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Dalai Lama

Das kleine Buchder Harmonie

Aus dem Englischenvon Bernardin Schellenberger

Dalai Lama-Umbruch.qxd:Innenteil 06.06.2018 9:04 Uhr Seite 3

Titel der Originalausgabe

The Dalai Lama’s Little Book of Mysticism.The Essential Teachings

Copyright © 2017 by Renuka Singh andHis Holiness the Dalai Lama

Hampton Roads Publishing Company, Inc.Foreword copyright © 2017 Robert Thurman

Deutsche Erstausgabe

Für die deutsche Ausgabe© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018

Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de

© Vignetten: Arnold & Domnick GbR, LeipzigSatz: Dtp-Satzservice Peter Huber, Freiburg

Herstellung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN Print 978-3-451-38024-2ISBN E-Book 978-3-451-81449-5


Inhalt

Vorwort von Robert Thurman 7

Zur Einführung von Renuka Singh 15

Auf dem Pfad zur Harmonie – 140 Wegmarken 25

Die drei Hauptaspekte des Wegs 95

Kleines Glossar 153

Danksagung 175



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Vorwortvon Robert Thurman

Der Shakya-Mönch Tenzin Gyatso, der Große Vier-zehnte Dalai Lama von Tibet, kommt mir so vor, alssei er genau das,was Shakyamuni Buddha selbst wäre,falls dieses vermutlich schon lange verstorbene Buddha-Wesen in diesem Augenblick seiner Geschichte wiederauf diesem Planeten in seinem eigenen Buddha-Landnamens Sah („das Erträgliche“) in einer Emanationauftreten würde. Das heißt, der Dalai Lama verfügtüber die volle Weisheit bezüglich der Wirklichkeiten,mit denen er sich beschäftigt. Er ist unermüdlich mit-fühlend mit allen uns leidenden Wesen, die gegen dieanscheinend unbezähmbaren Kräfte des Egoismus undder Selbstsucht ankämpfen, welche den bewohnbarenLebensraum auf diesem Planeten zerstören; und er istmakellos kompetent in seinen Gedanken, Worten undphysischen Taten, da er angetrieben ist von der spon-tanen und hochkomplizierten Kunst, die die Wesen indie Möglichkeit ihrer eigenen Befreiung vom Leideneinführt.

Was von Tsongkhapa (1357–1419), dem geliebtenLehrer von Gendun Drubpa (1391–1474) – der erstenformell (wenn auch im Rückblick) anerkannten Inkar-


nation des Dalai Lama in Tibet – gesagt wurde, dasgilt auch von unserem Dalai Lama Tenzin Gyatso:

Du bist Avalokiteshvara, der große Schatzbedingungsloser Liebe, Mañju hr gho ha,Prinz der makellosen intuitiven Erkennt-nis, undVajrapa i, mystischer Herr, Erobe-rer der Schar der Dämonen – o Tsong-khapa, Kronjuwel der erleuchteten Weisendes Schneelands, ich verbeuge mich tiefzu deinen Füßen, ruhmreicher gutherzigerLosang Drakpa!

Wiederum habe ich die Ehre und bin erfreut, eine gan-ze Anzahl von äußerst nützlichen, prägnanten Lehrendes guten Freunds von uns allen, Seiner Heiligkeit desDalai Lama, kunstfertig gesammelt und aufgereihtvon Dr. Renuka Singh, willkommen zu heißen. Dasbeste Inbild des „Guru“ in der indischen und tibeti-schen Tradition ist genau der „gute Freund“(auf Sans-krit kalya

_namitra; tibetisch geway shenyen oder Ges-

hey), mit dem die Tatsache hervorgehoben wird, dasswir uns mithilfe von kundigen und tugendhaften Freun-den vom Leiden erretten müssen, statt nur nach gött-lichen oder menschlichen Autoritäten Ausschau zu hal-ten, die uns retten könnten.

VORWORT


Die schlechte Nachricht für uns zaghafte Suchernach Zuflucht ist, dass uns kein göttliches oder mensch-liches Wesen, so groß und mächtig es auch sein mag,aus den anscheinend endlosen Leiden zu erretten ver-mag, die uns ständig aufgebürdet werden, und zwarwegen unseres falschen Verständnisses unserer Bezie-hung zu einem scheinbar fremden Universum. Die gu-te Nachricht – die wirklich gute – ist, dass wir bereitsanfangslos von der segensreichen Freiheit einer letztenWirklichkeit umfasst sind, die mit ihrer alles erhalten-den Energie von grenzenloser Fülle ist. So haben wirtatsächlich die Möglichkeit und Fähigkeit, uns von un-serem falschen Verständnis dieser Wirklichkeit zu be-freien, das die Ursache dafür ist, dass wiruns fürchten und kämpfen und uns von ih-ren Segnungen ausschließen – und das kannuns mit der Hilfe der guten Freunde (erleuch-teter Wesen) gelingen, die bereits zumindest ein Stückweit ihr eigenes falsches Verständnis und ihre Angst inWeisheit und Liebe umgewandelt haben.

Aus den guten uns heute umgebenden Freundenragt der brillante, gutherzige und kompetente DalaiLama hervor, als außergewöhnlich effizient mit seinerMeisterschaft in der Kunst, uns die Augen zu öffnen,unsere Einsicht zu erweitern und unsere Herzen mitder Energie dafür zu erfüllen, unsere verworrenen Vor-stellungen zu durchschauen, zu entdecken, was offen-

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sichtlich in Schönheit vor uns leuchtet, und uns auf-stehen zu helfen aus unseren deprimierten und bitte-ren Gedanken der Unzufriedenheit mit uns selbst undunserer Hoffnungslosigkeit, wir könnten mit anderennicht auf die gütigen und liebevollen Weisen in Be-ziehung treten, die uns erleichtern würden. Er selbstist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie fröhlich derMensch sein kann, und das sogar in großer Widrigkeit,denn er war ja unaufhörlich seitens mächtiger Feindeextremer Misshandlung ausgesetzt, von der man an-nehmen müsste, dass man davon traumatisiert, mitWut erfüllt, von Angst geplagt und bar aller Hoffnungsein müsste. Aber sein Geheimnis lautet:

Für Buddhisten ist das Nirvana, der wah-re Zustand des Aufhörens alles Leidens,die eigentliche Zuflucht. Es ist unser un-disziplinierter Geisteszustand, der unserLeiden verursacht.Wenn wir die Ursachendes Leidens ausmerzen können, erreichenwir den Zustand der Befreiung oder desNirvana oder ein wahres und andauerndesGlücklichsein, eine wahre Harmonie.

Der Mensch wird „Buddhist“, indem er „Zufluchtnimmt“. Aber aus Hochachtung gegenüber anderenReligionen ist der Dalai Lama nicht auf Konvertiten

VORWORT


aus, er drängt also niemanden, Buddhist zu werden.Doch in diesem kurzen Spruch aus dem Werk weiterunten, der ausdrücklich „für Buddhisten“ gedacht ist,und der besagt, man solle andere nicht mit Macht un-ter Druck setzen, verrät er, warum er glücklich bleibt,ganz gleich, mit wie vielen Schwierigkeiten er und seinVolk leben müssen. Er hat sich an die Entdeckung derLehre des Buddha gehalten und herausgefunden, dassunsere Wirklichkeit selbst ja der „Zustand“ des Nir-vana ist, der Freiheit vom Leiden und des wahrenGlücks – das „anhaltend“ insofern ist, als es sogarüber Schmerz und Tod hinausgeht. So finden wir ein-fach dadurch, dass wir unseren Geist ändern, dieRealität erkunden und deren wahre Natur entdecken,die echte Zuflucht vor dem Leiden. Dazu brauchenwir gar nicht „Buddhisten werden“!

Beim Gedanken an diesen kleinen Spruch kommtmir in den Sinn, wo ich meine kürzeste Antwort aufdie häufige Frage „Was ist Buddhismus?“ gelernt habe.Ich sage jetzt immer bloß: „Buddhismus ist schlichtund einfach Realismus!“ Denn was Buddha aufging,hatte nichts mit einer religiösen Glaubensüberzeugungzu tun, sondern er entdeckte einfach die Tatsache, dasswir desto glücklicher werden, je realistischer wir sind.Manche Menschen sagen: „Nichtwissen macht glück-lich“, weil sie der Auffassung sind, dass die Realitäterschreckend und letztlich entsetzlich sei. Buddha und

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VORWORT

der Dalai Lama sagen: „Die Realität ist Glück, unddeshalb verursacht Nichtwissen Leiden; Wissen be-siegt das Nichtwissen, und so ist tatsächlich WeisheitGlück!“

Wenn man die scheinbar einfachen Aussprüche, dieDr.Renuka Singh zusammengestellt hat, eine Zeit langmit einem gewissen Maß an Konzentration auf sichwirken lässt, erschließen sie eine solche Sinntiefe, dasssie Weisheit aufblitzen lassen und damit Ihr Glücklich-sein steigern.

Die dieses Werk abschließende Kostbarkeit sind diedrei Grundsätze des Wegs: entsagende Transzendenz –ein sicherer Ausdruck des Mitgefühls mit sich selbst,wobei man sich vom Zwang des Gefühls löst, manmüsse eine Fülle von Beziehungen, Reichtum, Ruhm,Erfolg usw. anhäufen, und sich deshalb auf den Zweckdes Lebens konzentrieren kann; ein allumfassendes

Mitgefühl mit anderen – indem man seinEmpfinden, mit anderen identisch zu sein,ausweitet und schließlich alle umfasst, und

dabei das Elend der Beschäftigung mit sichselbst gegen die Freude eintauscht, anderen mit liebe-voller Hingabe zugetan zu sein; und – das wichtigstevon allem – die Quelle einer solchen Liebe: realistischeWeisheit, die mangelhafte Kenntnis durchschaut unddie glückliche Realität der Dinge erkennt, sowie diemutige und positive Einstellung, die sie fördert.


Alles in allem sind also die drei Grundsätze die fol-genden: erstens die echte Liebe seiner selbst, indem mansich von allem Müll und allen Ablenkungen frei machtund darauf konzentriert, seinen Zweck als Mensch zufinden, indem man sich vom Leiden befreit; zweitensdie echte Liebe zu anderen, die einem ganz natürlichaus dem Herzen heraus überquillt, wenn man die Er-leichterung empfindet, einen transzendenten Zweck zufinden und sich recht scharf dessen bewusst zu wer-den, wie dringend die meisten anderen Menschen dieseArt von echter Erleichterung brauchen, genau wie dasbei einem selbst der Fall war; und schließlich die Ent-deckung der Quelle aller Liebe in der Realität selbst,wie sie sich in irrtumsfreien kritischen Blicken auf dietranszendierende Weisheit offenbart,welche irreführen-de mentale Gewohnheiten bezüglich des Selbst und derWelt durchschaut und zu jener glückseligen Freiheitdurchbricht, die jene Realität ist, die man als diejenigeerkennt, die schon immer für einen, in einem und inallen anderen dagewesen ist.

Was Sie, liebe Leserinnen und Leser, also in diesemkleinen Buch vor sich haben, ist nicht weniger als einRezept zur Besserung Ihres Lebens entweder auf ganzbescheidene Weise oder auch auf weitreichende Wei-sen. Von Tsongkhapa selbst stammt der denkwürdigeSpruch: „Von allen Taten des Buddha ist die Tat derRede die höchste!“ So mag der „Mystiker“ unter man-

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chen Umständen zuweilen im Schweigen verharren, ge-wöhnlich aus Sorge, jemand könne ihn oder sie falschverstehen, aber dennoch sind Worte von vitaler Bedeu-tung dafür, die Tür in Richtung jener tiefen Wirklich-keit zu öffnen, die immer verlässlich ist und durchErfahrung entdeckt werden kann, bei der man beglei-tet wird, aber jenseits aller Worte. Deswegen lade ichSie dazu ein, dieses Buch aufzuschlagen und darausdie Stimme des Dalai Lama zu hören, seine Worte kon-templativ zu erwägen und seine Weisheit und Fürsor-ge sowie seinen Humor Tag für Tag zu genießen.

Robert A. F. ThurmanWoodstock, New York, 7. Juni 2017

VORWORT


Zur Einführungvon Renuka Singh

Dieses Buch enthält informelle Fassungen von Aus-sagen Seiner Heiligkeit des Dalai Lama aus Interviews,seinem Vortrag über die buddhistischen Lehren imMeditationszentrum Tushita Mahayana in Delhi so-wie einige andere Texte, deren Quellen nicht eigensangegeben sind. Die Natur und Absicht dieses Buchesist es, Sie mit der buddhistischen Tradition und derenDenken tiefer vertraut zu machen. Dabei soll es jedochnicht bloß um eine intellektuelle Einübung gehen, son-dern um eine Anleitung zur eigenen spirituellen Erfah-rung und existenziellen Hingabe. Diese Aussagen Sei-ner Heiligkeit sind mit ihrer Konkretheit und Relevanzfür Ihr Alltagsleben von großer Frische und Lebendig-keit. Die Suche nach der mystischen Dimension, wiesie dieses Werk hier spiegelt, ist ein integraler Bestand-teil unserer Gesellschaft, sodass man sie nicht als bloßindividualistisches Unternehmen abtun kann. Um dasMiteinander und die Ebenbürtigkeit aller Menschenbemühen wir uns ja im Kontext der charismatischenAutorität von Liebe,Weisheit, Erfahrung und Mitgefühl.

Diese Zitate und dieserVortrag führen uns ganz klarund deutlich vor Augen, dass wir den Weg der Sutrennur mittels Ethik, Konzentration und Weisheit betreten

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können, wie er ja tatsächlich von den drei Grundsät-zen des Weges – Loslassen, Bodhicitta und Leersein –vorgestellt wird. Sie werden dazu angeleitet, sich nichtmit den flüchtigen und vorübergehenden Phänomenenzu identifizieren, sondern sich tief in ihren eigenen in-neren Wesenskern zu versenken, der leer, transzendent,

geheimnisvoll und beglückend ist. Letztlichgeht es bei diesem Bemühen darum, einereine Motivation und die Reinheit des Her-

zens zu erlangen, was zu Frieden und Ruheim Besitz eines erhabenen Nichts und zur Harmonieführt.

Das griechische Wort für „Mystik“ bedeutet „ver-bergen“. Mystiker – mögen sie Theisten oder Atheis-ten sein – betrachten ihre mystische Erfahrung als Be-standteil des Projekts der Verwandlung des Menschen.Die Mystik ganz allgemein lässt sich am besten als ei-ne Konstellation unterschiedlicher Praktiken, Diskurse,Texte, Einrichtungen, Traditionen und Erfahrungen ver-stehen, die eine Veränderung des Menschseins zustan-de bringen werden. Im Unterschied zu allen Formen derMystik in anderen Traditionen ist die buddhistischeMystik keine typische Gottes-Mystik oder Erfahrungdes Einsseins mit Gott. Stattdessen könnte man sich er-kühnen, sie – auch wenn der mystische Weg durchauseine esoterische Dimension hat – als rationale Mystikzu bezeichnen, welche Komponenten hat, die sowohl

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philosophischer als auch praktischer Natur sind. Bud-dha hat sich im Unterschied zu seinen Zeitgenossennicht für körperliche Bußübungen, komplizierte Ritu-ale oder Gebete ausgesprochen, die uns zum Erlan-gen des höchsten spirituellen Erwachens helfen sollten,sondern es sei der disziplinierte, gezähmte Geist, deruns vor unseren Kleshas (Befleckungen) erretten könne.Zudem sei für unser Gefesseltsein an die unerleuchtetezyklische Existenz unsere grundlegende Unwissenheitverantwortlich. Deswegen müssten wir das Verständ-nis der Natur der Existenz kultivieren, das dadurcherleichtert wird, dass wir unsere Weisheit entwickeln.Seine Heiligkeit der Dalai Lama bietet uns nicht nurStrophe für Strophe eine ausführliche Erklärung derdrei Grundsätze des Weges, sondern er flicht in seinenKommentar auch persönliche Beobachtungen und Er-fahrungen aus der Praxis seines eigenen spirituellenWegs ein.

So lässt sich dieses kleine Buch als Traktat mitwenigen Worten ansehen, der in erster Linie dem ein-fachen Verstehen dient, welches die Erleuchtung derWeisheit verstärkt, und diese trennt messerscharf dierelative und die letzte Wahrheit jeglichen Phänomensvoneinander. Wir hoffen, dieses Werk vermittelt nichtnur detaillierte Unterweisungen über das Praktizierendes Dharma, sondern bringt es fertig, auf dem Weg derKontemplation über den Dharma zur Weisheit zu füh-

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ren. Die Art und Weise, auf die man vielen Menschenden tibetischen Buddhismus erschlossen hat, war mitMagie und Mysterien befrachtet,wogegen wir hier ver-suchen, das Erbe der rationalen Analysen und der syste-matischen Praxis dieser Tradition in den Mittelpunktzu stellen.

Ein grundlegendesVerständnis des Buddhismus, undinsbesondere des tibetischen Buddhismus, ist die uner-lässliche Voraussetzung dafür, die Vorstellung der mys-tischen Dimension zu verstehen, sowohl in philosophi-scher Hinsicht als auch auf der Ebene der Erfahrung.Die buddhistische Weltanschauung hebt den glückli-chen Umstand hervor, dass wir Menschen mit einervorzüglichen geistigen Intelligenz zur Welt kommen.Diese stattet uns mit der Fähigkeit aus, die Leerheitwahrzunehmen und zur Erleuchtung zu gelangen. Aufdiesem Weg müssen wir mit den drei DimensionenUnwissen, Anhaften und Abneigung ringen, und dieKennzeichen dieses Ringens sind Ethik, Konzentrationund Weisheit. Die Realität ist auf zwei Ebenen zu ver-stehen: auf der höchsten und auf der konventionellenEbene der Wahrheit. Auf der höchsten geht es um dieNatur der Leerheit aller Phänomene,während die kon-ventionelle es mit dem Schein-Aspekt der Realität zu tunhat. Bei der gesamten buddhistischen Einübung geht esletzten Endes darum, die höchste Ebene der Wahrheitzu entwickeln und zugleich die konventionelle Ebene

ZUR E INFÜHRUNG


der karmischen Existenz wahrzuhaben.Von daher be-steht die größte und schwerste Herausforderung anuns als spirituell Praktizierende darin, die verschiede-nen Aspekte des Wegs (wie sie in den Zitaten und imVortrag aufgezeigt werden) in unser Alltagsleben zu in-tegrieren, indem wir uns von unserem selbst geschaffe-nen Leiden an negativen Emotionen und Einstellungenablösen. Dazu muss man Bodhicitta und Mitgefühl ent-wickeln, Leerheit wahrnehmen und Erleuchtung erlan-gen. Das wird es dann ermöglichen, dass Samsara undNirvana eins werden. Hat man Vertrauen und Loslas-sen erlangt und handelt man auf der Grundlage vonHören, Meditieren und Kontemplation, so ist man inder Lage, Seine Heiligkeit als den Buddha zu sehen.

Die Unterweisung in Entsagung, Bodhicitta undLeersein ist die Grundlage für jeglichen Wunsch nachMystik /Nirvana. Der Endzweck unserer spirituellenPraxis ist der, die Wesensnatur unseres Seins zu ent-decken, die klar, rein und beglückend ist.Was wir ringsum uns herum sehen, ist nicht mehr als eine Projek-tion unserer inneren Landschaft. Nach buddhistischemVerständnis ist unser Bewusstsein die Quelle unsererUmstände. So entstehen zum Beispiel schmerzliche undverwirrende Umstände oder Glückszustände aus ent-sprechenden Geisteszuständen. Erleuchtung wird früheroder später dann erreichbar, wenn wir es fertiggebrachthaben, unsere eigenen Fehlvorstellungen – Anhaften,

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Hass und Unwissenheit – loszuwerden, die unseren Geistvernebeln und unsere innere Sonne am Scheinen hin-dern. Wir können uns auf den stufenweisen oder auchschnelleren Prozess einlassen, Qualitäten der Liebe undWeisheit zu entwickeln, je nach unseren Tendenzen,Neigungen und Vorlieben. Das bedeutet dann, dass wiruns von gewöhnlichen und irrgeleiteten Wesen zu völligbewussten Wesen mit unermesslichem Mitgefühl undgrenzenloser Weisheit entwickeln können. Die höchsteMotivation der Bodhicitta hilft uns, die Erleuchtungzum Wohl aller empfindenden Wesen zu erlangen. Nurindem wir unser Herz für andere öffnen, können wirselbst das wahre Glück und die wahre Harmonie er-fahren. Lasst uns im Sinn behalten, dass der mystischeSinn des tibetischen Mantras Om Mani Padme Humauf der Tatsache beruht, dass man dann, wenn mansich erst einmal ergeben hat, seinen Geist, dessen In-halte und seine Umgebung geistlich umwandeln kann.Die Echtheit dieser mystischen Erfahrung spiegeltsich klar und sichtbar im Leben der hochentwickeltenLamas, wenn sie während des Austauschs mit uns ih-re Weisheit großzügig mit uns teilen. Es ist interessant,zu beobachten, dass es in den meisten Religionen ei-ne große Ähnlichkeit der mystischen Ausdrucks- undVorstellungsweise gibt, auch wenn es in der Art ihrerÄußerungen einige Unterschiede geben mag. Das zeigtsich deutlich in der Form einer Bewusstheit, die die

ZUR E INFÜHRUNG


Erfahrung der Nichtdualität, des Glücks und der Rein-heit vermittelt. Der Augenblick des „Jetzt“ wird zurEwigkeit. Es gibt kein Vorher und kein Nachher undweder dies noch das. In der vollkommenen Einfach-heit machen wir die Erfahrung der ewigen Stille. Sielässt uns auf die freieste Weise handeln, die überhauptmöglich ist.

Lassen Sie mich Seine Heiligkeit zitieren, der als dergrößte Mystik-Lehrer und Gelehrte gilt. Er beschreibtdas Tantrayana folgendermaßen:

„Laut der einzigartigen Beschreibung des höchstenYoga-Tantra ist die Buddha-Natur der subtilste Geist-Wind, dessen Natur leer von jeglicher ihm inhärenterExistenz ist. Der subtilste Geist ist ein ex-trem stark verfeinerter Geisteszustand; mannennt ihn auch den Geist inneren klarenLichts.Die Energie des subtilsten Winds ist ihrGipfel. Beides ist untrennbar. Alle empfindenden Lebe-wesen haben diesen subtilsten Geist-Wind, und seineKontinuität dauert bis zum Erwachen an: Er ist keinesaure oder unabhängige Essenz; er verändert sich vonAugenblick zu Augenblick und er ist selbstlos und leervon unabhängiger Existenz. Wenn wir sterben, lösensich die gröberen Geistesschichten in den angeborenenKlarlicht-Geist auf, und wenn wir wiedergeboren wer-den, entstehen aus der Grundlage des angeborenen Klar-licht-Geistes wiederum gröbere Bewusstheiten.Wenn

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diese gröberen Bewusstseinsschichten vorhanden sind,steigen konstruktive und destruktive Gedanken auf undschaffen Karma. Das Ergebnis von angeschlagenen Ge-danken im Samsara, das Ergebnis tugendhafter men-taler Zustände wie Entsagung, Bodhicitta und Weis-heit ist das Erlangen von Nirvana. Der subtilste Geistder empfindenden Lebewesen dient als substanzielleUrsache für die Weisheit Dharmakaya eines Buddhas,und die subtilste Wind-Energie ist die substanzielleUrsache für den Form-Leib eines Buddha.

Mittels spezieller tantrischer Praktiken wird diesersubtilste Klar-Geist aktiviert, mit Glück erfüllt unddann dazu verwendet, Leerheit zu verwirklichen.Weildieser Geist-Wind so zart ist, wenn er die Leerheitrealisiert, wird er zur sehr starken Gegenkraft zumAusmerzen schmerzhafter und kognitiver Verdunke-lungen. Auf diese Weise lässt sich die Buddhaschaftwomöglich rasch erreichen.“

Die tantrischen Meditationen über Mandalas undGottheiten mögen geheimnisvoll erscheinen, und manfindet sie vielleicht recht anziehend, aber sie könnensehr enttäuschend, desillusionierend und entmutigendsein, wenn sie womöglich zu keinerlei mystischen Er-fahrungen führen. Im vorliegenden Werk konzentrie-ren wir uns nicht auf Einzelheiten des tantrischenWegs, denn es gilt ganz allgemein, dass die Einzelhei-ten dieses Wegs im Geheimen gelehrt werden sollten,

ZUR E INFÜHRUNG


und nur geeigneten Schülern, die die entsprechendeInitiation empfangen haben, und dass man sie nichtkommerzialisieren sollte.

Wie bereits früher auf dem Sutren-Weg gezeigt,ist dieser nicht auf die Praxis der Bodhicitta anwend-bar. So ist es von vitaler Bedeutung, dass man versucht,die Bodhicitta mithilfe von Atemgebeten zu kultivie-ren. Hier kommt die Bedeutung der Rolle des Gurusins Spiel.

Ganz gleich, ob es um den Stufenweg zur Erleuch-tung geht, den mystischen Zugang zum Vajrayana oderdie höchsten Tantra-Meditationen des Yoga, heben dieLehrer auf diesem Weg dessen Einfachheit hervor, undzwar in dem Sinn, dass tief in einem selbst etwas an-gerührt und verwandelt wird. Das kommt zustande,wenn man von einem wahren Meister inspiriert wirdund über eine echte Erfahrung des spirituellen Bereichsverfügt.

So müssen wir als Buddhisten zu den drei Juwelendes Buddhismus unsere Zuflucht nehmen: zu den vierEdlen Wahrheiten vom alles durchdringenden Leiden,dessen Ursprung und Aufhören und vom Weg zu des-sen Aufhören; zum Edlen Achtfachen Weg; zu dendrei höheren Einübungen in ethisches Verhalten, Kon-zentration und Weisheit; und zu den vier Unermess-lichkeiten der Liebe, des Mitleidens, der Freude unddes Gleichmuts.Wir alle können uns auf diesem Weg

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befreien, indem wir die Kluft zwischen Samsara undNirvana verringern und schließlich die von unserer kar-mischen Konditionierung genährte zyklische Existenzdurchbrechen. Selbst wenn es uns nicht gelingen soll-te, mit unseren Praktiken und kontemplativen Übun-gen in den Stand der Erleuchtung zu gelangen, kön-nen diese uns zumindest von den Ängsten vor dem Todund dem Sterben befreien und uns ein gewisses Maßan Kontrolle über unsere Wiedergeburt verschaffen.

Ich hoffe und wünsche, dass dieses Werk an dieHerzen vieler rühre und viele Einzelwesen miteinan-der verknüpfe.

Renuka Singh,im Dezember 2016

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Documents

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