hans Guggisberg war in Bern vom ersten Tag seiner Tätigkeit an ein Mehrer des ihm Anvertrauten, ein beru-fener und weitblickender Leiter, Organi-sator, Wissenschaftler und Lehrer. Er hat mit einer seltenen Hingabe die Geschicke der kantonalen Universitäts-Frauenklinik Bern geleitet. Guggisberg war nicht nur ein hervorragender Arzt, er war auch ein hochgeschätzter Lehrer, der fast 40 Jah-ren lang Studierende der Medizin sowie Assistenzärzte in Geburtshilfe und Gy-näkologie ausgebildet hat. Über die gan-ze Welt verstreut praktizierten Ärzte , die ihre geburtshilflich-gynäkologischen Kenntnisse ihm verdankten und in sei-nem Sinn und Geist leidenden Frauen Linderung und Heilung verschafften.

Neben diesen Aufgaben befasste sich Guggisberg eingehend mit fakultären und gesamtuniversitären Fragen. Zweimal be-kleidete er das Amt des Dekans der Me-

dizinischen Fakultät, und im Jahr 1920 wurde er zum Rector magnificus der Uni-versität Bern gewählt. Seine Rektorats-rede war dem Thema „Vererbung und Übertragung“ gewidmet.11 Er war außer-dem Mitbegründer der Privatklinik En-geried, Präsident des Medizinischen Be-zirksvereins Bern-Stadt, langjähriger Prä-sident der Ärztegesellschaft des Kantons Bern, Präsident des Sanitätskollegiums des Kantons Bern, Präsident des Verwal-tungsrats des Inselspitals, Gründer und Präsident der Gynäkologischen Gesell-schaft der deutschen Schweiz, Senats-mitglied der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften sowie Mitglied des Stiftungsrats der Marcel-Be-noist-Stiftung.

Professor Guggisberg gilt als vorbildli-cher Arzt und angesehener Repräsentant der universitären Geburtshilfe und Gynä-kologie. Er gehörte zur Elite der Univer-sität Bern. Das Berner Frauenspital ent-wickelte sich unter seiner Leitung vom „Armenspital“ zum angesehenen Uni-versitätsspital. Professor Guggisberg gilt in Fachkreisen als internationale Autori-tät und Gelehrter von Weltruf.

Biografische Notizen

Hans Guggisberg, von Belp (Bern), wurde am 3. Februar 1880 in Bern geboren. Sein Vater Rudolf Guggisberg (1853–1913) war Lehrer in Münchenbuchsee und Bern, Gemeinderat und Polizeidirektor der Stadt Bern, Großrat, Oberst der Infan-terie und Platzkommandant von Bern.12 Nach dem Besuch der Primarschule und des Gymnasiums in Bern studierte Hans

11   Hans Guggisberg: Vererbung und Über-tragung. Rektoratsrede, gehalten an der 85. Stiftungsfeier der Universität Bern. Bern, dem 22. November 1919. Bern, Paul Haupt 1920.

12   Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz (HBLS). Das HBLS wurde von der All-gemeinen Geschichtsforschenden Gesell-schaft der Schweiz (Vorläuferin der Schwei-zerischen Gesellschaft für Geschichte) her-ausgegeben und erschien von 1921–1934 in 7 Bänden und einem Supplement-Band. Das Werk wurde gleichzeitig in deutscher und französischer Sprache herausgegeben. Das Nachfolgewerk des HBLS ist das von Marco Jorio herausgegebene Historische Lexikon der Schweiz (HLS).

Abb. 1 8 Professor Dr. med. Hans Guggisberg. (Mit freundlicher Genehmigung des Archivs des Instituts für Medizingeschichte der Univer-sität Bern)

Abb. 2 8 Professor Dr. med. Hans Guggisberg, Zeichnung von Prof. Dr. med. Hans Cottier. (Mit freundlicher Genehmigung des Archivs des Ins-tituts für Medizingeschichte der Universität Bern)

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Geschichte der Gynäkologie und Geburtshilfe

Page 3: Hans Guggisberg (1880-1977); Hans Guggisberg (1880-1977);

Guggisberg von 1898–1903 Medizin an den Universitäten Bern und München. Von 1903–1906 arbeitete Hans Guggis-berg unter Prof. Dr. med. Peter Müller als Assistenzarzt am Frauenspital Bern. Den Titel des Doctor medicinae erwarb er sich mit einer Arbeit „Ueber Komplikatio-nen der Retroflexio uteri und deren Ein-fluss auf die operative Therapie“.13 Seine Ausbildung ergänzte er als Assistent des Schweizer Chirurgen Professor Dr. med. Otto Lanz (1865–1935) – ein Schüler von Theodor Kocher – an der Chirurgischen Klinik in Amsterdam.

Im Jahr 1906 heiratete Hans Guggis-berg Frau Hanny Andres und eröffnete im gleichen Jahr eine Praxis als Frauen-arzt am Bubenbergplatz in Bern. Neben seiner Praxis war Hans Guggisberg wis-senschaftlicher Mitarbeiter am Bakterio-logischen Institut unter Professor Wil-helm Kolle. Hier erforschte er Fragen der Serologie und Immunologie und habi-litierte 1908 mit einer Arbeit „Ueber die klinische Verwendung der Opsonine bei Schwangeren und Wöchnerinnen“.14

Im Jahr 1911 wurde der erst 31-jährige Privatdozent Dr. Hans Guggisberg vom Regierungsrat des Kantons Bern zum Nachfolger von Prof. Dr. med. Peter Mül-ler (1836–1922), der die Kantonale Ent-bindungsanstalt von 1874–1910 leitete, zum Professor [außerordentlicher Pro-fessor (aoP) 1911, ordentlicher Professor (oP) 1912] und Lehrstuhlinhaber für Ge-

13   Hans Guggisberg: Ueber Komplikationen der Retroflexio uteri und deren Einfluss auf die operative Therapie. Aus der geburtshilf-lich-gynaekologischen Klinik der Universität Bern. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Medizinischen Fakultät der Universität Bern. Auf Antrag des Herrn Prof. P. Müller von der Fakultät zum Druck genehmigt. Bern, 11. Januar 1905. Der Dekan der medizinischen Fakultät: Prof. Jadassohn. Bern 1905, Buchdruckerei Neu-komm & Zimmermann. (Universität Bern, Medizinhistorische Bibliothek, Diss. med. Bern, A3839824). (IDS Bibliotheken Bern BM 1 073 483).

14   Hans Guggisberg: Ueber die klinische Ver-wendung der Opsonine bei Schwangeren und Wöchnerinnen. (Aus dem Institut zur Erforschung der Infektionskrankheiten Bern. Direktor: Herr Prof. Dr. W. Kolle.) Habilita-tionsschrift. In: Zeitschrift für Geburtshülfe  und Gynäkologie, LXIV. Band. Stuttgart, 1909: Verlag von Ferdinand Enke, 136–165.

burtshilfe und Gynäkologie an der Medi-zinischen Fakultät der Universität Bern und zugleich zum Direktor des Kantona-len Frauenspitals Bern gewählt.

Unter seiner Direktion wurde dieses mehrmals vergrößert sowie modernisiert und entwickelte sich zu einer schweizeri-schen Musterklinik. Die Zahl der jährli-chen Aufnahmen hatte sich verdreifacht und überstieg das dritte Tausend.

Kleiner Exkurs: Die alte Frauenkli-nik an der Schanzeneggstrasse aus der Zeit von Guggisberg steht heute noch im Dienst der Universität. Die „neue“ Frau-enklinik beim Inselspital ist nach 11-jäh-rigem Betrieb beinahe „abbruchreif “. Es braucht zur Sanierung ein 40-Mio.-“Übergangs-Spital“.15

Professor Guggisberg hat das Ansehen der Universität Bern in hohem Maß ge-fördert. Um der Hochachtung und Vereh-rung Ausdruck zu geben, überreichte ihm zu seinem 25-jährigen Amtsjubiläum das hohe „Komitee für die Jubiläumsfeier“, bestehend aus den Herren Prof. Casparis (Dekan), Prof. Bürgi (Prodekan), Prof. de Quervain, Prof. Wegelin, Prof. Lud-wig, PD von Fellenberg, PD Neuweiler, Dr. Mennet) eine Festschrift, zu der eine große Anzahl von Kollegen und Schülern Beiträge lieferten.16

15   Timo Kollbrunner: Der Bund 164. Jg., Nr. 296, Donnerstag, 19. Dezember 2013, S. 1 und S. 21.

16   Festschrift für Prof. Dr. med. Hans Guggis-berg zu seinem 25-jährigen Amtsjubilä-um (1911–1936), zu der eine große Anzahl von Kollegen und Schülern Beiträge gelie-fert haben. Im Namen des Komitees für die Jubiläumsfeier zeichneten: Paul Caspa-ris (Dekan), Emil Bürgi (Prodekan), Johann Friedrich de Quervain, Carl Wegelin, Fritz Ludwig, Rudolf Karl Gustav von Fellenberg, Walter Neuweiler, Jules A. Mennet. Die Fest-schrift wird in dem in der Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift erschienenen Beitrag „Prof. Dr. Hans Guggisberg zu sei-nem 25-jährigen Amtsjubiläum gewidmet“ erwähnt. Schweiz. Med. Wochenschr. 66. Jahrgang, Nr. 46, 14. November 1936, Seite  1105. Die Festschrift findet sich in keiner Bib-liothek, auch nicht im Nachlass von Prof. Guggisberg im Institut für Medizingeschich-te der Universität Bern. Es muss angenom-men werden, dass sie dem Jubilar als Manu-skript überreicht und nicht publiziert wurde.

Erfüllt von Forscherdrang

Trotz diesen Verpflichtungen widmete sich Professor Guggisberg mit Vorliebe der wissenschaftlichen Forschung. An-nähernd 200 wissenschaftliche Arbeiten und mehrere Lehrbücher dokumentieren seine große Forschertätigkeit. Am großen Aufschwung, den Geburtshilfe und Gy-näkologie in jener Zeit erfuhren, war er maßgebend beteiligt. Seine bahnbrechen-den Forschungen erstrecken sich auf alle Gebiete der Geburtshilfe und Gynäkolo-gie. Immer war die Problemstellung ori-ginell, klar und überzeugend, und seine wissenschaftlichen Publikationen fanden überall hohe Anerkennung. Ein Teil sei-ner eigenen Untersuchungen ist in dem Handbuch Die Biologie und Pathologie des Weibes zusammengefasst.17 Dieses Hand-buch galt lange Zeit als das Standardwerk der modernen Geburtshilfe und Gynäko-logie.

Guggisberg hat als einer der ersten Ärzte Ergotamin, ein Alkaloid des Mut-terkorns, in der Geburtshilfe und Gy-näkologie geprüft18,19,20,21. Durch seine Untersuchungen wurden die Indikations-stellungen und die Dosierung des reinen Mutterkornalkaloids abgeklärt. Aufgrund dieser während 3 Jahrzehnten gesammel-ten klinischen Erfahrungen und seiner umfassenden Literaturkenntnisse ver-fasste er eine Monografie über das Mut-terkorn. In diesem Buch sind nicht nur die geburtshilflich-gynäkologischen An-wendungsgebiete, sondern auch die Indi-kationen der Mutterkornalkaloide in der übrigen Medizin besprochen. Professor

17   Hans Guggisberg: Biologie und Patholo-gie des Weibes. In: Josef Halban, Hans Seitz (Hrsg) Handbuch der Frauenheilkunde und Geburtshilfe, 9 Bde. Urban & Schwarzen-berg, Berlin Wien (1929).

18   Hans Guggisberg: Beitrag zur Frage der wirk-samen Mutterkornsubstanzen. Helvetica Medica Acta, 4, 13 (1937).

19   Hans Guggisberg: Die Bedeutung der Rein-stoffe des Mutterkorns. Schweiz. Med. Wschr. Nr. 1/2, S98 (1947)

20   Hans Guggisberg: Die Wandlungen in der Mutterkorntherapie. Sonderdruck aus «The-rapeut. Umschau» XI. Jahrg., Heft 4. Med. Verlag Hans Huber Bern (1954)

21   Hans Guggisberg: Mutterkorn. Vom Gift zum Heilstoff. S. Karger Basel New York (1954).

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Page 4: Hans Guggisberg (1880-1977); Hans Guggisberg (1880-1977);

Guggisberg hat zahlreiche Assistenten zu Fachärzten ausgebildet.

Chirurg

In der Beherrschung der operativen Tech-nik war Professor Guggisberg nach Zeit-zeugen nicht zu übertreffen. Davon zeugt auch sein „Geburtshülflicher Operations-kurs“, seine Lehre über den Umgang mit der Gebärzange, demjenigen Operations-instrument, das der englische Geburtshel-fer Edmund Chapman als „the ‚noble in-strument‘“ bezeichnete.22 Die langjähri-gen Erfahrungen als Hochschullehrer hat Professor Guggisberg in seinem Lehrbuch der operativen Geburtshilfe und im Lehr-buch der Gynäkologie23 zum Ausdruck ge-bracht. Die Geburtshülfliche Operations-lehre (1916)24 darf – trotz großen und se-gensreichen Fortschritten für Mutter und Kind – in den manuellen Belangen heu-te noch als Standardwerk angesprochen werden. Durch die verbesserte perinatale Überwachung des Kindes sind jedoch die Indikationen zur Zangenoperation ver-feinert worden.

Hochschullehrer

Als Hochschullehrer gelang es Professor Guggisberg in meisterhafter Weise die Studenten für sein Fach zu begeistern. Seine klar aufgebauten Vorlesungen und Kurse, zu denen auch der Beitrag „Ge-burtshülflicher Operationskurs“ (1914) gehörte, waren immer gut vorbereitet und den Anforderungen des zukünftigen praktischen Arztes angepasst. Eine große Anzahl von Ärzten aus allen Gegenden der Schweiz und über die ganze Welt ver-streut gedachten an seinem 70. Geburts-tag in dankbarer Verehrung ihres ehema-ligen Lehrers. Auszeichnungen erfolgten durch die Verleihung der Haller- und der

22   Edmund Chapman: Zit. in: Helen King: Mid-wifery, obstetrics and the rise of gynaeco-logy. The uses of a sixteenth-century com-pendium. England (2007), Aldershot, Asgate , S. 137.

23   Hans Guggisberg: Lehrbuch der Gynäkolo-gie. Verlag Karger, Basel (1946). 2. Auflage  1947.

24   Hans Guggisberg: Geburtshilfliche Opera-tionslehre. Stuttgart (1916), Verlag von Fer-dinand Enke. [Med 5955].

Anna-Seiler-Medaille. Professor Hans Guggisberg starb am 11. April 1977 im 98. Altersjahr in seiner Vaterstadt Bern. Die Trauerfeier fand am 14. April 1977 in der Kapelle des Burgerspitals Bern statt.

Zeitfenster seiner Amtszeit

In die Amtszeit von Hans Guggisberg fal-len die beiden Weltkriege und damit die Atombomben von Hiroshima und Na-gasaki. Die unvorstellbaren Zahlen der Kriegstoten stehen im Kontrast mit der größten Geburtenzahl, die die Berner Frauenklinik je in ihren Jahresberichten verzeichnen konnte. Eine Zeit, in der zu-dem Ärzte Militärdienst leisten mussten. Diese Polaritäten erweisen sich als inte-graler Bestandteil des Lebens von Pro-fessor Guggisberg. Der Pionier der Ge-burtshilfe und Gynäkologie erlebte die Pionierzeit der Eisenbahn, den Durch-stich am Lötschberg, den Bau der Jung-fraubahn, die Eröffnung der Bern-Zolli-kofen-Bahn und den Landesstreik. Gug-gisberg war ein Zeitgenosse des Unter-gangs der Titanic. Professor Guggisberg bekleidete sein Amt als Direktor und Chefarzt des Kantonalen Frauenspitals, als 1934 die Universität Bern ihr 100-jäh-riges Bestehen feierte. Der regelmäßige medizinische Unterricht begann jedoch in Bern nicht erst 1834 mit der Gründung der Universität, sondern bereits mit der Gründung des „Medizinischen Instituts“ 1797.

Epilog

Nicht ein Computer war es, der uns bei der Spurensuche nach der Schweizer Gy-näkologie auf Hans Guggisberg führte , sondern ein altes medizinhistorisches Dokument, ein von Hand mit Tinte ge-schriebenes Manuskript. Ja, „Jung (sind wir), allesamt: (Wir haben) ja keiner-lei Kunde von den Anfängen, keine alt-überlieferte Lehre, kein Stück Wissen, das vom Alter grau ist“.25 In Anlehnung an Heinrich Pestalozzi (1746–1827) ist Me-dizingeschichte „Anknüpfen der Vergan-

25   Platon: Timaios 22 B. Aus einem Manuskript von Klaus Bartels: „Jung seid ihr allesamt“. Ein Plädoyer für den humanistischen Unter-richt (2008).

genheit an das Dunkel der Zukunft durch weisen Gebrauch der Gegenwart“.26

Korrespondenzadresse

Dr. R.W. MoserSchulgasse 18,  3274 Merzligen (Bern) [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt.  R. Moser gibt an, dass kein  Interessenkonflikt besteht.

26   Johann Heinrich Pestalozzi: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt.

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Geschichte der Gynäkologie und Geburtshilfe