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Dossier II Der türkisch- kurdische Konflikt Monitoring-Projekt Zivile Konfliktbearbeitung · Gewalt- und Kriegsprävention Herausgegeben von der Kooperation für den Frieden

Dossier II Der türkisch- kurdische Konflikt · Editorial Der türkisch-kurdische Konflikt ist immer noch nicht beendet. Gegenwärtig droht er erneut zu eskalieren. Nach dem Ersten

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Page 1: Dossier II Der türkisch- kurdische Konflikt · Editorial Der türkisch-kurdische Konflikt ist immer noch nicht beendet. Gegenwärtig droht er erneut zu eskalieren. Nach dem Ersten

Dossier II

Der türkisch-kurdische Konflikt

M o n i t o r i n g - P r o j e k tZ i v i l e K o n f l i k t b e a r b e i t u n g ·

Gewalt- und Kriegsprävention

Herausgegeben von der Kooperation für den Frieden

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Impressum

Herausgeberin:Kooperation für den Frieden Römerstraße 88 · 53111 BonnTel. 02 28/69 29 04 · Fax 02 28/69 29 [email protected]

Spendenkonto: Förderverein Frieden e.V.Kto.-Nr. 33 0 35Sparkasse Bonn, BLZ 380 500 00Stichwort: Monitoring-Projekt

Monitoring-Projekt: Zivile Konfliktbearbeitung,Gewalt- und Kriegsprävention

Dossier II: Der türkisch-kurdische Konflikt

Redaktionelle Bearbeitung:Jürgen Nieth und Mani Stenner

Grafik & Satz: Luise Schatz, kippconcept

Foto: J. Siegmann, Demonstration in Diyabarkir

1 Expl. à 1,– EURab 5 Expl. à 0,50 EUR

ab 50 Expl. à 0,40 EURjeweils zzgl. VersandkostenBestellung siehe Rückseite

l 02 Doss ie r I I : De r t ü r k i sch - ku r d i sche Kon f l i k t

Text und V.i.S.d.P.: Andreas Buroc/o Kooperation für den Frieden

Für Vorschläge und Verbesserungen gebührt Dank:Klaus E. Anders, Hanne-Margret Birckenbach,Volker Böge, Ursula Emmerich, Ulrich Frey,Matthias Jochheim, Wolfgang Jungheim,Nasrin Sadeghi und dem Seminar über das Monitoring-Projekt in Gießen, Mehmet Sahin,Martin Singe, Herbert Wulf.

1. Auflage, März 2007, 20.000 Exemplare

Mitwirkende der Kooperation für den Frieden

Aachener Friedenspreis; Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF); Aktionsgemeinschaft Friedenswoche Minden; Anti-kriegsbündnis »Menschen für den Frieden Düsseldorf«; Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion KURVE Wustrow;Bremer Aktion für Kinder (BAKI); Bund demokratischer WissenschaftlerInnen (BdWi); Bund für Soziale Verteidigung (BSV); Bun-desverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU); Christen für gerechte Wirtschaftsordnung (CGW); Deutsche Friedensgesell-schaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG/VK); EUCOMmunity; Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung vonKriegsdienstverweigerern (EAK); Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland / Friedensausschüsse; Frauen in Schwarz Ham-burg; Frauennetzwerk für Frieden e.V.; Forum Ziviler Friedensdienst (forumZFD); Friedensforum Münster; Friedensinititiative Not-tuln e.V.; Friedensgruppe Altenholz; Friedensrat Müllheim; Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Hauptvorstand; Internatio-nale JuristInnen gegen ABC-Waffen (IALANA); Infostelle für Friedensarbeit; Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhü-tung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW); Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF); Inter-nationaler Versöhnungsbund – deutsche Sektion; Komitee für Grundrechte und Demokratie; Koordinierungsausschuss der Frie-densbewegung in der Region Ingolstadt; Leserinitiative Publik e.V.; Publik-Forum Verlagsgesellschaft mbH; Lebenshaus SchwäbischeAlb – Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.; Mönchengladbacher Friedensforum; Naturwissenschaftle-rInnen-Initiative »Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit«; Netzwerk Friedenskooperative; Netzwerk Friedenssteuer;Ökumenisches Friedensnetz Düsseldorfer Christinnen und Christen; Ökumenisches Zentrum für Umwelt-, Friedens- und Eine-Welt-Arbeit, Berlin; Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF); Pax Christi – Deutsche Sektion; Rhöner Friedenswerkstattim UNESCO-Biosphärenreservat, Künzell; Ver.di-Jugend; Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden

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Editorial

Der türkisch-kurdische Konflikt ist immer noch nicht beendet.

Gegenwärtig droht er erneut zu eskalieren.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das kurdische Siedlungsgebiet auf die Türkei, Irak,

Syrien und Iran aufgeteilt. In der Folge entstanden in allen vier Ländern Minderheiten-

Konflikte, 1 wie sie oft bei der Entstehung von Nationalstaaten auftreten. Minderheiten

wurden unterdrückt und einer Zwangsassimilierung unterworfen. Gewaltausbrüche

von beiden Seiten und Feindbilder erschwerten eine vernünftige Regelung.

Die Folgen in der Türkei waren eine wachsende Verfeindung innerhalb der Gesellschaft,

die Blockade von Demokratisierungsprozessen, ein Anwachsen der riesigen sozialen

Probleme in den kurdischen Gebieten, keine Lösung der berechtigten kurdischen

Ansprüche auf eine eigenständige Kultur und Selbstverwaltung. Auf kurdischer Seite

entstand immer wieder der Wunsch nach einem eigenen kurdischen Staat.

Nach vielen Aufständen der Kurden seit den 20er Jahren führte seit 1984 die PKK –

die kurdische Aufstandsbewegung im türkischen Teil der kurdischen Siedlungsgebiete –

einen bewaffneten Kampf gegen die türkische Armee und Polizei. Dabei wurden nach

offizieller Darstellung über 37.000 Menschen getötet und ungefähr 3.600 Weiler und

Dörfer zerstört. Etwa 3 Millionen Kurdinnen und Kurden wurden vom Militär ver-

trieben. Ankara, wie auch die EU, haben die Jahre zwischen 1999 und 2004 – während

eines einseitigen Waffenstillstands der PKK, in denen sich die kurdische Seite auf eine

politische Lösung im Rahmen des türkischen Nationalstaates orientierte – nicht für

eine politische Lösung genutzt. Nach Aufkündigung des Waffenstillstandes im Juni 2004

weiteten sich die Kämpfe aus. Jetzt stehen wieder über hunderttausend türkische

Soldaten in den kurdischen Siedlungsgebieten der Türkei. Türkische Spezialteams

führen Operationen jenseits der türkisch-irakischen Grenze durch, und irakisch-

kurdische Ortschaften werden bombardiert. Während es in den Kämpfen der 90er Jahre

fast keine Bombenanschläge gab, wurden diese nun zur Waffe im gesamten Gebiet

der Türkei.

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Im Oktober 2006 hat die Guerilla einen neuen unbefristeten Waffenstillstand ausge-

rufen. Die EU-Staaten halten trotzdem an ihrem Terrorismus-Vorwurf gegenüber

der PKK und ihren Organisationen fest und erschweren sich so die Möglichkeit, in den

Konflikt vermittelnd eingreifen zu können.

Es gilt, eine weitere Eskalation des gewaltsamen Konflikts zu verhindern und ihn mit

zivilen Mitteln beizulegen. Dazu können staatliche, internationale und nicht-staatliche

Stellen einen Beitrag leisten. Auch die Erfahrungen, die in Europa mit nationalen

Minderheiten gemacht wurden – z. B. das Südtirol-Abkommen zwischen Österreich

und Italien – sollten herangezogen werden. Deutschland könnte in dem Konflikt eine

wichtige Rolle im Sinne präventiver Diplomatie und Politik spielen. Leider hat es bisher

diese Rolle nicht wahrgenommen.

Das Monitoring-Projekt dient dem Ziel der zivilen, friedlichen Lösung des Konflikts.

Es ist ein Vorhaben der »Kooperation für den Frieden«.

Andreas Buro

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1 In der Türkei werden die Kurden rechtlich nicht als Minderheit betrachtet.Zur Zeit des Kampfes gegen die alliierten Siegermächte des Ersten Welt-krieges galten sie noch als »Brudervolk«. Sie sind deshalb in dem Abkommenvon Lausanne 1922/23 in den Art. 38–45, in denen die Rechte der Minder-heiten garantiert werden, nicht aufgeführt. Dies spielt bis zur Gegenwart in den Argumentationen der türkischen Regierung eine Rolle.

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Der Hintergrund des Konflikts

Die Kurden und ihre Kultur

Die Meder, die als Vorfahren der Kurdengelten, ließen sich um 1000 v. C. östlich desZagros-Gebirges nieder und bildeten dortverschiedene Reiche. Die Kurden lebten seitder Antike vorwiegend als Viehzüchter undBauern in einem relativ geschlossenen Sied-lungsraum, der sich etwa über 2.000 kmvon Nordwesten nach Südosten von derheutigen Türkei und Syrien bis in den Irakund den Iran erstreckte. Sie hatten keinenunmittelbaren Zugang zum PersischenGolf, zum Schwarzen-, Kaspischen- undMittelmeer. Wenn im Folgenden von Kur-distan gesprochen wird, so ist nicht einNationalstaat im heutigen Sinne gemeint,sondern eine historische Region und eingeographischer Siedlungsraum.

Unter der arabischen Herrschaft tratendie Kurden im Laufe des 7. bis 9. Jahrhun-derts zum sunnitischen Islam über. Abgese-hen von den Aleviten – vermutlich etwa einDrittel der Kurden – zählen in der Gegen-wart deshalb die meisten Kurden zur glei-chen Religion wie die türkische Bevölke-rung.

Die Existenz im Schnittfeld der Kulturenzwischen Europa, Asien und Afrika bedeu-tete für die Kurden auch ein Leben in dau-erhaftem Unfrieden und politischer Zer-splitterung. Schon im ersten Jahrtausendvor unserer Zeitrechnung wurde KurdistanTeil des assyrischen und dann des altpersi-schen Staates. Im Laufe der Jahrhundertegerieten die kurdischen Stämme, und spä-

ter die kurdischen feudalen Fürstentümer,in die Abhängigkeit von iranischen Schahsund byzantinischen Herrschern. Erst im 11. Jahrhundert n. Chr. setzt die Zuwande-rung von Seldschucken, einem Turkvolkaus Asien, ein. Anfang des 14. Jahrhundertsgründete Osman, einer ihrer Herrscher, dasosmanische Reich, das 1453 Konstantinopel– das heutige Istanbul – eroberte und damitdas byzantinische, christliche Reich been-dete. Im Laufe der folgenden Jahrhundertewurde das osmanische Reich zu einem Viel-völkerstaat und zu einer Großmacht in Asi-en, Europa und Afrika, der auch die kurdi-schen Gebiete umfasste. Das Reich zerfielendgültig zu Beginn des 20. Jahrhundertsim Rahmen des Ersten Weltkrieges. Daskurdische Siedlungsgebiet wurde auf dieTürkei, Iran, Syrien und den Irak aufgeteilt.Von den etwa 30 Millionen Kurdinnen undKurden leben gegenwärtig über 16 Mio.innerhalb der Grenzen der Türkei, über 7 Mio. in Iran, 4,5 Mio. in Irak, 1,5 Mio.in Syrien, über 1 Mio. in Europa, davon700.000 in der Bundesrepublik. Das kurdi-sche Volk ist das dritt- oder viertgrößte Volkim Nahen und Mittleren Osten, neben Tür-ken, Arabern und Persern.

Die kurdische Bevölkerung lebt bis zurGegenwart zu einem großen Teil in gesell-schaftlichen Strukturen, in denen Clan-Bindungen eine erhebliche Bedeutunghaben. Nationale Orientierungen wurdenhierdurch immer wieder behindert. Einwesentlicher Grund dafür, dass die Kurdensich nicht frühzeitiger mit Intensität für dieBildung eines Nationalstaates eingesetzthaben.

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Die Sprache der Kurden gehört zu denindogermanischen Sprachen und ist mitdem Persischen verwandt. Sie bestehthauptsächlich aus den Dialekten Kurmanci(Kurmandschi), Sorani und Zazaki (Dimil-ki). Kurden benutzen heute das lateinische,arabisch-persische und das kyrillischeAlphabet. In der Türkei, dem Iran, Irak undin Syrien wurde in der Vergangenheit dieVermittlung der kurdischen Sprache, Kul-tur und Geschichte, also alles was mit denKurden zu tun hat, eingeschränkt oder ver-boten. Trotzdem wurden in Irakisch-Kurdi-stan viele Bücher und Wörterbücher her-ausgegeben. Auch im Ausland wurde publi-ziert. Alleine in Schweden erschienen in denletzten 50 Jahren 123 Zeitungen, Zeitschrif-ten und Bulletins. (Özgür Politika, 28.7.00)Im Sommer 2000 wurde in Istanbul einKurdisch-Türkisches Wörterbuch mit40.000 Wörtern vom Kurdischen Institutveröffentlicht. (Hürriyet, 19.6.00)

In der Türkei wurden selbst die Wörter»Kurde« und »Kurdistan« durch neueBegriffe, wie z.B. »Bergtürken«, »Ost- bzw.Südostanatolien«, ersetzt. Die traditionel-len Namen der Ortschaften, Berge undFlüsse wurden türkisiert. Feste, wie Newroz,wurden bis vor einigen Jahren verboten unddas Tragen kurdischer Trachten untersagt.Damit sollte eine Zwangsassimilierung vor-angetrieben und die kurdische kulturelleIdentität zerstört werden. Das ist bislangjedoch weitgehend misslungen.

Gerade der Versuch Ankaras, die kurdi-sche kulturelle Identität auszulöschen, hatdiese zu einem zentralen Thema der Aus-

einandersetzung gemacht. In der Türkei, inder die kurdischen Kinder in den Schulennach wie vor nicht in ihrer Mutterspracheunterrichtet werden dürfen, bemühen sichkurdische Menschen mit Hilfe von kur-dischen Fernseh- (MEDYA-TV/Roj-TV),Internet- und Radiosendungen aus demAusland, ihre Sprache schreiben zu lernenund ihre Kultur und Dichtung weiter zugeben.2

Der politische Zusammenhang des heutigen Konflikts

Der politische Ausgangspunkt ist derZusammenbruch des Osmanischen Reichesam Ende des Ersten Weltkriegs. Es warKriegsverbündeter Deutschlands undÖsterreichs. Die Siegermächte England undFrankreich besetzten Istanbul und teiltendas Reich nach ihren Interessen auf (Dik-tatfrieden von Sèvres 1920). Danach solltenKurden und Armenier laut Artikel 62, 63,und 64 eigene Staaten gründen können. Diegroße türkische Nationalversammlunglehnte diesen Vertrag ab. Unter der Führung

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2 Diese kurze von Andreas Buro, Ralf Kaufeldt und Mehmet Sahin zusammengestellte Übersichtstützt sich vornehmlich auf:Celilé, Celil: Kurdische Märchen, Frankfurt/Mainund Leipzig 1993;Chaliand, Gérard (Hg.): Kurdistan und die Kurden, Bd. 1, Göttingen 1984Vanly, Ismet Cherif: Kurdistan und die Kurden,Bd. 2, Göttingen 1986Sahin, Mehmet / Kaufeldt, Ralf:Daten und Fakten zu Kurden und Kurdistan.Eine Chronologie, Köln 2002

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von General Kemal Atatürk (Vater der Tür-ken) wurde der nationale militärischeWiderstand organisiert, den auch die Kur-den tatkräftig unterstützten, da man ihnenGleichberechtigung als Nation mit der tür-kischen versprach. Dieser Kampf zwang dieAlliierten 1923, im Friedensvertrag vonLausanne die Unabhängigkeit und Souve-ränität der neuen Türkei als Nationalstaatanzuerkennen. In dem Vertrag wurde daskurdische Siedlungsgebiet zwischen derTürkei, Iran, Irak und Syrien aufgeteilt.

Nach Lausanne wurden in der Türkeialle Versprechen von Gleichberechtigunggegenüber den Kurden gebrochen. Aus dermulti-ethnischen Gesellschaft sollte nuneine türkische Gesellschaft werden. Jeder,der in der Türkei lebt, ist Türke, lautete dieDevise.

Am Tag der Abschaffung des Kalifats(3.3.1924) verabschiedete das Parlamentein Gesetz zur Vereinheitlichung des Schul-wesens. Danach galten die kurdischenSchulen als gesetzwidrig und wurdengeschlossen. Die Kurden fühlten sich betro-gen und befürchteten den Verlust ihrer Kul-tur durch Zwangsassimilation. Die offizielleKurdenpolitik wurde in einem Gesetz vom8. bzw. 24. September 1925 festgelegt. Darinheißt es u.a.: »Die beiden Völker könnenund dürfen nicht gleichberechtigt zusam-menleben. Deswegen müssen die Kurdenassimiliert und Kurdisch muss verbotenwerden. Die Kurden müssen in den Westenzwangsdeportiert und Türken im Osten anihrer Stelle angesiedelt werden. Der Ostenmuss durch einen mit weiten Vollmachten

ausgestatteten Generalgouverneur, wie inden Kolonien, regiert werden. Alle in wich-tigen Positionen stehenden Beamten müs-sen Türken sein und aus dem Westen stam-men.« 3

Die Folge waren zahlreiche kurdischeAufstände zwischen 1925 und 1938, die alleblutig niedergeschlagen wurden. Damit istdie Grundsituation des türkisch-kurdi-schen Konflikts gekennzeichnet, der seit-dem immer wieder mit Gewalt ausgetragenwurde.

Nach 1945 hat sich die Türkei im auf-kommenden Ost-West-Konflikt dem Wes-ten zugewandt, sie wurde Mitglied derNATO. Es entstand ein Mehrparteiensys-tem, doch die türkische Armee verstandsich als übergeordneter Hüter der kemali-stischen Grundwerte und putschte 1960,1971 und 1980 gegen die gewählten Regie-rungen. Ihre Repression richtete sich gegenalle demokratischen Institutionen, vieleParteien und gesellschaftliche Organisatio-nen wurden verboten. Die Kurden waren inbesonderem Maße betroffen. 210.000 Straf-verfahren wurden nach dem Militärputschvon 1980 gegen die Opposition eingeleitet,Filme und Bücher verboten, Folter war inden Gefängnissen an der Tagesordnung.Alle Möglichkeiten, für die kurdischenAnliegen legal einzutreten, waren versperrt.

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3 Deng Nr. 21,22,23. Zit. nach Sahin, Mehmet:Türkei: Ausweg aus der Sackgasse – Zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage,Hg.: Dialogkreis, Köln 1997

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Von September bis Dezember 1980 flohenetwa 60.000 türkische Staatsbürger – da-runter viele Kurden – nach Deutschland.

Vor dem Militärputsch von 1980 gab esverschiedene Zusammenschlüsse undOrganisationen für eine politische Interes-senvertretung der Kurden in und außerhalbder Türkei 4, die von der PKK als Konkur-renten verstanden und von ihr auch mitGewalt bekämpft wurden. Rückblickendkonnte sich die PKK (Avantgarde Arbeiter-partei Kurdistans) als wichtigste Kraftdurchsetzen.

Am 15. 8.1984 stürmten Guerillaeinhei-ten der PKK zwei Kasernen der türkischenArmee. Damit wurde die bis heute andau-ernde militante Aufstandsbewegung derKurden eingeleitet. Sie basierte nicht mehrauf Clan-Zusammenhängen, sondern aufkurdisch-nationalen und kulturellenAnsprüchen. Ankara bekämpft sie als eineseparatistische Bewegung.

Eskalationsentwicklung

Die Kämpfe zwischen 1984 und 1998 warensehr verlustreich und von großen Flücht-lingsströmen begleitet. Nach der Ausrufungeines einseitigen Waffenstillstandes durchdie PKK (1.9.1998) und der Inhaftierungdes PKK-Vorsitzenden, Abdullah Öcalan,auf der türkischen Gefängnisinsel Imralientspannte sich die Situation. Dieser Pro-zess wurde durch die Reform-Bemühungen

aufgrund des EU-Beitrittswunsches derneuen AKP-Regierung in Ankara unter-stützt. Der Ausnahmezustand im kurdi-schen Siedlungsgebiet wurde aufgehoben.Kurdischkurse für Erwachsene und Sen-dungen in kurdischer Sprache wurdenermöglicht, allerdings nur in sehr begrenz-tem Maße. Die grundsätzlichen Problemedes Konflikts wurden jedoch nicht ernsthaftin Angriff genommen. Das türkischeMilitär setzte trotzdem seine Angriffe aufdie Guerilla fort – während des einseitigenWaffenstillstands von 1998–2004 gab es etwa 700 Operationen. Am 1. Juni 2004wurde deshalb der einseitige Waffenstill-stand durch die PKK aufgekündigt.

Seitdem ist der militärische Konfliktwieder eskaliert. Verdeckte Anschläge desMilitärs gegen zivile Ziele provozierten dieKurden. Eine kleine kurdische Gruppeführte Sprengstoffanschläge in verschiede-nen Teilen der Türkei aus. Die Armee zogTruppen an der Grenze zum Nordirakzusammen und griff in Irakisch-KurdistanDörfer an, in denen sie PKK-Guerilla ver-mutete. Die türkische Generalität fordertedie USA auf, im kurdischen Nordirak gegendie PKK vorzugehen, um die Rückzugsbasisder Guerilla zu vernichten. Für die USA istdieses Problem ambivalent. Einerseits stuftsie nach wie vor die PKK als terroristischeVereinigung ein, andererseits ist der kurdi-sche Teil des Nordirak der stabilste undtreueste Verbündete der USA. Die USA wol-len auf keinen Fall, dass durch einen Ein-marsch türkischer Truppen auch dieseRegion destabilisiert wird, sie lehnen des-

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4 Vgl. Sahin, M. / Kaufeldt, R., a.a.O.

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halb jegliche türkische Intervention ab. DieUSA haben einen Sondergesandten beauf-tragt, sich dieser Frage anzunehmen. Jüngstkam es zu Dreiergesprächen zwischen Ver-tretern der USA, der türkischen Regierungund der Regierung Irakisch-Kurdistans.

Mit diesem Prozess verzahnt, verläuft inder Türkei ein Machtkampf zwischen derGeneralität und der islamisch geprägtenAKP-Regierung. Das Militär befürchtetdurch die Anpassungen an die EU-Forde-rungen Macht zu verlieren und wendet sichgegen die AKP-Regierung, der es die Islami-sierung der Türkei vorwirft. Das Militär istanscheinend an einer Fortsetzung des Krie-ges gegen die PKK interessiert, lehnt eineAmnestie der Guerilla ab und fordert derenKapitulation. Dazu mobilisiert es türkisch-nationalistische Gefühle in der Gesellschaft,die geeignet sind, Feindbilder zu verstärken.Der türkisch-kurdische Konflikt wird zurZeit durch einen Konflikt zwischen Militärund Regierung überlagert. 2007 wird es inder Türkei Präsidenten- und Parlaments-wahlen geben. Das veranlasst die AKP-Regierung wegen ihrer Wählerklientel zugroßer Zurückhaltung in der Kurdenfrage.

Gegenwärtig stehen die USA in der Kur-denfrage nicht mehr umstandslos an derSeite des türkischen Militärs. Sollten dieUS-Truppen aus dem Irak zurückgezogenwerden, dürfte allerdings für den türkisch-kurdischen Konflikt, wenn er bis dahinnicht beigelegt ist, eine völlig neue Konstel-lation zugunsten der Interventionswünschedes türkischen Militärs entstehen.

Zusammenhänge mit anderen Konflikten in der Region

Der türkisch-kurdische Konflikt standimmer im Zusammenhang mit den Politi-ken der Nachbarstaaten Iran, Irak und Syri-en. Mit diesen Staaten verband die Türkeidas gemeinsame Interesse, alle kurdischenBestrebungen zur Bildung eines eigenenNationalstaates zu unterdrücken. Die Orga-nisierung der Kurden und das Aufkommendes Gefühls einer kurdischen Identität soll-te verhindert werden. Daraus folgte einegenerelle Repression gegenüber der kurdi-schen Bevölkerung und ihrer Kultur. DiesePolitik hat aber dazu geführt, dass sich dieKurden fast überall als ausgegrenzt aus denGesellschaften ihres Landes empfandenund sich um so mehr ihrer kurdischenIdentität zuwandten.

Ein anderes Element bestand oft in derInstrumentalisierung der Kurden für dieAustragung von Konflikten zwischen denvier Staaten. Verkürzt gesagt: Man fördertedie Kurden der anderen, um dem anderenStaat damit Schwierigkeiten zu bereiten.Wichtigste Beispiele waren die syrischeDuldung des Hauptquartiers und derRückzugsbasis der PKK in ihrem Land unddie jahrelange Unterstützung der irakischenKDP und PUK vom Iran aus.

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Worin bestehen friedensfördernde und friedenshindernde Einflüsse der internationalen Politik?

Internationale Politik hat einen wesentli-chen Anteil an dem türkisch-kurdischenKonflikt. Bald nach dem Zweiten Weltkriegging es den westlichen Siegermächten dar-um, die Türkei im West-Ost-Konflikt aufihre Seite zu ziehen. Sie wurde 1952 in dieNATO aufgenommen und zum wichtigenStationierungsort für US-amerikanischeAtomwaffen, die sich gegen die UdSSR rich-teten. Diese Waffen wurden zwar im Rah-men der Vereinbarungen um die Kuba-Krise 1963 abgezogen, die »Waffenbrüder-schaft« der NATO-Staaten blieb jedochüber alle Militärputsche in der Türkei(1960, 1971, 1980) hinweg dominierend.Die Kurdenfrage in der Türkei war deshalbkein Thema in den internationalen Bezie-hungen zwischen diesen Ländern. Diesänderte sich auch nicht, als in den 90er Jah-ren die USA, die Türkei und Israel gemein-sam in Nahost die Funktion einer regiona-len Hegemonialmacht ausübten. Die mili-tanten Kämpfe der kurdischen PKK ab1984 wurden als terroristische Angriffedefiniert, ohne dass man ihren Ursachennachgegangen wäre. Massive Waffenliefe-rungen an die Türkei – Deutschland liefertenicht nur Militärausrüstung aus DDR-Beständen, sondern auch Leopardpanzer,U-Boote und anderes militärisches Groß-gerät – verstärkten die Parteinahme zugun-sten der offiziellen Politik in Ankara; dietürkische Generalität, die den Kampf gegendie PKK organisierte, war der direkteAnsprech- und Verhandlungspartner.

Je mehr die Konflikte in Nah- und Mit-telost eskalierten, um so stärker wurde dieablehnende Haltung der westlichen Regie-rungen gegenüber den kurdischen An-sprüchen, die über lange Zeit auch tatsäch-lich einen separatistischen Charakter hat-ten. Diese Ablehnung wurde noch durchzum Teil gewalttätige Demonstrationenvon Exil-Kurdinnen und -Kurden in West-europa – und speziell in Deutschland – ver-stärkt. Dies trug auch dazu bei, dass der ein-seitige, zunächst unbegrenzte Waffenstill-stand der PKK – nach der Entführung undGefangennahme ihres Führers AbdullahÖcalan 1999 – und die Bereitschaft, zu einerpolitischen Lösung im Rahmen der Türkeizu kommen, von außen nicht aufgegriffenund zur Lösung dieses Konflikts genutztwurde.

In die Haltung der westlichen Staatengegenüber der Kurdenfrage ist erst seit denEU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkeiund der Irak-Besetzung durch die USAetwas Bewegung gekommen.

In den EU-Beitrittsverhandlungen führtdie Art und Weise, wie in der Türkei Min-derheiten behandelt werden, immer wiederzu Auseinandersetzungen, auch wenn dabeidie vorsichtig taktierende Brüsseler Kom-mission die Kurdenfrage nur sehr zurück-haltend anspricht. Auf Dauer wird siejedoch nicht darum herum kommen, deut-licher und genauer zu werden, da die Men-schenrechtsdefizite in der Türkei nurzusammen mit der Lösung der Kurdenfrageüberwunden werden können. Das Europäi-sche Parlament thematisiert mit größererDeutlichkeit diese Problematik.

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Die Besetzung des Iraks durch die USAhat in Washington ein neues Interesse ander Kurdenfrage geweckt. Das autonomeirakisch-kurdische Gebiet ist in dem sonstso unruhigen Irak die stabilste Region. Siesoll nicht durch türkische Angriffe aufRückzugsbasen der PKK destabilisiert wer-den. Die Interessen der USA und des türki-schen Militärs stehen hier im Widerspruch,wenigstens solange der Irak als Einheitbestehen bleibt. Das könnte Chancen fürneue Sicht- und Verhaltensweisen gegen-über der Kurdenfrage eröffnen.

Bezug Deutschlands zu dem Konflikt

Das Deutsche Reich hat sich im Rahmenseiner Expansionspolitik seit dem Ende des19. Jahrhunderts um gute Beziehungenzum Osmanischen Reich und zur Türkeibemüht. Kaiserbesuche, Bagdad-Bahn undKriegspartnerschaft im Ersten Weltkriegmögen als Stichworte genügen. Im ZweitenWeltkrieg blieb die Türkei neutral. DieBeziehungen nach 1945 liefen vor allemüber die Wirtschaft und die NATO.Deutschland ist im Im- und Export dergrößte Wirtschaftspartner der Türkei. Ausder Türkei kamen auf Wunsch der deut-schen Industrie viele Gastarbeiter, die sichzu einem großen Teil dauerhaft ansiedelten.Darunter waren auch – zusammen mitFlüchtlingen – etwa 700.000 Kurden. Dertürkisch-kurdische Konflikt wurde in derFolge auch in Deutschland ausgetragen,zum Teil mit großen friedlichen Demon-strationen, aber auch mit Aktionen, die

nicht gewaltfrei verliefen. Die Bundesregie-rung nahm die PKK im November 1993 indie Liste der terroristischen Organisationenauf. Noch immer gibt es Prozesse gegen undVerurteilungen von PKK-Mitglieder/n,werden Büros kurdischer Organisationendurchsucht, denen man Nähe zur PKKnachsagt.

Die rot-grüne Bundesregierung hat sichfür eine EU-Beitrittsperspektive der Türkeistark gemacht, den türkisch-kurdischenKonflikt jedoch nicht entsprechend thema-tisiert. Premierminister Erdogan konntenoch 2003 bei seinem Besuch in Berlinunwidersprochen behaupten, es gäbe keinekurdische Frage.

Im Gegensatz zur offiziellen Politikhaben sich Organisationen aus dem zivil-gesellschaftlichen Bereich in erheblichemMaße bemüht, zur Beilegung des türkisch-kurdischen Konflikts beizutragen. EinigeBeispiele:

n Evangelische Akademien haben vieleSeminare zu diesem Thema angeboten;

n Evangelische Landeskirchen haben sichmit dem Konflikt befasst;

n der Interkulturelle Rat in Deutschlandhat sich um Dialoge zwischen Türkenund Kurden bemüht;

n der 1995 gegründete Dialog-Kreiskonnte in vielen Veranstaltungen undVeröffentlichungen auch PolitikerIn-nen einbeziehen. Er bemühte sich auchum aktuelle Analysen und strategischeHandlungsvorschläge;

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n die Ärzte-Vereinigung IPPNW stellteständige Kontakte und eine Zusam-menarbeit zwischen in Deutschlandlebenden türkischen und kurdischenMitbürgern her;

n Amnesty international und Menschen-rechtsvereine haben recherchiert undMenschenrechtsverletzungen bekanntgemacht;

n Pro Asyl und Flüchtlingsbeiräte derLänder haben Asylsuchende beratenund gegenüber Gerichten über dieHintergründe von Flucht und Vertrei-bung berichtet, Rechtshilfe-Vereine wieAzadi nahmen sich der Probleme an;

n das Netzwerk Friedenskooperativeführte jahrelang gemeinsam mit ande-ren Friedensorganisationen eine Kam-pagne unter dem Motto »Schweigentötet! Frieden jetzt« durch.

Dazu kamen Organisationen der inDeutschland lebenden Kurdinnen undKurden, die sich mit dem Konflikt aus ihrerSichtweise auseinander setzten. Bei fastallen diesen Aktivitäten, die auf Dialog undVerständigung zielten, war im Gegensatz zuden kurdischen Organisationen die Bereit-schaft der türkischen eher gering, sich aufeinen Dialog mit der kurdischen Seite ein-zulassen.

Bezug der EU zu dem Konflikt

Im Oktober 2005 nahm die EU Beitrittsver-handlungen mit der Türkei auf. Man sprichtvon einer Verhandlungsdauer von 10–15

Jahren. In einigen EU-Staaten herrschtgroße Skepsis, ob ein Beitritt der Türkeiüberhaupt wünschenswert ist. In den Vor-verhandlungen wurde die Kurdenfragenicht explizit angesprochen. Gesprochenwurde aber über Minderheitenrechte, was jenach Sichtweise die Kurden ein- oder aus-schließt. Trotzdem ist festzuhalten: dasBemühen Ankaras um einen Beitritt zur EUhat bisher den größten Anstoß für Verände-rungen und Diskussionen in Bezug aufRechtsstaatlichkeit, Menschen- und Frei-heitsrechte gegeben. Auch wenn diese bishernicht ausreichend waren, so wurde immer-hin der Ausnahmezustand aufgehoben, undes wurden erste Lizenzen für zeitlichbegrenzte kurdischsprachige Sendungenerteilt. Die Verhandlungen sind in Bezug aufdie Kurdenfrage – trotz aller Mängel – einerder wichtigsten Faktoren zur Veränderung.

Das Europäische Parlament hat immerwieder umfassende Erklärungen zum Tür-kei-Beitritt und zur Kurdenfrage abgegeben.Diese Stellungnahmen sind wichtig für dasöffentliche Meinungsbild, auch wenn sienicht unmittelbar die Politik bestimmen.

Nach einer Debatte über die kulturelleSituation der Kurden hat die Parlamentari-sche Versammlung des Europa-Rats am 4. Oktober 2006 eine Entschließung ange-nommen, die dazu aufruft, diese Kulturdurch unterstützende Maßnahmen aufeuropäischer Ebene zu schützen. In diesemZusammenhang sind auch die Regelungendes Europa-Rats zu Fragen der Minderhei-tenrechte von Bedeutung. Die Türkei undFrankreich sind die beiden einzigen Euro-

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paratsstaaten, die dem Europarats-Rah-menabkommen zu Minderheiten bishernicht beigetreten sind. Der internationaleReviewprozess ist dadurch blockiert. WennFrankreich dem Rahmenabkommen beitre-ten würde, hätte dies auch Auswirkungenauf die Türkei.

Der Europäische Gerichtshof für Men-schenrechte in Straßburg hat bisher in zahl-reichen Urteilen kurdisch-stämmigen Bür-gerInnen der Türkei Recht gegeben. Urteile,denen sich Ankara in aller Regel unterwer-fen muss. Oft handelt es sich um exemplari-sche Fälle, die auch über den Einzelfall hin-aus von Bedeutung sind.

Die legitimen Interessen der Akteure

Interessen der Kurden, die direkt betroffen sind

Von verschiedenen Gruppierungen sindimmer wieder Listen mit Forderungen fürdie Lösung des kurdischen Problems in derTürkei aufgestellt worden. An erster Stellesteht die Anerkennung der kurdischen, kul-turellen Identität durch den Staat und ihreVerankerung in der Verfassung. Damit ver-bunden ist das Recht auf Erziehung in kur-discher Sprache in der Schule und dieBenutzung der kurdischen Dialekte nebendem Türkischen. Zum Zweiten wird eineBeendigung der Militär- und Willkürherr-schaft in den kurdischen Siedlungsgebietengefordert und die Errichtung einer rechts-staatlichen Ordnung. Ein Teil der Flücht-linge und Vertriebenen möchte in ihre

Heimatorte zurückkehren. Bislang machenbürokratische Hürden und Behinderungendurch das Militär dies meist unmöglich.Auch haben sich vielfach die sogenanntenDorfwächter 5 Häuser und Land der Ver-triebenen angeeignet. Die wirtschaftlicheund soziale Situation im kurdischen Sied-lungsgebiet ist weit unter dem Niveau derwestlichen Türkei. Die Nutzung von Natur-ressourcen, insbesondere der Wasserkraft,kommt der Region kaum zugute. Manerhofft eine Verbesserung der Infrastrukturals Voraussetzung für wirtschaftliche Ent-wicklung. Vorgetragen wird auch die For-derung nach einer Dezentralisierung desStaatswesens und damit nach einer größe-ren Selbstverwaltung im lokalen und regio-nalen Bereich (das betrifft auch die vor-nehmlich türkisch bewohnten Gebiete).Alle diese Forderungen und Wünsche sindim Rahmen einer Modernisierung undLiberalisierung der türkischen Gesellschaftund des Staatswesens verhandelbar.

Nicht verhandelbare Interessen des türkischen Staates

Nicht verhandelbar ist für den türkischenStaat die Abtrennung der kurdischen Sied-lungsgebiete. Dies ist im Rahmen der beste-henden nationalstaatlichen Ordnung inden meisten Teilen der Welt eine anerkann-

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5 Während der Kämpfe in den 90er Jahren wurdenvon Ankara in den kurdischen Dörfern Einheimi-sche angeworben und bewaffnet, um die Guerillaaus den Dörfern fernzuhalten. Viele Kurden sinddamals geflohen, um diesen Dienst nicht leistenzu müssen.

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te Position, auch wenn dies von nationalenMinderheiten oftmals nicht akzeptiertwird.

Öcalan hat in jüngster Zeit einen»Demokratischen Konföderalismus« gefor-dert. Dieses gesellschaftliche Modell weichtvöllig von der bisherigen Staatsstruktur derTürkei ab und dürfte für die Türkei keineVerhandlungsbasis sein.

Der Verzicht auf Gewalt von Minderheitenzur Durchsetzung politischer Ziele ist fürAnkara im Sinne des Gewaltmonopols desStaates unabdingbar. Dies setzt allerdingsauch ein rechtsstaatliches Verhalten derstaatlichen Institutionen und die Möglich-keit zur demokratischen Mitwirkung fürdie kurdische Bevölkerung voraus.

Interessen des internationalen Umfelds

Für den kurdischen Nordirak (in der iraki-schen Verfassung als Kurdistan bezeichnet)ist es wichtig, dass aus dem türkisch-kurdi-schen Konflikt nicht eine permanenteInterventionsdrohung durch die Türkeiwird. Deshalb hat diese Region ein großesInteresse an der friedlichen Beilegung die-ses Konflikts. Ähnliches gilt für die USA, diean der Aufrechterhaltung der Stabilität desNordirak interessiert sind. Washingtonbefürwortet seit langer Zeit einen Beitrittder Türkei zur EU. Auch dieser Wunschsetzt eine friedliche Lösung der Kurdenfra-ge voraus, was sich bisher allerdings nicht inder US-Außenpolitik niedergeschlagen hat.

Wenn eine friedliche Lösung der Kur-denfrage im Rahmen der Türkei erreichtwird, so hat das eine Signalwirkung für denIran und Syrien. Ohne die Sorge vor einemkurdischen Separatismus können dieseLänder entspannter Probleme ihrer kurdi-schen Minderheiten angehen.

Die EU müsste ebenfalls ein legitimesInteresse an der friedlichen Lösung derKurdenfrage haben. Sie wird bei den Bei-trittsverhandlungen Demokratisierung,Rechtsstaatlichkeit, Freiheits- und Men-schenrechte nicht durchsetzen können,solange etwa 20 bis 30 % der Bevölkerungder Türkei daran nicht teilhaben können.Allerdings wird dieses legitime Interessebislang nicht ausreichend deutlich in denVerhandlungen und Positionen der EU. Siehält nach wie vor an der Einstufung derPkk-Organisationen als terroristisch fest.

Was für die EU gilt, gilt auch fürDeutschland im wesentlichen. Kommt hin-zu, dass das Verhältnis der hier lebendenKurden zu den hier lebenden Türken wich-tig ist, für die Integration beider in die deut-sche Gesellschaft. Aufgrund seiner vielfälti-gen Beziehungen müsste Deutschland nochstärker an einer friedlichen Lösung interes-siert sein, nutzt aber bisher seine Einflus-smöglichkeiten kaum aus.

Ziele ziviler Konfliktbearbeitung

Das übergeordnete Ziel muss darin beste-hen, der kurdisch-stämmigen Bevölkerungin der Türkei ein gleichberechtigtes Leben

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zu ermöglichen. Sie hat ein Recht, so zuleben, dass sie ihre kurdische kulturelle undsprachliche Identität ohne Diskriminierungbewahren und ihre soziale und wirtschaftli-che Situation verbessern kann. Um dieseszu erreichen, sind folgende Unterziele zubearbeiten:

n Vertrauen zwischen der türkischen undder kurdischen Bevölkerung und derenEliten aufbauen.

n Über einseitige Gesten und Schritte eineDynamik der gegenseitigen Zuwendungerreichen, in der keine Seite ihr»Gesicht« verliert.

n Förderung des Dialogs auf möglichstvielen Ebenen über mögliche Kompro-misse.

n Abbau von Befürchtungen der türki-schen Seite vor separatistischen Bestre-bungen.

n Stärkung der politischen Administrationgegenüber dem militärischen Establish-ment.

n Förderung der Bereitschaft der EU undder EU-Staaten die Kurden-Frage aufzu-greifen und zu einer friedlichen Lösungbeizutragen.

n Abbau von Feindbildern gegenüber denKurden und ihren Organisationen, dieim Ausland oft unter dem Label »Terro-rismus« gesehen und verfolgt werden.

n Förderung der kurdischen Kultur im In- und Ausland.

Zivile Möglichkeiten zur Konflikt-entschärfung und Konfliktlösung

Eine notwendige Vorbemerkung: Konfliktedieser Art hängen von Entscheidungen undvom Verhalten auf allen politischen undgesellschaftlichen Ebenen ab. Es wäre illu-sionär zu glauben, ein Wandel könnte alleinaufgrund gesellschaftlicher und sozialerBewegungen herbeigeführt werden. Des-halb werden im Folgenden auch Vorschlägefür internationales und nationalstaatlichesHandeln unterbreitet, wenngleich wir wis-sen, dass solche Vorschläge oft nicht akzep-tiert oder doch nur sehr allmählich inBetracht gezogen werden. Es wird immerbehauptet, die jeweilige militärische Kon-fliktbearbeitung sei alternativlos. DieseVorschläge belegen, dass es sehr wohl zivileund menschenrechtlich geprägte Alternati-ven zu den vorherrschenden Kriegspoliti-ken gibt.

Es geht um Strategien mit dem Ziel einerfriedlichen politischen Lösung im türkisch-kurdischen Konflikt für die Zivilgesell-schaft, für Regierungs- und EU-Politik, diewie ein Bausteinsystem, dort wo es möglichist, umgesetzt werden. Dabei ist nicht zuerwarten, dass Friedensstiftung und -ver-mittlung durch einen einmaligen Akt zuerreichen sind, es geht darum, von ver-schiedenen Akteuren und Ansätzen auseinen Prozess ziviler Konfliktbearbeitunganzustoßen und damit auch die zunächstnoch bestehenden Blockaden für einenDialog zu überwinden.

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Zivile Handlungsoptionen für den türkischen Staat

Die staatliche Einheit der Türkei ist gegen-wärtig nicht gefährdet, da die kurdische Sei-te sich zu einer politischen Lösung im Rah-men des türkischen Staates bekennt. DieAnklage wegen separatistischer Bestrebun-gen hat ihre Grundlage verloren. Im Gegen-satz zu Konfliktsituationen in anderen Län-dern – zum Beispiel Nordirland oder SriLanka – kann die Regierung der Türkei sichbei einer Politik der Aussöhnung auf eineüberwiegend religiöse Gemeinsamkeit vonTürken und Kurden beziehen, um die zwi-schen beiden Ethnien bestehenden Ressen-timents oder gar Feindbilder zugunsten vonVersöhnung und Kooperation, dauerhaftabzubauen.

Die im Folgenden genannten Elementeeiner Politik der Versöhnung können nichtvollständig sein und müssen weiter diffe-renziert werden.

1. Türkische und kurdische Intellektuelle,Schriftsteller, Künstler u.a. treten in derTürkei für eine Politik der Aussöhnungund des Gewaltverzichts ein. Dabei stre-ben sie auch die Zusammenarbeit mitsozialen Bewegungen und Nicht-Regie-rungsorganisationen (NRO) in der EUan.

2. Ankara spricht den Wunsch nach Aus-söhnung und gegenseitiger Anerken-nung offen aus und regt einen innerge-sellschaftlichen Dialog im Rahmen destürkischen Staates an.

3. Um dem Wunsch nach AussöhnungGlaubwürdigkeit zu verleihen, wird eineAmnestie für alle aus politischen Grün-den Verurteilten und für alle, die an denKämpfen teilgenommen haben, erlassen.Dann können diejenigen, die sich heuteim Exil befinden, in ihre Heimat zurück-kehren und sich dort für ihre Ziele mitdemokratisch-politischen Mitteln ein-setzen.

4. In dem innergesellschaftlichen Dialogwird auch darüber gesprochen, in wel-cher Weise die multi-ethnische Dimensi-on der Gesellschaft in der türkischenVerfassung ihren Niederschlag findet.Dadurch würde die Gemeinsamkeit imRahmen des Staates gestärkt, und nichtgeschwächt. Kemal Atatürk hat in derfrühen Phase des Kampfes zur Bildungdes Nationalstaates Türkei die Kurdenals Brudervolk bezeichnet und verspro-chen, es gleichberechtigt an dem neuenStaat teilhaben zu lassen. Dieses Verspre-chen würde so eingelöst.

5. Ankara strebt eine Politik der Aussöh-nung und der kulturellen Gleichberech-tigung an. Auch innerhalb der EU gibt esLänder mit Sprachenvielfalt und mehre-ren kulturellen Traditionen. Die EU alsGanzes ist ein multikulturelles Gebilde.Die Respektierung der unterschiedli-chen kulturellen Traditionen und Spra-chen wird nicht die Bedeutung des Tür-kischen als verbindende Sprache imStaat mindern.

6. Die Flüchtlinge aus den kurdischenSiedlungsgebieten, die während der ver-

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gangenen Kämpfe vertrieben wurden,dürfen zurückkehren. Da die meistenFlüchtlinge materielle Verluste erlittenhaben, ist eine solidarische Hilfe für ihreRückkehr dringend geboten. Bei denErdbebenkatastrophen haben Menschenund Organisationen aus der ganzen Tür-kei – und aus dem Ausland – solidarischgeholfen. Wenn dies zum Vorbild für dieRücksiedlung der Flüchtlinge würde,würde das Gefühl der Zusammenge-hörigkeit gestärkt.

7. Die so genannten Dorfwächter erhaltenim Sinne einer Aussöhnungspolitik einegleichwertige Perspektive für ihr Lebenwie die zurückkehrenden Flüchtlinge.Lokale Dialoge unter Anleitung geschul-ter Konfliktschlichter können hierbeihilfreich sein. Die dabei gesammeltenErfahrungen werden im Bereich derFriedensforschung an Universitäten ein-gebracht.

8. Die Entwicklung im Osten und Süd-osten der Türkei ist bislang zugunstenvon Investitionen und Infrastruktur imNorden und Westen vernachlässigt wor-den, obwohl diese Region mit ihrengroßen Siedlungsgebieten der Kurdeneinen erheblichen Beitrag zur gesamt-wirtschaftlichen Leistung der Türkeibeiträgt. Die Menschen dort haben viel-fach den Eindruck, sie würden in kolo-nialer Weise ausgebeutet. In der Zeit desbewaffneten Kampfes ist die Ausbildungder nachwachsenden Generation, diesoziale und medizinische Versorgungsowie die materielle Infrastruktur weit-

gehend zusammengebrochen. Es hateine Ausgrenzung stattgefunden, dienach allen entwicklungspolitischen Er-fahrungen nicht ohne große Anstren-gungen rückgängig gemacht werdenkann. Um den Menschen in diesenGebieten das Gefühl zu vermitteln, dasssie »dazu gehören« und ihr Schicksal derTürkei wichtig ist, wird eine großeAnstrengung des Aufbaus, nach Mög-lichkeit international unterstützt, unter-nommen.

Zivile Handlungsoptionen für PKK, Guerilla und lokal gewählte Vertreter

1. Rückzug der Guerilla aus der Türkeinach Irakisch-Kurdistan und freiwilligeEntwaffnung unter internationaler Kon-trolle, z.B. nach dem aktuellen Vorbildder maoistischen Guerilla in Nepal (diesich dort allerdings erst nach Abschlussdes Friedensabkommens unter dieObhut der UNO begeben hat). DieInitiative dazu geht von der PKK aus, diedie UN um Unterstützung in diesemAnliegen bittet. Verzicht auf Drohungenjedweder Art. Damit würde der türki-schen Generalität der militärische Geg-ner und damit die Legitimation fürmilitärisches Vorgehen entzogen. Einsolcher Schritt würde zum Abbau vonFeindbildern beitragen.

2. Die kurdische Seite arbeitet einen Vor-schlag für ein Stufenprogramm der Ver-trauensbildung und Aussöhnung aus. Esenthält eine zeitliche Schrittabfolge pa-

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rallel zum Rückzug und zur Selbstent-waffnung der Guerilla, z.B.:

Stufe 1: Ausweitung der kurdischen Me-dienprogramme und Liberalisierung desUnterrichts in Kurdisch. Ausbildung vonLehrerInnen für den Kurdisch-Unter-richt.

Stufe 2: Erleichterung der Rückkehr kurdi-scher Flüchtlinge in ihre Dörfer undStädte und Unterstützung bei der Wie-derherstellung ihrer Lebensgrundlagen.– Aufnahme von Gesprächen zwischenden gewählten Bürgermeistern undeinem von der Regierung beauftragtenSonderbotschafter über Probleme undWünsche der Bevölkerung in den kurdi-schen Siedlungsgebieten. Damit würdeein Dialog über »Alltagsprobleme« ein-geleitet, der zur Vertrauensbildungerheblich beitragen kann. Einsetzungeiner paritätischen Kommission (Regie-rung und Bürgermeister) zur Untersu-chung und Regelung der Dorfwächter-Problematik.

Stufe 3: Amnestie für die politischen Gefan-genen und für die Beteiligung an denmilitärischen Konflikten der letzten Jah-re auf beiden Seiten. Das bedeutet u.a.die Rückkehrmöglichkeit für alle amKrieg beteiligten Kurdinnen und Kur-den, ohne dass sie durch den Staat Tür-kei verfolgt würden. Zu diesem Zeit-punkt löst sich die PKK und ihre Gueril-la-Truppe endgültig auf. Die Amnestieschließt auch den Vorsitzenden der PKK,

Abdullah Öcalan, ein. Die Bildung eineroder mehrerer politischer Parteien, diedie Interessen der kurdischen Bevölke-rung vertreten, ist möglich, ohne dass sieals Nachfolgeorganisation der PKK ver-folgt werden.

Stufe 4: Für die Ost- und Südost-Türkei mitden kurdischen Siedlungsgebieten wirdein umfassendes Entwicklungspro-gramm aufgelegt. Die EU und die EU-Staaten werden aufgerufen, sich an die-sem Programm zu beteiligen. In diesemZusammenhang wird eine kurdischeInstitution gegründet, die sich für dieWiederentfaltung der kurdischen Kultureinsetzt. Der Unterricht in kurdischerSprache wird allgemein eingeführt.

Stufe 5: Nach einer Wahlrechtsreform, die esden kurdischen Parteien ermöglicht,auch in der Großen Nationalversamm-lung vertreten zu sein, und nach Parla-mentswahlen beruft der Präsident eineVerfassungskommission. Sie soll diebestehende Verfassung in Hinblick aufdas gleichberechtigte Zusammenlebender Völker in der Türkei überprüfen undVorschläge für eine Stärkung der regio-nalen und kommunalen Selbstverwal-tung ausarbeiten. Diese werden dem Par-lament zur Beschlussfassung vorgelegt.

Zivile Handlungsoptionen für die USA

1. Um eine Ausweitung des Konflikts zuverhindern, bestehen die USA gegenüberder Türkei konsequent auf einem Inter-ventionsverbot in Irakisch-Kurdistan.

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2. Gleichzeitig drängen die USA auf einepolitische Lösung des Konflikts und dietürkische Generalität dazu, sich auf eineAmnestie für die Guerilla einzulassen.

3. Die USA setzen sich gemeinsam mit denEU-NATO-Staaten in diesem Sinnedafür ein, die Einstufung der kurdischenGuerilla als »terroristisch« fallen zu las-sen.

4. Die USA beteiligen sich an einem Ent-wicklungsprogramm für den Osten undSüdosten der Türkei.

Zivile Handlungsoptionen für die EU

1. Die EU führt mit der Türkei Beitrittsver-handlungen. Da die Menschenrechts-probleme in der Türkei nicht gelöst wer-den können, ohne die kurdische Fragefriedlich zu lösen, legt die EU bei ihrenVerhandlungen stärkeres Gewicht aufeine friedliche Lösung des Konflikts.

2. Der Rat der EU ruft die Türkei und diekurdische Seite auf, den Konflikt fried-lich beizulegen und dazu einen Gewalt-verzicht zu vereinbaren. Falls erforder-lich, ergreift das Europäische Parlamenteine Initiative in diesem Sinne.

3. Da die kurdische Guerilla zum 1.10.2006erneut einen einseitigen Waffenstillstandausgerufen hat, beschließt der zuständi-ge EU-Ministerrat, ihre Einstufung als»terroristisch« aufzuheben.

Zivile Handlungsoptionen für Deutschland und andere EU-Staaten

1. Die Bundesregierung setzt ihre imNovember ‘98 verkündete Absicht um,eine Initiative zur Förderung einer poli-tischen Lösung in der Kurdenfrage zuergreifen. Sie nutzt ihre EU-Präsident-schaft, um einen Prozess der Vermittlungmit langem Atem einzuleiten und voran-zutreiben.

2. Gleichstellung der Kurden: Die zur Zeitin Deutschland lebenden Kurdinnenund Kurden kommen überwiegend ausder Türkei. Sie sind zum Teil seit 30 Jah-ren bei uns und haben wie andere Immi-grantengruppen einen großen Beitragzur Entwicklung unseres Landes gelei-stet. Trotzdem sind sie immer noch nichtden anderen Immigrantengruppengleichgestellt, sondern werden vor-nehmlich als Türken behandelt. Mit derAnerkennung der Kurden als eigenstän-diger Bevölkerungsgruppe und derUmsetzung der sich daraus ergebendenRechte – muttersprachlicher Unterricht,Rundfunk- und Fernsehsendungen inkurdischer Sprache, freie Namensge-bung für kurdische Kinder und Einrich-tung von Beratungs- und Betreuungs-zentren für KurdInnen usw. – würdemanche Benachteiligung der Kurdinnenund Kurden in Deutschland aufgeho-ben. Im Grunde muss nur der Bundes-tagsbeschluss vom 7. November 1991(BT-Drucksache 12/ 1362) in die Tatumgesetzt werden. In ihm heißt es. »Inder Bundesrepublik lebt eine große

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Gruppe von Kurden. Auch ihnen mussdie Möglichkeit zur Bewahrung undEntfaltung ihrer kulturellen Identitätgegeben werden.«

3. Kurdinnen und Kurden, die in Deutsch-land Asyl erhalten oder beantragt habenund sich in kurdischen Organisationenbetätigt haben, werden unter keinenUmständen in die Türkei zurückgeschickt, ehe dort nicht eine generelleAmnestie für solche Personen ausge-sprochen wurde. In diesem Zusammen-hang ist die Forderung nach einerAmnestie gegenüber der Türkei zu ver-treten.

4. Bundestag und Bundesregierung setzensich dafür ein, dass in der EU die Einstu-fung der PKK als »terroristisch« aufge-hoben wird, zumal die kurdische Gueril-la erneut am 1. 10. 2006 einen unbefri-steten, einseitigen Waffenstillstand aus-gerufen hat. Die Aufhebung dieser Ein-stufung erleichtert es, in Deutschlandund den EU-Staaten über das kurdischeAnliegen und über Schritte für einefriedliche, zivile Lösung einen offenenDialog zu führen. Das ändert nichts dar-an, dass Straftaten nach den deutschenStrafgesetzen geahndet werden.

5. Organisierung von »Hearings zur Tür-kei-Kurden-Frage«, bei denen alle wich-tigen Akteure angehört werden. DieseHearings könnten in Deutschland vonder Regierung oder einem speziellenGremium organisiert und dokumentiertwerden, so dass sie für jeden zugänglichwerden. Die Botschaft nach außen hieße,

wir beginnen uns mit dieser Frage zubeschäftigen.

6. Die Bundesregierung schlägt der EU-Kommission vor, im Rahmen der Bei-trittsverhandlungen eine Monitoring-Gruppe zu bilden, die alle relevantenInformationen zu dem Konflikt sammeltund jährlich einen Bericht mit Empfeh-lungen für die weitere zivile Bearbeitungdes Konflikts herausgibt. Dieser wirdauch im Europäischen Parlament erör-tert.

7. Friedensforschungsinstitute werden ge-beten, den Konflikt in seinen Dimensio-nen zu analysieren und Strategien zivilerKonfliktbearbeitung und Vorschläge füreine politische Lösung zu entwickeln.

8. Zur Etablierung und Ausweitung von»dezentralen Dialogen« wird eineeuropäische Dialog-Stiftung geschaffen,die von der EU finanziert wird. Die Bun-desregierung und NRO setzen sich hier-für ein. Sie hat vor allem die Aufgabe,NRO und soziale und berufliche Grup-pen der Zivilgesellschaft aus der Türkeiund EU-Europa miteinander insGespräch zu bringen. Dies dient gleich-zeitig der Stärkung der Zivilgesellschaftals Ansprechpartnerin zum Abbau vonKonflikten und kann das Interesse undEngagement an diesem Problem inner-halb der EU ausweiten. Soll die Stiftungihren Zweck erfüllen, so müssen alleKonfliktparteien ungehindert am Dialogteilhaben können. Dafür sind die erfor-derlichen Voraussetzungen zu schaffen.Eine solche Stiftung kann später auch für

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die Dialog-Vermittlung in anderen Kon-flikten des Kontinents herangezogenwerden und möglicherweise in Koopera-tion mit der OSZE ihre Schwerpunktebestimmen.

9. Anregung und Förderung eines Pro-gramms der Städtepartnerschaften und -kooperationen zwischen deutschenbzw. EU-Städten und Städten in denkurdischen Regionen. Zusätzlich solltedas BMZ eine Zusammenarbeit mitKommunen der Region weiter entfalten.Hierdurch würde sowohl die Anteilnah-me Deutschlands bzw. der EU-Staaten,wie auch deren Hilfsbereitschaft signali-siert. Außerdem würde eine bessereKenntnis des jeweiligen Selbstverständ-nisses und der Lebensumstände die Fol-ge sein.

10. Es sind Konzepte zur Stärkung der Ver-ständigungs-, Schlichtungs- und Frie-densschaffensfunktion der OSZE auszu-arbeiten und in die OSZE zur Diskussi-on und möglichen Beschlussfassung ein-zubringen. Friedensforschung und spe-zialisierte Institute können dafür heran-gezogen werden. Im Rahmen der OSZEsind nicht nur der gesamteuropäischeBereich sondern auch die USA undKanada angesprochen. Am Beispiel destürkisch-kurdischen Konflikts könntedamit die Funktion eines solchen nicht-militärisch bestimmten Bündnisses zumNutzen aller erkundet und ausgeweitetwerden.

Handlungsoptionen für Soziale Bewegungen und NRO

1. Einladung türkischer und kurdischerRepräsentantinnen und Repräsentanten,die eine friedliche Lösung des Konfliktsbefürworten, nach Deutschland und inandere EU-Staaten zu Konferenzen undGesprächen mit Multiplikatoren, Medi-en sowie Politikerinnen und Politikern.

2. Die Handlungsoptionen für eine fried-liche Lösung des türkisch-kurdischenKonflikts werden in der Öffentlichkeitbekannt gemacht, um dafür zivilgesell-schaftliche Unterstützung zu erhalten. Esgilt also, Kirchen, Gewerkschaften,humanitäre Vereinigungen, Friedensfor-schung, politische Parteien und Medienanzusprechen, damit sie den Konfliktthematisieren und tätig werden.

3. Es ist eine entsprechende Lobby-Arbeitgegenüber dem Europäischen Parlamentund der EU-Kommision in Brüsselerforderlich. Damit zu verbinden ist eineInternationalisierung des Themas inner-halb der EU durch die Hinzuziehungvon Organisationen und Institutionender Zivilgesellschaft in den EU-Staaten.

4. Unterstützung der Bildung einer kultu-rellen, friedenspolitisch orientiertenkurdischen Repräsentation in Deutsch-land bzw. EU-Europa, die zumAnsprech- und Dialogpartnerin fürPolitik, Friedensforschung und Kulturwerden kann.

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5. Auf- und Ausbau eines türkisch-kurdi-schen Dialogs in Deutschland mit demZiel, eine gemeinsame friedenspolitischePosition zu erarbeiten.

6. Ein friedenspolitisches Symposium mitTeilnehmerInnen aus der Türkei, ausDeutschland und anderen EU-Ländern,das in der Türkei abgehalten wird. Hier-bei sollen ethnische Konflikte in Staatenuntersucht und Erfahrungen aus Strate-gien der Versöhnung gewonnen werden.Aus dem Symposium könnten sich wei-tere Aufträge für Untersuchungen undProjekte ergeben.

Fahrplan (Road Map) für eine friedliche,zivile Lösung des türkisch-kurdischenKonflikts

In diesem Fahrplan werden die oben ange-sprochenen Handlungsoptionen der ver-schiedenen Akteure in eine zeitliche Abfol-ge gebracht, so dass eine Strategie der zivi-len Konfliktbearbeitung erkennbar wird.Freilich dient dies nur der Orientierung,zumal einzelne Schritte sich überschneidenund/oder unterschiedlich viel Zeit inAnspruch nehmen werden. UnerwarteteEreignisse werden Anlass geben, die hiervorgeschlagene Abfolge zu überprüfen undgegebenenfalls zu verändern und zu erwei-tern. Die oben dargelegten Handlungsop-tionen werden im Folgenden nur verkürztangesprochen.

1. Türkische und kurdische Intellektuelle,SchriftstellerInnen, KünstlerInnen u.a.treten in der Türkei für eine Politik der

Aussöhnung und des Gewaltverzichtsein. Dabei streben sie auch die Zusam-menarbeit mit sozialen Bewegungenund Nicht-Regierungsorganisationen(NRO) in der EU an.

2. NRO laden türkische und kurdischeRepräsentantinnen und Repräsentanten,die eine friedliche Lösung des Konfliktsbefürworten, nach Deutschland und inandere EU-Staaten für Konferenzen undzu Gesprächen mit Multiplikatoren, Medi-en sowie PolitikerInnen und Politker ein.

3. Die Handlungsoptionen für eine friedli-che Lösung des türkisch-kurdischenKonflikts werden in der Öffentlichkeitder EU-Staaten bekannt gemacht, umdafür Unterstützung zu erhalten. Kir-chen, Gewerkschaften, humanitäre Ver-einigungen, Friedensforschung, politi-sche Parteien und die Medien werdenangesprochen, damit sie den Konfliktthematisieren und tätig werden.Gegenüber dem Europäischen Parla-ment und der EU-Kommission in Brüs-sel wird eine entsprechende Lobby-Arbeit begonnen.

4. Eine parteipolitisch unabhängige, kultu-relle, friedenspolitisch orientierte kurdi-sche Repräsentation wird in Deutsch-land und anderen europäischen Länderngefördert, die zur Ansprech- und Dialog-partnerin für Politik, Friedensforschungund Kultur werden kann.

5. Die kurdischen Organisationen, die bis-her den bewaffneten Kampf geführt oderunterstützt hatten, erklären ihre grund-

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sätzliche Bereitschaft zum Gewaltver-zicht. Soziale Bewegungen und NROstarten eine Kampagne für die Aufhe-bung des Terrorismus-Verdikts gegendiese Organisationen.

6. Bundestag und Bundesregierung setzensich dafür ein, dass in der EU die Einstu-fung der PKK und anderer kurdischerOrganisationen als »terroristisch« aus-gesetzt wird, solange die kurdische Gue-rilla an ihrem unbefristeten, einseitigenWaffenstillstand festhält, und begründendies friedenspolitisch. Der EU-Minister-rat wendet sich an die USA und an alleweiteren NATO-Staaten, die Einstufungder kurdischen Guerilla als »terrori-stisch« aufzugeben.

7. In Deutschland werden von der Regie-rung oder einem speziellen Gremium»Hearings zur Türkei-Kurden-Frage«organisiert, bei denen alle wichtigenAkteure angehört werden können. IhrePositionen werden dokumentiert, sodass sie jederman zugänglich sind.

8. Die EU legt bei ihren Beitrittsverhand-lungen mit der Türkei stärkeren Nach-druck als bisher auf die Lösung der Kur-denfrage, ohne die die Menschenrechts-probleme in der Türkei nicht gelöst wer-den können.

9. Der Rat der EU ruft die Türkei und diekurdische Seite auf, den Konflikt fried-lich beizulegen und dazu einen Gewalt-verzicht auszurufen. Falls erforderlichergreift das Europäische Parlament eineInitiative in diesem Sinne.

10. Um eine Ausweitung des türkisch-kur-dischen Konflikts zu vermeiden, wendensich die USA weiterhin gegen jeglichemilitärische Intervention der Türkei inIrakisch-Kurdistan.

11. Die Regierung in Ankara spricht offiziellden Wunsch nach Aussöhnung aus, undverbindet damit die Absicht, eineninnergesellschaftlichen Dialog im Rah-men des türkischen Staates anzuregen.

12. Die kurdische Seite arbeitet einen Vor-schlag für ein Stufenprogramm der Ver-trauensbildung und Aussöhnung aus. Erenthält eine zeitliche Schrittabfolge pa-rallel zum Rückzug und zur Entwaff-nung der Guerilla, z.B.:

Stufe 1: Ausweitung der kurdischenMedienprogramme und Liberalisie-rung des Unterrichts in kurdischerSprache. Ausbildung von LehrerInnenfür den Kurdisch-Unterricht.

Stufe 2: Erleichterung der Rückkehrkurdischer Flüchtlinge in ihre Dörferund Städte und Unterstützung bei derWiederherstellung ihrer Lebensgrund-lagen. Aufnahme von Gesprächen zwi-schen den gewählten BürgermeisterIn-nen und einem von der Regierungbeauftragten Bevollmächtigten überProbleme und Wünsche der Bevölke-rung in den kurdischen Siedlungsge-bieten. Einsetzung einer paritätischenKommission von Regierungsseite undder Seite der BürgermeisterInnen zurUntersuchung und Regelung der Dorf-schützer-Problematik.

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Stufe 3: Amnestie für die politischenGefangenen und für die Beteiligten anden vorgängigen militärischen Konflik-ten auf beiden Seiten. Sie eröffnet u.a. die Rückkehrmöglichkeit und freiepolitische Betätigung für alle am Kriegbeteiligten Kurdinnen und Kurden,ohne dass sie durch den Staat der Tür-kei verfolgt werden. Zu diesem Zeit-punkt löst sich die PKK/Kongragel undihre Guerilla-Truppe endgültig auf. DieAmnestie schließt auch den Vorsitzen-den der PKK, Abdullah Öcalan, ein. DieBildung einer oder mehrerer politischerParteien, die auch die Interessen derkurdischen Bevölkerung vertreten, istmöglich, ohne dass sie als Nachfolgeor-ganisation der PKK verfolgt werden.

Stufe 4: Für die Ost- und Südost-Türkeimit den kurdischen Siedlungsgebietenwird ein umfassendes Entwicklungs-programm aufgelegt. Die EU und dieEU-Staaten bieten an, sich an diesemProgramm zu beteiligen. In diesemZusammenhang wird eine kurdischeInstitution gegründet, die sich für dieWiederentfaltung der kurdischen Kul-tur einsetzt. Der Unterricht in kurdi-scher Sprache wird für kurdische Kin-der eingeführt.

Stufe 5: Nach einer Wahlrechtsreform,die es den kurdischen Parteien ermög-licht, auch in der Großen Nationalver-sammlung vertreten zu sein, und nachParlamentswahlen beruft der Präsidenteine Verfassungskommission. Sie solldie heutige Verfassung in Hinblick auf

das gleichberechtigte Zusammenlebender Völker in der Türkei überprüfenund Vorschläge für eine Stärkung derregionalen und kommunalen Selbst-verwaltung ausarbeiten.

13. Die deutsche Bundesregierung setzt ihreim November ‘98 verkündete Initiativezur Förderung einer politischen Lösungin der Kurdenfrage um.

• Gleichstellung der Kurden: Mit derAnerkennung der Kurden als eigen-ständiger Bevölkerungsgruppe und derUmsetzung der sich daraus ergebendenRechte – muttersprachlicher Unter-richt, Rundfunk- und Fernsehsendun-gen in kurdischer Sprache, freieNamensgebung für kurdische Kinderund Einrichtung von Beratungs- undBetreuungszentren für Kurdinnen undKurden usw. – würde die Benachteili-gung der kurdischen Minderheit inDeutschland aufgehoben. Der Bundes-tagsbeschluss vom 7. November 1991(BT-Drucksache 12/1362) wird mitHilfe der Länder in die Tat umgesetzt.In ihm heißt es: »In der Bundesrepu-blik lebt eine große Gruppe von Kur-den. Auch ihnen muss die Möglichkeitzur Bewahrung und Entfaltung ihrerkulturellen Identität gegeben werden.«

• Kurdinnen und Kurden, die inDeutschland Asyl erhalten oder bean-tragt haben und sich in kurdischenOrganisationen betätigt haben, dürfenunter keinen Umständen in die Türkeizurück geschickt werden, ehe dort

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nicht eine generelle Amnestie für sol-che Personen ausgesprochen wurde. Indiesem Zusammenhang ist die Forde-rung nach einer Amnestie gegenüberder Türkei zu vertreten.

• Friedensforschungsinstitute werdengebeten, den Konflikt in seinen Dimen-sionen zu analysieren und daraus Stra-tegien ziviler Konfliktbearbeitung undVorschläge für eine politische Lösungzu entwickeln.

• Die Bundesregierung schlägt der EU-Kommission vor, im Rahmen der Bei-trittsverhandlungen eine Monitoring-Gruppe zu bilden, die alle relevantenInformationen zu dem Konflikt sam-melt und jährlich einen Bericht mitEmpfehlungen für die weitere zivileBearbeitung des Konflikts herausgibt.

14. Die USA drängen auf eine politischeLösung des türkisch-kurdischen Kon-flikts, um die Stabilität in Irakisch-Kur-distan zu sichern. Deshalb ersuchen siedie türkische Generalität, sich auf eineAmnestie für die Guerilla einzulassen.

15. Um dem Wunsch nach AussöhnungGlaubwürdigkeit zu verleihen, be-schließt Ankara eine Amnestie für alleaus politischen Gründen Verurteiltenund für alle, die an den Kämpfen teilge-nommen haben. Damit können diejeni-gen, die sich heute im Exil befinden, inihre Heimat zurückkehren und sich dortfür ihre Ziele mit demokratisch-politi-schen Mitteln einsetzen.

16. NRO in Deutschland bemühen sich,hiesige türkische und kurdische Verbän-de anzusprechen, und versuchen, mitihnen einen türkisch-kurdischen Dialogin Deutschland in Gang zu setzen. DasZiel ist, eine gemeinsame friedenspoliti-sche Position zu erarbeiten.

17. Rückzug der Guerilla aus der Türkeiund freiwillige Entwaffnung unter inter-nationaler Kontrolle. Auf Drohungenjedweder Art wird verzichtet.

18. In einem innergesellschaftlichen Dialogin der Türkei beginnt man auch darüberzu sprechen, in welcher Weise die multi-ethnische Dimension der Gesellschaft inder türkischen Verfassung zum Aus-druck gebracht werden sollte. Einen An-knüpfungspunkt bietet die Position vonKemal Atatürk, der in der frühen Phasedes Kampfes zur Bildung des National-staates Türkei die Kurden als Brudervolkbezeichnet und versprochen hatte, esgleichberechtigt an dem neuen Staat teil-haben zu lassen.

19. Zur Etablierung und Ausweitung vongesellschaftlichen Dialogen wird eineeuropäische Dialog-Stiftung geschaffen,die von der EU finanziert wird. Sie hatvor allem die Aufgabe, NRO und sozialeund berufliche Gruppen der Zivilgesell-schaft aus der Türkei und EU-Europamiteinander ins Gespräch zu bringen,die Zivilgesellschaft als Ansprechpartne-rin zum Abbau von Konflikten zu stärkenund das Interesse an der Lösung diesesProblems innerhalb der EU auszuweiten.

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20. In der Türkei wird eine Reihe friedens-politischer Symposien mit Teilnehme-rInnen aus der Türkei, aus Deutschlandund eventuell aus anderen EU-Ländernin Zusammenarbeit mit der Friedensfor-schung organisiert. In Vorträgen undArbeitsgruppen werden ethnopolitischeKonflikte in verschiedenen Staatenuntersucht und Erfahrungen mit Ver-söhnungsstrategien ausgewertet.

21. Wie bei den ErdbebenkatastrophenMenschen und Organisationen aus derganzen Türkei – und aus dem Ausland –geholfen und damit das Gefühl derZusammengehörigkeit gestärkt haben,wird solidarische Hilfe für die Flüchtlin-ge aus den kurdischen Siedlungsgebie-ten, die in ihre Heimatorte zurückkehrenwollen, aus der Türkei und Europa gelei-stet. Soziale Bewegungen und NROmobilisieren hierfür.

22. Im Sinne von Aussöhnungspolitik er-halten die so genannten Dorfschützereine gleichwertige Perspektive wie diezurückkehrenden Flüchtlinge. LokaleDialoge unter Anleitung geschulter Konfliktschlichter werden eingeleitet.Dafür werden in der Türkei lokale Kon-fliktschlichter ausgebildet.

23. Die Entwicklung im Osten und Süd-osten der Türkei ist bislang vernachläs-sigt worden. Um den Menschen in die-sen Gebieten Arbeits- und Einkom-mensmöglichkeiten zu schaffen, ist einegroße Anstrengung des Aufbaus – nachMöglichkeit international unterstützt –

notwendig. USA und EU erklären ihreBereitschaft, ein Entwicklungspro-gramm für die Region finanziell zuunterstützen. Zusätzlich sollte das BMZseine Zusammenarbeit mit Kommunender Region weiter entfalten. Durch Städ-tepartnerschaften und -kooperationenmit deutschen bzw. EU-Städten kanneine weitere Förderung der Regionerreicht werden.

24. Konzepte zur Stärkung der Verständi-gungs-, Schlichtungs- und Friedens-schaffensfunktion der OSZE werdenausgearbeitet und in die OSZE zur Dis-kussion und möglichen Beschlussfas-sung eingebracht. Friedensforschungund spezialisierte Institute sollten dafürherangezogen werden.

Der hier ansatzweise formulierte Fahrplanfür die Überwindung des türkisch-kurdi-schen Konflikts

n kann die Türkei und ihre Bürgerinnenund Bürger von der schon so langewährenden schweren Last des gewaltsa-men Konfliktaustrags befreien und dazubeitragen, dass der unabdingbare Frie-densdialog über die »Kurdenfrage«beginnt.

n er eröffnet eine konkrete und konstruk-tive Perspektive für die kurdische Bevöl-kerung und die kurdischen Organisatio-nen in der Türkei und in Europa.

n er erweitert die Erfahrungen und insti-tutionellen Instrumente Europas undder Türkei für eine Politik der zivilenKonfliktbearbeitung.

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Aktuelle Informationen sind verfügbar bei

Azadi, [email protected]; www.nadir.org/azadi/

DTF Infopost – Informationen des Demokra-tischen Türkeiforums, [email protected],www.tuerkeiforum.net

ISKU / Informationsstelle Kurdistan e.V.,[email protected]; www.nadir.org/isku/

Kurdistan Report, www.kurdistanreport.de

Kurdistan Rundbrief,www.kurdistan-rundbrief.de

Koalition für einen Demokratischen Irak (KDI),[email protected]

Mezopotamian Development Society,[email protected]

NAVEND – Zentrum für kurdische Studien e.V.,[email protected], www.navend.de

Nützliche Nachrichten – Dialog-Kreis:»Die Zeit ist reif für eine politische Lösung imKonflikt zwischen Türken und Kurden,[email protected], www.dialogkreis.de

Kurdisches PEN-Zentrum,[email protected], www.pen-kurd.org

Zentrum für Türkeistudien, www.zft-online.de

Weiterführende Literatur

Al-Dahoodi, Zuhdi: Die Kurden: Geschichte,Kultur und Überlebenskampf, Frankfurt amMain 1987

Ammann, Birgit: Kurden in Europa:Ethnizität und Diaspora, Münster 2000

Besikci, Ismail: Kurdistan – Internationale Kolonie, Frankfurt am Main 1991

Bruinessen, Martin van: Agha, Scheich undStaat: Politik und Gesellschaft Kurdistans,Berlin 1989

Buro, Andreas: BürgerInnen-Information:Das Monitoring-Projekt – Zivile Konflikt-bearbeitung, Gewalt und Kriegsprävention,Hg.: Kooperation für den Frieden,Bonn 2006 (Bestellung siehe Rückseite)

Dialog-Kreis (Hg.): Parlamentarier der Türkeidurchbrechen Tabu in der Kurdenfrage,Idstein 1998

Dialog-Kreis (Hg.): Wirtschaft contra Militär in der Türkei. Aus dem TÜSIAD-Bericht»Perspektiven der Demokratisierung in derTürkei«, Idstein 1997

Dietert-Scheuer, Amke: Möglichkeiten der Konfliktlösung in der Türkischen Republik,Hamburg 1999

Dialog-Kreis (Hg.): Zur Lage und zu den Erwar-tungen der kurdischen Vertriebenen. EineStudie von Göc-Der, Köln 2002

Günther, Siegwart-Horst; Brentjes, Burchard:Die Kurden. Ein Abriss zur Geschichte und Erfahrungsberichte zur aktuellen humanitären Situation, Wien 2001

IPPNW (Hg.): Deutschland und NATO im Türkei-Kurdistan-Krieg, Berlin 1999

Kizilhan, Ilhan: Der Sturz nach oben. Kurden inDeutschland, Frankfurt am Main 1995

Kieser, Hans-Lukas: Der verpasste Friede:Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovin-zen der Türkei 1839–1938, Zürich 2000

Steinbach, Udo: Geschichte der Türkei,München 2000

Strohmeier, Martin; Yalçin-Heckmann, Lale:Die Kurden: Geschichte, Politik, Kultur,München 2000

Sahin, Mehmet: Die Europäische Union,die Türkei und die Kurden, Köln 2001

Sahin, Mehmet; Kaufeld, Ralf: Daten und Fakten zu Kurden und Kurdistan,Eine Chronologie, Köln 2002

Uzun, Mehmed: Einführung in die kurdischeLiteratur, St. Gallen 1994

Welt-Geschichte, Bd. 3 und 5, Göttingen 1996(Bertelsmann Lexikon Verlag)

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Die Kooperation für den Frieden

n organisiert Diskussions- und Bera-tungsprozesse innerhalb der Friedens-bewegung

n fördert den Austausch von Informa-tionen und Einschätzungen zwischenOrganisationen und Gruppen

n unterstützt oder initiiert Veranstaltun-gen und Kampagnen

Kooperation für den Frieden (www.koop-frieden.de)

ist ein Zusammenschluss friedenspolitisch aktiver Organisationen und Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland.

Bestellung anKooperation für den FriedenRömerstr. 88 · 53111 Bonn

Tel. 02 28/69 29 04 · Fax 02 28/69 29 [email protected]

SpendenkontoFörderverein Frieden e.V.Konto-Nr. 33 0 35 Sparkasse Bonn (BLZ 380 500 00)Stichwort: Monitoring-Projekt

n veröffentlicht die aus diesen Prozessenhervorgegangenen Positionen

n verbreitet Aktionsvorschläge für die Friedensarbeit

n ermöglicht persönliche Kontakte zwischen Aktiven, z.B. bei der Mitarbeitim Kooperationsrat oder bei den jährlichen Konferenzen.

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