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Barbara Hannigan dirigiert György Ligeti »Atmosphères« 4. JUGENDKONZERT DER SAISON 2015/16 am Donnerstag, 28. April 2016 19 Uhr in der Philharmonie im Gasteig GYÖRGY LIGETI - geboren am 28. Mai 1923 in Târnăveni, Siebenbürgen (Rumänien) als Sohn ungarischer Eltern - gestorben am 12. Juni 2006 in Wien - einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts - neue Kompositionsweise: Klangflächenkomposition - wichtige Werke: »Apparitions«, »Atmosphères« und »Lontano« für Orchester, die Oper »Le Grand Macabre«, das Chorwerk »Lux aeterna«, »Poème Symphonique« »Meine Muttersprache ist Ungarisch, ich bin aber kein ganz echter Ungar, denn ich bin Jude. Doch ich bin kein Mitglied einer jüdischen Religionsgemeinde, also bin ich assimilierter Jude. So völlig assimiliert bin ich indessen auch nicht, denn ich bin nicht getauft. Heute, als Erwachsener, lebe ich in Österreich und in Deutschland und bin seit langem österreichischer Staatsbürger. Echter Österreicher bin auch aber auch nicht , nur ein Zugereister, und mein Deutsch bleibt lebenslang ungarisch gefärbt.« (György Ligeti, 1986) »Seine kommunikative Energie war überwältigend, in den Bann schlagend, visionär, verzaubernd… In dieser drahtigen Gestalt mit der knarzenden Stimme, unverkennbar ungarisch gefärbt, schien Musikgeschichte wie Lava zu brodeln. Ligeti konnte als Redner wie Musiker sein Publikum mitreißen wie kein anderer der großen Komponisten der vergangenen 50 Jahre – aber er konnte auch schweigen: 1961 hielt er einen berühmt gewordenen Vortrag zum Thema ›Die Zukunft der Musik‹ und sagte kein einziges Wort.« (Reinhard J. Brembeck, Süddeutsche Zeitung, 13. Juni 2006) BIOGRAPHIE György Ligeti wird 1923 in einem kleinen Städtchen im rumänischen Siebenbürgen als Sohn ungarischer Juden geboren. Als er sechs Jahre alt ist, zieht die Familie nach Klausenburg, der zweitgrößten Stadt Rumäniens, wo György die Volksschule und das Gymnasium besucht. Die Musik spielt in der Familie keine große Rolle. Erst als ein Lehrer entdeckt, dass Györgys jüngerer Bruder Gábor das absolute Gehör hat und er deshalb Geigenunterricht bekommt, kann György bei seinen Eltern durchsetzen, Klavierstunden nehmen zu dürfen. Nach wenigen Wochen Klavierunterricht beginnt György zu komponieren, ein Streichquartett und Teile einer Symphonie entstehen. Neben dem Klavier lernt er auch noch das Pauken- spiel und wird als Pauker Mitglied in einem Laienorchester. Ab 1933 setzen sich auch in Rumänien antisemitische Diskriminierungen immer mehr durch. Das bekommt auch György Ligeti zu spüren, der nach seinem Abitur 1941 Mathematik und Physik studieren möchte, aber aufgrund seiner jüdischen Abstammung an der Universität nicht zugelassen wird. Stattdessen beginnt er ein Musikstudium am Klausen- burger Konservatorium. 1944 wird er zum Arbeitsdienst in die ungarische Armee eingezogen, nach einer abenteuerlichen Flucht und einem zweiwöchigem Fußmarsch kehrt er nach Klausenburg zurück. In der Zwischenzeit wurde seine Familie in Konzentrationslager verschleppt. Sein Vater und sein Bruder kommen dort um, seine Mutter überlebt das KZ Auschwitz. Nach Ende des Krieges zieht György Ligeti nach Budapest, um dort am Konservatorium weiter zu studieren. 1949, nach seinem Examen, reist er wie Béla Bartòk und Zoltán Kodály, als Volksliedforscher durch Ungarn und Rumänien. Kurz darauf erhält er eine Stelle als Dozent für Musiktheorie am Budapester Konservatorium.

György Ligeti »Atmosphères« · PDF fileGyörgy Ligeti »Atmosphères ... vierfachen Piano zum vierfachen Forte anschwillt. Originell gestaltet ist die 17. Sektion, in der die Blechbläser

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Page 1: György Ligeti »Atmosphères« · PDF fileGyörgy Ligeti »Atmosphères ... vierfachen Piano zum vierfachen Forte anschwillt. Originell gestaltet ist die 17. Sektion, in der die Blechbläser

Barbara Hannigan dirigiert

György Ligeti

»Atmosphères«

4. JUGENDKONZERT DER SAISON 2015/16

am Donnerstag, 28. April 2016

19 Uhr

in der Philharmonie im Gasteig

GYÖRGY LIGETI

- geboren am 28. Mai 1923 in Târnăveni, Siebenbürgen

(Rumänien) als Sohn ungarischer Eltern

- gestorben am 12. Juni 2006 in Wien

- einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts

- neue Kompositionsweise: Klangflächenkomposition

- wichtige Werke: »Apparitions«, »Atmosphères« und

»Lontano« für Orchester, die Oper »Le Grand Macabre«, das

Chorwerk »Lux aeterna«, »Poème Symphonique«

»Meine Muttersprache ist Ungarisch, ich bin aber kein ganz

echter Ungar, denn ich bin Jude. Doch ich bin kein Mitglied

einer jüdischen Religionsgemeinde, also bin ich assimilierter

Jude. So völlig assimiliert bin ich indessen auch nicht, denn ich

bin nicht getauft. Heute, als Erwachsener, lebe ich in Österreich

und in Deutschland und bin seit langem österreichischer

Staatsbürger. Echter Österreicher bin auch aber auch nicht , nur

ein Zugereister, und mein Deutsch bleibt lebenslang ungarisch

gefärbt.« (György Ligeti, 1986)

»Seine kommunikative Energie war überwältigend, in den Bann

schlagend, visionär, verzaubernd… In dieser drahtigen Gestalt

mit der knarzenden Stimme, unverkennbar ungarisch gefärbt,

schien Musikgeschichte wie Lava zu brodeln. Ligeti konnte als

Redner wie Musiker sein Publikum mitreißen wie kein anderer

der großen Komponisten der vergangenen 50 Jahre – aber er

konnte auch schweigen: 1961 hielt er einen berühmt

gewordenen Vortrag zum Thema ›Die Zukunft der Musik‹ und

sagte kein einziges Wort.« (Reinhard J. Brembeck, Süddeutsche

Zeitung, 13. Juni 2006)

BIOGRAPHIE

György Ligeti wird 1923 in einem kleinen Städtchen im

rumänischen Siebenbürgen als Sohn ungarischer Juden

geboren. Als er sechs Jahre alt ist, zieht die Familie nach

Klausenburg, der zweitgrößten Stadt Rumäniens, wo György die

Volksschule und das Gymnasium besucht. Die Musik spielt in

der Familie keine große Rolle. Erst als ein Lehrer entdeckt, dass

Györgys jüngerer Bruder Gábor das absolute Gehör hat und er

deshalb Geigenunterricht bekommt, kann György bei seinen

Eltern durchsetzen, Klavierstunden nehmen zu dürfen. Nach

wenigen Wochen Klavierunterricht beginnt György zu

komponieren, ein Streichquartett und Teile einer Symphonie

entstehen. Neben dem Klavier lernt er auch noch das Pauken-

spiel und wird als Pauker Mitglied in einem Laienorchester.

Ab 1933 setzen sich auch in Rumänien antisemitische

Diskriminierungen immer mehr durch. Das bekommt auch

György Ligeti zu spüren, der nach seinem Abitur 1941

Mathematik und Physik studieren möchte, aber aufgrund seiner

jüdischen Abstammung an der Universität nicht zugelassen

wird. Stattdessen beginnt er ein Musikstudium am Klausen-

burger Konservatorium. 1944 wird er zum Arbeitsdienst in die

ungarische Armee eingezogen, nach einer abenteuerlichen

Flucht und einem zweiwöchigem Fußmarsch kehrt er nach

Klausenburg zurück. In der Zwischenzeit wurde seine Familie in

Konzentrationslager verschleppt. Sein Vater und sein Bruder

kommen dort um, seine Mutter überlebt das KZ Auschwitz.

Nach Ende des Krieges zieht György Ligeti nach Budapest, um

dort am Konservatorium weiter zu studieren. 1949, nach seinem

Examen, reist er wie Béla Bartòk und Zoltán Kodály, als

Volksliedforscher durch Ungarn und Rumänien. Kurz darauf

erhält er eine Stelle als Dozent für Musiktheorie am

Budapester Konservatorium.

Page 2: György Ligeti »Atmosphères« · PDF fileGyörgy Ligeti »Atmosphères ... vierfachen Piano zum vierfachen Forte anschwillt. Originell gestaltet ist die 17. Sektion, in der die Blechbläser

Unter dem Einfluss der Sowjetunion war Ungarn ab 1948

politisch und kulturell vom Westen völlig abgeschnitten. Alle

Kunstschaffenden sollten sich der Ästhetik des »sozialis-

tischen Realismus« unterwerfen. Dies bedeutete, dass nur

leicht verständliche, massentaugliche, mit politischer

Propaganda verknüpfte Werke erlaubt waren. Zeitgenössische

westliche Kunst war verboten. Diesen Vorgaben wollte sich

Ligeti nicht unterwerfen. Er komponierte fortan für die

Schublade und hörte heimlich westliche Radiosender, um sich

über die aktuelle westliche Musik zu informieren. Nachdem der

ungarische Volksaufstand im November 1956 durch sowjetische

Truppen niedergeschlagen wurde, flieht György Ligeti mit seiner

späteren Ehefrau Vera über die grüne Grenze nach Österreich.

Rückblickend nennt sich Ligeti einen »doppelt Geschädigten«,

geschädigt durch den Nationalsozialismus und den

Kommunismus. Zeit seines Lebens ist er ein glühender

Verfechter der Demokratie und ein ausgesprochener Gegner

aller Arten von Ideologien und Diktaturen.

Über Wien gelangt György Ligeti 1957 nach Köln, um am Studio

für elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks zu

arbeiten. Dort kommt e in Kontakt mit den bedeutendsten

Komponisten der Avantgarde, wie Karlheinz Stockhausen,

Bruno Maderna und Pierre Boulez. Der Durchbruch als

Komponist gelingt György Ligeti allerdings nicht mit

elektronischer Musik sondern mit den Orchesterwerken

»Apparitions« und »Atmosphères«, in denen er durch das

Komponieren von Klangflächen faszinierende neue Klangwelten

gestaltet.

Als Dozent unterrichtet György Ligeti bei den Darmstädter

Ferienkursen, an der Stockholmer Musikhoschschule, an der

Stanford University in Kalifornien und von 1973 bis 1989 als

Professor für Komposition an der Musikhochschule in

Hamburg. Sowohl als Professor als auch als Komponist prägt

er maßgeblich die internationale zeitgenössische Musik. Am 12.

Juni 2006 stirbt Ligeti in Wien.

»2001: ODYSSEE IM WELTRAUM«

Der preisgekrönte Film »2001: Odyssee im Weltraum« von 1968

beginnt mit Klängen aus Ligetis »Atmosphères«. Später im Film

lässt Regisseur Stanley Kubrick den Astronauten Bowman

Minuten lang in einem Farbrausch durch die unendlichen Weiten

des Weltraums rasen, untermalt wiederum mit Ausschnitten aus

Ligetis »Atmosphères«. Nicht nur der Film, sondern auch der

Soundtrack schrieb Filmgeschichte. Allerdings hatte Kubrick den

damals jungen und nur in Fachkreisen bekannten Komponisten

weder kontaktiert, noch um Erlaubnis gebeten, seine Musik

verwenden zu dürfen. In einem Interview aus dem Jahr 2001

berichtet Ligeti: »Ich habe im Frühjahr 1968 einen Brief von

einem New Yorker Bekannten bekommen. Darin stand, es gäbe

einen unglaublichen Science-Fiction-Film von Kubrick mit

meiner Musik. Ich habe Kubrick nie persönlich getroffen,

obwohl er meine Musik öfters verwendet hat [in »The

Shinning« und »Eyes Wide Shut«]. Dafür bin ich dankbar, weil

ich ihn für ein Genie halte.« Obwohl eine klare Urheber-

rechtsverletzung vorlag, weigerten sich die MGM Studios, Ligeti

ansprechend zu entlohnen. Er wurde mit einer einmaligen

Zahlung von 3.000 Dollar abgespeist.

»POÈME SYMPHONIQUE«

Gespannt erwartete am 13. September 1963 das Publikum im

Rathaussaal der niederländischen Stadt Hilversum die Urauf-

führung von Ligetis »Poème Symphonique«. Nicht nur der

romantisch anmutende Titel des neuen Werks, auch die festlich

in Frack gekleideten »Musiker« weckten beim Publikum eine

gewisse Erwartung, mit der Ligeti wohl gerechnet hatte, um sie

… nicht zu erfüllen. Denn die einzigen Instrumente, die hier

benötigt werden, sind 100 Metronome – eingestellt auf

verschiedene Tempi. Das Publikum reagierte mit großer

Empörung, die für einen Tag später geplante Sendung der

Fernsehaufzeichnung wurde per Beschluss verhindert –

stattdessen zeigte man Fußball.

Page 3: György Ligeti »Atmosphères« · PDF fileGyörgy Ligeti »Atmosphères ... vierfachen Piano zum vierfachen Forte anschwillt. Originell gestaltet ist die 17. Sektion, in der die Blechbläser

»ATMOSPHÈRES«

Das Orchesterwerk »Atmosphères« entstand zwischen Februar

und Juli 1961. Die revolutionär neue Gestalt dieses Werks

erklärte Ligeti folgendermaßen:

»Ich nahm mir vor, in meinem nächsten Werk die Dualität von

klaren Einzelgestalten und dichten Verschlingungen aus-

zuschalten und die musikalische Form nur aus dem klanglichen

›Hintergrund‹ hervorgehen zu lassen, wobei dieser ›Hinter-

grund‹ nicht mehr als solcher bezeichnet werden kann, da kein

›Vordergrund‹ mehr vorhanden ist. Es handelt sich nun um ein

den ganzen musikalischen Raum gleichmäßig ausfüllendes

feinfaseriges Gewebe, dessen interne Bewegungen und

Veränderungen die Artikulation der Form bestimmen.«

Beim Hören von »Atmosphères« drängt sich der Eindruck von

»stehender Musik« auf. Verschiedene statische Klangflächen

scheinen sich abzuwechseln, Klanggebilde, die sich in

Ausdehnung, Schwere, Farbe und Dichte unterscheiden. Es

überwiegt ein stehendes Schimmern, Flirren, Irisieren. Einzelne

Tonhöhen oder gar ein Rhythmus scheinen nicht mehr zu

existieren. Dabei passiert so einiges in der Partitur! »Die Musik

verläuft kontinuierlich, sie verändert sich stetig, aber nur

langsam und irgendwie unauffällig« (Constantin Floros). Im

Vergleich zu den Werken seiner Zeitgenossen hatte Ligeti etwas

bahnbrechend Neues geschaffen.

Komponiert ist »Atmosphères« für 88 Instrumente. Abschnitts-

weise werden auch die Streichergruppen in individualisierte

Einzelstimmen aufgeteilt. Das Werk ist in 22 Abschnitte unter-

schiedlicher Dauer gegliedert, wobei der letzte Abschnitt nur

aus Stille besteht. Für alle 22 Sektionen hat Ligeti die genaue

Dauer in Sekunden angegeben, z.B. Sektion 1 = 48 Sek.,

Sektion 5 = 6 Sek., Sektion 21 = 71 Sek.

Fast alle Abschnitte basieren auf »dichten chromatischen

Clustern«. Unter »Cluster« versteht man ein Klanggebilde aus

nahe beieinanderliegenden Tönen – wie wenn man auf dem

Klavier mit der flachen Hand oder dem Unterarm mehrere

Tasten gleichzeitig drückt. Diese Cluster sind bei Ligeti

permanent in Veränderung, sie werden geweitet oder verengt

und in unterschiedliche Register geführt. Dies verdeutlicht die

unten abgebildete Graphik, die den jeweiligen Clusterbereich

(also welche Töne in welcher Lage verwendet werden)

schematisch darstellt. Während in manchen Sektionen die nur

aus tiefen Tönen bestehen, z.B. die Sektionen 8 (nach G), sind

andere Sektionen sehr breit aufgestellt, wie z.B. Sektion 3

(nach B) oder verändern sich, wie Sektion 6 (nach E) oder 15

(nach N).

Über die Möglichkeiten, wie die stehenden Klangflächen

unterschiedlich gestaltet werden können, machte sich Ligeti zu

Beginn der Komposition Gedanken und arbeitete dabei drei

verschiedene Grundtypen heraus:

1. stehende Flächen: Damit sind unveränderliche, stationäre

Klanggebilde gemeint, die sich aber in Lautstärke und

Klangfarbe verändern können.

2. vibrierende Flächen: Für eine leichte Bewegung, ein

Flirren oder Schimmern sorgen Triller, Tremolo oder andere

kleingliedrige Figurationen.

3. mosaikartige Texturen: Hier werden die Linien in

»Stückchen« (so Ligeti) aufgelöst, so dass auch das Partiturbild

einem Mosaik ähnelt.

Page 4: György Ligeti »Atmosphères« · PDF fileGyörgy Ligeti »Atmosphères ... vierfachen Piano zum vierfachen Forte anschwillt. Originell gestaltet ist die 17. Sektion, in der die Blechbläser

In der Mitte des Stücks, zwischen der 7. und der 8. Sektion, gibt

es eine deutliche Kontrastbildung, ein bildhafter »Absturz« in

der Musik. Während sich in der 7. Sektion (nach F) vier

Piccoloflöten, vier Oboen, vier Klarinetten und vier Trompeten

nach oben schrauben und schließlich in schriller, extrem (fast

schon schmerzhaft) hoher Lage spielen, stürzt die Musik mit

Beginn der 8. Sektion über sechseinhalb Oktaven jäh in die

Tiefe. Acht Kontrabässe spielen im vierfachen Forte einen

achttönigen Cluster – die Spielanweisung lautet con tutta la

forza!

Was in den Buchstaben H und I folgt, ist ein hochkomplexer,

56-stimmiger Doppelkanon, wobei drei unterschiedliche

Geschwindigkeiten übereinander geschichtet werden. Die

einzelnen Stimmen sind nicht mehr wahrzunehmen, da sie viel

zu engmaschig verstrickt sind, aber man gewinnt den Eindruck

eines fein strukturierten, in sich kreisenden Geflechts – ein

treffliches Beispiel für Ligetis mikropolyphone Technik!

Der Lautstärken-Höhepunkt tritt in Sektion 14 ein (nach M). Die

Blechbläser spielen einen zwölftönigen Cluster, der vom

vierfachen Piano zum vierfachen Forte anschwillt.

Originell gestaltet ist die 17. Sektion, in der die Blechbläser in

ihre Instrumente »ohne Tonerzeugung sehr zart hineinblasen«

sollen. Erstmals tritt das Klavier hinzu, das den luftigen

Bläserklang mit Streichen über die Saiten unterstützt.

In der 18. und 19. Sektion schreibt Ligeti den Streichern eine

sehr ausdifferenzierte Spielweise vor. Gleichzeitig spielen die

einen Streicher mit Dämpfer, die anderen ohne, ein Teil auf dem

Griffbrett, ein anderer Teil am Steg oder mit der Bogenstange

statt den Haaren (col legno). Kurz darauf, in Sektion 20 (nach

T), wird der Klang immateriell, atmosphärisch, wenn die 56

Streicher ausschließlich Flageolettglissandi spielen. Am Ende

entschwindet die Musik mit Klaverklängen im Nichts.

Am 22. Oktober 1961 wurde »Atmosphères« bei den

Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt – mit sensationellem

Erfolg. Das Publikum war so begeistert, dass es lautstark eine

Wiederholung einforderte. Solch eine positive Reaktion der

Zuhörer hatte man bei zeitgenössischer avantgardistischer

Musik noch nie erlebt.

CLIP-TIPP

Eine grafische Aufbereitung von »Atmosphères« mit

Frequenzbereichen, Tonumfang und Lautstärkenamplituden

bietet folgendes Video:

https://www.youtube.com/watch?v=JWlwCRlVh7M

Autorin: Christine Möller

HÖREN UND VERSTEHEN

Aufgabe 1

Höre dir »Atmosphères« an. Versuche die einzelnen Sektionen

den drei Grundtypen (liegende Flächen, vibrierende Flächen

und mosaikartige Texturen) zuzuordnen. Wie unterschiedlich

gestaltet Ligeti die Übergänge/Wechsel von einer Sektion in die

nächste?

Aufgabe 2

Ligeti arbeitet in »Atmosphères« viel mit Entwicklungen und

Veränderungen in der Dynamik (=Lautstärke). Erstelle von den

letzten drei Minuten des Werks ein Amplituden-(=Lautstärken)

Diagramm.

Aufgabe 3

Aus der Elektronischen Musik stammt der Begriff »weißes

Rauschen«. An welchen Stellen versucht Ligeti das elektronisch

produzierte »Rauschen« mit Orchesterinstrumenten

nachzuahmen?

Aufgabe 4

Welchen künstlerischen Wert hat Ligetis Musik? Was macht sie

einzigartig, ansprechend und interessant – oder ist sie das gar

nicht? Warum wird diese Musik, die vor über 50 Jahren

komponiert wurde, heute noch und immer wieder aufgeführt?

Warum war das Publikum bei der Uraufführung so begeistert?

Welche Hörerfahrungen der heutigen Hörer helfen dabei, das

Werk zu verstehen zu akzeptieren?

Literatur:

Constantin Floros: György Ligeti – Jenseits von Avantgarde und Post-

moderne, Wien 1996.

Wolfgang Burde: György Ligeti – Eine Monographie, Zürich 1993.

Ulrich Dibelius: Ligeti – Eine Monographie in Essays, Mainz 1994.

Abbildungen:

1 György Ligeti 1958, aus Wolfgang Burde: György Ligeti – Eine

Monographie, Zürich 1993.

2 György Ligeti – Poème Symphonique, aus: Ulrich Dibelius: Ligeti – Eine

Monographie in Essays, Mainz 1994.

3 »Atmosphères« - Diagramm zur Textur in Bezug auf den Verlauf, aus:

Constantin Floros: György Ligeti – Jenseits von Avantgarde und Post-

moderne, Wien 1996.

4 György Ligeti 1984, wikimedia commons