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Hanjo Hamann Der Sprachgebrauchim Waffenarsenal der Jurisprudenz Die Rechtspraxis im Spiegel der quantitativ-empirischen Sprachforschung 1 Einleitung Man mus nicht die buchstaben des ius fragen, wie man sol sie auf Deutsch verstehet, wie diese esel thun, sondern, man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden. So lautet die berühmte Sentenz Martin Luthers über die Gesetzesauslegung, die nur deshalb nie das Licht der Welt erblickte, weil ein Gewitter im Jahr 1505 den jungen Luther vom Rechtsstudium zur Theologie bekehrte, woraufhin er ein Vierteljahrhundert später dasjenige auf die Übersetzung von Bibellatein münzte (Luther 1530: 636), was er fast wortgleich über die Gesetzesauslegung hätte schreiben können. Statt seiner übernahmen nachfolgende Generationen von Juristen die anspruchsvolle Aufgabe, ihren Umgang mit der Sprache des Rechts zu reflektieren, um nach und nach einen Standpunkt zu entwickeln, der heute zum erklärten Selbstverständnis der Rechtsdogmatik gehört: Der aus dem allge- meinen Sprachgebrauch zu entnehmende Wortsinn bildet den Ausgangspunkt und bestimmt zugleich die Grenze der Auslegung(Larenz 1991: 320ff., 343 mit anderer Hervorhebung; BVerfGK 16, 190; BGHZ 179, 27). 1 So schlicht dieses Selbstverständnis daherkommt, so wenig ist es selbstver- ständlich. Wie rechtstheoretische Untersuchungen nachweisen, ist gegenüber den Methodenbekenntnissen der Rechtsprechung Skepsis angebracht, denn die Gerichte tun nicht, was sie sagen, und sagen nicht, was sie tun(Christensen 1989: 64f.; Müller und Christensen 2009: 49ff.). Dieser allgemeine Doppelsprech der Rechtspraxis wird zu Recht kritisiert, und auch die konkrete Rolle des Sprachgebrauchs in der Rechtsprechung ist in den letzten Jahren in die Kritik geraten (z.B.Lorenz, Pietzcker und Pietzcker 2005: 430 Fn.15; Li 2011: 120ff., 186ff.). Diese Kritik stützt sich auf die qualitative Untersuchung ausgewählter 1 Für die hier und im Folgenden verwendeten B-Akronyme findet sich ein Abkürzungsver- zeichnis am Ende des Beitrags.

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Hanjo Hamann

Der „Sprachgebrauch“ im Waffenarsenalder Jurisprudenz

Die Rechtspraxis im Spiegel der quantitativ-empirischenSprachforschung

1 Einleitung

Man mus nicht die buchstaben des ius fragen, wie man sol sie auf Deutsch verstehet, wie dieseesel thun, sondern, man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinenman auff demmarckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden.

So lautet die berühmte Sentenz Martin Luthers über die Gesetzesauslegung, dienur deshalb nie das Licht der Welt erblickte, weil ein Gewitter im Jahr 1505 denjungen Luther vom Rechtsstudium zur Theologie bekehrte, woraufhin er einVierteljahrhundert später dasjenige auf die Übersetzung von Bibellatein münzte(Luther 1530: 636), was er fast wortgleich über die Gesetzesauslegung hätteschreiben können. Statt seiner übernahmen nachfolgende Generationen vonJuristen die anspruchsvolle Aufgabe, ihren Umgang mit der Sprache des Rechtszu reflektieren, um nach und nach einen Standpunkt zu entwickeln, der heutezum erklärten Selbstverständnis der Rechtsdogmatik gehört: „Der aus dem allge-meinen Sprachgebrauch zu entnehmende Wortsinn bildet den Ausgangspunktund bestimmt zugleich die Grenze der Auslegung“ (Larenz 1991: 320 ff., 343 mitanderer Hervorhebung; BVerfGK 16, 190; BGHZ 179, 27).1

So schlicht dieses Selbstverständnis daherkommt, so wenig ist es selbstver-ständlich. Wie rechtstheoretische Untersuchungen nachweisen, ist gegenüberden Methodenbekenntnissen der Rechtsprechung Skepsis angebracht, denn „dieGerichte tun nicht, was sie sagen, und sagen nicht, was sie tun“ (Christensen1989: 64 f.; Müller und Christensen 2009: 49 ff.). Dieser allgemeine Doppelsprechder Rechtspraxis wird zu Recht kritisiert, und auch die konkrete Rolle desSprachgebrauchs in der Rechtsprechung ist in den letzten Jahren in die Kritikgeraten (z. B. Lorenz, Pietzcker und Pietzcker 2005: 430 Fn. 15; Li 2011: 120 ff.,186 ff.). Diese Kritik stützt sich auf die qualitative Untersuchung ausgewählter

1 Für die hier und im Folgenden verwendeten B…-Akronyme findet sich ein Abkürzungsver-zeichnis am Ende des Beitrags.

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Gerichtsentscheidungen zu sprachwissenschaftlich anspruchsvollen Zweifelsfra-gen – wie derjenigen, ob Pilze „Pflanzen“ im Sinne des Betäubungsmittelrechtsseien (ausf. Li 2011, bspw. zu OLG Koblenz 2006; BGH 2007). Solche Untersu-chungen sind höchst verdienstvoll und aufschlussreich, haben aber die Schwä-che, dass sie keine zuverlässigen Aussagen über die Allgemeinheit der entdeck-ten Phänomene erlauben. Vielmehr läuft die qualitative Untersuchung Gefahr,Tendenzen zu erkennen, die tatsächlich nicht bestehen.2 Die folgende Unter-suchung wertet deshalb auf breiterer Front das Bundesrecht sowie zehn Jahrehöchstgerichtlicher Rechtsprechung aus, um die bisherige Forschung quantitativzu komplementieren, denn erst die volle Ausnutzung des Spektrums empirischerMethoden ermöglicht eine gründlich reflektierte „evidenzbasierte Jurisprudenz“(Hamann 2014).

Konkret widmet sich die Untersuchung drei Fragen, zu deren Beantwortungdie bisherige Forschung Anhaltspunkte liefert, aber keine allgemeine Einschät-zung erlaubt:1. Was meinen Gesetzgeber und Gerichte eigentlich mit „Sprachgebrauch“?2. In welchen Zusammenhängen und in welcher Funktion berufen sie sich

darauf?3. Wie ermitteln sie den „allgemeinen Sprachgebrauch“?

Diese Fragen wenden das oben zitierte Selbstverständnis der Rechtsdogmatikgegen sie selbst: Sie fragen – gewissermaßen auf der Metaebene – welche Bedeu-tung der „Sprachgebrauch“ der Normadressaten im „Sprachgebrauch“ der Norm-anwender bzw. -setzer hat. Die Untersuchung wird also, in den Worten Luthers,der Jurisprudenz ihrerseits „auff das maul sehen“.

Dieses evidenzbasierte Vorgehen schafft die Voraussetzungen für eine fun-diertere Kritik an der gegenwärtigen Rechtspragmatik und gibt der Rechtspraxiszugleich Hilfestellungen bei ihrer Bedeutungsanalyse von Rechtstexten. Es fügtsich ein in die internationale Tendenz der Rechtswissenschaft zur zunehmendenVerwendung empirischer Methoden, sowohl allgemein (Cane und Kritzer 2010;Lawless, Robbennolt und Ulen 2010; Hamann 2014) als auch in spezifisch sprach-wissenschaftlichen Zusammenhängen (Mouritsen 2010; Vogel 2012; Vogel, Pött-ers und Christensen 2015). Wissenschaftstheoretisch ist die vorliegende Unter-suchung eine explorative (erkundende) Studie. Sie kann insbesondere nichtbeantworten, ob Gerichte konsequent ihr Methodenbekenntnis beherzigen, dieAuslegung am Sprachgebrauch auszurichten, weil die Untersuchung nur diejeni-

2 Beispiele finden sich unten in Abschnitt 3.3 über die Quellen der richterlichen Sprachgebrauch-sermittlung.

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gen Fälle umfasst, in denen der „Sprachgebrauch“ tatsächlich explizit herange-zogen wird. Auch soll die Untersuchung nicht existierende Theorien abschlie-ßend auf ihre Stichhaltigkeit überprüfen, sondern die empirischen Vorfragenbeantworten, auf denen letztlich jede fundierte Theoriekritik aufbauen muss.

2 Der „Sprachgebrauch“ im Bundesrecht

Nähert man sich zunächst dem „Sprachgebrauch“, wie er in Gesetzen verwendetwird, so fällt auf, dass dieser Begriff im gesamten Bundesrecht an nur vier Stellenauftaucht:3

1. Die Anlage 2 zu § 3 der Fahrpersonalverordnung (FPersV) listet in Anhang A(„Abkürzungen, Definitionen“) neben deutschen Abkürzungen auch einige„nach internationalem Sprachgebrauch“.

2. § 11 Abs. 3 der Integrationskursverordnung (IntV) nennt als fakultativen Be-standteil des Aufbausprachkurses im Integrationskurs für Ausländer undSpätaussiedler ein „Praktikum zum interaktiven Sprachgebrauch“.

3. § 8 Abs. 2 Nr. 3 des Markengesetzes (MarkenG) schließt „Zeichen oder Anga-ben“ vom Markenschutz aus, „die im allgemeinen Sprachgebrauch oder inden redlichen und ständigen Verkehrsgepflogenheiten zur Bezeichnung derWaren oder Dienstleistungen üblich geworden sind“.

4. Der Zweite Titel im Ersten Abschnitt des Strafgesetzbuchs, AllgemeinerTeil (StGB-AT), ist mit „Sprachgebrauch“ überschrieben und umfasst § 11über die im StGB verwendeten Personen- und Sachbezeichnungen sowie § 12über die Begriffe „Vergehen“ und „Verbrechen“.

Um die vom jeweiligen Gesetzgeber gemeinte (subjektive) Bedeutung eines Be-griffs zu erschließen, bieten Gesetzgebungsmaterialien den besten Anhalt. Aller-dings sind die Materialien zu den beiden erstgenannten Verordnungen nichtöffentlich zugänglich, und angesichts ihrer peripheren Verwendung des Begriffs„Sprachgebrauch“ ist auch nicht zu erwarten, dass der jeweilige Verordnungsge-ber den Begriff bewusst verwendet und theoretisch reflektiert hat.

Ein wenig aufschlussreicher ist die Gesetzgebungsgeschichte von § 8 Mar-kenG. Dort sollte Abs. 2 Nr. 3 „solche Bezeichnungen erfassen, die – ohne Gat-tungsbezeichnung zu sein – zur Kennzeichnung von Waren oder Dienstleistun-

3 Volltextsuche im Gesetzesportal des Bundesministeriums der Justiz, durchgeführt am 9.8.2013unter www.gesetze-im-internet.de/cgi-bin/htsearch?&config=Gesamt_bmjhome2005&words=sprachgebrauch.

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gen […] im Verkehr üblich geworden sind.“ (Bundesregierung 1994: 70). DieseBegründung fasst also die vom Gesetz verwandten Begriffe „allgemeiner Sprach-gebrauch“ und „Verkehrsgepflogenheiten“ unter die allgemeinere Wendung „imVerkehr“. Ob damit mehr bezweckt ist als eine Wiederholung des Gesetzestextes,ist zwar fraglich, aber zumindest lassen das Gesetz und seine Begründung er-kennen, dass sie den „allgemeinen Sprachgebrauch“ als ein Element des Verkehrszwischen Menschen verstehen, das den „Verkehrsgepflogenheiten“ gleichsteht.

Deutlicher äußern sich die Materialien zum Strafgesetzbuch über die Ver-wendung des Begriffes „Sprachgebrauch“. Eingeführt wurde er als amtliche Über-schrift für die §§ 11 und 12 StGB durch Art. 1 Nr. 1 des Zweiten Gesetzes zur Reformdes Strafrechts 1969 (2. StrRG v. 4.7.1969, BGBl. I S. 717). Schon früher aller-dings – nämlich im Entwurf eines neuen Nachkriegs-StGB von 1962 – war derBegriff an dieser Stelle vorgesehen. Dessen Materialien führten aus: „Um nichtgewisse, im Strafrecht häufig wiederkehrende Begriffe und Tatbestandsmerkmalean jeder Stelle, an der sie vorkommen, immer wieder im einzelnen umschreibenzu müssen, bezeichnet der Entwurf sie mit einfachen Ausdrücken, denen er einennäher umschriebenen Inhalt gibt […] Er faßt sie in einem besonderen Titel unterder Überschrift ‚Sprachgebrauch‘ zusammen“ (Bundesregierung 1962: 114). Hierversteht der Gesetzgeber den „Sprachgebrauch“ also als juristische Setzung,gleichbedeutend mit „Begriffsbestimmungen und Begriffserläuterungen“ (ebd.).Zweck dieser verordneten „Verfeinerung“ des dem Gesetz unterlegten Sprachge-brauchs war die „Förderung der Rechtssicherheit [… in den] Grenzen des Erforder-lichen und Zweckmäßigen“ (ebd.). Da die Vorschriften über den „Sprachge-brauch“ in den Ersten Abschnitt des StGB-AT eingestellt wurden, der ansonstennur Vorschriften über den zeitlichen und örtlichen „Geltungsbereich“ des Strafge-setzbuchs enthält, scheint der Gesetzgeber den „Sprachgebrauch“ als Bestim-mung des sachlichen Anwendungsbereichs aufzufassen.

Die Verwendung des „Sprachgebrauchs“ im Bundesrecht verdeutlicht also,dass der „Sprachgebrauch“ im Recht zwei ganz unterschiedliche Dinge meinenkann: Entweder eine „Verkehrsgepflogenheit“ der Normadressaten (wie § 8 Abs. 2Nr. 3 MarkenG), oder aber die vom Normsetzer konstruierten „Begriffsbestimmun-gen“ (wie vor § 11 StGB).

3 Der „Sprachgebrauch“ in der Rechtsprechung

Um auch in der Rechtsprechung die Verwendung des „Sprachgebrauchs“ syste-matisch zu erfassen, bietet sich eine Sichtung der Entscheidungen an, die dasBundesverfassungsgericht und die fünf obersten Bundesgerichte – das sind nachArt. 95 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungs-

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gericht, der Bundesfinanzhof, das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozial-gericht – in den letzten zehn Jahren erlassen und für hinreichend bedeutsamgehalten haben, um sie in die von den Richtern herausgegebenen Entscheidungs-sammlungen aufzunehmen (aufgeführt am Ende dieses Beitrags). Diejenigen Ent-scheidungen, die mindestens einmal das Wort „Sprachgebrauch“ oder dessenFlexionsvarianten erwähnen, lassen sich aus der kommerziellen Fachdatenbankjuris.de mit der Suchabfrage sprachgebrauch UND (bverfge ODER bghst ODERbghz ODER bverwge ODER bage ODER bsge ODER bfhe) UND 2003–2012 abrufen.Diese Suche ergab am 31.7.2013 genau 325 Treffer in 240 Entscheidungen, die sichwie folgt verteilen:

Tab. 1: Höchstgerichtliche Entscheidungen der letzten zehn Jahre mit mindestens einerErwähnung des Wortes „Sprachgebrauch“, soweit sie in die jeweilige amtliche Sammlungaufgenommen und von juris indiziert wurden.

2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Summe

BAGE 14 9 7 10 7 13 10 5 6 2 83

BFHE 2 7 4 4 4 6 6 5 4 3 45

BGHSt 5 0 2 0 2 1 2 3 0 0 15

BGHZ 2 5 3 3 0 1 2 2 4 4 26

BSGE 2 0 1 2 1 2 3 2 7 2 22

BVerfGE 2 1 1 2 2 1 0 2 1 0 12

BVerwGE 6 4 5 3 3 4 1 4 0 7 37

Auf den ersten Blick scheint die Arbeits- und Finanzgerichtsbarkeit am häufigstenmit dem „Sprachgebrauch“ konfrontiert zu werden. Allerdings ist zu berücksich-tigen, dass die einzelnen Entscheidungssammlungen unterschiedlich umfang-reich ausfallen. Betrachtet man relative statt absoluter Werte, so wird deutlich,dass sich in allen Entscheidungssammlungen etwa drei bis vier Prozent der Ent-scheidungen mit dem Sprachgebrauch befassen, während die Arbeitsgerichtsbar-keit deutlich mehr, die Zivil- und Finanzgerichtsbarkeit sogar deutlich wenigerErwähnungen verzeichnen.

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Tab. 2: Anteil der Entscheidungen mit dem Suchtreffer „Sprachgebrauch“ an allen amtlichveröffentlichten höchstgerichtlichen Entscheidungen 2003–2012 sowie durchschnittliche Zahlder Suchtreffer pro gefundener Entscheidung.

Anzahl der Entscheidungen in juris für 2003–2012 Anteil derEntschei-

dungen mitSuchtreffer:

(B) / (A)

mittlereAnzahl Such-

treffer proEntscheidung:

(C) / (B)

(A)insgesamt

(B)mit Suchtref-fer „Sprach-gebrauch“

(C)Anzahl

Suchtrefferinsgesamt

BAGE 1.427 83 110 5,8% 1,33

BFHE 3.516 45 64 1,3% 1,42

BGHSt 381 15 17 3,9% 1,13

BGHZ 1.534 26 29 1,7% 1,12

BSGE 716 22 46 3,1% 2,09

BVerfGE 308 12 17 3,9% 1,42

BVerwGE 892 37 42 4,1% 1,14

Insgesamt 8.774 240 325 2,7% 1,35

3.1 Was meinen Gerichte mit „Sprachgebrauch“?

Die erste der drei Fragestellungen dieses Beitrags betrifft das Begriffsverständnisdes Wortes „Sprachgebrauch“. Diese Frage lässt sich entweder anhand der se-mantischen Strukturen untersuchen, in denen der „Sprachgebrauch“ auftaucht(vgl. Li 2011: 186 ff.) oder anhand des Umgangs, den dieser Begriff pflegt, also derhäufigsten Partnerworte in seiner Nähe (sog. Kollokationen, vgl. Pötters undVogel, in diesem Band). Besonders aufschlussreich dürften insoweit die Attributesein – ob als vorangestellte Adjektive oder nachgestellte Genitivergänzungen –,da sie konkretisieren, welcher „Sprachgebrauch“ jeweils gemeint ist. Weil auto-matisierte Kollokationsanalysen wegen der freien Satzstellung des Deutschennicht ohne Weiteres zu sinnvollen Ergebnissen führen, wurde der Trefferkontext(KWIC, Keyword in Context) mit der Software AntConc (Anthony 2012) automati-siert erhoben, anschließend aber manuell ausgewertet. Untersucht man auf dieseWeise die 325 Suchtreffer für den Begriff „Sprachgebrauch“ im Zeitraum 2003–2012, ergibt sich folgendes Bild:

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Tab. 3: Auf den „Sprachgebrauch“ bezogene Attribute in der Reihenfolge ihrer absolutenHäufigkeit; kursiv gesetzte Attribute sind wörtlich wiedergegeben, nicht kursive sindOberbegriffe mit wörtlichen Beispielen in der Fußnote.

Verwendetes Attribut in Leit- oderOrientie-

rungssätzen4

Im Tatsachenteil, davon: in der Ent-scheidungs-begründung5

im Partei-vorbringen

in Zsfg. d.Vorinstanz

(1) allgemeiner ~ 7 8 9 149

(2) der ~ (ohne Attribut) 2 23

(3) gesetzespezifischer6 ~ 1 21

(4) juristischer ~ 1 9

(5) ortsspezifischer7 ~ 1 8

(6) normspezifischer8 ~ 8

(7) üblicher ~ 1 1 7

(8) rechtsgebiets-spezifischer9 ~

1 1 7

(9) allgemeiner rechtsgebiets-spezifischer ~

1 1 7

(A) politischer ~ / staatli-cher ~ / staatsspezifischer10 ~

1 7

(B) allgemeiner juristischer ~ 5

(C) berufsspezifischer11 ~ 4

(D) gesetzlicher ~ / gesetz-geberischer ~ / ~ des Gesetz-gebers

4

(E) gewöhnlicher ~ 4

(F) situationsspezifischer12 ~ 3

4 Darunter 1 in BGHZ, 3 in BAGE und 6 in BFHE.5 Darunter 1 Sondervotum: Lübbe-Wolff, BVerfGE 118, 124.6 Bsp.: „~ der Abgabenordnung“, „~ der StPO“ oder „~ des Bürgerlichen Gesetzbuches“.7 Bsp.: „~ in den Europäischen Gemeinschaften“, „deutscher ~“, oder „beim hr (HessischenRundfunk) geübter ~“.8 Bsp.: „~ des § 7a SGB IV“ oder „der durch Art. 5 EGStGB vorgegebene ~“.9 Bsp.: „arbeitsrechtlicher ~“, „umsatzsteuerrechtlicher ~“ oder „sozialversicherungsrechtli-cher~“.10 Bsp.: „~derNationalsozialisten“, „offizieller ~derDDR“oder „~der volkseigenenWirtschaft“.11 „~ der Medienbranche“ (1x) und „medizinischer ~“ (3x).12 „innerfamiliärer ~“, „betriebsinterner ~“ und „konzernspezifischer ~“.

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Verwendetes Attribut in Leit- oderOrientie-

rungssätzen

Im Tatsachenteil, davon: in der Ent-scheidungs-begründung

im Partei-vorbringen

in Zsfg. d.Vorinstanz

(G) natürlicher ~ 3

(H) früherer ~ / damaliger ~ 2 2

(J) rechtlicher ~ 1 1

(K) normaler ~ 1

(L) regelmäßiger ~ 1 1

(M) sonstiger ~ 2 1 8

Insgesamt 10 15 18 282

Die Tabelle zeigt, dass der „Sprachgebrauch“ in Gerichtsentscheidungen amhäufigsten als „allgemeiner“ Sprachgebrauch (1) vorkommt. Welche Allgemein-heit maßgeblich sein soll, ist freilich eine Deutungsfrage, die sich dafür instru-mentalisieren lässt, den Kampf um das bevorzugte rechtliche Ergebnis schon andieser vorgelagerten Front und ganz beiläufig zu entscheiden (Li 2011: 212). In denmeisten Fällen allerdings soll die „Allgemeinheit“ wohl vor allem die Gemein-schaft aller rechtsunkundigen Normadressaten bezeichnen – was mitunter sogarausdrücklich klargestellt wird, wenn vom „allgemeinen, nichtjuristischen“ (BAGE125, 208) oder „allgemeinen, unjuristischen“ (BAGE 138, 9) Sprachgebrauch dieRede ist.

Auf dem zweiten Platz mit weitem Abstand folgt die Verwendung des„Sprachgebrauchs“ ohne Attribut (2), die in dem Sinne neutral ist, dass sie je nachKontext auf die Laien- oder Fachsprache verweist. Andere Attribute, die sichmeist auf die Laiensprache beziehen, sind „üblich“ (7), „gewöhnlich“ (E), „natür-lich“ (G), „normal“ (K) und „regelmäßig“ (L), denen freilich eine unfreiwilligeKomik anhaftet, weil ihnen bei konsequenter sprachlicher Differenzierung eine„unnatürliche“, „abnormale“ oder „regelwidrige“ Fachsprache gegenüberstehenmüsste.

Tatsächlich wird der Fachsprachgebrauch als „rechtlicher“ (J) oder „juristi-scher“ (4) bezeichnet und gar nicht so selten zum „allgemeinen“ juristischenSprachgebrauch stilisiert (B). Dabei ist schon fraglich, ob der „juristische“ Sprach-gebrauch überhaupt die ihm unterstellte Einheitlichkeit aufweist, und zwar nichtallein wegen seiner historischen Kontingenz (dazu Li 2011: 152), sondern auchweilsogar innerhalb eines Gesetzes – und bisweilen sogar innerhalb derselben Vor-schrift – die gleichen Worte unterschiedliche Bedeutungen haben können (Ha-

Tab. 3: (fortgesetzt).

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mann 2010: 3). Auch eines der hier untersuchten Urteile kam deshalb zu demErgebnis, dass das „Führen einer Waffe“ im Waffenrecht anders zu verstehen seials im Straf- oder Betäubungsmittelrecht (BGHSt 52, 89). Soweit aber schon „der“juristische Sprachgebrauch allenfalls als fiktive Setzung existiert, verkommt dasEpithet „allgemein“ zur rhetorischen Kraftmeierei – einer beliebten immerhin,denn auch der „allgemeine und steuerrechtliche“ (BVerfGE 118, 277), „allgemeineund juristische“ (BVerfGE 122, 39), „allgemeinewie besondere“ (BVerwGE 143, 203)bzw. der „allgemeine und der gesetzliche“ (BVerwGE 125, 79) Sprachgebrauchverschmelzen bisweilen zur semantischen Ligatur, und sogar noch der Sprachge-brauch einzelner Rechtsgebiete wird gern mit dem Attribut der Allgemeinheit ge-adelt (9).

Dieser „Sprachgebrauch“ einzelner Rechtsgebiete (8) ist nur die erste Ebeneeiner feinen Untergliederung, die weiter über den „Sprachgebrauch“ einzelnerGesetze (3) führt – kurios doppelsinnig als „gesetzlicher“ Sprachgebrauch (D) –bis hin zum „Sprachgebrauch“ einzelner Normen (6). Wäre damit ein Sprachge-brauch im Sinne einer „Verkehrsgepflogenheit“ gemeint, müsste es sich schonum einen stark atomisierten Teildiskurs innerhalb des „allgemeinen“ juristischenSprachgebrauchs handeln. Deshalb zeigt sich hier erneut, dass der fachliche„Sprachgebrauch“ wohl weniger ein reales Gebrauchsverhalten bezeichnet alsein Synonym für „Begriffsbestimmungen“ oder schlicht für den „Wortlaut“. Dabeimag es durchaus eine Rolle spielen, dass sich der „Sprachgebrauch“ leichter alseine „Auslegung“ rechtfertigen und zur empirischen Gegebenheit (v)erklärenlässt. Ob der „Sprachgebrauch“ sich als solches Autoritätsargument eignet, wirdnoch kritisch zu hinterfragen sein.

Eher in Richtung einer realen Verständigungspraxis weist der „Sprachge-brauch“ in den untersuchten Gerichtsentscheidungen dann, wenn er als orts- (5),berufs- (C) oder situationsspezifisch (F) gekennzeichnet wird, weil es auf dasVerständnis bestimmter Bevölkerungsgruppen ankommt. Auffallend häufig wirdder „Sprachgebrauch“ allerdings auch pejorativ verwendet, um eine als uner-träglich empfundene Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit (A) zu artikulie-ren,13 oder auch nur den Kontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart he-rauszustreichen (H).

Jenseits dieser feinen Differenzierungen zwischen einzelnen Attributen lässtsich unschwer erkennen, dass die Gerichte genau wie der Gesetzgeber zwei

13 Bezeichnenderweise wird der Sprachgebrauch nur mit Blick auf das NS-Regime und die DDRpolitisiert, während der bundesrepublikanischen Regierung kein bestimmter „Sprachgebrauch“attestiert wird; lediglich in Bezug auf die Klassifikation der Wirtschaftszweige (WZ) in der amt-lichen Statistik spricht BFHE 209, 186 von einem „in der Bundesrepublik üblichen Sprachge-brauch“.

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kategorial verschiedene „Sprachgebräuche“ in Stellung bringen: den von Norm-setzern gezielt definierten (Fachsprachgebrauch) und den von Normadressatenpraktisch geübten (Laiensprachgebrauch).

3.2 Wozu nutzen Gerichte den „Sprachgebrauch“?

Die zweite Frage betrifft den argumentativen Zweck, der mit der Berufung auf den„Sprachgebrauch“ im Rechtsdiskurs verfolgt wird. Da dieser Zweck vermutlichauch davon abhängt, ob jeweils der Laien- oder der Fachsprachgebrauch gemeintist, waren die in den Entscheidungsgründen verorteten 282 Treffer des Begriffes„Sprachgebrauch“ zunächst nach ihren in Tabelle 3 genannten Attributen in dieentsprechenden Oberkategorien einzuordnen:

Fachsprachgebrauch – (3), (4), (6), (8), (9), (B), (D), (J) –mit 62 Treffern,Laiensprachgebrauch – (1), (7), (E), (G), (K), (L) –mit 165 Treffern undunklar und sonstige – (2), (5), (A), (C), (F), (H), (M) –mit 55 Treffern.

Untersucht man nun, welche Zwecke mit der Berufung auf den „Sprachgebrauch“verfolgt werden, lassen sich neun wiederkehrende Argumentationsmuster erken-nen. Die Einordnung im Einzelfall hängt natürlich stark von Interpretationen desEntscheidungstextes ab, erfordert also qualitative Wertungen. Deshalb wurdenFälle, in denen die Berufung auf den „Sprachgebrauch“ nicht zweifelsfrei einemdieser neun Zwecke dient, in eine zehnte Kategorie „Sonstige“ eingestellt, umeine möglichst konservative Klassifizierung zu gewährleisten.14 Bei diesem Vor-gehen konnten 219 Fälle recht zuverlässig einem der neun Zwecke zugeordnetwerden:

14 Die Klassifizierung erfolgte also unter Minimierung der Falsch-Positiv-Rate (Fehler 1. Art)durch Inkaufnahme einer höheren Falsch-Negativ-Rate (Fehler 2. Art).

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Tab. 4: Neun wiederkehrende Zwecke für die Berufung auf den „Sprachgebrauch“ in derRechtsprechung.

Zweck Fachsprach-gebrauch

Laiensprach-gebrauch

SonstigerSprachgebrauch

absolut relativ absolut relativ absolut relativ

Begriffsdefinition 8 12,9% 62 37,6% 4 7,3%

Methodischer Metasatz 7 11,3% 25 15,2% 7 12,7%

Negativabgrenzung 7 11,3% 17 10,3% 4 7,3%

Synonymbenennung 4 6,5% 12 7,3% 6 10,9%

Feststellung der Unergiebigkeit 4 6,5% 6 3,6% 2 3,6%

Beiläufige Behauptung 4 6,5% 4 2,4% 4 7,3%

Historische Erläuterung 6 9,7% 2 1,2% 3 5,5%

Benennung einer Voraussetzung 1 1,6% 6 3,6% 4 7,3%

Auslegung von Parteierklärungen 2 3,2% 2 1,2% 6 10,9%

Sonstige 19 30,6% 29 17,6% 15 27,3%

Insgesamt 62 165 55

Um die Kategorisierung im Einzelnen nachzuvollziehen, mögen Beispiele ver-deutlichen, was mit den neun Zwecken jeweils gemeint ist:– Begriffsdefinition: „Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch sind Pausen kürz-

ere Unterbrechungen einer bestimmten Tätigkeit, die der Erholung dienen“(BAGE 107, 1)

– Methodischer Metasatz: „Ausgangspunkt für die Auslegung nach dem Wort-laut ist der allgemeine Sprachgebrauch“ (BFHE 231, 63)

– Negativabgrenzung: „Hinzukommt, dass nach dem allgemeinen Sprachge-brauch der Begriff ‚Beschwerde‘ nicht zugleich Maßnahmen zu ihrer Abhilfeumfasst.“ (BAGE 116, 235)

– Synonymbenennung: „Das Wort ‚nach‘ kann im allgemeinen Sprachgebrauchunterschiedliche Bedeutungen einnehmen, etwa ‚gemäß‘, ‚entsprechend‘oder ‚im Sinne von‘.“ (BSGE 109, 154)

– Feststellung der Unergiebigkeit: „Dieser – nur scheinbare – Tatbestandist semantisch und pragmatisch leer, dh er hat nach allgemeinemSprachgebrauch keine auch nur im Ansatz erkennbare Bedeutung.“ (BSGE91, 1)

– Beiläufige Behauptung: „[…] Wörter, die – wie das Wort ‚katholisch‘ – zumallgemeinen Sprachgebrauch gehören […]“ (BGHZ 161, 216)

194 Hanjo Hamann

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– Historische Erläuterung: „Mit der Definition des Verbrauchers hat sich derGesetzgeber von dem allgemeinen Sprachgebrauch gelöst und eine eigen-ständige umfassende Begriffsbestimmung gewählt.“ (BAGE 115, 19)

– Benennung einer Voraussetzung: „Daraus folgt, dass nach dem Sprachge-brauch ‚Erörtern‘ ein Gespräch zwischen den Beteiligten voraussetzt.“ (BAGE119, 181)

– Auslegung von Parteierklärungen: „Bereits der Wortlaut der Regelung lässtdarauf schließen, dass die Betriebsparteien den Begriff Angebot im Sinne desjuristischen Sprachgebrauchs und damit iSv. § 145 BGB verwandt haben.“(BAGE 121, 159)

Die Grenzziehung zwischen diesen neun Zwecken ist natürlich nicht immer ganzeindeutig. Beispielsweise sind „Negativabgrenzung“ und „Benennung einer Vo-raussetzung“ nahezu komplementäre Gegenstücke, bei denen die Kategorisie-rung im Einzelfall zweifelhaft sein kann. Noch deutlicher wird dies bei denKategorien „Begriffsdefinition“ und „Synonymbenennung“: Erstere meint hiereine abschließende Begriffsbestimmung anhand von Merkmalen, letztere dage-gen eine offene Begriffsbestimmung anhand von verwendungsgleichen Ersatz-wörtern. Allerdings ist oft nicht klar, ob eine Begriffsbestimmung offen oderabschließend gemeint ist, und letztlich beruht auch jede Definition in gewissemUmfang auf der Verwendung von Synonymen (im obigen Beispiel etwa „Pausen“und „Unterbrechungen“), deshalb sind für die weitere Untersuchung beide Kate-gorien unter dem Oberbegriff der „Begriffsbestimmung“ zusammenzufassen.

Auffällig ist, dass die so verstandene Begriffsbestimmung über 40% der Fälleausmacht, in denen Gerichte den Laiensprachgebrauch heranziehen, aber weni-ger als 20% der Fälle, in denen sie den Fachsprachgebrauch bemühen. Dieübrigen Zwecke hingegen sind in den beiden Gruppen gleichmäßiger vertreten,wenngleich die Fallzahlen insoweit zu gering sind, um allgemeine Schlussfolge-rungen zuzulassen.

3.3 Wie ermitteln Gerichte den „Sprachgebrauch“?

Die dritte Frage der vorliegenden Untersuchung betrifft den Modus und dieQuellen der Sprachgebrauchsermittlung. Für den Fachsprachgebrauch steht inder juristischen Methodik eine ganze Hierarchie von sog. „Rechtsquellen“ zurVerfügung, aus denen Richter kraft eigener Fachkompetenz den Sprachge-brauch – was immer sie damit im Einzelnen meinen – schöpfen können. Interes-santer ist, welche Quellen sie heranziehen, um den Laiensprachgebrauch zuermitteln. Relevant ist dies vor allem dort, wo Richter nicht nur allgemein über

Der „Sprachgebrauch“ im Waffenarsenal der Jurisprudenz 195

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den Sprachgebrauch räsonnieren (wie in den o.g. „methodischen Metasätzen“oder „historischen Erläuterungen“), sondern einen bestimmten Begriffsinhaltbehaupten – also in den Fällen der Begriffsbestimmung im oben definierten Sinn.In diesen 74 Fällen nutzte die Rechtsprechung folgende Referenzquellen, um den„Sprachgebrauch“ zu belegen:

Tab. 5: Verwendete Referenzquellen für Begriffsbestimmungen anhand desLaiensprachgebrauchs.

Brockhaus Lexikon X X X X

Creifelds Rechtswörterbuch X

Duden Wörterbuch(alle Ausgaben)

X X X X

Grimm, DeutschesWörterbuch

X

Meyers Lexikon X X

Wahrig, DeutschesWörterbuch(inkl. Brockhaus/Wahrig)

X X X X X

Besondere Nachschlage-werke

X X X

Frühere Rechtsprechung X

Anzahl der Treffer 1 1 1 1 1 2 3 3 4 6 7 9 35

Wie aus der Tabelle hervorgeht, berufen sich Gerichte als Beleg für den Laien-sprachgebrauch oft auf eine Kombination mehrerer Nachschlagewerke, wobei diekombinierte Heranziehung von Duden und Wahrig mit neun Verwendungendominiert, gefolgt von der alleinigen Nutzung des Duden in sieben Fällen. Mehrals drei Nachschlagewerke werden so gut wie nie herangezogen, in jedem zweitenFall wird gar keine Quelle angegeben.

Nur teilweise bestätigen lässt sich allerdings die andernorts getroffene Fest-stellung, dass Rechtsarbeiter „den bevorzugten Sprachgebrauch meist mit Gut-achten, Rechtsprechungen und Kommentaren belegen wollen“ (Li 2011: 194).Zwar stützen sich die vorliegend untersuchten Entscheidungen in immerhinsechs Fällen auf frühere Rechtsprechung, allerdings fast nie auf Kommentare (diehier als „Besondere Nachschlagewerke“ gelten) und gar nicht auf Gutachten.Soweit also in den jeweiligen Verhandlungen Gutachten zum Sprachgebraucheingeholt wurden (was in den seltensten Fällen zu erwarten ist) hätten sich diesejedenfalls nicht in der Entscheidungsbegründung niedergeschlagen. Auch ein

196 Hanjo Hamann

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anderes Ergebnis der bisherigen Forschung findet in den vorliegend untersuchtenEntscheidungen keine Stütze: die Tendenz zur zunehmenden Nutzung des Inter-net für die Sprachgebrauchsermittlung (Li 2011: 149 f.). Nur eine einzige Entschei-dung beruft sich überhaupt auf eine Internetseite, und zwar auf die Syndizie-rungsseite TheFreeDictionary.com (BSGE 106, 160). Im Übrigen greifen Gerichteentweder durchweg auf gedruckte Medien zurück oder bekennen sich nicht offenzur Nutzung einschlägiger Internetangebote.

3.4 Kritische Würdigung

Dass Gerichte, die sich auf Begriffsbestimmungen „nach“ dem Laiensprachge-brauch berufen, in fast der Hälfte der Fälle keine Quelle für ihre Erkenntnisseangeben, dürfte auf einer unausgesprochenen Annahme beruhen, die auf denersten Blick nicht von der Hand zu weisen ist. Immerhin sind Richter nicht nurJuristen, sondern „auch Menschen“, die ihrer Muttersprache fähig sind unddeshalb beurteilen können sollten, welche Bedeutung ein Wort in der Laien-sprache hat. Andererseits ist der Erfahrungsschatz jedes Menschen beschränktund so stark durch subjektive Einstellungen, persönliche Vorlieben und Zufällegeprägt, dass kein Mensch ohne Weiteres die Lebensumstände und den Erfah-rungsschatz aller anderen Menschen überblickt. Die sog. „anekdotische Evi-denz“ des Einzelnen ist zwar für praktische Zwecke nützlich, taugt aber kaumfür allgemeine Schlussfolgerungen (näher Hamann 2014: 10, 56 ff.). Die Allge-meinheitsansprüche, die nach dem Verständnis der hier untersuchten Entschei-dungen meist mit dem Laiensprachgebrauch verbunden sind, können folglichdurch die Introspektion einzelner Sprecher nicht eingelöst werden (vgl. Vogel,Pötters und Christensen 2015). Denn „Sprache ist ein Totalitätsbegriff, denniemand ganz beherrscht“ (Müller und Christensen 2009: 325). Das muss umsomehr für Richter gelten, denen die empirische Richtersoziologie bescheinigt, alsBerufsgruppe insgesamt einen sehr kleinen und demographisch homogenenTeil der Gesellschaft zu repräsentieren, dessen Erfahrungswissen in vielerleiHinsicht beschränkt ist (Röhl 1987: 46, 57 f.).

Nun wissen natürlich auch Richter um die Beschränktheit individueller Er-kenntnismöglichkeiten: „Es liegt auf der Hand, dass für die Feststellung desWortsinns aus Sicht des Bürgers […] weder die subjektive Vorstellung noch deraktuelle Stand der Allgemeinbildung eines Richters, Staatsanwalts, Rechtsan-walts oder Angeklagten maßgeblich sein kann“ (OLG Koblenz 2006: 219 f.). Soweitder „Sprachgebrauch“ also nicht nur zur Rechtfertigung vorgefasster Meinungenvorgeschoben wird – als „traditionelle Camouflage der Lehnstuhlmethode einerSemantik allein von Richters Gnaden“ (Kudlich, Christensen und Sokolowski

Der „Sprachgebrauch“ im Waffenarsenal der Jurisprudenz 197

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2007: 125) – werden sich also auch Richter um eine empirische Fundierung ihresUrteils über den Sprachgebrauch bemühen. Nicht umsonst benennen sie für mehrals die Hälfte der Begriffsbestimmungen konkrete Referenzquellen.

Teilweise sind diese Referenzquellen aber schon deshalb problematisch,weil es sich um frühere Rechtsprechung handelt. Das wird deutlich, wenn etwader Bundesfinanzhof 2009 ausführt: „Es ist auch nicht erkennbar, dass diese[Aufsichtsrats]Tätigkeit im allgemeinen Sprachgebrauch herkömmlicherweiseals ehrenamtlich bezeichnet wird (Änderung der Rechtsprechung; anders nochBFH-Urteil in BFHE 106, 479, BStBl II 1972, 844).“ (BFHE 227, 207). Dass derBundesfinanzhof sich überhaupt zu einer „Änderung der Rechtsprechung“ ge-nötigt sah, um sich von einem „allgemeinen“ Sprachgebrauch loszusagen, der27 Jahre zuvor in einem anderen Urteil behauptet wurde (wohlgemerkt aus-schließlich aufgrund juristischer Fachliteratur), ist bezeichnend für das in Teilender Rechtsprechung verbreitete Verständnis vom „Sprachgebrauch“ als zeitloserAutoritätsinstanz, die gleichwohl durch Gerichte beherrscht wird. Noch deutli-cher wird dies im Fachsprachgebrauch, wo Gerichte regelmäßig vom „eindeuti-gen Sprachgebrauch des Gesetzes“ (BVerwGE 138, 186) oder vom „feststehen-den Inhalt“ im arbeitsrechtlichen Sprachgebrauch (BAGE 108, 256) sprechen.Dabei bleibt teilweise unklar, ob die angenommene Unveränderlichkeit desFachsprachgebrauchs auf dessen eigentümlichem Wesen beruht, das ja nachden bisherigen Feststellungen weniger mit Gebrauch als mit Festlegung zu tunhat, oder ob der Sprachgebrauch als Autoritätsinstanz ins Feld geführt wird, umdas eigentliche Machtwort zu kaschieren. Beide Deutungen könnten erklären,dass das Bundesarbeitsgericht in einem Rechtsstreit 2006 die Parteien daraufhinwies, es habe selbst „wiederholt festgestellt, dass der Gewerkschaftsbegriff inder Rechtsordnung stets dieselbe Bedeutung hat, gleich ob er im Tarifvertragsge-setz, Arbeitsgerichtsgesetz oder Betriebsverfassungsgesetz gebraucht wird“ undanschließend apodiktisch erklärte: „Die Einheitlichkeit des Gewerkschaftsbe-griffs steht nicht zur Disposition der Gerichte. Sie ist keine richterrechtlicheFigur. Sie ist Folge der feststehenden Bedeutung des Begriffs im gesetzlichenSprachgebrauch.“ (BAGE 119, 279). Diese Haltung lässt sich nur erklären, soweitder Sprach-„Gebrauch“ tatsächlich nur autoritative Definitionen umfasst – fürechte Gebrauchsmuster entspricht ein solch unveränderliches und starresSprachgebrauchsverständnis nicht dem Stand der Sprachwissenschaft (so schonu. a. Busse 2004; Li 2011: 149).

Soweit sich Richter bemühen, diese eigentlichen Gebrauchsmuster aus Refe-renzquellen der Laiensphäre zu erkennen, taucht eine weitere problematischeVorannahme auf, die gewöhnlich unausgesprochen bleibt, in den untersuchtenEntscheidungen aber immerhin einmal an die Oberfläche kam, als das Bundes-sozialgericht 2010 in einem Halbsatz beiläufig behauptete, dass „deutsche Wör-

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terbücher [.] auf den aktuellen, allgemeinen Sprachgebrauch schließen lassen“(BSGE 106, 160). Diese prägnante Stellungnahme zur verwendeten Methodik lässtaufhorchen, da sie unter den hier untersuchten Gerichtsentscheidungen als ein-zige die Verwendung von Wörterbüchern ausdrücklich begründet. Man würdedeshalb erwarten, dass sich das Gericht mit weiterführender Literatur auseinan-dersetzt, und tatsächlich folgen der eben genannten Feststellung sieben Verweise„zu dieser Methode“: eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH),drei ältere des Bundesgerichtshofs (BGH) sowie drei Lehrbücher. Liest man dieangegebenen Entscheidungen allerdings nach, so belegen die drei BGH-Entschei-dungen nicht mehr und nicht weniger als dass der Bundesgerichtshof Wörter-bücher ohne Begründung oder methodische Reflexion verwendet, während dieEuGH-EntscheidungWörterbücher nicht einmal erwähnt, sondern den nationalenGerichten nur aufgibt, ihre „Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut undZweck der Richtlinie“ auszurichten. Daraus und aus drei willkürlichen Beispielenfür eine nie hinterfragte Gerichtspraxis zu folgern, dass Wörterbücher „auf denaktuellen, allgemeinen Sprachgebrauch schließen lassen“, ist gewagt. Zumal derBundesgerichtshof selbst schon weiter ist: „Nachschlagewerke und Lehrbücherkönnen zwar den allgemeinen Sprachgebrauch prägen, die dort verwendete Ter-minologie spiegelt ihn aber häufig nicht genau wider und gibt mithin keinesichere Auskunft über dessen aktuellen Stand.“ (BGH 2007: 526).

Problematisch ist aber nicht nur, dass Wörterbücher den Sprachgebrauchnicht tagesaktuell verbürgen, sondern dass sie überhaupt keinen Sprachgebrauchverbürgen. So wurde in der Rechtslinguistik vielfach und gründlich dargelegt,dass die Sprachgebrauchsermittlung mittels Wörterbuchs zwar international be-liebt ist, zugleich aber auf „grundsätzlich falschen Annahmen“ beruht (Mouritsen2010: 1925 ff.; Müller und Christensen 2009: 326 ff.), weil Wörterbücher nur mög-liche Verwendungsweisen aufzeigen (Christensen 1989: 78 f.; Lorenz, Pietzckerund Pietzcker 2005: 430 Fn. 15; Lobenstein-Reichmann 2007) – eben „hochabst-rahierte und kontextfreie Zusammenfassungen aus der Gebrauchsvielfalt in rea-len Lebenssituationen“ (Li 2011: 149). Folglich können die „Standardnachschla-gewerke des Verlages FA Brockhaus und des Bibliographischen Instituts(‚Duden‘)“ zwar „den Sprachgebrauch sowohl widerspiegeln als auch prägen“(OLG Koblenz 2006: 220), aber sie erlauben keinerlei Urteil über die „Üblichkeit“,„Gewöhnlichkeit“ oder „Normalität“ von Verwendungsweisen. Wollte man Wör-terbüchern mehr als einen vagen Anhaltspunkt dafür entnehmen, was derSprachgebrauch sein könnte, mag man ebenso gut versuchen, aus Kochbüchernzu erfahren, was in Deutschland mittags gegessen wird: Fast alles, was das Koch-buch hergibt, wird irgendwo auf dem Tisch landen, und viele gleichermaßenbeliebte Gerichte fehlen – doch welche Speisen tatsächlich den kulinarischen„Standard“ bilden, ist Kochbuchautoren so egal, dass sie ihre Werke von vornhe-

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rein nicht nach Beliebtheit sortieren, sondern nach Speisearten. Oder alphabe-tisch, eben wie ein Wörterbuch.

4 Empirische Sprachgebrauchsanalyse

Nach dieser Kritik am Umgang der Rechtspraxis mit dem „Sprachgebrauch“ fragtsich natürlich, welche Alternativen zur Verfügung stehen. Dabei seien Praktikabi-litätsaspekte einstweilen zurückgestellt; sie werden im letzten Absatz dieses Bei-trags wieder aufgegriffen.

Letztlich lassen sich Fragestellungen mit dem vorliegend erwarteten Grad anAllgemeinheit nur durch wissenschaftlich validierte Methoden empirischer For-schung zuverlässig beantworten. Da den meisten Juristen die Ausbildung dafürfehlt, werden sie wohl auf Sachverständigenbeweise zurückgreifen müssen.Gleichwohl bedürfen Juristen eines gewissen Problemverständnisses, um dieMöglichkeiten und Grenzen der „empirischen Sprachgebrauchsanalyse“ (so Lo-renz, Pietzcker und Pietzcker 2005) zu erkennen. Als wichtigste Grenze lässt sichohne Weiteres formulieren, dass empirische Forschung keine normativen Wer-tungen ersetzen kann (Christensen 1989: 83–86), sondern nur dabei hilft, dasjuristische Wertungsgebäude auf ein empirisches Fundament zu heben – daherdie eingangs referierte Bezeichnung als evidenzbasierte Jurisprudenz. Andersgewendet: Inwieweit das Recht dem Sprachgebrauch Beachtung schenkt, ist einerechtlich zu bewertende Frage – was der Sprachgebrauch ist, dagegen eine empi-risch zu bewertende.15 Dafür stehen verschiedene Methoden zur Verfügung, derenhier nur zwei kurz angerissen werden sollen, die bereits Eingang in die juristischeFachliteratur gefunden haben:

Mit einem 2002 durchgeführten Modellversuch wollten ein Jurist und zweiPsychologen ermitteln, ob im Laiensprachgebrauch mit den Begriffen „Zweifel“und „Irrtum“ das gleiche gemeint sei (Lorenz, Pietzcker und Pietzcker 2005). Ineiner Umfrage baten sie studentische Teilnehmer, zu beiden Begriffen frei zuassoziieren. Die Autoren kategorisierten die so gewonnenen Assoziationen undermittelten für jede Kategorie den Anteil der Probanden, der sie erwähnt hatte.Daraus ergab sich eine Abstufung, welche Bedeutungselemente eines Begriffsmehr und welche weniger fest im Sprachgebrauch verankert sind (ebd.: 432).Indem die Autoren die Abstufungen der beiden untersuchten Begriffe grafisch

15 Die Wortwahl „empirisch zu bewertend“ verdeutlicht bereits, dass auch die empirischeForschung nicht objektiv und wertungsfrei, sondern im Gegenteil sehr voraussetzungsvoll ist –nur die Maßstäbe sind andere.

200 Hanjo Hamann

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übereinanderlegten, erhielten sie ein Maß für deren Synonymie und damit einenEindruck von der ungefähren „Grenze der Auslegung“ eines Sachverhalts als„Zweifel“ oder als „Irrtum“. Wenngleich die Autoren wiederholt betonen, dass essich um einen explorativen Modellversuch gehandelt habe, scheint die Methodegeeignet, den „Sprachgebrauch“ zuverlässiger einzugrenzen, als dies durch Intro-spektion oder Nutzung von Wörterbüchern möglich ist. Wesentlich ist insoweitweniger die konkrete Methode der Datenauswertung als vielmehr die Methode derDatenerhebung durch Befragung einer größeren Stichprobe. Zu Recht weisen dieAutoren darauf hin (ebd.: 430), dass demoskopische Untersuchungen im Marken-und Wettbewerbsrecht längst etabliert sind (vgl. schon Benda und Krenzer 1972).Was für die Verkehrsdurchsetzung von Marken recht ist, kann für den Verkehrs-gebrauch von Sprache nur billig sein (kritisch dazu aber Vogel, Pötters undChristensen 2015).

Einen anderen Ansatz verfolgte die 2010 veröffentlichte Studie eines US-amerikanischen Juristen und Linguisten. Darin ging es um die Frage, ob dieenglische Phrase carry a firearm im Laiensprachgebrauch das Mitführen einerWaffe im Handschuhfach umfasst (Mouritsen 2010). Dazu suchte der Autor in dergrößten frei zugänglichen digitalen Textsammlung des Gegenwartsenglisch (Cor-pus of Contemporary American English, COCA) nach dem Verb carry und unter-suchte dessen wiederkehrende Wortpartner (Kollokationen, vgl. oben 3.1.). Erstellte fest, dass vier der hundert häufigsten Wortpartner tatsächlich Begriffe oderSynonyme für Feuerwaffen (firearm) waren, die dem Verb carry als Objekte beige-geben waren (ebd.: 1963). Von den 225 diesbezüglichen Suchtreffern verwendetenallerdings 63,56% das Verb carry in einer Weise, die eindeutig auf ein „Tragen amKörper“ bezogen war, während nur 1,33% der Suchtreffer das Verb im allgemei-nen Sinn eines „mit sich Führens“ von Feuerwaffen verwendeten; die übrigen35,11% entfielen auf andere oder unklare Verwendungen (ebd.: 1964). Damit warbelegt, dass carry a firearm im Laiensprachgebrauch fast ausschließlich auf dasTragen am Körper und nicht auf das Mitführen im Handschuhfach o.ä. bezogenwird. Dieser korpuslinguistische Ansatz, der große Textmengen auf wiederkeh-rende sprachliche Gebrauchsmuster untersucht, ist ebenfalls geeignet, allgemein-gültigere Aussagen über „den Sprachgebrauch“ zu machen als Introspektion undWörterbuch. Hierzulande liegt mit dem „Deutschen Referenzkorpus (DeReKo)“des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) eine ähnlich mächtige Textsammlungvor, die jedermann nach Registrierung kostenlos nutzen kann.16 Ein ähnlichesReferenzkorpus speziell für die juristische Fachsprache (JuReko) befindet sich

16 Dazu wird die proprietäre Software COSMAS II benötigt; näher www.ids-mannheim.de/kl/projekte/korpora.

Der „Sprachgebrauch“ im Waffenarsenal der Jurisprudenz 201

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derzeit in Entwicklung (Vogel und Hamann 2015), und auch das Internet selbstkann notfalls als Textkorpus herhalten. Mit gewissen Vorbehalten (Li 2011: 149 f.;BGH 2007: 526) ermöglicht schon die Google-Suchmaske explorative Korpus-untersuchungen. Nichts anderes tut schließlich jeder, der wissen will, wie-viele „s“ in das Wort Einkommensteuer gehören und deshalb die Anzahl derSuchtreffer für „einkommensteuer“ mit derjenigen für „einkommenssteuer“ ver-gleicht. Welche Vorsicht dabei geboten ist, zeigt schon die Tatsache, dass sogar„einkommensssteuer“ noch 596 Treffer verzeichnet (Stand 22.8.2013) – ganz zuschweigen von Werbesortierung, geheimen Ergebnisfiltern und der unklarenSuchtrefferzählung.

5 Resümee

Der vorliegende Beitrag hat aufgezeigt, dass das Bundesrecht und die höchstenGerichte der Bundesrepublik Deutschland mit dem Begriff „Sprachgebrauch“zwei verschiedene Phänomene bezeichnen: Autoritativ definierte Begriffsbedeu-tungen einerseits und autonom entwickelte Verwendungsweisen andererseits.Der Begriff „Sprachgebrauch“ taucht im Bundesrecht vier Mal, in den wichtigstenhöchstgerichtlichen Entscheidungen der letzten zehn Jahre dagegen 325 Mal auf,in drei bis vier Prozent der Entscheidungen. Über die Hälfte dieser Vorkommenbezieht sich auf den „allgemeinen Sprachgebrauch“, der besonders häufig fürBegriffsbestimmungen herangezogen wird. Für die Feststellung, was der aufdiese Weise in Bezug genommene Sprachgebrauch beinhaltet, zitiert die Recht-sprechung nur in jedem zweiten Fall überhaupt Nachweise, was nahelegt, dassRichter ihre eigene muttersprachliche Kompetenz für ausreichend halten, um den„allgemeinen“ Sprachgebrauch zu erschließen. Soweit sie trotzdem Nachweiseanführen, berufen sie sich auf Wörterbücher und frühere Gerichtsentscheidun-gen, nie dagegen auf Sachverständige oder andere empirische Zugänge. Da diesesVorgehen aus rechtslinguistischer Sicht fragwürdig ist, weist der Beitrag aufempirische Methoden zur Sprachgebrauchsermittlung hin und geht insbesondereauf Demoskopie und Korpuslinguistik näher ein.

Der wohl naheliegendste Einwand gegen diese empirischen Methoden istbislang noch nicht zur Sprache gekommen: Lohnt sich das? Empirische Forschungist aufwändig, teuer und zeitraubend. Ist es wirklich erforderlich, für die Fest-stellung, dass ein Mensch „nach allgemeinem Sprachgebrauch […] ein Jahr lang‚59-jährig‘ [ist]“ (BAGE 131, 61) die Maschinerie der empirischen Forschung anzu-werfen? Sicher nicht. Aber auch die umgekehrte Frage muss erlaubt sein: Istes wirklich erforderlich, für die Feststellung, dass ein Mensch ein Jahr lang„59-jährig“ ist, den „allgemeinen Sprachgebrauch“ als Zeugen vorzuladen? Man

202 Hanjo Hamann

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sollte doch erwarten, dass Argumente, die solch gewaltiger Autoritäten bedürfen,auch den Aufwand zu ihrer Fundierung rechtfertigen. Dieser Aufwand ist nichtsanderes als erforderlich, wenn die Berufung auf den „Sprachgebrauch“ ernstgemeint und das eingangs zitierte Methodenbekenntnis „kein Lippenbekenntnissein soll“ (Lorenz, Pietzcker und Pietzcker 2005: 434). Als wohl wichtigste Schluss-folgerung mündet die vorliegende Studie deshalb in einen Aufruf zu Selbstbe-scheidung und Methodenehrlichkeit: Wer den „Sprachgebrauch“ als Autoritätbemüht, muss sich fragen lassen, wie er ihn ermittelt hat. Wer diese Ermittlungscheut, sollte vielleicht auch die Berufung auf den „Sprachgebrauch“ scheuen.Oder fehlt dem Satz „EinMensch ist ein Jahr lang 59-jährig.“ etwasWesentliches?

6 Abgekürzt zitierte Entscheidungssammlungen

Auf das jeweilige Kürzel folgt stets die Angabe des einschlägigen Bandes, gefolgt von einemKomma und der Seitenzahl, ab der die betreffende Gerichtsentscheidung abgedruckt ist.

BAGE Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (Berlin: de Gruyter)BFHE Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (Bonn: Stollfuß)BGHZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (Köln: Carl Heymanns)BGHSt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (Köln: Carl Heymanns)BSGE Entscheidungen des Bundessozialgerichts (Köln: Carl Heymanns)BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Tübingen: Mohr Siebeck)BVerfGK Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Heidelberg: C.F. Müller)BVerwGE Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (Köln: Carl Heymanns)

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Der „Sprachgebrauch“ im Waffenarsenal der Jurisprudenz 203

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