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Habets, Thea

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Erinnerungen einer alten Dame an ihre Kindheit und Jugend im Westerwald und in Köln

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Renate HabetsThea · Roman

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Renate Habets

TheaRoman

alcorde verlag

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© by alcorde Verlag, Essen, 2010

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Hans-Joachim Pagel, Essen

Satz und Layout: alcorde Verlag, Essen

und Lina Weichold, WuppertalSchrift: Bembo 11,5/14,5

Papier: Alster Werkdruck 90 g/qm, bl. weiß, 1,5 fach Volumen

Umschlaggestaltung: Lina Weichold, Wuppertal,

unter Verwendung eines Gemäldes von Renate Habets

Gesamtherstellung: fgb-freiburger graphische betriebe, Freiburg

ISBN: 978-3-939973-11-9

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Für Tante Hanni,die mir ihre Geschichte schenkte

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2007Gedankenverloren saß die alte Dame in ihrem Ledersessel, in demsie nahezu den ganzen Tag verbracht und ihre Gäste empfangenhatte. Schön war dieser Tag gewesen, richtig schön, aber auch an-strengend. Das musste wohl so sein, wenn man immer älter wur-de, jede und jeden überlebt und mehr Erinnerungen hatte als allediejenigen zusammen, die sie besuchen kamen.

Achtundachtzig Jahre war sie heute geworden, kaum glaubenkonnte sie es. Achtundachtzig, das war eine lange Zeit, in der vie-les geschehen war, sich verändert hatte, Menschen vorübergezogenwaren. Und gegangen waren sie, die Menschen, die ihren Weg be-gleitet hatten, gegangen für immer. Nur sie, sie lebte noch, nahmAnteil an den Geschichten der Jüngeren, lachte mit ihnen und lebtedoch in einer ganz anderen Welt, einer Welt, die diese nicht kann-ten und nie kennen würden. Manchmal sagten sie: „Erzähl mal,Tante Thea!“, aber dann sah sie doch, wenn sie erzählte, dass dieGedanken der anderen abschweiften, dass die Gegenwart sie ge-fangen nahm und ihre Kräfte absorbierte. Dann schwieg sie, nievorwurfsvoll, wusste sie doch, dass die Erinnerungen nur ihr ge-hörten, nur ihr wichtig waren, ihr Kraft gaben für die Zeit, dienoch vor ihr lag.

Sie seufzte ein wenig und erhob sich mühsam, wobei sie sichauf der Sessellehne abstützte, denn das Aufstehen fiel ihr schwer.Neben ihr lehnte der Stock, ohne den sie schon lange nicht mehrgehen konnte. Die Sicherheit, die er ihr gab, wollte sie nicht mehrentbehren. Auf ihn gestützt ging sie die wenigen Schritte bis in

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ihre Küche, um sich ein Glas Tee zu holen. Dort sah sie sich um.Alles war aufgeräumt, nichts mehr erinnerte an das Durcheinanderdes Tages, das bereits um 11 Uhr mit dem Besuch des Pfarrers be-gonnen und um 18 Uhr mit dem Abschied ihrer Tochter geendethatte. Alles Geschirr war gespült worden, denn zu einer Spülma-schine hatte sie sich bisher nicht durchringen können – „es wirdsauberer, wenn man mit der Hand spült“, daran glaubte sie fest,und dann musste man sich auch nicht mehr umgewöhnen. DerRest des Kuchens war im Kühlschrank verstaut, wie sie feststell-te, als sie hineinschaute, und der Fußboden war geputzt. Ihre Toch-ter war ein Goldstück. Sie ließ sie nicht im Stich, auch wenn sieihr eigenes Leben führte. Das musste ja auch so sein, die Jungenmüssen ihren Weg gehen, ja, das müssen sie, auch wenn esmanchmal schwer und der Weg unverständlich war.

Kurz durchzuckte sie der Gedanke, dass es mit ihrer Tochternicht immer so gewesen war, so harmonisch und mühelos wie heu-te, so herzlich, ganz so wie zwischen Mutter und Kind, dieeinander fast Freundinnen sind. Freundinnen – wann war das, alssie geglaubt hatte, die Tochter hasse sie? Bitter waren alle dieseJahre gewesen, eine so lange Zeit … Ach nein, daran wollte sieheute nicht denken! Vorbei! Nur das Schöne sollte wiederkehren,nur dieses, und sie deckte das Unbehagen, das in ihr aufgestiegenwar, durch Normalität zu: Dort lag ein kleiner Papierschnipsel aufdem Boden, unbemerkt heruntergefallen, zu dem bückte sie sichschwerfällig, den Stock zu Hilfe nehmend. Es wäre ihr nie einge-fallen, ihn dort liegen zu lassen, bis ihre Haushaltshilfe morgen frühkam. Sie hatte es sich abringen müssen, dass diese Hilfe kam. Bisvor wenigen Jahren hatte sie alles noch allein gemacht, aber dannwar ihr das doch sehr mühselig geworden, und nun war sie auchfroh darüber, dass sie ein Stück Verantwortung hatte abgeben kön-nen.

Endlich hatte sie es geschafft, das Papier von dem Linoleumbo-

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den aufzuheben und in den Mülleimer zu werfen. Das Linoleumhatte ihre Tochter schon lange ersetzen wollen durch etwas Moder-neres, Laminat vielleicht oder einen dieser pflegeleichten Kunststoff-böden. Aber dagegen hatte sie sich dann doch heftig gewehrt. DenKüchenboden hatte ihr Mann gelegt, vor vielen Jahren, ihnenbeiden hatte das Stahlblau so gut zu der hellen Einbauküche ge-fallen. Und das Linoleum würde sie überleben, da war sie ganzsicher.

Über fünfzig Jahre wohnte sie nun schon in dem kleinen Sied-lungshaus, das sie als junge Frau mit ihrem Mann bezogen hat-te, in dem die Tochter aufgewachsen und aus dem sie fortgegangenwar und in dem sie nun allein lebte, seit ihr Mann vor zehn Jah-ren gestorben war. Damals, als sie es bezogen, hatten sie es sichkaum leisten können, denn sie waren jung und verdienten wenig,aber es lag so günstig. Gar nicht weit von ihrem Elternhaus ent-fernt. Nur über den Friedhof musste man gehen und dann die langeStraße Am grauen Stein entlang, und schon war man am Ort ih-rer Kindheit. Das hatte ihr damals gut gefallen, dass alles so nahewar, das Vertraute, und ihr Mann hatte sich ja auch immer mitihrer Familie verstanden, wirklich immer.

Mittlerweile war sie mit ihrem Tee ins Wohnzimmer zurückge-kehrt, stellte das Glas auf einem kleinen Tisch neben ihrem Ses-sel ab und legte eine CD auf, Klaviermusik, die sie sehr liebte.Während sie sich wieder im Sessel niederließ, griff sie nach einemder vielen Bilder, die auf dem Tischchen neben ihr standen, Bil-der in allen Größen und Formaten, in Silberrahmen, schlicht oderkunstvoll verziert, unter Glas oder mit einem schmalen schwarzenBändchen gerahmt, Bilder, die ihr wert und teuer waren, ein gan-zes Leben in Bildern. Ihr Leben!

Das blaue Seidenkleid, das sie zur Feier des Tages angezogenhatte, raschelte leicht, während sie sich den pinkfarbenen Schal zu-rechtrückte, den sie um den Halsausschnitt trug. Schals liebte sie,

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hatte sie immer geliebt, schon als ganz kleines Mädchen hatte sieimmer etwas um den Hals haben wollen, und das hatte sich bisheute nicht geändert. Ein dunkelblaues Seidenkleid war ja gut undschön und trug dem Anlass Rechnung, aber das Pink, das war sie,und diesen Farbtupfer musste sie sich gönnen, auch wenn sie heuteachtundachtzig geworden war.

Sie nahm einen Schluck Tee, stellte das Glas ab, lauschte einwenig der Klaviermusik, die sie entspannte und beruhigte, undzog das Bild, das sie in der Hand hielt, etwas näher an ihre Au-gen heran, denn so gut wie früher konnte sie nicht mehr sehen. Siemusste die Dinge schon nahe zu sich heranholen, wenn sie allesgenau erkennen wollte. Und alles erkennen, das wollte sie nun.Jede Einzelheit war wichtig, wenn sie wiederkommen sollten, siealle, die bereits gegangen waren.

Alt war die Fotografie, sehr alt, das sah man sofort, denn sie warschon recht vergilbt, obwohl sie doch immer durch das Glas ge-schützt gewesen war. Es war eine dieser Aufnahmen, die zu Be-ginn des letzten Jahrhunderts üblich gewesen waren, sepiafarben,nicht allzu groß, mit gezackten Rändern. Natürlich war sie voneinem Fotografen gemacht worden, in dessen Atelier man gegangenwar, wo er viel Zeit darauf verwendet hatte, die Personen nach sei-nen Vorstellungen aufzubauen. Würdevoll sollten sie wirken, Re-spekt erzeugend, ein wohlanständiges Bild deutscher Bürgerlichkeitnach dem Krieg. Und das ließ man sich schon etwas kosten! Manwar stolz auf seine Familie, und das dokumentierte man für dieNachfahren.

Stolz war er, dieser Familienvater, stolz auf seine große Fami-lie, das sah man ihm an. Er stand in der Mitte des Bildes, hochaufgerichtet, obwohl er eher mittelgroß war, aber da seine Frau aufeinem kleinen Sessel vor ihm saß, überragte er sie um Etliches. Ertrug einen dunklen Anzug, um den hochgestellten weißen Hemd-kragen war eine dunkle Krawatte gebunden, und eine Taschenuhr

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an einer langen Kette gab Auskunft darüber, dass er sich etwas leis-ten konnte. Seinen rechten Arm hatte er scheinbar locker auf derRückenlehne des Rohrsessels abgelegt, in dem, leicht zu ihm hin-geneigt, seine Frau saß. Diese trug ebenfalls Dunkel, ein Kleid, derdamaligen Mode entsprechend, das so lang war, dass man diedunklen Strümpfe unter ihm mehr ahnen als sehen konnte. Auchihre Spangenschuhe waren dunkel. Sie hatte wohl darauf bestan-den, möglichst natürlich fotografiert zu werden, denn sie trug kei-nen Hut, sondern zeigte ihr volles helles Haar, das im Nacken zu-sammengenommen war – wohl zu einem Knoten, den man nichtsehen konnte. Sie lächelte ein wenig und berührte mit der linkenHand leicht die Perlenkette, die sie um den Hals trug. Unter ihrsah man ein schmales Goldkettchen mit Kreuz hervorblitzen. DerStolz des Paares hatte sich – oder wohl eher der Fotograf – umsie herum gruppiert, fünf Jungen, ihre Söhne. Der größte stand hin-ter der Mutter neben dem Vater, auf dessen anderer Seite stand dernächstkleinere. Neben dem Sessel standen zwei weitere Jungen, vondenen der Linke seine Hand lässig auf einem weißen Blumenho-cker mit Palme abstützte, während der Rechte, wie vom Spielen her-beigeholt, einen hölzernen Reifen in der Hand hielt, als sei er ge-rade hinter diesem hergelaufen und habe nur innegehalten, um sichfotografieren zu lassen. Diese Vier standen sehr aufrecht und blick-ten geradeaus in die Kamera, unsicher zwanghaft lächelnd, nur derKleinste, der am rechten Knie seiner Mutter lehnte, blickte zu Bo-den, als habe er keine Lust gehabt, sich fotografieren zu lassen.Überhaupt unterschied er sich von seinen Brüdern. Diese trugenhalblange dunkle Hosen, die ihnen bis über die Knie reichten.Darunter kamen die dunklen Wollstrümpfe zum Vorschein, die jeder,ob Junge oder Mädchen, tragen musste und die in den hohenKnopfstiefeln verschwanden, mit denen sie fest und beidbeinig aufder Erde standen. Dazu trugen sie dunkle, geknöpfte Jacken, ausdenen oben die strahlend weißen Hemdkragen lugten. Anders der

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Jüngste. Er stand ganz locker da, das rechte Beinchen abgeknickt,und stützte seinen Arm auf dem Knie der Mutter ab. Ihn hatteman, der Würde des Anlasses entsprechend, in eine Matrosenblu-se gesteckt, die über eine ebenfalls dunkle halblange Hose reichte.Strümpfe und Knopfstiefel waren wie die seiner Brüder. In der an-deren Hand hielt er nachlässig eine Matrosenmütze, deren Bänderfast den Boden berührten. Allen gemeinsam war die Frisur oder eherdie Nicht-Frisur. Die Köpfe der Fünf waren blank geschoren, nurdie Stoppeln gaben ihnen überhaupt etwas Farbe, so dass die Jun-gen mit den übergroßen Augen, die allen Geschorenen zu eigensind, aus dem Silberrahmen blickten. Nur der Jüngste schaute auchnach achtundachtzig Jahren immer noch zu Boden.

1919Das erste, das sie hätte wahrnehmen können und von dem sieimmer geglaubt hatte, es wahrgenommen zu haben, warendiese fünf geschorenen Jungenköpfe, die, einen Kreis überihr bildend, auf sie herab blickten.

Sie lag im elterlichen Schlafzimmer in der alten Weiden-wiege, die ihren Brüdern bereits als Bett gedient hatte,und man hatte die Jungen herbeigeholt, die neu geboreneSchwester zu begutachten. Und da lag sie nun in den liebe-voll hergerichteten weichen Kissen, gewickelt und mit einerder Strampelhosen bekleidet, welche die beiden Letztgebore-nen ebenfalls getragen hatten. Man warf nichts fort in diesemHaushalt, alles konnte noch einmal gebraucht werden, manwusste ja nie …

Nun schauten diese beiden zusammen mit den drei Älte-ren auf das kleine Mädchen herab, das dort unter ihnen lagund seine Augen auf sie richtete, als könne es sie sehen, und

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leicht mit den Ärmchen zuckte, als wolle es Kontakt mit denBrüdern aufnehmen, diesen Fünf, mit denen es seine Kind-heit und Jugend verbringen würde.

Hätte es sie wahrnehmen können, hätte es fünf gespannteMienen gesehen, neugierig, aber zugleich auch etwas ableh-nend – „Schon wieder ein Geschwisterchen!“ – und ungläu-big – „Ein Mädchen?“ –, denn sie kannten ja nur Brüder, undauch ein wenig hilflos dem Kleinen, dem Weiblichen gegen-über. Fünf Jungenköpfe bewegten sich über ihr, mal kam dereine näher an sie heran und entfernte sich wieder, dann griffeine kleine Hand in den Korb und streichelte ihr Fäustchen,das sie fest geschlossen hielt, als müsse sie sich gegen die Weltverteidigen. Um sie herum war Bewegung, die sie, dort untenliegend, unbewusst aufnahm und die sie am Leben teilneh-men ließ, die Bewegung ihrer Brüder, die ihr nun zumersten Mal begegneten und sie ihnen.

Mucksmäuschenstill waren die Fünf, denn der Vater hatteihnen gesagt: „Ihr könnt gucken, aber Ruhe! Dat Kleenbraucht Ruhe und die Mamma auch!“ Und daran hielten siesich. Außerdem war ihnen das elterliche Schlafzimmer, dieWöchnerinnenstube, merkwürdig fremd. „Frauensachen“gingen da vor, von denen man noch nichts wusste undvielleicht auch nie etwas wissen würde. Das machte die leb-haften Jungen befangen. Und das Geschlecht des Babys – einMädchen! – tat noch ein übriges, um sie zu verunsichern.Über Mädchen wusste man eigentlich so recht gar nichts, nurdass sie anders waren – und nun suchten sie das Andersartigein seinem Gesichtchen, den fuchtelnden Fäustchen und denzappelnden Beinchen. Und während sie so schauten, vollerKonzentration, sah es aus, als glitte ein Lächeln über den klei-nen Mund, ein Lächeln für die fünf Brüder.

„Luur ens, de Mösch!“, rief, ungewollt berührt, Heinz, der

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Zweitälteste, elfjährig, „mer han en Mösch!“ – „De Mösch,de Mösch!“, fielen nun die Brüder ein, erst zögerlich, dannimmer lauter und befreiter: „De Mösch! De Mösch! DeMösch!“ Die Jungenstimmen bildeten einen Chor, dergar nicht mehr aufhören konnte, sie bei ihrem Namen zunennen und als kleines Geschwisterchen zu begrüßen. Franz,der Fünfjährige, krähte am lautesten, Peters, des Dreizehnjäh-rigen, Stimme war schon etwas tiefer, der vierjährige Herr-mann sang fröhlich, und Josef unterstützte ihn mit der leich-ten Flegelhaftigkeit des Achtjährigen, dem die Welt gehört.„De Mösch“ klang es durch das Zimmer, hinaus auf den Flurbis in die Wohnküche im Parterre, in der der Vater gerade dieHebamme verabschiedete. Der Zorn verlieh ihm Flügel. „Watess denn hier loss?“, rief er, als er die Tür aufriss und in dasSchlafzimmer stürmte, in dem seine Söhne wie Indianer umdie Wiege tanzten und „de Mösch!“ sangen. „Raus hier!“ warseine einzige Reaktion. Er packte an Körperteilen, was er zufassen bekam, und bugsierte diese nebst den dazu gehörigenJungen auf den Treppenabsatz, so dass sich das Zimmer imNu geleert hatte.

Auf Zehenspitzen näherte er sich der Wiege, voller Furcht,sein Töchterchen werde zu schreien beginnen, weil die Brü-der es gleich in seiner ersten Lebensstunde erschreckt hatten.Vorsichtig blickte er auf das Baby hinab, das ganz ruhig in sei-nem Kissen lag, die Lippen ein wenig bewegte und die Au-gen nun geschlossen hatte. Die kleine Faust hatte es gelöst.Zufrieden sah es aus wie eine, die man in der Welt willkom-men geheißen, der man ihren Platz gegeben hatte.

Hinter sich hörte er ein leichtes Kichern, und als er sichumwandte zu seiner Frau, staunte er. Sie lag in ihrem Bett,noch erschöpft von der Geburt, ihrer siebten, aber sie lachte,zuerst nur ganz sachte, dann immer herzlicher und steckte ihn

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damit an, so dass auch er unwillkürlich lachen musste, ohnerecht zu wissen, warum.

Peter, der von draußen das Ohr an die Tür gepresst hielt,gab seinen Brüdern, die sich ängstlich auf dem Treppenabsatzherumdrückten, ein Zeichen, sie könnten beruhigt gehen.„Sie lachen wieder“, flüsterte er ihnen zu, und die Fünf ver-zogen sich erleichtert in die Küche. Wenn die Eltern lachten,konnte es ja so schlimm nicht mehr kommen.

Drinnen aber hielt sich die Mutter nun die Seiten vor La-chen. Es zog noch ganz gewaltig nach der Geburt, aber siekonnte auch nicht aufhören. „Nä“, sagte sie glucksend, „nä,so schnell hat keins unserer Kinder nen Spitznamen gehabt,dat ging schnell.“ Und als der Vater sie erstaunt ansah, erzähltesie ihm unter Gekicher, wie Heinz seiner kleinen Schwestereinen Namen gegeben hatte: „de Mösch“, der Spatz. Von Ge-burt an „de Mösch“.

„Gib mir dat Kind“, sagte sie zu ihrem Mann, der das Babynun vorsichtig aus der Wiege hob – trotz der vielen Vorgän-ger tat er sich bei jedem Neugeborenen immer wieder schwer– und seiner Frau ans Bett brachte. Liebevoll und unendlichzärtlich empfing sie ihre Tochter, ihre erste und – wie siedamals noch nicht wusste – einzige, und legte sie an dieBrust, das Köpfchen des Kindes instinktiv vorsichtig umfan-gend, als müsste sie es gegen den Rest der Welt schützen.Lächelnd blickte sie auf das Kind hinab und streichelte mit derRechten sanft über den Flaum des Köpfchens, fuhr dann dieLinien der Wangen nach, verweilte kurz auf dem Näschen undbetrachtete den kleinen Mund, der sich an ihrer Brust fest-gesaugt hatte.

Eine Tochter! Endlich eine Tochter! Sie konnte es nicht fas-sen. Nach sechs Söhnen, die sie ihrem Mann geboren hatteund von denen fünf überlebten, hatte sie endlich eine Toch-

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ter bekommen, ein kleines Mädchen, nach dem sie sich sosehr gesehnt hatte, alle die Jahre lang. Sie liebte ihre Söhne,alle fünf, jeden in seiner Einzigartigkeit, und sie war dankbardafür, dass sie gesund, munter und lebhaft waren. Aber einMädchen, das war doch noch etwas ganz anderes, wirklich. Eswar mehr wie man selbst, ein Stück vom eigenen Wesen. Wiehübsch konnte man es kleiden! All das wollte sie es lehren,was sie selber so vollendet beherrschte: kochen und nähen,bügeln, backen, flicken, eine Familie versorgen, Kinder gebä-ren und aufziehen, aber auch die Freude an Büchern und derMusik. Jungen gingen so schnell in eine fremde Welt, diemännliche, taten Dinge, die man nicht kannte und manchmalauch nicht verstand. Aber bei einem Mädchen war einem allesbekannt, vertraut, es wuchs in eine Welt, die die eigene war,und darüber war sie an diesem Tage, an dem sie ihr siebtesKind geboren hatte, unendlich glücklich.

Ihr Mann hatte mittlerweile das Zimmer verlassen und siemit dem Kind allein gelassen. „Mösch“, flüsterte sie diesemzu, „du bist unsere Mösch, der Heinz hat Recht.“

Um den Namen des Kindes hatte es große Kämpfe gege-ben, nur um den Namen für ein Mädchen, bei einem Jun-gennamen hätten sie sich leicht einigen können. Ihr Mannwollte zu einer Zeit, in der die Töchter Maria, Anna,Wilhelmine, Gertrud und Magdalena hießen, am liebsten, dasssie das Kind nach seiner Mutter – Helene – oder nach ihrselbst – Antonie – nannten, das hätte ihm gut gefallen, das gabso ein Gefühl von Verbundenheit über die Generationen hin-weg. Ein Lenchen oder eine Toni, das wäre es gewesen! Undwenn es etwas ganz anderes sein sollte, dann eben Johanna.Aber sie hatte sich gesträubt, zum ersten Mal in ihrer vier-zehnjährigen Ehe hatte sie sich wirklich gesträubt.

„Wenn dat ein Mädchen wird, will ich ihm den Namen

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geben“, hatte sie ihm gesagt, immer wieder und so starrköp-fig, wie er seine Frau nicht kannte, und hatte die Hand aufden Bauch gelegt, wie um zu signalisieren, dass dieses Kindunter ihrem ganz besonderen Schutz stand. Verstanden hatte erdas nicht, aber da sie ihm immer eine gute Frau gewesen warund er sie auch herzlich liebte, hatte er sich nach einer Wei-le einverstanden erklärt. Allerdings hatte er dann doch kauman sich halten können, als sie ihm sagte, sie wolle das Kind,falls es eine Tochter würde, Theodora nennen.

„Theodora?“, hatte er fassungslos gefragt, „Theodora? Wattis dat denn?“ Der Name kam ihm denn doch zu seltsam vor.Nicht nur ungewöhnlich, sondern seltsam. Wie sollte ein Kindmit einem solchen Namen wohl sein? Merkwürdig, das warausgemacht. Da hatte seine Toni sich etwas einfallen lassen,was er kaum zu verdauen vermochte. Aber sie ließ sich vondiesem Namen nicht mehr abbringen, das wusste er, dazukannte er sie zu gut. Irgendwann, als sie wegen seines verba-len Ausfalls nicht mehr so verletzt reagierte, hatte er sie dannaber doch fragen müssen, wie sie denn auf „den verrücktenNamen“ gekommen sei.

An diesem heutigen Septembertag, an dem sie ihre Toch-ter, die sie Theodora nennen wollte, geboren hatte, dachte siean dieses Gespräch mit ihrem Mann zurück. „Theodora, Got-tesgeschenk“, flüsterte sie ihrer Tochter zu, „ja, dat bist du. EinGeschenk des lieben Gottes, um das ich ihn lange gebetenhabe. Dich wollte ich haben, kleines Mädchen, und deshalbheißt du Theodora.“ Dass dieser Name aus dem Griechischenkomme, hatte sie ihrem Mann erklärt. Als der einwandte, esgebe keine Heilige mit diesem Namen, hatte sie heftig wider-sprochen.

In der Pfarrbücherei hatte sie vor Jahren eher zufällig einBuch über die Kaiserin Theodora von Konstantinopel gefun-

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den, das sie fasziniert hatte. Alles an ihr: ihre geheimnisvolleHerkunft, Tochter eines Bärenwärters, die sich als Prostituierteverdingen musste, um sich zu ernähren. Aber, so hatte es indem Buch gestanden, weil sie so unglaublich schön und gutgewesen war, hatte sich ein Kaiserneffe in sie verliebt und siegegen den Widerstand der Familie geheiratet. Später war erselbst Kaiser geworden, ein mächtiger, Justinian, der sie zu sei-ner Kaiserin gemacht hatte. Und als solche hatte sie ganz vielfür die Armen getan. Sie hatte dafür gesorgt, dass der Mäd-chenhandel verboten wurde, den Prostituierten hatte sie ge-holfen und war ihrem Mann eine wichtige Beraterin gewe-sen. Wie eine Heilige war sie gewesen, und das war wichtig,fast eine Heilige. Alles an dieser Frau hatte ihr gefallen. Austiefster Armut war sie emporgestiegen, und ihre Stellung hattesie genutzt, um den Menschen Gutes zu tun, das war ein Le-ben! Nie hatte sie vergessen, wie sehr sie die Erklärung desNamens gerührt hatte: Theodora, von theos (Gott) und doron(Gabe), die Gottesgabe! Sie, die nie auch nur ein Wort in ei-ner anderen als der deutschen Sprache gekannt hatte, vergaßdiese beiden griechischen Wörter nie mehr. Dass es keinenNamenstag für diese „komische Heilige“, wie ihr Mann sagte,gab, störte sie nicht, sie meinte, man könne dem Kind ja ei-nen zweiten Namen geben, Johanna, dann habe es auch ei-nen Namenstag. Und man könne sie ja auch zu Hause Theanennen. Und so hatte er sich gebeugt, ihr zuliebe.

Da lag sie nun in ihrem Arm, ihre Theodora Johanna, eingewaltiger Name für solch ein kleines Wesen, das Gottesge-schenk, ein Mädchen, dem sie als Frau Vorbild sein konnteund wollte, mit aller Kraft ihres Herzens. „De Mösch“, wiedie Jungen gesagt hatten, Theodora Johanna, „de Mösch“.

Lächelnd schaute sie auf ihr siebtes Kind hinunter, dochnun spürte sie die Anstrengung der Geburt und ihre Müdig-

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keit wieder. Die Augen fielen ihr zu, und beide, Mutter undTochter, erholten sich von aller Mühsal des Tages.

Diese war nicht gering gewesen für die Mutter. Wie anjedem Tag so hatte sie auch an diesem ihre Pflichten imHaushalt erfüllt. Als sie spürte, dass die Geburt bevorstand –nach sechs Kindern, die sie bereits geboren hatte, spürte siedas ganz genau –, hatte sie noch alles getan, damit Mann undSöhne versorgt waren. Sie hatte im Garten Gemüse geholt undgeputzt, Kartoffeln geschält und einen Eintopf gekocht, den ihrÄltester, Peter, am nächsten Tag, wenn der Vater wieder bei derArbeit war, für die Brüder nur warm zu machen brauchte.Heinz hatte sie zur Arbeitsstelle des Vaters geschickt, ihm zusagen, er möge kommen, sobald er könne, es sei so weit.Dann hatte sie noch in dem großen Herd ein Blech mitStreuselkuchen gebacken, damit „die Männer“ feiern konn-ten, wenn alles vorbei war, und hatte sich dann mit ihremFlickkorb auf die Bank in der Küche gesetzt und auf ihrenMann gewartet, der Gott sei Dank bald kam und die Heb-amme holte, als er sah, wie weit seine Frau schon war.

Natürlich wurde zu Hause entbunden, da war man allemnah und konnte jederzeit ein Auge auf die Jungen haben, vorallem die Kleinen, der Franz und der Herrmann, waren janoch so hilfsbedürftig. Warmes Wasser konnte man in der Kü-che zubereiten, es war leicht in den ersten Stock zu tragen, ihrMann war ja einer, der mit zupackte und sich auch für Haus-arbeiten nicht zu schade war. Im Notfall konnte man immernoch nach dem Arzt schicken, der wohnte gleich zwei Häu-ser weiter und wäre sofort da. Aber das war bei allen ihrenGeburten nie notwendig gewesen, und auch dieses Mal wares wieder sehr schnell getan, schon am Nachmittag diesessonnigen Frühherbsttages im Jahre 1919 war ihre Tochter dagewesen.

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Unten in der Küche feierte man derweil die Geburt deskleinen Töchter- und Schwesterchens bei Streuselkuchen undKaffee, Malzkaffee natürlich, denn den guten, den mit denzwei langen ‚e‘, den gab es nur an hohen Feiertagen und nurfür die Erwachsenen. Er war zu teuer für jeden Tag.

Die Jungen saßen in der Küche auf der Bank um den Va-ter herum, der mit ihnen lachte und spaßte, denn auch er warfroh, dass „es“ wieder einmal gut gegangen war, und dieHebamme, die dort unten noch auf ihn gewartet hatte, nach-dem er wutschnaubend in das Schlafzimmer gerannt war, bliebauch noch ein wenig und hatte ganz glänzende Augen, weilder Vater ihr „zur Feier des Tages“ ein paar selbst gebrannteKlare eingeschenkt hatte. Die Familie hatte sich um Thea, „deMösch“, erweitert, die in den Armen ihrer Mutter ihrem ers-ten ganzen Erdentag entgegenschlummerte.

2007Die alte Dame lächelte versonnen, ganz in sich und die Erinne-rungen versunken. Die Bilder vom Tage ihrer Geburt standen soklar vor ihrem inneren Auge, dass sie wirklich glaubte, alles gese-hen und bewusst wahrgenommen zu haben: die tanzenden Jungen,den wütenden Vater und die im Bett liegende lachende Mutter, diesich die Seiten hielt. Die Mutter, die an diesem Tag ihre Tochtergeboren hatte, das einzige andere weibliche Wesen, mit dem gemein-sam sie sich gegen diese Welt der Männer verteidigen und rettenwollte, in die ihre Söhne immer schneller hineinwuchsen und dieihr unbekannt und – das glaubte sie mitunter – feindlich geson-nen war.

Achtundachtzig Jahre später, an eben demselben Tag, saß nundie Tochter, viel älter, als die Mutter je geworden war, in ihrem

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Sessel und kehrte nur ganz langsam und etwas unwillig in dieWelt ihres Wohnzimmers zurück. Die singenden Jungenstimmenverklangen allmählich in ihr, der Geruch des Malzkaffees und desfrisch gebackenen Streuselkuchens schwand und wurde ersetzt durchden Duft der blühenden Rosen, die die Enkelin jener Mutterdamals heute ihrer Mutter gebracht hatte, ein weiteres Glied in derKette der Generationen, eine weitere Tochter, die sehnsüchtig er-wartet worden war.

Langsam und etwas steif geworden von der unbequemen Hal-tung, die sie eingenommen hatte, als sie das Familienbild betrach-tete, das in dem Sommer vor ihrer Geburt aufgenommen wordenwar, lockerte die alte Dame ihre Schultern und richtete sich auf,schaute sich um. Wo waren sie nur alle, die Personen, die ebennoch so lebendig in ihr gewesen waren? Alle entschwunden, keinevon ihnen lebte mehr, nur sie, die Mösch, das kleine Mädchen, dasauf diesem Bild noch gar nicht sichtbar war, hatte heute Geburts-tag und konnte sie zum Leben erwecken.

Wo war sie auf diesem Bild? Ihre Mutter war doch damalsschon lange mit ihr schwanger. Konnte man das sehen, konnteman ihr anmerken, wie erwartungs- und hoffnungsvoll sie wiederwar – denn sie hatte seit Peter, ihrem Ältesten, immer erneut aufein Mädchen gehofft –? Thea hob das Bild, das sie in ihren Schoßhatte sinken lassen, wieder hoch und betrachtete es nun genauer,nur noch auf die Figur der Mutter konzentriert, die in der Mittedes Bildes und in der Mitte ihrer Familie seit achtundachtzig Jah-ren auf ihrem Sessel saß. Ihre Augen richteten sich auf die Tailleder Frau auf dem Bild, abschätzend, ob man wohl etwas von derSchwangerschaft bemerken könne. Aber da war nichts, wirklichnichts. Man konnte nichts sehen, nein, nur … Thea schaute nochgenauer hin, strengte sich an, Details auf der verblichenensepiafarbenen Fotografie zu erkennen. Den einzigen Hinweis aufsie bildete, wenn man es sehen wollte, der Arm der Mutter, der

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leicht und wie schützend auf ihrem Bauch ruhte. Aber der konnteauch ganz zufällig dort hingeraten sein, musste nichts zu bedeu-ten haben.

Ihre Augen wanderten nun etwas höher auf dem Bild, zum Ge-sicht der Mutter, verharrten bei dem Mund, dem immer noch lä-chelnden. Man konnte es kaum noch erkennen, denn die Fotografiehatte unter den vielen Ereignissen der vergangenen Jahrzehnte ge-litten, aber es war eindeutig, dieses Lächeln hatte die Mutter auchauf ihren Lippen gehabt, als sie die Tochter zum ersten Mal anihre Brust legte. So musste es gewesen sein, sagte sich Thea, nurso, denn dieses Lächeln der Mutter war immer den ganz intensi-ven Momenten vorbehalten gewesen.

Überhaupt: An die Lippen der Mutter erinnerte sie sich amdeutlichsten, glaubte sie, die Lippen, die sich an ihren guten Ta-gen breit verzogen zu einem fröhlichen Lachen, dann stieg es indie braunen Augen, die sie von ihr geerbt hatte, und brach sichBahn, Klang werdend, immer stärker und nach und nach alle mitsich reißend, die anwesend waren. Hatte der Vater nicht …?, dachteThea. Ja, er hatte ihnen, den drei Kleinen, Franz, Herrmann undihr, früher immer auf ihre Bitte: „Papp, erzähl mal von früher. Wiewar dat, als du die Mamm …?“ von seiner entscheidenden Be-gegnung mit ihr erzählt. Und da kehrte sie zurück, die Erinne-rung an die dunklen Abende, wenn er mit ihnen in der großenWohnküche auf der Bank gesessen und mit seiner tiefen Stimmedie vergangene Welt beschworen hatte, die die Kinder so liebten.Das Lachen der Mutter, das die Erzählung begleitete, sie hörte esdeutlich, als ertöne es neben ihr, als sei es ins Leben zurückgekehrt.

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1905Dieses Lachen! Es ließ ihn, der grüblerisch allein an seinemWirtshaustisch saß, aufmerken. Was war das für ein Lachen! Esklang so heiter, so unbeschwert, so befreit – wenn man nureinmal so lachen könnte! Neugierig geworden, hob er denKopf und sah sich nach der Urheberin des Lachens um. Dastand sie, drei Tische von ihm entfernt, ein Tablett mit meh-reren Biergläsern in den Händen, das sie kaum noch haltenkonnte, weil das Lachen sie schüttelte, sie schien gar nichtmehr aufhören zu können. Die beiden Männer, die sie wohlbedienen wollte, ihrer Kleidung nach Bauern, die er abernicht kannte, blickten sie verblüfft an, der eine streckte beideHände, von denen es tropfte, weit von sich, während der an-dere zunächst zögernd und dann immer herzhafter in ihr La-chen einfiel. Der erste, ziemlich verärgert, wollte sich nichtmitreißen lassen, konnte dann aber doch nicht widerstehenund platzte laut los, schüttelte die Hände kräftig ab und rolltedann die Hemdärmel nach oben, was ihm allerdings sichtlichunangenehm war. Peter, der Beobachter, sah das umgefalleneBierglas auf dem Tisch, das seinen Inhalt wohl über die Un-terarme des Mannes ergossen hatte. „Entschuldige“, gluckstedas junge Mädchen, „aber das war so komisch!“ – „Musstdoch keinen Knicks vor ihm machen, so fein ist der nicht“,dröhnte nun der andere, immer noch lachend, und zeigte aufseinen Kumpanen. Da wurde Peter klar, dass sie wohl aufdem unebenen Dielenboden gestolpert war, als sie das Glasauf dem Tisch absetzen wollte, und dabei hatte sie den Gastmit Bier beschüttet. „Ich bin doch sonst in der Küch …“, sag-te sie, als ob das die Erklärung für alles sei, und brachte dierestlichen Biergläser an einen anderen Tisch. Er betrachtete siegenauer und wunderte sich nun nicht mehr, dass er sie hier

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noch nie gesehen hatte. Allerdings ging er auch nur selten insWirtshaus, lieber sparte er seinen Lohn, es war eh weniggenug. Die dicken blonden Zöpfe hatte sie um den Kopf ge-wunden, trug die einfache Kleidung der Landbevölkerung:einen dunklen Rock, der ihr bis über die Knöchel reichte,eine helle Kattunbluse und über dem Rock eine schon rechtzerschlissen aussehende Schürze. Ihre Füße steckten in denHolzschuhen, die wohl ihren Stolperer verursacht hatten. Ei-gentlich war sie eher unauffällig, ein Mädchen vom Land, vondenen es viele gab, aber ihr Lachen machte sie einmalig, un-vergleichlich. Immer wieder musste er sie ansehen, und als ersein Bier bei ihr zahlte, funkelten ihre braunen Augen ihnfröhlich an, glänzend von dem Lachen, das ihm so gut gefiel.

Auf dem langen Nachhauseweg erst fiel ihm auf, dass erdie Sorgen, die ihn umgetrieben und in das Gasthaus geführthatten, eine Weile ganz vergessen hatte.

Seit diesem Tag ging Peter öfter „in de Mühl“, ein kleinesschlichtes Gasthaus mit angeschlossener Viehwirtschaft undSchlachterei, idyllisch am Ufer des Elbbachs gelegen, derdurch die Wiesen der Niederung floss. Mehr als vier Kilome-ter musste er stets zurücklegen von Mittelhof aus, dem Dorf,in dem er zu Hause war und das auf der Höhe lag. Zu die-ser Zeit war er neunundzwanzig Jahre alt, ein verschlossener,in sich gekehrter junger Mann, der mit den Eltern und sie-ben Geschwistern auf einer kleinen Bauernschaft lebte, die sienur kärglich ernährte. Im Kreise der Geschwister galt er alsetwas schwierig, weil er sich oft zurückzog und auch Interes-sen hatte, die die anderen nicht teilten. Er liebte es, Neues zuerfahren, über andere Länder, möglichst weit weg, und ließ inseinem Eifer nicht nach, wenn es darum ging, sich Wissen an-zueignen. Da in dem elterlichen Hause eine Zeit lang auchdie Kinder des Dorfes unterrichtet worden waren, dort also

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die offizielle Schulstube war, hatte er mehr Gelegenheit ge-habt als andere Bauernkinder, Bücher auszuleihen und sich insie zu versenken. Diese Leidenschaft teilte nur seine kleineSchwester Louise, elf Jahre jünger als er, die mit steter Liebean ihm hing und ihn oft auf seinen Wanderungen begleitete.Auch er mochte diese kleine Schwester, die wie er die Sehn-sucht zu verspüren schien, die enge Begrenztheit ihres Dor-fes verlassen zu können.

Seit jenem Tag aber, als er das Lachen gehört hatte, mussteLouise häufig auf ihn verzichten und schmollte, weil der Bru-der nach der Arbeit oder an den Sonntagen heimlich undschnell wegging und ihr keine Gelegenheit gab, sich ihm an-zuschließen. Sie sah ihn nur immer, wenn sie hinter ihm her-lief, neugierig und verletzt, den Weg zum Elbbach hinunternehmen, ehe er zwischen den Bäumen verschwand. Er beeil-te sich, zu „de Mühl“ zu kommen, der Wassermühle, die zurOrtschaft Altenbrendebach im Tal gehörte, aber weit außerhalblag. Dort bestellte er stets ein Glas Bier, ein einziges nur, vordem er den ganzen Abend saß und ab und an einen Schluckdaraus trank. Wenn er Glück hatte, war sie wieder da,manchmal aber sah er sie auch gar nicht, hörte nur ab und zuihr Lachen aus der Küche klingen. Und das genügte ihm dannauch.

Ihr fiel auf, dass dieser junge Mann, der nicht in ihrem Dorfwohnte – sie stammte aus Altenbrendebach –, häufig kam undsie immer anschaute, erst nur anschaute, dann allmählich einpaar Worte mit ihr wechselte, freundlich, zurückhaltend, einwenig schüchtern fast, bis ihre Worte zu kleinen Gesprächenwurden, die sie zwischen der Arbeit mit ihm führte. Sie hat-te sich angewöhnt, wenn sie ihn sah, an Abenden, an denensie nur in der Küche arbeitete, herauszukommen und sich anseinen Tisch zu stellen und ein wenig mit ihm zu plaudern.

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Immer war er höflich, nicht so plump wie viele seiner Alters-genossen, aber er war ja auch kein Bauer, wie sie inzwischenwusste, sondern Bergmann.

Irgendwann hatten sie sich dann das erste Mal verabredet,ganz offiziell, an einem Tag, an dem sie zufällig beide frei hat-ten, und wanderten auf den Hümmerich, die höchste Erhe-bung in ihrer Heimat. Und dort war es auch, dass er ihr mehrvon sich erzählte. Von ihr hatte er bereits eine Menge erfah-ren. Sie war wie er das dritte Kind von achten. Und auch siestammte aus einer Familie von Bauern, die zu wenig Landbesaßen, davon die ganze Familie satt zu machen, so dass dieKinder außer dem Ältesten, der den Hof übernehmen wür-de, sich Arbeit suchen mussten. So war sie nach der Beendi-gung der Volksschulzeit „in Stellung“ in die Mühle gegebenworden, wie es für Mädchen üblich war. Sie arbeiteten mit imHaushalt, lernten dabei alles, was sie später in der Ehe be-herrschen mussten, und verdienten etwas Geld dazu, das siezu Hause abgaben, um so die Not ein wenig lindern zu hel-fen. Es waren schwere Zeiten und die Arbeiten recht müh-sam.

Toni, Antonie getauft, mittlerweile einundzwanzig Jahre alt,war von ihrer Dienstherrin bald in die Küche geschickt wor-den und hatte sich dort zu einer hervorragenden Köchin ent-wickelt, deren Lob sich auch in den ferner gelegenen Dör-fern verbreitet hatte. Und sie hatte entdeckt, dass es ihr großeFreude machte, für viele zu kochen, ihre Fähigkeiten zu ver-bessern und – wenn es irgend ging mit den vorhandenenZutaten – neue Rezepte zu erfinden. Sie war ein Mensch,der zwar schon sehr früh hart hatte arbeiten müssen, da ihreMutter aufgrund einer Herzkrankheit viel bettlägerig war undToni als ältestes Mädchen für die jüngeren Geschwister sor-gen musste, aber dabei nie seine Fröhlichkeit und seinen Hu-

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mor verloren hatte. Was ihn an ihr faszinierte, war ihre Fähig-keit, das Heitere an einer Situation zu erkennen und mit derihr angeborenen Leichtigkeit auch schwere Tage möglichst vonder lustigen Seite zu nehmen. Das tat seiner eher grübleri-schen Natur gut und hellte seine dunklen Stimmungen auf.

Als sie nun dort oben im Sonnenlicht auf dem Hümmerichsaßen, über die Wipfel des Westerwalds schauten, in ihre mit-genommenen Brote bissen und Wasser tranken, erzählte er ihr,ohne zu wissen, wie es dazu gekommen war, von seinen Pro-blemen. Das hatte er noch bei niemandem getan. Er wargleich nach der Schule in die Grube Friedrich gegangen undarbeitete dort unter Tage. Im 19. Jahrhundert hatte es in derGemeinde Mittelhof drei Gruben gegeben, in denen Eisen-und Kupfererz gefördert wurde. Das hatte zunächst viele Men-schen in den Ort gezogen, aber seit ab 1892 zwei der Grubenhatten geschlossen werden müssen, weil die Vorkommen ab-gebaut waren, herrschte hohe Arbeitslosigkeit, und man muss-te froh sein, einen Gelderwerb gefunden zu haben. Und sofuhr er nun jeden Tag für zehn Stunden in die Grube ein undbaute in den dunklen engen Stollen das Erz ab. 2,38 Markverdiente er täglich, Geld, das den Eltern gut zupass kam.Aber er hatte begonnen, sich unter Tage unwohl zu fühlen. Zueng war es ihm dort unten, zu dunkel, kaum atmen konnteer, und der Staub setzte sich auf seine Bronchien, so dass erimmer häufiger Fluchtgedanken hegte, alles hinschmeißenwollte und nachts davon träumte, in der Grube ganz langsamzu ersticken. Während er dies zögernd und unsicher ob ih-rer Reaktion erzählte, hatte Toni seine Hand genommen undfest in ihre beiden geschlossen. Als er sie ansah, beugte siesich schnell zu ihm hinüber, ließ seine Hand los und umfassteseinen Kopf tröstlich, ließ ihn dann aber ganz erschrockenwieder los.

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„Du musst da raus“, sagte sie, „raus musst du da“, und da-mit hatte sie die Lösung seines Problems klar und unumwun-den ausgesprochen. Er wandte ein, das könne er nicht, er habeVerantwortung für die Familie, diese brauche das Geld, wiedas denn gehen solle, man könne nicht einfach so fortgehen.„Mer don dat“, sagte sie fest, ohne nur eine Sekunde zu zö-gern, und nahm erneut seine Hand in ihre, sich mit dem„mer“ (wir) ihm anvertrauend und versprechend, und damitwaren sie eigentlich verlobt. Dazu bedurfte es nicht mehr desersten Kusses, der eher scheu war, denn beide hatten keinerleiErfahrung mit dem anderen Geschlecht. Den Rückweg denBerg hinunter traten sie Hand in Hand an und ließeneinander auch nicht mehr los, bis die ersten Fachwerkhäuserihres Heimatdorfes in Sicht kamen. „Mer don dat“, wieder-holte sie, als sie sich abends mit einem verstohlenen Kuss vonihm verabschiedete, und „mer don dat“ sagte er leise vor sichhin, lächelnd, als er den Berg hinauf ging, auf halbem Wegeseine Schwester Louise traf, sie von der Erde aufhob und hef-tig im Kreise schwenkte, was diese sehr verwunderte.

„Mer don dat“ – wie, wann, unter welchen Umständen,nichts war klar, aber man würde es tun, man würde wegge-hen und gemeinsam etwas ganz Neues beginnen!

Und so machte er sich im Herbst auf den Weg nachAltenbrendebach, in seinen besten Kleidern, die armseliggenug waren, aber er hatte dafür gesorgt, dass er blitzsauberwar. Bei seiner ungewöhnlich langen und ungewöhnlich sorg-fältigen Rasur hatte er sich mit dem Messer einen Schnitt amKinn zugefügt, was ihm ein fast verwegenes Aussehen gab. ImElternhaus seiner Toni hatte sich die Familie, die von dieserauf den Besuch eingestimmt worden war, erwartungsvoll inder Küche versammelt. Er betrat das Haus, wandte sich in demengen Flur hinter der Haustür nach rechts, verbeugte sich, in

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der Küche angekommen, ins Ungewisse und bat den Vatervon Antonie, ihn sprechen zu dürfen. Dieser erhob sich lang-sam und feierlich und tat, als wisse er überhaupt nicht, wor-um es gehe. Hoch aufgerichtet schritt er durch die Küche,bedeutete Peter, ihm zu folgen, und dieser tat es trotz seinerneunundzwanzig Jahre herzklopfend. In der guten Stube an-gekommen, ließ sich sein Möchtegernschwiegervater in demgroßen Lehnsessel nieder, der in der Mitte des Zimmersstand, und bot ihm einen Stuhl zum Sitzen an. Peter aber zoges vor, stehen zu bleiben, um endlich seine Rede loszuwer-den, und begann hastig, doch in wohlgesetzten Worten um dieHand der Tochter zu bitten. Väterlich lächelnd bat der Gebe-tene, die Vermögensverhältnisse offen zu legen, denn dass derzukünftige Schwiegersohn keinen Landbesitz sein eigen nann-te, hatte er natürlich längst ausgekundschaftet. Man konnteseine Tochter schließlich nicht jedem Hergelaufenen geben,auch wenn man froh war, dass ein Maul weniger zu stopfenwar … Peter berichtete von seiner Arbeit in der Grube, demTagesverdienst und dem, was er bisher hatte sparen können,sagte dann aber auch ehrlich, dass er nicht gewillt sei, in Mit-telhof zu bleiben, sondern mit seiner – hoffentlich – Ehefraunach Köln gehen wolle, um sich dort Arbeit zu suchen, ge-sucht würden Leute, die „bei der Bahn“ anfangen wollten.Von Anfang an mit offenen Karten zu spielen war ihm wich-tig, die Eltern sollten wissen, dass ihre Tochter die Heimatverlassen würde. Nach einer gewissen Pause erhob sich derVater etwas schwerfällig aus seinem Sessel, schlug dem immernoch stehenden Peter kräftig auf die Schulter, nannte ihn„Sohn“ und erklärte großmütig, er könne seine Tochter zurFrau haben. Gemeinsam kehrten sie nun in die Küche zu-rück, in der alle so taten, als wüssten sie nicht, um was es ge-gangen sei, und ihnen gespannt entgegen blickten – nur Toni

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zwinkerte ihm leicht zu. Der Vater verkündete, Peter aus Mit-telhof habe um die Hand seiner Tochter Antonie aus Alten-brendebach angehalten, so als werde eine neue Dynastie ge-gründet, und da sprangen alle auf, schrien durcheinander undhießen ihn als Schwager willkommen. Als man dann gemein-sam den Selbstgebrannten probierte, war die offizielle Verlo-bung vonstatten gegangen, das nunmehr Brautpaar hatte sichvor allen Zeugen einen keuschen Kuss gegeben, und erst alssie sich, endlich allein gelassen, draußen voneinander verab-schiedeten, konnte man die unterdrückte Leidenschaft ahnen.

Dem Bräutigam blieb nun nur noch, seinen neuen Standden eigenen Eltern mitzuteilen, die ja auch erfahren mussten,dass sie bald eine neue Tochter haben würden, und dies nahmer noch am selben Abend in Angriff. Im Beisein seiner Ge-schwister erfuhren die Eltern seinen Plan, Antonie zu Beginndes kommenden Jahres zu heiraten und mit ihr nach Köln zugehen. Auch in seiner Familie, die allerdings viel überrasch-ter war, da er seine Liebschaft geheim gehalten hatte, brachTumult aus, Glückwünsche wurden ausgesprochen, neugierigeFragen gestellt und der Selbstgebrannte wurde herausgeholt.So kam es, dass Peter an diesem Abend mit roten Wangenund ungewohnt fröhlich zu Bett ging. Dass seine SchwesterLouise bei seiner Nachricht blass geworden war und schnelldie Küche verlassen hatte, war niemandem aufgefallen. Undwährend Peter seinen ehelichen Freuden entgegenschlummer-te, weinte Louise sich in den Schlaf, weil sie ihren Lieblings-bruder an die Stadt verloren hatte.

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2007Diese Geschichte hatten die Kinder geliebt, immer wieder hattensie sie hören wollen, und sie rührte die alte Dame auch heute noch,ein Jahrhundert später. Dass die Eltern auch einmal so jung undso verliebt gewesen waren! Das konnte man sich als Kind kaumvorstellen. Darüber sinnierte Thea eine Weile vor sich hin. Und alldie Zeit, die mittlerweile vergangen war, unvorstellbar!

Sie lebte heute in einer Welt, die die Eltern wohl nur erschre-cken würde, könnten sie zurück kommen. Auch sie war mituntervöllig verunsichert, wenn es ihr nicht gelang, an einem Automateneinen Fahrschein für die Straßenbahn zu kaufen, oder wenn dieComputerstimme am Telefon es einem nicht mehr ermöglichte, ganzeinfach seine Beschwerden loszuwerden, sondern das immer Glei-che weiter vor sich hin plärrte, bis man entnervt auflegte. Aber sowar das nun mal, man wurde älter, immer älter, bis man alt warund sich unnütz fühlte. Bei diesem Gedanken, der da so plötz-lich und ungewollt in ihr aufgestiegen war, rief Thea sich energischzur Ordnung. „So’n Quatsch“, schimpfte sie vor sich hin undzerrte mit der Rechten an ihrem pinkfarbenen Halstuch, als müs-se sie diese Anwandlung gewaltsam von sich fort schieben. Siestellte das Familienbild, das sie so lange betrachtet hatte, schnell aufdas Tischchen zurück, nicht ohne ein nicht vorhandenes Staub-körnchen wegzuwischen, und nahm ein anderes Bild zur Hand,das daneben stand.

Das Hochzeitsbild ihrer Eltern, das sie über alle Wirren der Zeitgerettet hatte! Es gab nur noch dieses eine, alle anderen waren denZeitläuften zum Opfer gefallen, umso wertvoller war es für sie –für sie und alle diejenigen, die nach ihr kamen. Es sollte weiter-gegeben werden an die jetzt noch Jungen, und diese sollten es,wenn sie alt waren, an die nächste Generation weitergeben, undso immer fort. Die Zeiten änderten sich, aber die Familie blieb,

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tröstete sie sich, und das stimmte ja auch, alle waren noch in ihr.Und an ihr war es, die Erinnerung an sie weiterzugeben, wach zuhalten, deshalb war sie achtundachtzig Jahre geworden, nur siekonnte es noch! Und da lächelte sie vor sich hin, froh darüber, anihrem Geburtstag eine Aufgabe gefunden zu haben, die nur sieallein erfüllen konnte.

In der Erinnerung wollte sie alle und alles heute heraufbeschwö-ren und noch einmal durchleben, und dann wollte sie morgenihrer Tochter davon berichten – heute ging das ja, vor Jahren hättesie nur unwillig abgewinkt –, damit diese wusste und es ihrerTochter erzählen konnte, die im fernen Australien verheiratetwar, und diese dann … eine Kette von Menschen, die ohnediese Hochzeit in Mittelhof nicht existieren würden. Familie …

Fröhlich auflachend – mit genau diesem Lachen, das einst denVater in der Mühle bezaubert hatte – strich sie über den silber-nen Rahmen des Hochzeitsbildes.

1906–1914Kalt war es, entsetzlich kalt an diesem Februartag des Jahres1906, an dem Antonie Peters Frau werden sollte. Dieser Win-ter hatte es in sich, und so lag hoher Schnee, als sich Peter,begleitet von seiner gesamten Familie, in die Kirche begab.Nur kurz war sein Weg, da St. Marien in Mittelhof, wo ge-heiratet werden sollte, dem elterlichen Haus genau gegenüberlag, nur durch die Dorfstraße von ihm getrennt.

Man war stolz auf diese Kirche, die erst im Jahre 1897 ge-weiht worden war. Zuvor hatte man immer sechs Kilometerbis in das nächste Städtchen gemusst. Und da diese Kirche,„Auf dem Sturm“ genannt, da sie hoch oben lag, wo derWind zupacken konnte, geräumig und hell war, hatte man

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beschlossen, dort die Trauung durchzuführen, auch wenn dasfür Tonis Familie eine lange Wanderung bis dorthin bedeutete.Und so waren „die Stürmers“, denn so hießen sie nach derLage ihres Hauses, bereits aufgebrochen, um der Familie derBraut Raum und Zeit zu geben, sich zu richten. Nur Louisewar zu Hause geblieben, da man ihr die wichtige Aufgabeübertragen hatte, mit einer von Tonis jüngeren Schwesternden Brautschleier zu tragen. Das hatte sie für eine kurze Zeitmit der Hochzeit versöhnt.

Und nun stand Peter, nervös die Hände knetend, vor demAltar und wartete auf seine Braut. Der hochstehende, kräftiggestärkte Kragen seines weißen Hemdes, um den die ebenfallsweiße Krawatte gebunden war, scheuerte, engte ihn ein undließ ihn schwer atmen, was seine Nervosität noch steigerte.Hoffentlich ging alles gut – was genau das sein sollte, hätte ernicht zu sagen gewusst, „alles eben“. In seinem neuen schwar-zen Anzug, den die Mutter, um ihn zum Glänzen zu bringen,mit Kaffeesatz gebürstet hatte, fühlte er sich zwar sehr feier-lich, aber auch sehr unbehaglich, so dass er die Schulternhochzog, als müsse er sich vor etwas schützen. Die ebenfallsneuen schwarzen Lederschuhe quietschten leise bei jeder Be-wegung, was ihn vollends irritierte. Alle paar Minuten griff erin seine linke Jackentasche, um sich zu vergewissern, dass dieEheringe, schmal und golden, noch vorhanden waren.

Endlich gab es Bewegung an der hinteren Tür der Kirche,die nur zu feierlichen Gelegenheiten wie heute geöffnet wur-de, sonst betrat man den Raum durch die linke oder rechteSeitentür. Alle Köpfe wandten sich neugierig um, den erstenBlick auf die Braut zu erhaschen, aber der Bräutigam reckteden Kopf am höchsten, denn er hatte Toni in den letztenbeiden Wochen nicht mehr zu Gesicht bekommen. So woll-te es der Brauch, das Brautpaar hatte „rein“ vor den Altar zu

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treten, man wollte sie nicht „in Versuchung“ führen. Und waser sah, verschlug ihm den Atem. Am Arm ihres Vaters, dersich, der Wichtigkeit des Augenblicks vollkommen bewusst,fast gleitend vorwärts bewegte und die Tochter ein wenig zerr-te, da er es eilig zu haben schien, sie dem Bräutigam zu über-geben, betrat Toni die Kirche und schwebte – so zumindestkam es Peter vor – auf ihn zu. Sie trug ein eher einfachesschwarzes Kleid, lang, oben eng, mit einem weiten Rock, derihre schlanke Taille betonte. Hoch geschlossen fasste es ihrGesicht fast wie in einen Rahmen ein. Ihr volles blondesHaar, das sie nach oben gesteckt trug, wurde von einemBuchsbaumkränzchen gehalten, an dem der lange weißeBrautschleier befestigt war, den ehemals ihre Mutter getragenhatte und den nun die beiden Schwestern des Brautpaares tru-gen. Der Brautstrauß, den sie fest in ihrer linken Hand hielt,bestand ebenfalls aus Buchs und gelb blühenden Winterlin-gen, den einzigen Blumen, die dem Schnee trotzten. Und soschritten die Vier hastig auf Peter zu, der vorne wartete. Wieman es ihr gesagt hatte, hielt Toni die Augen gesenkt – sogehörte es sich für eine jungfräuliche Braut – nur einen Au-genblick lang verstieß sie gegen die Form. Als sie unmittel-bar vor Peter stand, blickte sie auf und strahlte ihn so unver-hohlen glücklich an, dass er alle Nervosität und Unsicherheitvergaß und ihr, die schnell die Augen wieder senkte, dieHand reichte und mit ihr vor den Altar trat. Dort standen sienun nebeneinander und wagten weder sich anzufassen nochanzusehen. Der Pfarrer las die Brautmesse, die Anverwandtensangen die Kirchenlieder laut mit – je lauter, desto dauerhafterdie Ehe – und es gab nur einen einzigen Augenblick derVerzweiflung für Peter. Als die Zeit gekommen war, Toni seinEheversprechen – „bis dass der Tod uns scheidet“ – zu geben,griff er in seine rechte Jackentasche und wühlte in ihr, auf

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der Suche nach den Ringen. Panik drohte ihn zu ergreifen,weil er sie nicht fand, aber dann beruhigte er sich, als er Tonineben sich atmen hörte, griff in die linke und hatte dieRinge zur Hand. Zu den Klängen von „Großer Gott, wirloben dich“, das alle Anwesenden voll Herzensinbrunst san-gen, verließ Toni an Peters Arm hoch erhobenen Hauptesdie Kirche, nach rechts und links lachend, nunmehr seine an-getraute Frau.

Die Hochzeitsfeier sollte im Festsaal der Mühle stattfinden,denn man hatte viele Menschen zu bewirten, da zwei Dör-fer zu dem Fest eingeladen waren. Und so zog die Gesell-schaft, in dicke Jacken und Mäntel gehüllt, durch den tiefenSchnee den Berg hinunter, am Elbbach entlang, und wurdeimmer lustiger und lauter, da man sich gegen die Kälte kräf-tig mit Selbstgebranntem schützte. Um die Tische versammel-ten sich alle und sprachen dem Essen fröhlich zu, das zwarrecht einfach, aber ausgesprochen schmackhaft war, hatte essich die Wirtin doch nicht nehmen lassen, selbst für Toni zukochen, die sie sehr schätzte. Für sie hatte sie einiges von denVorräten des Winters hergegeben. Man speiste lange –Fleischsuppe mit viel „Einlage“, würzigen Schweinebratenund Schokoladenpudding –, redete viel, hörte auch mal ei-ner mehr oder weniger gelungenen Tischrede zu, und es waralles sehr ländlich-vertraut, was nur Louise nicht gefiel, diesich vornahm, ihre Hochzeit solle ganz anders sein, nicht sobäurisch, eleganter.

Als das Brautpaar sich zum Tanz erhob, zierte ein schmalesGoldkettchen mit einem Kreuz Tonis schlichtes Kleid, PetersGeschenk. Sie hatte ihm eine Taschenuhr gekauft, die er bald,wie sie ihm versprach, an einer später noch zu erstehendenUhrkette tragen konnte. Wie sie beide diese Geschenke, dieeigentlich deutlich ihre Möglichkeiten übertrafen, finanziert

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hatten, darüber haben sie nie gesprochen, aber beide wolltendem anderen etwas wirklich Schönes zur Hochzeit schenken.

Nach dem Essen spielte „die Musik“ auf, drei Bauernsöh-ne, die ihre Geigen wunderbar beherrschten, und zu denKlängen von „O du schöner Westerwald“, das auf keiner, aberwirklich keiner einzigen Feier fehlen durfte, führte der Bräu-tigam seine Braut auf die Tanzfläche, und bei „weht der Windso kalt“ lachte sie ihn an und forderte ihn zu schnellerer Be-wegung auf, was bei der Melodie nicht so ganz einfach war.Hingebungsvoll sangen alle „doch der kleinste Sonnenscheindringt tief ins Herz hinein“, das Brautpaar drehte sich zu denKlängen und trug den besungenen Sonnenschein wirklich tiefin seinem Herzen, ehe sich dann beim nächsten Lied alle aufdie Tanzfläche wagten und der Tag sich mit Hopsen, immeranzüglicher werdenden Witzeleien und vielen von Gebrann-tem begleiteten Segenswünschen neigte. In der Dunkelheitbrachte man das Brautpaar durch den Schnee lachend undschreiend wieder den Berg hinauf ins Dorf zurück, wo bei„Stürmers“ die Hochzeitskammer für sie gerichtet war. Dassalle sie bis vor die Tür dieses Zimmers brachten, war demBrautpaar, das bisher kaum körperlichen Kontakt gehabt hatte,schrecklich peinlich, aber als Kindern vom Lande war ihnenalles, was zum Leben von Mann und Frau gehörte, nicht wirk-lich fremd. Und so erblickte auch neun Monate später, nochim selben Jahr, ihr erster Sohn, Peter nach seinem Vater ge-nannt, das Licht der Welt in Mittelhof.

Dies geschah aber nicht mehr im elterlichen Hause desEhemannes, denn er war unmittelbar nach der Hochzeit mitseiner Frau in eines der Häuschen gezogen, die der Besitzerder Grube Friedrich nahe Steckenstein, nur einige hundertMeter bergab, hatte errichten lassen. Diese bestanden aus ei-ner Wohnstube, zwei Kammern, Küche, Keller und einem

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Stall für Schweine, Ziege oder Kuh. Auch ein wenig Garten-land gehörte dazu. Die Miete betrug monatlich sieben Mark,was für die beiden zwar viel Geld war, aber da Toni zunächstnoch weiter in der Mühle arbeitete und sie eine der Kam-mern an einen ledigen Bergmann vermietet hatten, reichte esknapp, und man konnte sogar noch ein wenig auf die Seitelegen, denn den Entschluss, nach Köln zu gehen, hatte mankeineswegs aufgegeben.

Aber zunächst mussten sie es noch eine Weile in Mittel-hof aushalten, da weder konkrete Pläne noch genügend Er-spartes vorhanden waren, um das Dorf zu verlassen. So fuhrPeter also Tag für Tag weiter in die Grube ein und tat dortseine schwere Arbeit, allerdings bedrückte ihn die Enge dortunten nicht mehr so sehr, als hätte sich mit der Heirat seineBrust geweitet. Es war ein Ende abzusehen, irgendwann wür-de man gehen, und das machte alles erträglicher. Jede Gele-genheit, noch etwas dazu zu verdienen, nahm er wahr, und daer vor keiner Arbeit zurückscheute, auch vor der härtestenoder schmutzigsten nicht, sammelte sich Mark um Mark inder Schmuckdose von „Farina gegenüber“, dem Eau deCologne, das Toni zur Hochzeit bekommen hatte, und die siesinnigerweise zur „Umzugskasse“ erklärt hatte.

Wenn ihr Mann nach Hause kam, trat sie ihm – ganz ge-setzte Ehefrau – an der Haustür entgegen, begrüßte ihn miteinem Kuss und sprudelte dann über von dem, was sietagsüber erlebt hatte. Er, der Stillere, freute sich an ihren Er-zählungen und lachte herzlich, wenn sie von ihren Erlebnis-sen in der Mühle berichtete. Sie hatte ihm ein schmackhaf-tes Mahl zubereitet, denn kochen konnte sie, weiß Gott!Gemeinsam mit ihrem Untermieter setzten sie sich in derKüche zu Tisch, Peter sprach langsam und bedächtig das Tisch-gebet, und dann ließen sie es sich schmecken. So gewann ihr

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gemeinsames Leben sehr schnell einen vertrauten Rhythmus,der ihnen sehr behagte. Dass Toni so schnell schwanger ge-worden war, freute den Fast-Familienvater sehr, denn erwünschte sich – und da waren die beiden sich völlig einig –eine große Familie mit vielen Kindern. Sie kannten es nichtanders, und trotz der Armut hatte es ihnen wohlgetan. Gottwürde schon für sie sorgen. Da waren sie ganz sicher, darüberwurde nicht gesprochen. Das Gottvertrauen war ihnen ge-meinsam, es gehörte einfach zum Leben dazu.

Als Toni ihm nun allabendlich entgegentrat, die Hände aufden Bauch gelegt, dem man die Schwangerschaft noch garnicht ansah, wuchs er unter der Verantwortung, die er fühlte,und das machte ihn frei. Er fuhr Toni dann schon einmaldurch das blonde hochgesteckte Haar, die ihn schalt, weil ersie „verstrubbelte“, es sich aber gern gefallen ließ.

Der kleine Peter, „der Fuss“, wie er später wegen seinerrotbraunen Haare genannt wurde, kam zum Beginn des De-zember – wieder einmal lag tiefer Schnee, durch den sich dieHebamme zu ihnen kämpfen musste – sehr leicht auf dieWelt. Peter nahm ihn in seine Hände, schaute in die nochblicklosen Augen seines Erstgeborenen – und dann auch nochgleich ein Sohn – und hatte das Gefühl, dass nun alles rich-tig sei. Wie sein Vater ihn vor dreißig Jahren in den Händengehalten hatte, so tat er es heute mit seinem Kind, und so ginges immer weiter. Es war schon gut, wenn man Frau und Kindhatte, es war in der Ordnung, man gab das weiter, was manselbst erhalten hatte, so war die Welt eingerichtet. Ausdrückenhätte er das nicht können, dazu war er auch zu zurückhaltend,aber in seinem Gefühl war er ganz sicher. Wenn es nach ihmging, sollte diesem kleinen Peter bald das nächste Kind fol-gen. Das sah Toni genauso – da waren sie sich einig –, abervielleicht doch nicht so ganz, denn sie sagte unmittelbar nach

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der Geburt, die sie stolz gemacht hatte – denn nun gehörtesie dazu, zu den Erwachsenen, den Frauen, den Müttern! –,sie sagte also: „Un dat nächste weed ein Mädchen!“, ganzselbstgewiss und ohne Zweifel. Ihm war das gleichgültig, Jun-ge oder Mädchen war egal, da der Stammhalter geboren war.

So war man nun Familie noch im Jahr der Hochzeit, undToni schickte sich darein genauso schnell wie in ihre Ehe. Derkleine und der große Peter füllten ihr emotionales Leben aus,die viele Arbeit, die sie als Hausfrau hatte, die auch den Gar-ten, das Schwein und die Hühner im Koben versorgen muss-te, ging ihr leicht von der Hand.

In dem Jahr, in dem der Sohn heranwuchs und seine ers-ten zaghaften Schritte tat, sorgte Toni unermüdlich für ihreLieben, und Peter kümmerte sich um ihre Zukunft. Bis inden Westerwald hatte es sich herumgesprochen, dass die Preu-ßische Staatsbahn dringend junge Leute suchte, die nach kur-zer Anlernzeit die Arbeit bei ihr aufnahmen. So hatte er sichauf den Weg nach Köln gemacht, da in Deutzerfeld, auf derlinken Rheinseite, ein Knotenpunkt verschiedener Eisenbahn-linien entstanden war. Nachdem er sichergestellt hatte, dass esfür ihn gute Möglichkeiten gab, bei „der Bahn“ zu arbeitenund auch aufzusteigen, beschlossen Toni und er, den Umzugzu wagen und ein neues Leben in der Stadt zu beginnen. Er-neut war er dorthin aufgebrochen, um eine Unterkunft für diekleine Familie zu finden, die sich aber bald vergrößern wür-de, denn Toni war erneut schwanger. Wichtig war, dass er seineArbeitsstelle zu Fuß erreichen konnte und die Miete nichtallzu hoch war, deshalb schaute er sich in der „Humboldt-Kolonie“ um, die zu Deutz gehörte. Dieser Stadtteil entwi-ckelte sich gerade zu dieser Zeit sehr schnell. Noch vor knappzwanzig Jahren waren hier überall Äcker und Wiesen gewe-sen, aber mit der wachsenden Industrie zogen immer mehr

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Leute vom Land in die Stadt, für die Wohnraum geschaffenwerden musste. Und so hatte die Maschinenbau AGHumboldt in Köln-Kalk im freien Feld südlich des Firmen-geländes Grundstücke gekauft. An schnurgeraden Straßenwurden auf rechtwinkligen Grundstücken Eigenheime errich-tet, denen zur Jahrhundertwende mehrgeschossige Mietshäu-ser folgten.

In einem dieser Häuser fand Peter eine Wohnung, die fürserste reichen musste, und damit war der Umzug beschlosse-ne Sache. Nichts konnte sie mehr davon abbringen, weder dieÄngste der Eltern, die ihnen Grauenvolles in der „Großstadt“,denn eine solche war Köln ja mittlerweile, voraussagten, nochLouises Tränen, die mit Peter ihren Lieblingsbruder und mitToni eine gute Freundin verlor, bei der sie viel ihrer freienZeit verbracht hatte. Als sie sich dann eines Morgens, begleitetvon einem Großteil ihrer Familien, mit Sack und Pack auf denWeg zum Bahnhof in Niederhövels machten, dreißig Minu-ten Fußweg von ihrem Häuschen entfernt, weigerte sichLouise, mitzukommen. Sie umarmte ihren Bruder hastig unddrückte die Schwägerin kurz an sich, nur den kleinen Peterherzte und küsste sie ausgiebig, war sie doch seine Patin, danndrehte sie sich heftig ab und lief davon. Nur kurz über dieSchulter zurück blickend rief sie ihnen wütend und entschlos-sen zu: „Ich komm auch!“

Kopfschüttelnd machten sie sich auf den Weg, mit nichtallzu viel Gepäck beladen. Sie hatten nur das Notwendigstemitgenommen, Möbel mussten in Köln besorgt werden, dieeigenen hatten sie den Mietern verkauft, die das Bergmanns-häuschen bezogen.

Der Abschied war herzzerreißend, als zögen da zwei in dieweite Welt hinaus und kämen nie mehr zurück. So kam eseinigen Familienmitgliedern, die kaum über die Grenzen

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ihres Dorfes hinausgekommen waren, wahrscheinlich auchvor, denn die nur hundert Kilometer entfernte Stadt Kölnoder besser: Cöln – so sollte es nach dem Willen KaiserWilhelms II. ausschließlich geschrieben werden – schien ih-nen die Fremde schlechthin.

Und als eine solche erschien sie Toni auch, die doch sosehr auf die Abreise gewartet hatte. Mit großem Mut unddem Vertrauen, dass alles schon gut werden und Gott estatsächlich richten würde, war sie losgezogen und hatteeigentlich nie darüber nachgedacht, dass eine unbekannteWelt auf sie wartete. Die Realität brach völlig unerwartet übersie herein.

Peter, der ja eigentlich immer der Bedenkliche war, fühltesich von Anfang an wohl. Hier war Luft, hier war Weite,hier konnte er atmen! Und das gab ihm die Kraft und dieFreude für seine neue Aufgabe. Außer ihm waren viele Bau-ernsöhne, die die Großstadt ebenfalls angezogen hatte, imDeutzerfeld beschäftigt, gleich ihm von Neuanfang und Auf-stiegswillen beseelt, so dass er sehr bald Gleichgesinnte undFreunde fand und sich in eine Gemeinschaft eingebundenwusste.

Dagegen hatte Toni den Alltag in der Stadt zu bewältigen.Zwar änderte sich im Grunde nichts an ihren Aufgaben – dieArbeit der Hausfrauen, die alles ohne maschinelle Hilfen be-wältigen mussten, war immer schwer, gleichgültig ob auf demDorf oder in der Stadt –, aber es fehlte ihr die dörfliche Ver-trautheit, die Vertrautheit mit Menschen und mit der Umge-bung. Ihre kleine Wohnung lag in der zweiten Etage einesdunklen, engen Mietshauses, an das weitere Häuser grenzten.Das Gegenüber bildeten ebenfalls solche Mietwohnungen, sodass es dieses Mal Toni war, der die Luft zum Atmen fehlte.Zu Hause hatte sie nur vor die Türe treten müssen, um ein

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wenig zu plaudern oder den neuesten Klatsch zu erfahren.Jeder kannte jeden, und was ihr dort als viel zu eng erschie-nen war, wurde hier zur Sehnsucht. So konnte es geschehen,dass Peter, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, seinehochschwangere Frau – am Rockzipfel der kleine Peter, denDaumen im Mund – fast trotzig „Über deine Höhen wehtder Wind so kalt“ singen hörte, wobei sie heftig im Kohlrührte. Er strich ihr dann behutsam über das Haar. Es zu zer-zausen traute er sich nicht, denn er bemerkte oft, dass sie Trä-nen in den Augen hatte, als hätte sie nur auf ihn gewartet.Und dann erzählte sie, am Abendbrottisch, vor den gefülltenTellern, nachdem der Kleine zu Bett gebracht war und sie ihrTischgebet gesprochen hatten. Sie erzählte, wie fremd ihr dieLeute seien, die sprächen ganz anders, sie könne sie nicht ver-stehen, es seien so viele, man könne sie gar nicht richtig ken-nen lernen, und so dunkel sei es. „Mer kumme hier raus“,sagte er dann immer, und dieses Mal war er es, der die Hoff-nung hochhielt.

An den Sonntagen packten sie einen Korb mit Essen undGetränken und wanderten durch die Felder zu dem nahe ge-legenen Poll am Rhein. Dann saßen sie in den Rheinwiesen,spielten mit Peter, sahen den vorbeifahrenden Schiffenhinterher – „Guck mal, die fahren nach Haus!“ – und unter-hielten sich mit anderen. Und dann konnte Toni auch wiederlebhaft sein und lachen, ihr herrliches Lachen! Das waren dieAugenblicke, in denen Peter daran glaubte, dass alles gut wer-den würde, man müsse nur noch ein wenig darauf warten.

Allerdings begannen zunächst Tonis Migräneanfälle. Sie, dieimmer gesund gewesen war, musste sich nun häufiger nieder-legen, alles verdunkeln und ihre Übelkeit bekämpfen. Selbstum ihren Sohn konnte sie sich dann nicht kümmern, derblieb bei einer Nachbarin, mit der sie allmählich etwas ver-

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trauter wurde. Und diese Nachbarin war es auch, die ihr imSpätherbst, als die Wehen kamen, beistand, bis die Hebammedem zweiten Sohn ins Leben half, Heinrich nach seinemGroßvater aus Mittelhof genannt, in der Familie aber stetsHeinz oder eher noch „der Schmal“ gerufen. Peter freute sichüber seinen zweiten Sohn, und Toni beschloss insgeheim, „dasnächste“ werde ein Mädchen sein.

Der Familienvater begann als Hilfsbremser zu arbeiten, eineTätigkeit, die ihn nicht forderte, aber sehr schnell stieg er aufzum Bremser und wurde dann als Zugführer verbeamtet. Toniwidmete sich ihren Kindern, kämpfte mit dem Heimweh undgewöhnte sich nur ganz allmählich an dieses so andere Lebenin der Stadt. Es dauerte lange, bis ihr Lachen wieder durch dieWohnung scholl, eigentlich bis sie 1914 ihr eigenes Haus be-zogen hatten, da fand sie zu ihrer selbstgewissen Heiterkeitzurück.

Der dritte Sohn, 1911 geboren, hätte wieder ein Mädchensein sollen, wurde aber ein Josef, „der Stief“, weil er sichmerkwürdig ungelenk bewegte als kleines Kind.

1913 war sie erneut schwanger, aber der vierte Sohn Walterstarb nach wenigen Monaten am Fieber, was sie monatelangnicht verkraftete, bildete sie sich doch ein, sie hätte ihn zuHause – noch immer war das der Westerwald – retten kön-nen, da war nicht solch eine „schlechte Luft“ wie in der Stadt.Trost brachte ihr ein weiterer Sohn 1914, Franz oder „derGries“ wegen seiner fast weißen Haare. Ihn liebte sie mit ei-ner unendlichen Zärtlichkeit, das Geschenk, das ihr nach derErfahrung des Todes eines ihrer Kinder gegeben worden war.Diese Erfahrung hatte sie angreifbarer gemacht, tiefer und wei-cher. Franz war der einzige ihrer Söhne, bei dem sie wedergedacht noch gesagt hatte: „Dat nächste weed ein Mädchen.“Das wäre ihr dann doch zu verwegen vorgekommen.