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M. Köcher • B. Briele • G. Kahle • J. P. Haas – Institut für Radiologie, Klinikum Fulda Ein ungewöhnlicher Beschwerdekomplex der oberen HWS Eine 58jährige Patientin klagt seit 10 Ta- gen über heftige Schmerzen der oberen HWS, links stärker als rechts, mit Schluckschmerzen und Schluckbehin- derung auf der linken Seite. Die Schmer- zen sind besonders bei Reklination des Kopfes verstärkt mit Ausstrahlung in die linke Schulter. Eigenanamnestisch sind eine Mi- gräne mit wechselnder Lokalisation so- wie HWS-Beschwerden bekannt. Kein Anhalt für ein Verhebetrauma oder ei- nen Infekt in den letzten Wochen. Der körperliche Untersuchungsbe- fund ergibt ausgeprägte paravertebrale Myogelosen der HWS, links stärker als rechts, mit schmerzhafter Bewegungs- einschränkung der HWS besonders bei Retroflexion und Rotation beidseits. Schluckschmerzen linksseitig ohne pharyngeale Reizung. Lokaler Druck- schmerz im oberen Anteil der Halsge- fäßscheide beidseits, linksseitig betont. Im HWS-CT findet sich ein ca. 6 × 14 mm großes amorphes Verkalkungs- depot links paramedian ventral des Axis unmittelbar kaudal des vorderen Atlasbogens. Begleitend ausgeprägte ödematöse Durchtränkung der Sehne des M. longus colli beidseits, links mehr als rechts, mit einer maximalen Ver- dickung auf 10 mm. Geringe Rechtsver- lagerung und Einengung des Oro- und Hypopharynx. Die ventrolateral des M.longus colli verlaufenden Fettlamel- len sind abgrenzbar und nicht entzünd- lich dichtegemindert (Abb. 1). Kein Nachweis eines retropharyngealen Ab- szesses, eines Bandscheibenvorfalls oder einer Spondylodiszitis. Ihre Diagnose? Der Radiologe 4·97 331 Radiologe 1997 · 37:331–332 © Springer-Verlag 1997 Quiz Dr. M. Köcher Institut für Radiologie, Klinikum Fulda, Postfach 1380, D-36013 Fulda Abb. 1 a–c Nativcomputertomogra- phie (4 mm) in Höhe des Axis mit sa- gittaler Sekundärschnittrekonstrukti- on: Ausgeprägte ödematöse Schwel- lung der Sehne des M. longus colli beidseits mit 6 × 14 mm großer intra- tendinöser Verkalkung links parame- dian kaudal des vorderen Atlasbogens (s. Pfeil in (c). Rechtsverlagerung und Einengung des Pharynx

Ein ungewöhnlicher Beschwerdekomplex der oberen HWS

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Page 1: Ein ungewöhnlicher Beschwerdekomplex der oberen HWS

M. Köcher • B. Briele • G. Kahle • J. P. Haas – Institut für Radiologie, Klinikum Fulda

Ein ungewöhnlicherBeschwerdekomplexder oberen HWS

Eine 58 jährige Patientin klagt seit 10 Ta-gen über heftige Schmerzen der oberenHWS, links stärker als rechts, mitSchluckschmerzen und Schluckbehin-derung auf der linken Seite. Die Schmer-zen sind besonders bei Reklination desKopfes verstärkt mit Ausstrahlung indie linke Schulter.

Eigenanamnestisch sind eine Mi-gräne mit wechselnder Lokalisation so-wie HWS-Beschwerden bekannt. KeinAnhalt für ein Verhebetrauma oder ei-nen Infekt in den letzten Wochen.

Der körperliche Untersuchungsbe-fund ergibt ausgeprägte paravertebrale

Myogelosen der HWS, links stärker alsrechts, mit schmerzhafter Bewegungs-einschränkung der HWS besonders beiRetroflexion und Rotation beidseits.Schluckschmerzen linksseitig ohnepharyngeale Reizung. Lokaler Druck-schmerz im oberen Anteil der Halsge-fäßscheide beidseits, linksseitig betont.

Im HWS-CT findet sich ein ca. 6 ×14 mm großes amorphes Verkalkungs-depot links paramedian ventral desAxis unmittelbar kaudal des vorderenAtlasbogens. Begleitend ausgeprägteödematöse Durchtränkung der Sehnedes M. longus colli beidseits, links mehr

als rechts, mit einer maximalen Ver-dickung auf 10 mm. Geringe Rechtsver-lagerung und Einengung des Oro- undHypopharynx. Die ventrolateral desM. longus colli verlaufenden Fettlamel-len sind abgrenzbar und nicht entzünd-lich dichtegemindert (Abb. 1). KeinNachweis eines retropharyngealen Ab-szesses, eines Bandscheibenvorfallsoder einer Spondylodiszitis.

Ihre Diagnose?

Der Radiologe 4·97 331

Radiologe1997 · 37:331–332 © Springer-Verlag 1997 Quiz

Dr. M. KöcherInstitut für Radiologie, Klinikum Fulda,Postfach 1380, D-36013 Fulda

a b

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Abb. 1 a–c 3 Nativcomputertomogra-phie (4 mm) in Höhe des Axis mit sa-gittaler Sekundärschnittrekonstrukti-on: Ausgeprägte ödematöse Schwel-lung der Sehne des M. longus collibeidseits mit 6 × 14 mm großer intra-tendinöser Verkalkung links parame-dian kaudal des vorderen Atlasbogens(s. Pfeil in (c). Rechtsverlagerung undEinengung des Pharynx

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Tendinitis calcarea des M. longus colli

Therapeutisch erhält die Patientin beibekannter Diclofenac-Unverträglich-keit eine Aspisol-Infusion, wonach eszu einer deutlichen Schmerzreduktionkommt. Ergänzend wird eine Basko-Halskrawatte verordnet.

Bei einer Untersuchung 1 Jahr spä-ter gibt die Patientin für die Zwischen-zeit weitgehende Beschwerdefreiheitan. Ein gelegentlich am Kieferwinkelaufgetretenes Spannungsgefühl habesich nach oraler Einnahme von Acetyl-salicylsäure und lokaler Kälteanwen-dung jeweils umgehend zurückgebildet.

Das HWS-CT 1 Jahr später ergabeine vollständige Rückbildung der Ver-kalkungen sowie der ödematösenSchwellung des M. longus colli beid-seits, welcher jetzt eine maximale Dickevon 5 mm aufweist. Geringe Asymme-trie des Pharynx bei leichter Rotationim Atlantoaxialgelenk (Abb. 2).

Diskussion

Bei der Tendinitis calcarea des M. lon-gus colli handelt es sich um eine asepti-sche Entzündung der Sehne des M. lon-gus colli, welche am Tuberculum ante-rius atlantis und an der Vorderflächedes 2. bis 4. Halswirbelkörpers ansetzt.Die Erstbeschreibung erfolgte 1964 [7].

Pathophysiologisch ist das Krank-heitsbild in die Gruppe der dystrophenSehnenverkalkungen einzuordnen, vondenen die Periarthritis humeroscapula-ris am häufigsten beobachtet wird [8, 9].

Klinisch finden sich lokale Schmer-zen der oberen HWS mit leichter Ante-flexionsfehlhaltung, Nackensteifigkeit,Schluckbeschwerden sowie allgemeineEntzündungszeichen. Üblicherweise istdas Krankheitsbild selbstlimitiert, wo-bei sich die Symptome mit oder ohneBehandlung meistens nach 1–2 Wochenzurückbilden. Nicht-steroidale Anti-phlogistika führen zu einer zügigen Be-schwerderückbildung.

Die Diagnose wird in den meistenFällen radiologisch gestellt. Im konven-tionellen Röntgen sind eine Verbreite-rung des prävertebralen Weichteilschat-tens sowie amorphe Verkalkungen kau-dal des vorderen Atlasbogens nachweis-bar.

Als morphologisches Korrelat fürdie Beschwerderemission sind wie inunserem Fall eine Auflösung der Kalk-

depots sowie eine Normalisierung desprävertebralen Weichteilschattensnachweisbar.

Computertomographisch findetsich ein Ödem am Ansatz der Sehne desM. longus colli, in den meisten Fällenmit begleitenden intratendinösen Ver-kalkungen. Die CT ist aufgrund ihrerhohen Kontrastauflösung besondersfür den Nachweis kleinster Verkalkun-gen geeignet [3, 8, 9].

Die Kernspintomographie ist in denFällen hilfreich, wo computertomogra-phisch keine Verkalkungen erkennbarsind. Als Korrelat für das entzündlicheÖdem sind im T2-gewichteten Bild eineSignalsteigerung im Verlauf des M. lon-gus colli schwerpunktmäßig am atlanto-axialen Übergang nachweisbar. EineAusdehnung des entzündlichen Gesche-hens ventral entlang der gesamten HWSbis zur Schädelbasis ist beschrieben [4].

Die klinische Differentialdiagnosebeinhaltet das akute HWS-Syndrom,eine Pharyngitis sowie den retropha-ryngealen und peritonsillären Abszeß.Eine isolierte entzündliche Enthesiopa-thie aus dem rheumatischen Formen-kreis erscheint weniger wahrscheinlich.

Die radiologische Differentialdia-gnose umfaßt insbesondere unter Be-rücksichtigung der amorphen Verkal-kungen kaudal des vorderen Atlasbo-gens ein Frakturfragment (Traumaana-mnese), ein Ossikel, eine Myositisossificans und eine Verkalkung des vor-deren Längsbandes. Eine Abgrenzungzur Dysphagia spondylotica ist bei

Nachweis der meist ausgeprägtenspondylophytären Anbauten in der Re-gel als weniger problematisch einzustu-fen [2, 5, 9].

Computertomographisch ist dieDiagnose unter Berücksichtigung desklinischen Befundes, der begleitendenWeichteilschwellung im Ansatzbereichdes M. longus colli sowie der Verkal-kungsstrukturen wie in unserem Fallmeist eindeutig zu stellen.

In der Literatur existieren nur we-nige Fallbeschreibungen, in denen dercomputertomographische Befund be-schrieben wird [1, 5, 6, 9].

Dies dürfte weniger auf die Selten-heit des Krankheitsbildes als auf eineFehlinterpretation der typischen Be-fundkonstellation zurückzuführen sein.Vorrangiges Ziel des Radiologen bestehtdarin, bei unklaren Schmerzen der obe-ren HWS an dieses Krankheitsbild zudenken und den CT-Befund richtig zuinterpretieren.

Literatur1. Artenian DJ, Lipmann JK (1989) Acute neck pain

due to tendinitis of the longus colli: CT andMRT findings. Neuroradiology 31: 166–9

2. Benanti JC, Gramling P, Bulat PI, Chen P, LemdstromG (1986) Retropharyngeal calcific tendinitis:Report of five cases and review of the litera-ture. J Emerg Med 4: 15–24

3. Dihlmann W (1987) Gelenke – Wirbelverbindun-gen, 3. Aufl. Thieme, Stuttgart, S 488

4. Ekbom K, Torhall J, Annell K, Traff J (1994) Magneticresonance imaging in retropharyngeal ten-dinitis. Cephalalgia 14: 266–269

5. Gamroth A (1991) Tendinitis calcarea acuta desM. longus colli. Fortschr Röntgenstr 155: 189–190

6. Hall F, Docken W, Curtis W (1986) Calcific Tendini-tis of the longus colli: Diagnosis by CT: a casereport. AJR 147: 742–743

7. Hartley J (1964) Acute cervical pain associatedwith retropharyngeal calcium deposit: a casereport. J Bone Joint Surg [Am] 46: 1753–1754

8. Holt P, Keats T (1993) Calcific tendinitis: a reviewof the usual and unusual. Skeletal Radiol 22: 1–9

9. Ring D, Vaccaro AR, Scuderi G, Pathria MN, Garfin SR(1994) Acute calcific retropharyngeal tendini-tis. Clinical presentation and pathologicalcharacterisation. J Bone Joint Surg [Am] 76:1636–1642

Eingegangem am 9. April 1996Nach Überarbeitung angenommen am18. Juli 1996

332 Der Radiologe 4·97

Quiz

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Abb. 2 a, b3 Nativ-CT (2 mm) inHöhe des Axis mit sagittaler Se-kundärschnittrekonstruktion1 Jahr später: Vollständige Auflö-sung der intratendinösen Kalk-herde sowie Rückbildung desÖdems des M. longus colli