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1. Die Formulierung der Erklärung der Menschenrechte vor 60 Jahren war und ist eine Antwort der Menschheit auf eine der größten Katastrophen ihrer Ge- schichte. 1948 waren die Folgen des zweiten Weltkriegs noch sichtbar, das kol- lektive Leiden prägte noch die Stimmung in vielen Ländern. Das Gefühl des Versagens der Menschheit führte zu einer kraftvollen Betonung der Würde des Menschen und der Notwendigkeit, diese zu schützen. 2. 60 Jahre nach der Proklamierung der Allgemeinen Erklärung der Menschen- rechte hat die Weltgemeinschaft viele bedeutsame Schritte vollbracht. Es gibt immer noch Kriege, kulturell und/oder religiös begründete Traditionen und autokratische Machtsysteme, welche die Würde des Menschen verletzen und seine Entfaltung verhindern. Aber das Bewusstsein um die Notwendigkeit des Schutzes des Menschen und der Justitiabilität der Menschenrechte sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene sind zumindest theoretisch größer geworden. 3. Es ist nicht überflüssig zu betonen, dass es Afrika nur im Plural gibt. Trotz dieser Differenzierung ist der Lebensbegriff für viele afrikanische Kulturkreise zentral. Leben steht im Zentrum der Gesellschaftsordnung, sein Schutz und seine Förderung ist das zentrale Kriterium des Handelns der Menschen. Leben ist sowohl in seiner kulturell-politischen, sozialen als auch kosmischen Dimen- sion zu begreifen. 4. Malu Nyimi, ein kongolesischer Theologe, bezeichnet die afrikanische Gegen- wartsgeschichte als thanatologisch. »Sie ist nicht nur Ausrottung des Menschen, sondern Abwesenheit Gottes (...) Bei aller politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Unterschiedlichkeit seiner Parameter ist der (aktuelle) Kontext doch eins: eine Geschichte der Missachtung der Würde der menschlichen Person, der Pervertierung der politischen Geschichte ihrer Gemeinschaft und demzufolge der Zerstörung der psychologischen Ressourcen (...)«. 5. »Das Leben, das es zu fördern gilt, wird als das kostbarste Geschenk erfah- ren, das Gott den Menschen hat zuteil werden lassen«, schreibt Bénézet Bujo. Dies suggeriert eine schöpfungstheologische Begründung für den Respekt des Menschenlebens. Aber diese Begründung, die oft das Motiv der Ebenbildlich- keit in den Vordergrund stellt, ist nicht zwingend. Auch ohne religiöse Bezüge ist das Leben wert und verdient es, verteidigt zu werden. Der religiöse Bezug liefert eine zusätzliche Motivation für die Verteidigung des Lebens in seiner Multidimensionalität. 6. Die Kirchen taten sich schwer, sich zum Menschenrechtsansatz zu beken- nen. Dies hatte mit der Ungleichzeitigkeit der Kirchen zu tun, nicht mit der In- kompatibilität des Menschenrechtsansatzes mit dem christlichen Glauben. Das christliche Gebot der Nächstenliebe ist sogar radikaler als der Menschen- rechtsansatz. 7. Aus dem traditionellen afrikanischen Lebensverständnis ergibt sich das Ge- bot, alles zu vermeiden, was Lebensvitalität und Lebenswachstum zerstört Die Theologie der Menschenrechte aus afrikanischer Sicht 1 Editorial 2 Menschenrechte und Armutsbekämp- fung im Südlichen Afrika 3 Souveränität des Marktes und neue globale Apartheid aus der Perspektive Wolfram Kistners 4 Menschenrechte und Unternehmen: Rückkehr der /zur Politik? 6 Das Recht auf soziale Sicherheit – ein vergessenes Menschenrecht? 8 Privatisierung und Aneignung in Krisenzeiten 11 25 Jahre Werkstatt Ökonomie 12 Aus der laufenden Arbeit 7. Asia Europe People’s Forum in Beijing 15 Aktion fair spielt 16 Deutsches NRO-Forum Kinderarbeit 17 Jahrbuch Gerechtigkeit 17 Website 18 Mitgliederversammlung 2008 18 Neu im Team 19 Werkstatt-Projekte 20 Impressum 20 Die Theologie der Menschenrechte aus afrikanischer Sicht Thesen von Boniface Mabanza Inhaltsverzeichnis Boniface Mabanza FÜR MITGLIEDER & FREUNDE · NUMMER 50 · DEZEMBER 2008

Die Theologie der Menschenrechte aus afrikanischer Sicht · 16. Die Aufmerksamkeit der Theologie der Menschenrechte aus der Sicht des Südens gilt nicht der Praxis der Men - schenrechte

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1. Die Formulierung der Erklärung der Menschenrechte vor 60 Jahren war undist eine Antwort der Menschheit auf eine der größten Katastrophen ihrer Ge-schichte. 1948 waren die Folgen des zweiten Weltkriegs noch sichtbar, das kol-lektive Leiden prägte noch die Stimmung in vielen Ländern. Das Gefühl desVersagens der Menschheit führte zu einer kraftvollen Betonung der Würde desMenschen und der Notwendigkeit, diese zu schützen.

2. 60 Jahre nach der Proklamierung der Allgemeinen Erklärung der Menschen-rechte hat die Weltgemeinschaft viele bedeutsame Schritte vollbracht. Es gibtimmer noch Kriege, kulturell und/oder religiös begründete Traditionen undautokratische Machtsysteme, welche die Würde des Menschen verletzen undseine Entfaltung verhindern. Aber das Bewusstsein um die Notwendigkeit desSchutzes des Menschen und der Justitiabilität der Menschenrechte sowohl aufnationaler als auch internationaler Ebene sind zumindest theoretisch größergeworden.

3. Es ist nicht überflüssig zu betonen, dass es Afrika nur im Plural gibt. Trotzdieser Differenzierung ist der Lebensbegriff für viele afrikanische Kulturkreisezentral. Leben steht im Zentrum der Gesellschaftsordnung, sein Schutz undseine Förderung ist das zentrale Kriterium des Handelns der Menschen. Lebenist sowohl in seiner kulturell-politischen, sozialen als auch kosmischen Dimen-sion zu begreifen.

4. Malu Nyimi, ein kongolesischer Theologe, bezeichnet die afrikanische Gegen-wartsgeschichte als thanatologisch. »Sie ist nicht nur Ausrottung des Menschen,sondern Abwesenheit Gottes (...) Bei aller politischen, sozialen, kulturellen undreligiösen Unterschiedlichkeit seiner Parameter ist der (aktuelle) Kontext docheins: eine Geschichte der Missachtung der Würde der menschlichen Person, derPervertierung der politischen Geschichte ihrer Gemeinschaft und demzufolgeder Zerstörung der psychologischen Ressourcen (...)«.

5. »Das Leben, das es zu fördern gilt, wird als das kostbarste Geschenk erfah-ren, das Gott den Menschen hat zuteil werden lassen«, schreibt Bénézet Bujo.Dies suggeriert eine schöpfungstheologische Begründung für den Respekt desMenschenlebens. Aber diese Begründung, die oft das Motiv der Ebenbildlich-keit in den Vordergrund stellt, ist nicht zwingend. Auch ohne religiöse Bezügeist das Leben wert und verdient es, verteidigt zu werden. Der religiöse Bezugliefert eine zusätzliche Motivation für die Verteidigung des Lebens in seinerMultidimensionalität.

6. Die Kirchen taten sich schwer, sich zum Menschenrechtsansatz zu beken-nen. Dies hatte mit der Ungleichzeitigkeit der Kirchen zu tun, nicht mit der In-kompatibilität des Menschenrechtsansatzes mit dem christlichen Glauben.Das christliche Gebot der Nächstenliebe ist sogar radikaler als der Menschen-rechtsansatz.

7. Aus dem traditionellen afrikanischen Lebensverständnis ergibt sich das Ge-bot, alles zu vermeiden, was Lebensvitalität und Lebenswachstum zerstört

Die Theologie der Menschenrechte aus afrikanischer Sicht 1

Editorial 2

Menschenrechte und Armutsbekämp-fung im Südlichen Afrika 3

Souveränität des Marktes und neue globale Apartheid aus der Perspektive Wolfram Kistners 4

Menschenrechte und Unternehmen:Rückkehr der /zur Politik? 6

Das Recht auf soziale Sicherheit – ein vergessenes Menschenrecht? 8

Privatisierung und Aneignung in Krisenzeiten 11

25 Jahre Werkstatt Ökonomie 12

Aus der laufenden Arbeit

7. Asia Europe People’s Forum in Beijing 15

Aktion fair spielt 16

Deutsches NRO-Forum Kinderarbeit 17

Jahrbuch Gerechtigkeit 17

Website 18

Mitgliederversammlung 2008 18

Neu im Team 19

Werkstatt-Projekte 20

Impressum 20

Die Theologie der Menschenrechte aus afrikanischer SichtThesen von Boniface Mabanza

Inhaltsverzeichnis

Boniface Mabanza

FÜR MITGLIEDER & FREUNDE · NUMMER 50 · DEZEMBER 2008

Umbruch Dez-50:Umbruch 04/45 12.12.08 12:41 Seite 1

oder vermindert. Ein durch Leidengezeichneter Mensch verliert seineLebenskraft und kann auch zur Stär-kung der Lebenskraft der Gemein-schaft nicht beitragen. Lebenskrafthat mit dem universellen Anspruchauf ein menschenwürdiges Leben zutun. Dieses misst sich an der Möglich-keit von Menschen, zumindest ihreGrundbedürfnisse auf gesicherter Ba-sis zu befriedigen.

8. Vor dem Hintergrund eines Lebensohne Kampf analysierte die kamer-unische Bischofskonferenz die struk-turellen Ursachen der Menschen-rechtsverletzungen: »Ursache undUrsprung des Übels, unter dem wirleiden, finden sich in erster Linie inden sündigen Strukturen, die die Weltvon heute beherrschen (...). Esscheint (...), dass diese sündigenStrukturen aufs engste mit der iminternationalen Leben waltenden po-litischen, wirtschaftlichen und kultu-rellen Ordnung zusammenhängen.Die Krise ist zuallererst ein Phäno-men, das durch die Weltwirtschafts-ordnung hervorgerufen ist, die ihrer-seits allein auf Profit, Egoismus, Aus-beutung der Armen, Schwachen undUnterdrückten durch die Reichenund Mächtigen dieser Welt basiert.«

9. Die Erwähnung struktureller undauf globale Zusammenhänge zurück-zuführende Menschenrechtsverlet-zungen darf nicht den Eindruck er-wecken, dass alle Menschenrechts-probleme auf die Weltwirtschaftsord-nung zurückzuführen sind. Es gibtohne Zweifel kontextspezifischeMenschenrechtsverletzungen, die diejeweiligen Gesellschaften vor erhebli-che Herausforderungen stellen. Eserfordert Selbstkritik, um einen kon-struktiven Umgang mit positiven Im-pulsen von außen und einen kreati-ven und innovativen Umgang mit deneigenen aus heutiger Sicht men-schenrechtsverletzenden kulturellenTraditionen zu erzwingen. Aus afrika-nisch-theologischer Sicht gibt es kei-nen Grund für die Rechtfertigung derUnterdrückung von Menschen.

10. Ohne die traditionsspezifischenUrsachen von Menschenrechtsverlet-zungen vernachlässigen zu wollen,empfiehlt es sich aus theologischerSicht, die schon erwähnte neoliberaleGlobalisierung aufgrund ihrer Struk-turen der Gewalt und des Todes inden Blick zu nehmen.

11. Zur Bewahrung und Förderungder Würde der Menschen bedarf eseiner politischen, wirtschaftlichen,sozialen und kulturellen Ordnung, diedieser Würde zu ihrem Recht verhilftund sie schützt. Menschenrechts-schutz bedarf strukturpolitischerMaßnahmen. Nur menschenrechts-und entwicklungsfreundliche globaleRahmenbedingungen, die eine konse-quente Transformationspolitik aufden Weg bringen, bieten eine Chance,Armut, Hunger und Gewalt erfolg-reich zu bekämpfen.

12. Nur demokratische und starkemultilaterale Institutionen, die tat-sächlich in der Lage sind, auf globaleHerausforderungen wie den Klima-wandel, explodierende Rohstoffprei-se und die Welternährungskrise, diedas Leben bedrohen, menschen- undumweltgerecht zu reagieren, könneneinen positiven Beitrag zum Schutzder Menschenrechte leisten.

13. Menschenrechtsaktivisten undUmweltschützer in Afrika und überallin der Welt sehnen sich nach einerstarken internationalen Organisation,die nach dem Vorbild der Welt -handels organisation (WTO), ausge-stattet mit einem Schiedsgericht undmit Sanktionsmacht, ihre Belangedurchzusetzen vermag. Das WTO-Re-gime verfügt über diese Instrumenteund bringt sie immer zur Geltung, so-bald ein Verstoß gegen die Wettbe-werbsregel vorliegt. Dabei wird inKauf genommen, demokratisch abge-stimmte und auf soziale Gestaltunggerichtete Entscheidungen außerKraft zu setzen. Dass die WTO selbstnoch nicht bereit ist, ökologische undsoziale Fragen konsequent auf dieAgenda zu setzten und stattdessendas überholte Leitbild eines unge-bremsten Freihandels weiter fördert,sagt viel über den Stellenwert derMenschenrechte aus.

14. Wirtschaftliche, soziale und kultu-relle Menschenrechte werden oft fürdie Durchsetzung politischer undwirtschaftlicher Interessen missach-tet oder missbraucht. Politik undWirtschaft sind kein Selbstzweck. Siehaben die Aufgabe, Menschen zu die-nen. Theologie der Menschenrechteaus der Sicht der Leidenden hat diePflicht, jeden Versuch der Instrumen-talisierung des Menschenrechtsdis-kurses zu denunzieren. Menschen-rechte dürfen nicht zu einer Legiti-mationskategorie verkommen.

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Editorial

Zwei Jubiläen im Dezember2008 prägen diesen Rundbrief:Am 1. Dezember wurde dieWerkstatt Ökonomie 25 Jahrealt. Und neun Tage später, am10. Dezember jährte sich dieVerabschiedung der Allgemei-nen Erklärung der Menschen-rechte durch die Vollversamm-lung der Vereinten Nationenzum 60. Mal.

Das erste Jubiläum war Anlass,einige – zum Teil langjährige –Wegbegleiter und Koopara-tionspartner um eine Rück-schau und Würdigung diesesgemeinsamen Engagements zubitten. Allen, die dieser Einla-dung gefolgt sind, sei herzlichgedankt.

Das zweite Jubiläum war An-lass, die Menschenrechte – ins-besondere die wirtschaftlichen,sozialen und kulturellen Rech-te, die den zentralen Bezugs-punkt der Arbeit der WerkstattÖkonomie darstellen – von un-seren jeweiligen Arbeitsschwer-punkten her zu thematisieren.

Im Namen des Vorstands unddes Teams möchte ich michauch an dieser Stelle für dasVertrauen und die Unterstüt-zung bedanken, mit denen Sieuns als Mitglied des Trägerver-eins oder als Kooperationspart-ner über die Jahre beschenkthaben.

Ich wünsche Ihnen ein gesegne-tes Weihnachtsfest und ein gu-tes, gesundes Jahr 2009.

Uwe Kleinert

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Menschenrechte und Armutsbekämpfung im Südlichen Afrikavon Simone Knapp

15. Die Theologie der Menschenrech-te aus der Sicht des Südens denun-ziert sowohl die Stilisierung der Men-schenrechte zu einem Identitäts-merkmal des Westens, das ihn in sei-nem Wesen von den Anderen unter-scheidet und die Überlegenheit sei-ner geistigen Entwicklung untermau-ert, als auch die reaktive Selbstdefini-tion derer, die den kulturellen Kampfschüren, die eigenen kulturellen Tra-

Konformität mit den WSK-Rechtenhin zu überprüfen. Die Justitiabilitätder WSK-Rechte wird somit an kon-kreten Situationen erprobt. Die Justizmuss sich also immer wieder der Ein-gangsfrage stellen: Was macht denMenschen zum Menschen? Wasbraucht er zum Leben, oder besser:für ein »gutes« Leben?

David Bilchitz identifiziert zweiGrundbedingungen für ein lebenswer-tes Leben: die Möglichkeit, positiveErfahrungen zu machen, und die Mög-lichkeit, seiner Bestimmung nachzu-kommen. Dabei gebe es zwar Überein-stimmungen, aber eben auch kulturel-le Unterschiede in der Definition, wasein gutes Leben sei. Umso wichtigersei es in einem kulturell sehr hetero-genen Land wie Südafrika, möglichstviele Interpretationsebenen offen zuhalten.

Grundsicherung für manche

Die Verfassung schreibt eine progres-sive Realisierung der WSK-Rechte vor.Hier gibt es zwei unterschiedlicheInterpretationen, was »progressiv« inBezug auf die Umsetzung bedeutenkann. Erstens: Die einzelnen Rechtekönnen je nach Ressourcenlage suk-zessive – eines nach dem anderen –umgesetzt werden. Dem gegenübersteht zweitens die Interpretation,nach der – unabhängig von den zur

Verfügung stehenden Ressourcen2 –jeder zumindest genügend zum Über-leben erhalten muss (Minimalstan-dard); danach können die Lebensbe-dingungen Schritt für Schritt auf einangemessenes Niveau angehoben wer-den.

Die Umsetzung des Minimalstandardswürde allerdings voraussetzen, dassdie Politik eine Armutsgrenze defi-niert. Wer unterhalb dieser Grenzeliegt, dessen Überleben müsste alsmassiv gefährdet gelten und hätte An-spruch auf staatliche Hilfe. Südafrikahat bis heute keine solche Armuts-grenze definiert. Die Konsequenz da-von ist, dass das relativ aufgefächertesoziale Sicherungssystem sich nichtan der Erfüllung des Minimalstan-dards orientiert, eklektisch wirkt unddaher Lücken aufweist. Die an Bedin-gungen geknüpften Versicherungenoder staatlichen Zuwendungen errei-chen nicht alle Bedürftigen.

So wird das Kindergeld nur für Kinderbis 14 Jahre gezahlt, eine Unterstüt-zung für Arbeitslose gibt es nicht. DieZuwendungen sind an Anträge ge-knüpft, die oft gerade von den Bedürf-tigsten nicht gestellt werden können,da ihnen Unterlagen– etwa ihre Ge-

»… [Ich] komme immer wieder auf die Frage: Wasmacht uns zum Menschen? [Ich] habe keine endgültigeErklärung.«1 (Wolfram Kistner)

ditionen missbrauchen, um die Ver-wirklichung der Menschenrechte zuverhindern.

16. Die Aufmerksamkeit der Theologieder Menschenrechte aus der Sicht desSüdens gilt nicht der Praxis der Men-schenrechte in Europa oder Nordame-rika, sondern ihrer Relevanz zur Ent-faltung des Menschen als Menschen.Menschenrechte sind dafür da, Le-

bensvitalität und Lebenswachstum zuschützen und zu fördern. Theologie istdem Gerechtigkeitsprinzip verpflich-tet. Sie erkennt die Würde der Men-schen an und setzt sich für ihre Vollen-dung ein. Dort, wo diese Würde ver-letzt wird, tritt sie für ihre Wiederher-stellung ein.

Südafrika hat seit 1996 eine der pro-gressivsten Verfassungen der Welt, inderen zweiten Kapitel, dem Bill ofRights, auch die wirtschaftlichen, sozi-alen und kulturellen Menschenrechte(WSK-Rechte) ihren Platz fanden.Gleichzeitig ist Südafrika eines derLänder mit dem höchsten Gini-Koeffi-zienten (zwischen 0,55 und 0,59), einLand also, in dem die Kluft zwischenArm und Reich extrem groß ist.

Die Frage nach der Menschenwürde,nach dem Wert des Menschen, drängtsich angesichts der Situation in Län-dern wie Südafrika auf. Wie steht esmit der Umsetzung des Rechts aufausreichend Nahrung und Wasser, Ge-sundheitsversorgung oder freie Wohn-ortwahl?

In der südafrikanischen Verfassungsind die Werte Gleichheit, Freiheit,Recht auf Leben und Menschenwürdeverankert; die Formulierungen sindallerdings sehr vage gehalten und be-dürfen der Interpretation. Der Begriffder Menschenwürde (human dignity)zum Beispiel wird nicht weiter ausge-führt. Aber die Verfassung legt auchfest, dass jeder ein Recht auf Zugangzu angemessener Unterkunft, genü-gend Nahrungsmitteln sowie sozialerSicherheit hat.

Die Justiz – besonders das Verfas-sungsgericht – hat die Aufgabe, Geset-ze und Programme der Regierung auf

Simone Knapp

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burtsurkunde – fehlen, sie keinen Zu-gang zu den relevanten Informationenhaben oder durch Korruption in denÄmtern an einer Antragstellung gehin-dert werden. Oft fehlt schlicht dasGeld, um bei dem entsprechendenAmt vorstellig zu werden.

Noch dramatischer ist die Situation,wenn bei Veränderungen Gelder weg-brechen, bevor andere Maßnahmengreifen. So wird zwar HIV/AIDS-Kran-ken eine Invalidenrente gezahlt, dieihnen die Einnahme von antiretrovira-len Medikamenten ermöglicht. Geht esihnen aber wegen der Medikation wie-der besser, fällt der Anspruch auf dieRente weg.

Studien zeigen zwar, dass diejenigen,die von sozialen Sicherungssystemenprofitieren, sich materiell verbessern,dass sie sich aber aufgrund der relati-ven finanziellen Unsicherheit keinenachhaltige wirtschaftliche Grundlageschaffen können.

Grundeinkommen für alle

Der Vorteil eines universellen oder be-dingungslosen Grundeinkommenshingegen ist die finanzielle Sicherheitauch in Zeiten von sich veränderndenLebenssituationen, die Ausschaltungder Korruption sowie die Wahrung desGleichheitsanspruchs.

In Namibia wird derzeit das Basic In-come Grant (BIG) in einem Pilotpro-jekt3 getestet: Die im Pilotdorf Otjive-ro registrierten Menschen zwischen 0

und 59 Jahren – danach setzt diestaatliche Rente ein – erhalten proMonat 100 namibische Dollar, was et-wa acht Euro entspricht. Die ersteStudie nach einer halbjährlichen Lauf-zeit belegt, dass die Menschen in Otji-vero nicht nur besser ernährt sind, ih-re Kinder in die Schule schicken undsich früher medizinisch behandeln las-sen, sondern dass sie sich darüber hin-aus selbständig Einkommen schaffenund auf ausbeuterische Arbeitsbedin-gungen nicht mehr angewiesen sind.

Hier zeigte sich bereits vor der erstenAuszahlung, dass die Aussicht auf einesoziale Grundsicherung den bishermarginalisierten Menschen Hoffnungund eine Zukunftsperspektive gab.Das Recht auf die Auszahlung jenseitsvon entwürdigenden Antragsverfah-ren, die Gleichbehandlung aller gab ih-nen ihre Menschenwürde zurück underfüllt so die Bedingungen für dieWahrnehmung des Rechts auf einmenschenwürdiges und selbstbe-stimmtes Leben.

Das BIG allein ist sicher kein Allheil-mittel gegen Armut, es stellt jedoch ei-ne Basis dar, auf der andere soziale Si-cherungssysteme aufbauen können.Es entbindet die Regierung also nichtdavon, weitere flankierende Maßnah-men zur Armutsbekämpfung bereitzu-stellen, um die progressive Realisie-rung der WSK-Rechte zu gewährleis-ten.

Was viele wissenschaftliche Studienaufzeigen, wird auch in Otjivero deut-

lich: Die Menschen sind mehr als be-reit, für ein besseres Leben zu arbei-ten, wenn sie denn die Möglichkeit da-zu haben und ein entsprechender Ar-beitsplatz zur Verfügung steht.

Für Wolfram Kistner hatten Men-schenrechte immer mit Gerechtigkeitim biblischen Sinne zu tun. Der hebrä-ische Ausdruck für Gerechtigkeit kannauch mit »gemeinschaftsgemäßes Ver-halten« übersetzt werden. Und auchdas wurde bereits im Vorfeld des Pilot-projektes deutlich: Die Aussicht aufetwas mehr wirtschaftliche Gerechtig-keit veranlasste die zusammen gewür-felten Menschen in Otjivero dazu, sichzu einer echten strukturierten Ge-meinschaft zu entwickeln – auch umNamibia und der ganzen Welt zu zei-gen, dass »Armut nicht gleichbedeu-tend mit Unfähigkeit und Dummheit«4

ist.

1. Wolfram Kistner in einem Interview mit Gisela Al-brecht, CD zu Wolfram Kistner, Gerechtigkeit undVersöhnung, 2008

2. Laut Allgemeinem Kommentar des UN-Ausschus-ses für WSK-Rechte

3. www.bignam.org4. Bischof Zephania Kameeta in einem Gespräch mitAbgeordneten in Berlin (1.12.2008)

Literatur:

Bilchitz, David: Poverty and Fundamental Rights. TheJustification and Enforcement of Socio-EconomicRights. Oxford, 2007Kallmann, Karen: Towards a BIG paradigm shift: arights based approach to poverty alleviation. CapeTown, 2006Kistner, Wolfram: Gerechtigkeit und Versöhnung.Theologie und Kirche im Transformationsprozess desneuen Südafrika. Hannover, 2008

Souveränität des Marktes und neue globale Apartheid ausder Perspektive Wolfram Kistners

Globalisierung und Menschenrechtevon Hanns Lessing

Am 13. November wurde in Berlinim Rahmen einer unter anderemvon der KASA durchgeführten Ver-anstaltung das Buch »Wolfram Kist-ner. Gerechtigkeit und Versöhnung.Theologie und Kirche im Transfor-mationsprozess des neuen Südafri-ka. Sammelband mit Beiträgen ausden Jahren 1985 bis 2006« (LVH,Hannover 2008) vorgestellt. Der fol-gende Text ist ein Auszug aus demdort gehaltenen Vortrag von Dr.Hanns Lessing. Er ist Pfarrer der

Evang. Kirche von Westfalen, Mit-herausgeber des Sammelbandesund Mitglied im Geschäftsführen-den Ausschuss der KASA.

Die aktuelle Finanzkrise hat inDeutschland eine neue wirtschafts-ethische Debatte provoziert. Im Julihat die EKD eine Denkschrift zumThema »Unternehmerisches Han-deln in evangelischer Perspektive«veröffentlicht, in der sie die Wirt-schaft in liberaler Tradition als das

Ergebnis von Entscheidungen be-greift, die freie Unternehmer in eige-ner Verantwortung treffen. Die Frage,ob der gegenwärtige Zusammen-bruch unter Umständen das Produkteiner Systemkrise des neoliberalenKapitalismus darstellt, kommt ausdieser Perspektive überhaupt nicht inden Blick.

Wolfram Kistner †

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Die Gegenreaktion fiel entsprechendscharf aus. Die von Ulrich Duchrowund Franz Segbers herausgegebeneStreitschrift Frieden mit dem Kapi-tal? Wider die Anpassung derevangelischen Kirche an die Machtder Wirtschaft verortet die Denk-schrift in der deutschen Tradition derAllianz von Thron und Altar und for-dert in Aufnahme von Bonhoeffersberühmtem Diktum, dass die Kirchedem Rad in die Speichen fallen muss.Die Autoren dieses Buches sehen dieLösung der gegenwärtigen Problemein der Formation einer starkenGegenmacht, die wenigstens die»gröbsten Fehlentwicklungen,Schieflagen und verheerenden so-zialen und ökologischen Verwer-fungen« einzudämmen sucht.

Wolfram Kistner hat sich schon vorder Befreiung Südafrikas immer wie-der mit wirtschaftlichen Fragen be-schäftigt. Wie die historischen Beiträ-ge in dem Sammelband belegen, saher die Wurzeln des Systems derApart heid in den Strukturen des glo-balen Kapitalismus begründet, derMenschen nicht unter dem Gesichts-punkt ihrer von Gott geschaffenenWürde, sondern allein aus der Per-spektive des Verwertungsinteressesbeurteilt [79]. Auch die neue Demo-kratie in Südafrika sah Kistner vonAnfang an durch wirtschaftlicheMachtstrukturen bedroht. Scharf kri-tisiert er in diesem Zusammenhangdie Entstehung einer »neuen globa-len Apartheid« [210].

Es ist deutlich, dass Kistner aus die-ser Perspektive die Unternehmens-denkschrift der EKD genau so kriti-siert hätte, wie er auch schon dieWirtschaftsdenkschrift von 1992 inFrage gestellt hatte [260]. Gleichzei-tig präsentiert er eine ganz eigeneForm der Globalisierungskritik. DieKritik des neoliberalen Kapitalismusartikuliert sich bei ihm nicht primär inder Form einer Ablehnung des Sys-tems oder in der Forderung nach ei-nem Regelwerk für eine gerechtereWeltwirtschaftsordnung, sondernzielt auf eine neue Betonung derMenschenrechte. Wichtig ist ihm da-bei, dass menschliches Leben niemalsvollständig in den Verfügungsbereichpolitischer oder wirtschaftlicherMacht geraten darf und gerade in die-ser Unverfügbarkeit geschützt wer-den muss. Die Debatte um die Not-wendigkeit einer Grundsicherung

und die Versuche, in den aktuellenDiskussionen um Folter, Flugzeugab-schüsse und medizinische Ethik denBegriff der Menschenwürde aufzu-weichen, zeigen, wie aktuell KistnersGedanken sind.

Klassische Menschenrechtsformulie-rungen in Verfassungen und interna-tionalen Verträgen werden, wie Kist-ner in Anschluss an den italienischenPhilosophen Giorgio Agamben argu-mentiert, dadurch geschwächt, dasssich die wirklich Mächtigen, die dieseKataloge beschließen, selbst nicht ansie halten und von niemandem zu ei-ner Einhaltung gezwungen werdenkönnen. Gerade in der südlichen He-misphäre wird deutlich, dass sich we-der die Regierungen noch die trans-kontinentalen Konzerne an dieRechtsordnungen halten, die sie selbstpropagieren. Kistner macht sich mitBlick auf die Macht keine Illusionen:Wer wirklich souverän ist, hält sichnicht an Gesetze, sondern versuchtdie, die unter seiner Macht stehen, zubeherrschen und auszubeuten.

Es reicht nach Kistners Überzeugungdeshalb nicht aus, die Menschenrechtein Verfassungstexte einzutragen. Einewirklich starke Begründung der Men-schenrechte muss nach seiner Ansichtdas Ergebnis eines neuen Exodus sein,der das menschliche Leben aus derVerfügung durch politische und wirt-schaftliche Macht befreit.

In einer Bibelarbeit über die Gabe derZehn Gebote am Sinai weist Kistnerdarauf hin, dass die GerechtigkeitGottes von einem Ort in der Wüsteausgeht. Gottes Gerechtigkeit kannnie eine Gerechtigkeit der Machtsein, die den Menschen nur als Unter-tan oder als Ware kennt. In der Un-wirtlichkeit der Wüste erledigt sichjeder Machtanspruch von selbst undes wird deutlich, dass sich Gottes Ge-rechtigkeit in der Befreiung von jederForm der Knechtschaft ausdrückt.

In einem Text zu den Bedingungenfür eine tiefgreifende Entkolonialisie-rung des südlichen Afrika entwickeltKistner aus diesen Gedanken eineganze Gesellschaftskonzeption: Un-abhängig davon, ob Gott in einer Ver-fassung erwähnt wird, zeichnen sichwirklich demokratische Gesellschaf-ten dadurch aus, dass der Thron derHerrschaft sich an einem Ort befin-det, der außerhalb der Verfügung desMenschen steht [274]. Nur dann kön-

nen Gerechtigkeit und Menschlich-keit von dem Missbrauch durch dieMacht geschützt werden. Aufgabeder Kirchen ist es unter diesen Um-ständen, immer wieder darauf hinzu-wirken, dass menschliche Machtnicht mit göttlicher Macht verwech-selt wird und die Unverfügbarkeitmenschlichen Lebens geachtet undgeschützt wird.

In seiner Auslegung der Sinaige-schichte fasst Kistner dieses Ver-ständnis der Menschenrechte in diefolgenden Worte:

»Als Herrscher befreit der ,Souverän‘sich selbst von den Gesetzen oder erwendet sie für sich selbst nur insofernan, als sie seinen Zwecken dienen.Innerhalb einer auf solchem Ver-ständnis von Herrschaft beruhendenpolitischen und wirtschaftlichen Ord-nung ist das Leben der Menschennicht etwas, was unter allen Umstän-den geachtet werden muss. Menschli-ches Leben kann vom Herrschendengebannt oder zerstört werden. […]

Wie dem Konzept des Nationalstaatesliegt auch dem Neo-Liberalismus einbesonderes Verständnis von Souverä-nität zugrunde, die sich hier nicht aufden Nationalstaat, sondern auf denMarkt bezieht. Keine äußere Machthat das Recht, sich in die inneren An-gelegenheiten des Marktes einzumi-schen. […]

Zu fragen ist: Wie verhält sich derchristliche Glaube zum Prinzip derSouveränität und zu der Tatsache,dass in vielen Ländern Menschen ge-bannt und im Stich gelassen werden?

Als Gott die Not seines/ihres Volkes inÄgypten sah und die Menschen ausder Sklaverei Pharaos befreite, […]führte er sie nicht unmittelbar in dasGelobte Land. Er führte sie in dieWüste.

Der Berg Sinai liegt in einem Nie-mandsland, das keinem Herrschermit absoluter Macht untersteht. Die-ser Ort hat symbolische Bedeutung.Israel erhält seine Anweisungen fürGerechtigkeit nicht von einem welt-lichen Regenten, sondern von Gott,dem Schöpfer der Erde und dem Er-halter allen Lebens. Allein dieser Gottist der Höchste.

Gott, der die Israeliten befreit hat,hörte die Schreie der Unterdrückten,die im Dienste des Pharao, der abso-lute Herrschaft über ihr Leben bean-

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Rückkehr der Politik – Rückkehr zur Politik?

Menschenrechte und Unternehmen von Uwe Kleinert

Unternehmen dort, wo durch ihre Ge-schäftstätigkeit Menschenrechte ver-letzt werden, in ihre Schranken zuweisen, zumindest Ansätze dazu zu er-proben, war von Beginn an ein zentra-les Element der Arbeit der WerkstattÖkonomie. Am Anfang stand die Aus-einandersetzung mit deutschen Fir-men in Südafrika, ihren Geschäftenmit dem Apartheidregime und ihremBeitrag zu dessen Stabilisierung. Umdas Recht der Arbeiterinnen und Ar-beiter, sich unabhängig zu organisie-ren und mit der UnternehmensseiteVerhandlungen zu führen, ging es inSüdafrika und Brasilien. Strategischsetzten (nicht nur) wir auf die Gegen-macht von Gewerkschaften, Kirchenund Basisbewegungen in Nord undSüd, mit der "die Multis" gebändigtund in ein internationales Regelwerkeingebunden werden sollten. Die Tä-tigkeit transnationaler Unternehmenwurde damals auf UN-Ebene kritischbegleitet, sollte tatsächlich weltweitenverbindlichen Normen unterworfenwerden – bis die Diskussion darüberschließlich abgebrochen und die zu-ständige Abteilung geschlossen wur-de.

Mit dem angesichts der Globalisierungseit Anfang der 90er Jahre um sichgreifenden Verzicht der Politik auf ih-ren bis dahin wenigstens proklamier-ten Primat gegenüber der Ökonomie,mit dem Siegeszug des neoliberalenModells, begann die hohe Zeit der Cor-porate Social Responsibility (gesell-schaftliche Verantwortung von Unter-nehmen, CSR), die von der Wirt-schaftslobby als freiwillige Alternativezu staatlicher Regulierung massiv underfolgreich in den gesellschaftlichenDiskurs eingebracht worden war.

Sei es die Einschätzung gewesen, dass"die Politik" als Partner gänzlich verlo-ren sei, oder Anpassung an den neuenMainstream von Privatisierung undEntstaatlichung: Jedenfalls gerietenbei den Nichtregierungsorganisatio-nen "marktliche Instrumente" in denBlick, um mit ihnen menschenrechtli-che Standards im Umfeld von Unter-nehmen durchzusetzen. Die Politikrückte aus dem Zentrum an den Randdes Adressatenkreises zivilgesell-schaftlicher Forderungen, die nunmehr an die Unternehmen selbst ge-richtet wurden. Am Markt solltenUnternehmen, welche die Menschen-rechte in ihrem Einflussbereich ach-ten, belohnt, diejenigen, die das nichttun, bestraft werden. Der Markt wur-de als Plattform hoffähig, auf der dieBürgerinnen und Bürger – nun als(hoffentlich) kritische Verbraucherin-nen und Verbraucher – ihre politi-schen Überzeugungen artikulierenkönnen.

Das Warenzeichen Rugmark für Teppi-che ohne ausbeuterische Kinderarbeitwar – ab 1993 – der erste Versuch die-ser Art, an dem die Werkstatt Ökono-mie beteiligt war; die Aktion fair spielt,die – seit nunmehr zehn Jahren – men-schenwürdige Arbeitsbedingungen inder Spielzeugproduktion durchsetzenwill und deshalb die Umsetzung einesVerhaltenskodexes des Weltverbandesder Spielzeugindustrie kritisch beglei-tet, ist ein aktuelles Projekt, das dieserStrategie folgt.

Die Bilanz ist freilich ernüchternd:Rugmark wurde als Erfolg wahrge-nommen, solange die Kampagne ge-gen Kinderarbeit in der Teppichindus-trie die öffentliche Aufmerksamkeit

auf das Projekt lenkte. Seit es demMarkt alleine überlassen wurde, ist esruhig geworden um das Warenzeichenund es muss sich mit einer kleinen Ni-sche im Fairen Handel bescheiden.Und der Spielzeugkodex? Zunächsteinmal brauchte der Weltverbandschon fast zehn Jahre, um sein Systemzur Überprüfung von Arbeitsstan-dards in einem einzigen Land, China,zu etablieren. Dort sind nach weiterenfünf Jahren gerade einmal knapp1.500 der schätzungsweise 10.000Spielzeugfabriken von diesem Systemerfasst; zahlreiche westliche Spiel-zeughersteller weigern sich nach wievor, sich dem Thema zu stellen. Undalle Beteiligten sind sich im Klarendarüber, dass durch die Fabrikkontrol-len bestenfalls die Arbeitssicherheitverbessert wird, in den anderen zen-tralen Problembereichen – Arbeits-zeit, Löhne und Gewerkschaftsrechte– aber keine nennenswerten Erfolgeerzielt wurden.

Außerdem gibt es solcherlei Initiati-ven in, sagen wir: zwei Handvoll Pro-duktbereichen, und die decken fastausnahmslos lediglich die in der Ex-portproduktion beschäftigten oder mit

spruchte, versklavt waren. […] Ge-rechtigkeit wird anhand dieser Richt-linien nicht aus Sicht der Mächtigenwahrgenommen, sondern aus derPerspektive der Verachteten. […] DieWirtschaft hat nicht das letzte Wortüber das Leben der Menschen undTiere und über die Ressourcen.

[…] Am Sinai wird eine Geschichtsbe-wegung eingeleitet, die das Volk Got-

tes immer wieder dazu zwingt, sichvon Strukturen und Praktiken zu tren-nen, die unterdrückerisch werden undzu Ungerechtigkeiten führen könnten.Die Tora darf nie ein festgelegtes Ge-setz werden, das über den Willen Got-tes entscheidet, ohne die sich verän-dernden Lebensbedingungen und dieBedürfnisse der Menschen zu berück-sichtigen. Auf seiner Pilgerreise durch

die Geschichte muss das Volk Gottesimmer wieder zu einem neuen Auszugbereit sein. […] Das Volk Gottes ge-hört zum Gott der Gerechtigkeit, derUnterdrückung nicht toleriert und derdie Schreie der Unterdrückten undEntrechteten hört, wo immer sie auchsind.« [232-236]

Uwe Kleinert

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dieser verbundenen Arbeiterinnenund Arbeiter ab. Alle anderen sind al-lein mit marktlichen Instrumentennicht zu erreichen.

Schließlich leistet der Ansatz einerweiteren schleichenden Entpolitisie-rung Vorschub: "Die Politik" zieht sichmehr und mehr auf die Rolle eines Mo-derators zurück (ein Beispiel dafür istdie neue CSR-Strategie der Bundesre-gierung), statt Position zu beziehenund den eigenen Gestaltungsspiel-raum zu nutzen. Allenfalls appelliertman an Unternehmen, sich verant-wortlich zu verhalten und auf die Ein-haltung der Menschenrechte in ihremEinflussbereich zu achten (was janicht falsch ist, aber nicht ausreicht),und an die Verbraucherinnen und Ver-braucher, "Politik mit dem Einkaufs-korb" zu machen (was auch nichtfalsch ist, aber eben nur bei wenigenProdukten, für die entsprechende In-formationen vorliegen, wirklich zu ma-chen ist). Nicht genug damit: Zuhaufwurden Nichtregierungsorganisatio-nen und Gewerkschaften im Rahmenso genannter Multi-Stakeholder-Pro-zesse in Dialoge an Runden Tischen(zwischen Unternehmen, Regierungs-vertretern und zivilgesellschaftlichenGruppen) eingebunden und/oder alsKo-Manager für Unternehmensinitiati-ven vereinnahmt – was nicht nur Ka-pazitäten bindet, sondern sich auch ineiner Annäherung der Perspektivenniederschlägt.

Nach 15 Jahren Erfahrung mit den"marktlichen Instrumenten" lassensich die folgenden grundsätzlichenFragen stellen:

Sollte die Einhaltung der Menschen-rechte im Umfeld von Unternehmentatsächlich allein davon abhängig ge-macht werden, …

– ob ein Unternehmen auf derGrundlage eines betriebswirt-schaftlichen Kosten-Nutzen- oderRisikokalküls zur Einhaltung bereitist;

– ob ein Unternehmen angesichts derökonomischen Rahmenbedingun-gen, denen es unterliegt, die Ein-haltung gewährleisten kann;

– ob die Verbraucherinnen und Ver-braucher dazu bereit sind, die Ein-haltung zur Grundlage ihrer Kauf-entscheidung zu machen;

– ob die Verbraucherinnen und Ver-braucher in der Lage sind, die füreine solche Kaufentscheidung nöti-gen Informationen zu beschaffen;

– ob zivilgesellschaftliche Organisa-tionen bereit und in der Lage sind,auf Dauer und umfassend die fürsolche Kaufentscheidungen nöti-gen Informationen bereit zu stel-len?

Es liegt nahe, diese Fragen mit Neinzu beantworten und eine Re-Politisie-rung einzuleiten, welche die Politikwieder ins Zentrum der Adressatenvon Forderungen nach Gewährleis-tung der Menschenrechte im Umfeldvon Unternehmen rückt und sie her-ausfordert, ihren verlorengegangenenbzw. aufgegebenen Primat gegenüberder Wirtschaft zurückzuerobern.

Was wir brauchen, ist ein internationalvereinbartes Rahmenwerk, das wirt-schaftliche Akteure verbindlich dazuverpflichtet, die Menschenrechte inihrem Einflussbereich zu gewährleis-ten. Die Voraussetzungen dafür sindbesser denn je in den letzten 20 Jah-ren: Die globalen Krisen, mit denenwir uns konfrontiert sehen, schreienförmlich nach einer neuen Weltfinanz-und Weltwirtschaftsordnung. Dassdiese auf den Weg gebracht wird unddie Menschenrechte darin den ihnengebührenden Platz finden, ist eineHerausforderung an die Zivilgesell-schaft und sollte auf deren Agendaobenan gesetzt werden.

PS: Im Mai 2009 begehen wir einenweiteren 60. Jahrestag, den unseresGrundgesetzes – erneut eine Gelegen-heit, über unser Staats- und Politik-verständnis nachzudenken.

PPS: Politik und Unternehmen mit derForderung nach Schutz der Men-schenrechte zu adressieren, sind kei-ne Alternativen, die sich gegenseitigausschließen. Im Gegenteil: Es wärevöllig falsch, die Unternehmen aus ih-rer Verantwortung zu entlassen. Nursollten wir dabei Freiwilligkeit nichtmit Unverbindlichkeit gleichsetzen:Unternehmen, die sich freiwillig zurEinhaltung von Standards verpflich-ten, sollten verbindlich dazu stehen.Was das im Hinblick auf Inhalte, Kon-trollen, Beteiligung Dritter, Transpa-renz usw. bedeutet, das zu definierenkönnte wiederum eine Aufgabe derPolitik sein – und Bewährungsprobeeiner wirklich neuen CSR-Strategie.

Verpflichtung für Politik und Unternehmen: die Achtung der Menschenrechte bei der Arbeit zu fördern und ihre Anerken-nung und Einhaltung zu gewährleisten (Foto: Uwe Kleinert)

Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

1. Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Be-rufswahl, auf gerechte und befriedigendeArbeitsbedingungen sowie auf Schutz vorArbeitslosigkeit.

2. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht aufgleichen Lohn für gleiche Arbeit.

3. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf ge-rechte und befriedigende Entlohnung, dieihm und seiner Familie eine der mensch-lichen Würde entsprechende Existenz si-chert, gegebenenfalls ergänzt durch anderesoziale Schutzmaßnahmen.

4. Jeder hat das Recht, zum Schutze seinerInteressen Gewerkschaften zu bilden undsolchen beizutreten.

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I. Das Recht auf soziale Sicherheitals Menschenrecht

Weltweit gehen Globalisierungspro-zesse einher mit einer Verschärfungsozialer Unsicherheit: Das Recht aufsoziale Sicherheit scheint kaum nochpraktische Bedeutung zu haben.Doch gerade deshalb ist daran zu er-innern, dass dieses Recht mehr ist alseine bloße sozialpolitische Zielvor-stellung ohne Rechtskraft, mit derRegierungen je nach politischer undwirtschaftlicher »Großwetterlage«nach Belieben verfahren könnten.Denn das Recht auf soziale Sicherheitist auch im engeren rechtlichen Sinneein Menschenrecht, das in einer Rei-he internationaler Instrumenteniedergelegt und definiert ist.So heißt es im Artikel 22 der Allge-meinen Erklärung der Menschen-rechte: »Jeder hat als Mitglied derGesellschaft das Recht auf soziale Si-cherheit«. Der Internationale Paktder Vereinten Nationen über wirt-schaftliche, soziale und kulturelleRechte aus dem Jahre 1966 präzisiert

ein wenig: »Die Vertragsstaaten er-kennen das Recht eines jeden auf So-ziale Sicherheit an; diese schließt dieSozialversicherung ein« (Artikel 9)«.Weiter findet sich dieses Recht zumBeispiel im Übereinkommen der Ver-einten Nationen über die Rechte desKindes von 1989 (Artikel 26a), inmehreren Übereinkommen der Inter-nationalen Arbeitsorganisation, etwaim Übereinkommen 102 über die Min-destnormen der Sozialen Sicherheit(1952), im Europäischen Kodex überSoziale Sicherheit (1964) und in derRevidierten Europäischen Sozial -charta von 1996 (Artikel 12 bis 14).Die breite Aufnahme des Rechtes aufsoziale Sicherheit in Instrumente desinternationalen Menschenrechts-schutzes zeigt, dass es als Grundsatzweithin unbestritten ist. Strittig istaber dessen materiell-rechtlicher Ge-halt. Daher hat der für die Überwa-chung des Internationalen Paktesüber wirtschaftliche, soziale und kul-turelle Rechte zuständige Ausschussder Vereinten Nationen am 23. No-vember 2007 mit seiner Allgemeinen

Bemerkung (General Comment) Nr.191 das Recht auf soziale Sicherheitinterpretiert und ausgeführt, wie eszu achten, zu schützen und zu ge-währleisten2 sei.Nach dieser Allgemeinen Bemerkungumfasst das Recht auf soziale Sicher-heit das Recht, ohne DiskriminierungUnterstützungen (»benefits«) in An-spruch zu nehmen und zu erhalten alsSchutz (unter anderem) vor (a) einemMangel an Arbeitseinkommen, etwaverursacht durch Krankheit, Arbeits-losigkeit oder Alter, (b) einem unbe-zahlbaren Zugang zum Gesundheits-wesen und (c) einer unzureichendenUnterstützung der Familie, vor allemim Blick auf Kinder und abhängige Er-wachsene. Hierbei ist das Diskriminie-rungsverbot von entscheidender Be-deutung: So müssen Unterstützungen,die für einen Teil der Bevölkerung zu-gänglich sind, allen gewährt werden.Zugleich wird den Vertragsstaaten dieVerpflichtung auferlegt, die notwendi-gen Schritte zur Umsetzung des Rech-tes unter Einsatz der größtmöglichenMittel (im englischen Original: »maxi-mum available resources«) zuunternehmen.Im Einzelnen benennt die AllgemeineBemerkung neun Bereiche, die durchein System sozialer Sicherheit abge-deckt werden müssten – von der Ge-sundheitsfürsorge bis hin zur Unter-stützung von Waisen und Hinterblie-benen. Allerdings enthält die Allge-meine Bemerkung unbestimmteRechtsbegriffe wie »Mangel«, »unbe-zahlbar«, »unzureichend« und»größtmögliche Mittel«, die offen fürInterpretationen sind. Daher bleibtauch nach den Erläuterungen desUN-Ausschusses für die wirtschaft-lichen, sozialen und kulturellen Rech-te eine definitorische Unschärfe. Des-halb auch ist nicht ohne weiteres zubestimmen, was im juristischen Sinneeine Verletzung des Rechtes auf sozi-ale Sicherheit darstellt und was eineBedrohung der Umsetzung diesesRechtes im Sinne einer sozialpoliti-schen Herausforderung ist: Geradewer die wirtschaftlichen und sozialenRechte in ihrem juristischen Kernernst nehmen und davon ausgehenmöchte, dass diese Rechte Rechts-verhältnisse stiften, die gerichtlichüberprüfbar sind (Justitiabilität),wird gut daran tun, nicht jeden sozial-politischen Misstand als Rechtsver-letzung zu bezeichnen.

Das Recht auf soziale Sicherheit –ein vergessenes Menschenrecht?Anmerkungen von Klaus Heidel zur Frage, warum dieses Recht in der EU verwirklicht werden muss und wie dies geschehen kann

Wenn im Dezember 2008 an die Verabschiedung der Allgemeinen Erklä-rung der Menschenrechte vor 60 Jahren durch die Vollversammlung derVereinten Nationen in Paris erinnert wurde, dann standen häufig politi-sche und bürgerliche Menschenrechte im Mittelpunkt. Doch immerhinsieben der 30 Artikel der damaligen Erklärung beschäftigen sich mitwirtschaftlichen und sozialen Rechten. Zu diesen gehört das Recht auf so-ziale Sicherheit. Weltweit haben rund 80 Prozent der Menschen keinenZugang zu diesem Recht – es gehört damit zu den am häufigsten missach-teten Menschenrechten. Selbst in der Europäischen Union gerät dasRecht auf soziale Sicherheit zunehmend unter Druck.Dies skizzierte Klaus Heidel in zwei Vorträgen, die sich mit völkerrecht-lichen und sozialpolitischen Aspekten des Rechtes auf soziale Sicherheitbeschäftigten. Der erste Vortrag wurde am 13. Oktober 2008 beim 7. AsiaEurope People’s Forum in Peking gehalten. Dieses Forum, an dem rund500 Vertreterinnen und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationenaus Europa und Asien Teil nahmen, fand im Vorfeld des 7. Treffens asia-tischer und europäischer Regierungen (Asia Europe Meeting, ASEM)statt. Der zweite Vortrag am 11. November 2008 in Berlin war Teil derVortragsreihe des Deutschen Institutes für Menschenrechte über wirt-schaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Der folgende Text fasst Kern-aussagen beider Vorträge thesenartig zusammen.

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2. Bedrohungen und Verletzungendes Rechtes auf soziale Sicherheitin der Europäischen Union

Unbeschadet der Tatsache, dass sichdie Systeme sozialer Sicherheit in denMitgliedsstaaten der EuropäischenUnion aufgrund historischer Entwick-lungen beträchtlich voneinanderunterscheiden, und trotz des Umstan-des, dass sie im weltweiten Vergleichein sehr hohes Niveau aufweisen, gibtes dennoch allgemein zu beobachten-de Bedrohungen und Verletzungendes Rechtes auf soziale Sicherheit.Das soziale und wirtschaftliche Um-feld erschwert selbst innerhalb derEuropäischen Union die Einhaltungdes Rechtes auf soziale Sicherheitund zeigt zugleich dessen sozialpoliti-sche Notwendigkeit. Zu den Er-schwernissen gehören zum Beispielin nahezu allen EU-Mitgliedsländern – die hohe und nach einemzwischenzeitlichen Rückgang wie-der (als Folge der globalen Kriseder Finanzmärkte) ansteigendeArbeitslosigkeit,

– die Restrukturierung des Arbeits-marktes mit ihrer Verdrängung desNormalarbeitsverhältnisses durchbefristete so wie geringfügige Be-schäftigungsverhältnisse und dieAusweitung des Niedriglohnsek-tors (mit Löhnen unter zwei Drit-teln des nationalen Medianloh-nes3),

– hohe Armutsquoten bei verbreite-ter Kinderarmut (die Armutsrisi-koquote für Kinder liegt in vielenEU-Ländern über der allgemeinenArmutsrisikoquote),

– die Veränderung von Mustern fa-milialen Lebens (wie die Zunahmeder Frauenbeschäftigung), die zuVeränderungen im Blick auf diehäusliche Pflege führten,

– der demographische Wandel(»aging societies«) und nicht zu-letzt

– der globale Steuerwettlauf, dertendenziell zu öffentlicher Armutführte.

Auch allgemeine politische Entwick-lungen, die in nahezu allen EU-Mit-gliedsländern (wenngleich in unter-schiedlichen Ausprägungen) zu be-obachten sind, bedrohen die Verwirk-lichung des Rechtes auf soziale Si-cherheit, so zum Beispiel …– die zunehmende Ausbreitung derAuffassung, dass öffentliche Syste-

me sozialer Sicherheit zumindestteilweise bzw. in gewisser Hinsichtineffizient seien,

– die generelle Tendenz zur Liberali-sierung und Privatisierung von zu-mindest Teilen der öffentlichenSysteme sozialer Sicherheit auf-grund der Überzeugung, (a) dassder Staat nicht mehr in der Lagesei, alle erforderlichen Unterstüt-zungen bereitzustellen und (b)dass es die Aufgabe der/des Ein-zelnen sei, auch selbst für Maß-nahmen zur Gewährleistung sozia-ler Sicherheit zu sorgen und

– die Tatsache, dass Wirtschaftsver-bände und Unternehmen die Re-gierungen, Medien und die Öffent-lichkeit davon überzeugen konn-ten, dass der »Wohlfahrtsstaat« inZeiten der Globalisierung durch ei-nen »schlanken Wettbewerbs-staat« ersetzt werden müsse.

Hinzu kommt, dass in den »neuen«EU-Mitgliedsstaaten die unvermeid-bare Transformation ehemaliger Sys-teme sozialer Sicherheit nach demZusammenbruch kommunistischerSysteme zu weit verbreiteter Unsi-cherheit führte.Zusätzlich zu diesen allgemeinen Be-drohungen des Rechtes auf soziale Si-cherheit gibt es mehrere Entwicklun-gen, die einzelne Dimensionen diesesRechtes aushöhlen.In nahezu allen EU-Mitgliedsländernwird ein bezahlbarer und nicht-diskri-minierender Zugang zum Gesund-heitswesen erschwert durch dessenÖkonomisierung und Liberalisierungund den damit einhergehenden Aus-gabenkürzungen. Die zunehmendeArbeitsverdichtung in Krankenhäu-sern und Heimen erzwingt Ein-schränkungen bei der Pflege, von de-nen nicht alle Patientinnen und Pa-tienten in gleicher Weise getroffensind. Die Liberalisierung des Arznei-mittelmarktes und Rückgang heim-ischer Produktion von Arzneimittelnführte in Ländern wie Rumänien zueinem starken Anstieg der Preise fürArzneimittel, wodurch der Zugang är-merer Bevölkerungsgruppen zu Ge-sundheit weiter erschwert wurde. Vorallem aber – und hier dürfte in der Tateine Verletzung des Rechtes auf sozi-ale Sicherheit vorliegen – haben invielen EU-Mitgliedsländern bestimm-te Gruppen wie Migrantinnen und Migranten, Asylsuchende oder Min-derheiten (etwa die Roma in Rumä-

nien) nur begrenzen Zugang zum Ge-sundheitswesen. Ein Beispiel für die-se rechtlich problematische Praxisist, dass das Asylbewerberleistungs-gesetz in Deutschland den Zugang zuGesundheitsdiensten einschränktund keinen Leistungsanspruch beichronischen Erkrankungen vorsieht,so erhielt in einem Falle ein Kindtrotz massiver Schädigung derSprachentwicklung kein Hörgerät.Die Systeme der Altersvorsorge sindzum Teil unter Druck geraten, unddas gilt vor allem für die so genannten»Pay-as-you-go«-Systeme der erstender drei Säulen der Altersvorsorge4.Deren Krise resultiert unmittelbaraus einer hohen Arbeitslosigkeit, derAusbreitung des Niedriglohnsektors,dem demographischen Wandel undaus weiteren, länderspezifischen Fak-toren (Deutschland: versicherungs-fremde Leistungen nach der Herstel-lung der deutschen Einheit). Die vonden Regierungen gewählten Lösungs-strategien (wie Privatisierungen, An-hebung des Renteneintrittsalters undVerlängerung der Zeiten der Beitrags-zahlung) machen die Qualität der Al-tersvorsorge noch stärker als bisherabhängig von der finanziellen Res-sourcenausstattung von Haushalten,was gegen das Diskriminierungsver-bot verstoßen könnte. Die gegenwär-tige globale Finanzkrise zeigt die Pro-blematik privater Pensionsfonds hin-sichtlich ihrer Investitionen in Hedgeund Private Equity Fonds. Außerdemdürften in vielen EU-Mitgliedsländerndie Renten im Jahre 2050 deutlichunter dem Niveau von 2005 liegen, ei-ne drastische Leistungskürzung aberkönnte unter Umständen als Verstoßgegen das Recht auf soziale Sicher-heit gewertet werden. Vor allem aber

Klaus Heidel

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zeigen sich in mehreren Länderndeutliche Diskriminierungen, die injedem Falle eine Verletzung der Men-schenrechte sind. So gibt es in Bulga-rien keinen Ausgleich für das ge-schlechtsspezifische Lohngefälle inden neuen privaten Pensionskassender zweiten Säule der Altersvorsorge,die Folge sind niedrigere Renten fürFrauen, hinzu kommt, dass Frauendurch die Einführung eines Faktorsfür die Lebenserwartung diskrimi-niert werden (ihr niedrigeres Renten-niveau wird mit ihrer höheren Le-benserwartung gerechtfertigt).Ob die in vielen EU-Mitgliedsländerndurchgeführten Absenkungen derLeistungen bei Arbeitslosigkeit einenVerstoß gegen das Recht auf sozialeSicherheit darstellen, ist nicht ohneWeiteres auszumachen und hängt si-cher davon ab, ob die jeweiligen Re-gelsätze armutsfest sind. Hier sind inDeutschland auch die Leistungennach dem Asylbewerberleistungsge-setz zu betrachten, da die Leistungs-empfangenden aufgrund ihres recht-lichen Ausschlusses vom Arbeits-markt (Arbeitsverbot) auf diese Leis-tungen als Ersatzleistung für Markt-einkommen angewiesen sind. DieseRegelsätze nach dem Asylbewerber-leistungsgesetz sind in keiner Weisearmutsfest. Einen eindeutigenRechtsverstoß stellt schließlich derAusschluss bestimmter Gruppen vonLeistungen für Arbeitslose dar. Sogibt es zum Beispiel in Italien keineoder nur eine ungenügende Abde-ckung des Arbeitsplatzverlustes fürunregelmäßig Beschäftigte oder fürjunge Beschäftigte mit geringer Be-schäftigungsdauer und im Allgemei-nen nur einen unzureichendenSchutz für »atypisch« Beschäftigte(zum Beispiel in flexiblen Beschäfti-gungsverhältnissen). Einschlägig istweiter, dass der Ausgleich für Niedri-glöhne in vielen Ländern (darunterauch in Deutschland) unzureichendist, was ebenfalls gegen das Diskrimi-nierungsverbot verstoßen könnte.Besonderen Wert legt die AllgemeineErklärung auf die Schaffung einesdiskriminierungsfreien Zuganges fürAlle zum Recht auf soziale Sicherheit,der auch und gerade für soziale Grup-pen gewährleistet sein muss, die inbesonderer Weise von sozialer Aus-grenzung bedroht sind. Hiergegenwird in vielen EU-Mitgliedsländernverstoßen.

In Polen werden die sozialen Risikender meisten der 1,3 Millionen »illegal«beschäftigten polnischen Staatsbür-gerinnen und Staatsbürger und der1,5 Millionen »illegal« beschäftigtenAusländerinnen und Ausländer nichtdurch die Systeme sozialer Sicherheitabgefedert.In fast allen EU-Mitgliedsländern ha-ben bestimmte Gruppen von Auslän-derinnen und Ausländern (wieFlüchtlinge und Asylsuchende) nureinen eingeschränkten Zugang zumRecht auf soziale Sicherheit. Dies giltin besonderer Weise für Menschen,die sich ohne Papiere (»illegal«) in ei-nem Staatsgebiet aufhalten (»undo-cumented migrants«), im Blick aufdiese soziale Gruppen sind in der Eu-ropäischen Union eindeutige Verlet-zungen des Menschenrechtes auf so-ziale Sicherheit zu beobachten.Schließlich erwähnt die AllgemeineBemerkung die Staatenverpflichtung,das Recht auf soziale Sicherheit auchin ihren Außenbeziehungen zu ach-ten und zu schützen. In diesem Zu-sammenhang stellt der UN-Aus-schuss für die wirtschaftlichen, sozia-len und kulturellen Rechte fest: »Ab-kommen über die Handelsliberalisie-rung dürfen die Fähigkeit eines Ver-tragsstaates, die vollständige Ver-wirklichung des Rechtes auf sozialeSicherheit zu verwirklichen, nichteinschränken.« Hiergegen verstößtdie Europäische Union mit ihren Han-delsabkommen mit Afrika.

3. Ist das Recht auf soziale Sicherheit einklagbar?

In den ersten fünfzig Jahren nach derVerabschiedung der Allgemeinen Er-klärung der Menschenrechte herrsch-te in den westlichen Industriestaatendie Auffassung vor, die wirtschaft-lichen, sozialen und kulturellen Men-schenrechte seien bloße Programm-sätze und hätten nur deklaratori-schen Wert. Dies änderte sich seit derWiener Menschenrechtskonferenz imJahre 1993, die die Universalität undUnteilbarkeit der Menschenrechteunterstrich. Seither wurden Ansätzezur Entwicklung einer konkretenNormativität von wirtschaftlichen, so-zialen und kulturellen Menschen-rechten verfolgt. So war der zuständi-ge UN-Ausschuss um eine Konkreti-sierung bei einer »Entpolitisierung«dieser Rechte bemüht und veröffent-

lichte zu diesem Zweck seine ReiheAllgemeiner Bemerkungen.Von besonderer Bedeutung war, dasssich in der völkerrechtlichen Litera-tur und bei internationalen Gerichtenwie dem Europäischen Gerichtshoffür Menschenrechte die Ansichtdurchsetzte, dass das Diskriminie-rungsverbot nach Artikel 26 desInternationalen Paktes für die bür-gerlichen und politischen Rechte(1966) vollständig auch auf die wirt-schaftlichen, sozialen und kulturellenRechte anzuwenden sei.Vor diesem Hintergrund (und teil-weise schon zuvor) entwickelten sichin den letzten Jahren mehrere Ansät-ze, um zumindest einzelne Dimensio-nen des Rechtes auf soziale Sicher-heit einklagbar und folglich justitiabelzu machen.Der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte entwickelte die Jus-titiabilität des Rechtes auf soziale Si-cherheit entlang von Verfahrensga-rantien. So ging es 1986 in einemStreitfalle um die Fortzahlung der In-validenrente an eine aufgrund einerTuberkuloseerkrankung arbeitsunfä-hig geschriebene Frau aus denNiederlanden nach der Geburt ihresKindes. Diese Leistung war mit derBegründung eingestellt worden, allerErfahrung nach würden junge Mütterohnehin aus dem Berufsleben aus-scheiden. Der Europäische Gerichts-hof sah in dieser Leistungseinstellungeinen Verstoß gegen das Diskriminie-rungsverbot und ordnete die Fortzah-lung der Leistung an. Allerdings be-deutet dieses Diskrimnierungsverbotnicht, dass eine bestimmte Höhe vonLeistungen rechtlich vorgeschriebenist, wohl aber, dass Leistungen, diegewährt werden, allen grundsätzlichAnspruchsberechtigten gewährt wer-den müssen.Als zweiten Ansatz verknüpfte der Eu-ropäische Gerichtshof das Recht aufsoziale Sicherheit mit dem Recht aufEigentum und machte es auf diesem»Umwege« justitiabel. Danachschließt das Recht auf Eigentum An-sprüche auf gesetzlich geregelteTransfers (zum Beispiel Pensionsan-sprüche) ein. Wiederum wird auf dieseWeise keine bestimmte Höhe von Leis-tungen garantiert, vielmehr dieselbein das Ermessen des Staates gestellt.Dessen Ermessensspielraum findetaber – so das Gericht – seine Grenze,wenn Kürzungen die Substanz berüh-

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Ist Privatisierung das Allheilmittelüberall auf der Welt? Die von denAgenturen des neoliberalen Kapita-lismus betriebene Propaganda sugge-rierte dies. Großunternehmen undinternationale Finanzinstitutionen,die den Kurs der wirtschaftlichenGlobalisierung bestimmen, warbenfür eine grenzenlose Öffnung derVolkswirtschaften für den Privatsek-tor, dem per se Effizienz nachgesagtwurde. Sie setzten sich überall fürRahmenbedingungen ein, die den Pri-

vatsektor prosperieren lassen sollten,und nahmen in Kauf, den Staat in dieEnge zu treiben und zu diskreditie-ren, damit ihr Ansatz als alternativloserscheine. Mit Erfolg! Privatisierun-gen erstrecken sich mittlerweile invielen Ländern auf alle Lebensberei-che: Wasser- und Stromversorgung,Gesundheits- und Bildungssektor,Verkehr, Versicherungen ... Alles, wasin großem Stil Gewinne bringen kann,wurde von der Privatisierungswelleerfasst. Vom Staat wurde immer mehr

Großzügigkeit und Entgegenkommengegenüber dem Privatsektor verlangt.Zwischen den Ländern wurde einWettbewerbsklima um die günstig-sten Bedingungen geschaffen, um Di-rektinvestitionen anzulocken.

In vielen Ländern machten und ma-chen transnationale Konzerne großeGewinne und trugen zur Verschöne-rung makroökonomischer Daten bei,ohne den Menschen in diesen Län-dern wirklich zu nützen.

Privatisierung und Aneignung in Krisenzeiten: Werden die neuen Chancen genutzt?von Boniface Mabanza

ren oder wenn gegen das Diskriminie-rungsverbot verstoßen würde.Grundsätzlich setzt sich immer mehrdie Auffassung durch, dass zumindesteinzelne Dimensionen des Rechtesauf soziale Sicherheit einklagbar sind– eine nicht zu unterschätzendeWeiterentwicklung des internationa-len Menschenrechtsschutzes.Allerdings ist eine Weiterentwicklungdes gerichtlichen Menschenrechts-schutzes nicht ausreichend, um dasRecht auf soziale Sicherheit selbst inder Europäischen Union vollständigzu verwirklichen. Vielmehr bedarf esauch im Blick auf dieses Recht, wasgrundsätzlich für die Stärkung vonMenschenrechten gilt, dass es näm-lich auch darauf ankommt, sozialpoli-tische Forderungen gesellschaftlichund politisch durchzusetzen.

4. Einige sozialpolitische Forderungen

Erforderlich ist zunächst, dass derTendenz gewehrt wird, universelle öf-fentliche Systeme sozialer Sicherheitals »Irrweg« zu sehen, der in Zeitender Globalisierung nicht mehr finan-zierbar sei. Der britische Wirtschafts-wissenschaftler Peter Townsend5 hatkürzlich nachgewiesen, dass öffentli-che Investitionen in Systeme sozialerSicherheit nicht nur keinen Hemm-schuh für die wirtschaftliche Ent-wicklung der OECD-Staaten darstell-ten, sondern im Gegenteil eine Vor-aussetzung für diese Entwicklung bil-

deten. Es ist eben gerade nicht so,dass Privatisierungen und Deregulie-rungen von sich aus zu einer Verwirk-lichung des Rechtes auf soziale Si-cherheit führen würden. Erforderlichsind vielmehr sozialpolitische Maß-nahmen, die von dem Wissen um dierechtliche Verantwortung des Staatesfür die Gewährleistung des diskrimi-nierungsfreien Zuganges zu diesemRecht geprägt sind. Hierzu gehörenunter anderem:– Steuerreformen, die den Staat in dieLage versetzen, seiner Verantwor-tung gerecht zu werden, dies setztjeder Politik sozial unausgewogenerSteuersenkungen Grenzen,

– Beschränkungen und Regeln fürPrivatisierungen und Liberalisierun-gen von Teilsystemen sozialer Si-cherheit,

– Stärkung solidarischer Elemente inden Systemen sozialer Sicherheit,

– Festlegung messbarer Ziele für dieunterschiedlichen Dimensionen so-zialer Sicherheit.

– Einführung von Mindest- und/oderGrundeinkommenssystemen undeines Benchmarking-Prozesses hin-sichtlich öffentlicher Investitionenin diese Systeme und

– Stärkung der sozialpolitischen In-strumente der Europäischen Union(die Methode der offenen Koordi-nation für Sozialpolitik hat sich alsunzureichend erwiesen).

Alles in allem ist die EuropäischeUnion ein Testfall dafür, ob es gelingt,60 Jahre nach der Verabschiedung

der Allgemeinen Erklärung der Men-schenrechte ein Kernrecht wenig-stens regional durchzusetzen. Dassdies selbst in der EU noch notwendigist, dürften die obigen Anmerkungengezeigt haben. Dass keine andere Re-gion in der Welt hierfür so vieleRessourcen hat wie die EU, stellt einebesondere Verpflichtung dar – auchin der gegenwärtigen Weltwirt-schaftskrise.

1. United Nations, Committee on Economic, Socialand Cultural Rights (2007): General CommentNo. 19. The Right to Social Security (article 9). –Allgemeine Bemerkungen (General Comments)sind autoritative Auslegungen der Menschen-rechtsabkommen der Vereinten Nationen durchdie Vertragsorgane, die für die Überwachung derinternationalen Verträge zuständig sind.

2. Staaten haben die Pflicht, die wirtschaftlichen, so-zialen und kulturellen Rechte zu achten, zu schüt-zen und zu gewährleisten.

3. Der Median ist der Wert in der Mitte einer Vertei-lung. – In Deutschland finden sich 22 Prozent al-ler Beschäftigten im Niedriglohnbereich. Diesführte unter anderem dazu, dass in Deutschlandselbst zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwun-ges 2005 bis 2007 die Zahl der Vollzeitbeschäf-tigten, die ihr Einkommen mit staatlichen Trans-ferleistungen aufstocken mussten (Arbeitslosen-geld II), um ein Drittel auf 1,3 Millionen anstieg –und mit dem Beginn der jüngsten schweren Wirt-schaftskrise verschärfte sich dieser Trend.

4. Erste Säule: gesetzliche Systeme der Altersvorsor-ge, entweder steuerfinanziert oder »Pay-as-you-go«-Systeme (abgekürzt PAYG, »Generationenver-trag”: Beschäftigte erbringen die Renten für an-spruchsberechtigten Rentnerinnen und Rentner);zweite Säule: Systeme, die an eine Beschäftigunggebunden sind; dritte Säule: private Vorsorge(z.B. Lebensversicherungen).

5. Peter Townsend (2007): The Right to Social Se-curity and National Development: Lessons fromOECD experience for low-income countries, Ge-neva (=International Labour Office, Social Securi-ty Department: Issues in Social Protection, Dis-cussion Paper 18).

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In vielen Industrieländern werdentrotz starken Wirtschaftswachstumsund existierender sozialer Strukturenimmer mehr Menschen an den Randgedrängt und der Gerechtigkeitsge-danke, der zu der Anstrengung auf-fordert, Menschen, die auf der Steckebleiben, immer in die Mitte zurückzu-holen, gerät in Vergessenheit.

In vielen Entwicklungsländern be-trifft die Marginalisierung eher dieMehrheit. Vor allem in Postkonflikt-ländern erreicht sie erschreckendeDimensionen. In diesen Ländernmüsste die Übergangszeit von einemgewalttätigen Konflikt zu einer fried-lichen und nachhaltigen Gesell-schaftsordnung eng mit dem Strebennach Gerechtigkeit verbunden sein.Genau die Zeit, wo sich Gesellschafts-verhältnisse zu stabilisieren scheinen,nehmen Agenturen des neoliberalenKapitalismus in Anspruch, massivePrivatisierungen durchzusetzen. Siesetzen ihre finanzielle Macht ein undverschaffen sich billigen Zugang zuRessourcen und Arbeitskräften. Sowerden Bemühungen um Gerechtig-keit untergraben und politische Pro-zesse beeinflusst, um Menschen andie Macht zu bringen oder Machtver-hältnisse zu stabilisieren, welche Pri-vatisierungen zugunsten transnatio-naler Konzerne begünstigen. Ver-handlungen zwischen finanzstarkenPartnern und Regierungen der durchKonflikte geschwächter Länder unterAndrohung von Sanktionen führtenzu Zugeständnissen, die mit denInteressen der Bevölkerung dieserLänder gar nichts zu tun haben.

In vielen Postkonfliktländern konzen-trieren sich Privatisierungen zunächstauf wertvolle und leicht abbaubareRohstoffe. Mancherorts, wie etwa inder Demokratischen Republik Kongo,entpuppen sie sich als Billigmärkte,sind tatsächlich mit Plünderungengleichzusetzen. Sie bringen keinen Se-gen für die Mehrheit der Bevölkerung,sondern Marginalisierung. Wo Regie-rungen massive Privatisierungspro-zesse von Staatsbetrieben in Gang set-zen und dazu mit skandalösen Steuer-senkungen Entgegenkommen undGroßzügigkeit zugunsten neuer Pri-vatunternehmen zeigen, bedankensich diese mit massenhaften Entlas-sungen von Arbeitern.

Aber für die Eliten selbst sind Privati-sierungen ein Segen. Sie erweisensich als der beste Weg der Selbstbe-reicherung. Mit der persönlichen Be-reicherung wächst die Konzentrationder Macht in ihren Händen. Damittragen Privatisierungen durch dieVerschärfung der Ungleichheiten zurUntergrabung der Demokratie bei.

Krisen als Chance?

Seit ein paar Jahren ist eine Denkpau-se eingetreten. In vielen Ländern wur-den schon viele Schlüsselsektorenwieder vergesellschaftlicht, nachdemdie nur auf Gewinn bedachten Privat-unternehmen scheiterten, die von ih-nen erwartete Effizienz nicht zustan-de brachten oder zur Umverteilungdes erwirtschafteten Gewinns nichtbereit waren. Mit der Finanzkrise istder Staat als wirtschaftlicher Akteurwieder interessant geworden. Alleror-

ten aktivieren sich Regierungen, ummarode Banksysteme zu retten undKonjunkturprogramme zu schmieden.Bedeutet dies das Ende der Privatisie-rungsideologie? Es ist früh für zuver-lässige Prognosen. Die Schwierigkei-ten vieler Schlüsselbranchen der Wirt-schaft stützen diesen Gedanken. Aberes gibt auch Stimmen, die die Meinungvertreten, dass gerade die aktuelle»Hilfspaket-Politik« die Regierungender Industrieländer in eine Hand-lungsunfähigkeit treiben könnte. Vondieser Situation könnten diejenigenprofitieren, deren marode Strukturenjetzt stabilisiert werden. In vielen Ent-wicklungsländern lässt sich die Macht-losigkeit der Regierungen auch in deraktuellen Situation beobachten. Vielewürden gerne zumindest in Schlüssel-sektoren die Kontrolle wieder über-nehmen, aber sie sind oder fühlen sichnicht in der Lage, diese Verantwor-tung zu übernehmen.

Fazit

Der aktuelle Kontext birgt gute Chan-cen, der Privatisierungsideologie einEnde zu setzen. Nie waren die Voraus-setzungen in den letzen Jahrzehntenso gut wie jetzt. Ob diese Chance ge-nutzt werden wird, bleibt offen. Eswäre eine Katastrophe, wenn wiede-rum die Verfechter der Privatisie-rungsideologie von der aktuellen Situ-ation profitieren würden. So groß die-se Katastrophe auch sein möge, sowahrscheinlich ist sie angesichts derfehlenden politischen Fantasie bei denEntscheidungsträgern und des Ohn-machtgefühls bei den Bevölkerungen.

25 Jahre Werkstatt Ökonomie

»Die Werkstatt verbindet für mich zwei Di-mensionen sozialethischer Urteilsbildung, dieunverzichtbar sind: Sachkompetenz und ethi-sche Orientierung. Ich schätze die WerkstattÖkonomie und gehöre ihr seit langem als Mit-glied an, weil sie die biblisch begründete An-waltschaft für die Armen mit sachkundigerAnalyse der Situation und konkreten Lösungs-ansätzen verbindet.«

Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Lehrstuhl Systematische Theo-logie und theologische Gegenwartsfragen der Universität Bamberg

»Die analytischen Kompetenzender Werkstatt Ökonomie … sinduns eine wichtige Hilfestellung,denn wer nicht richtig »sieht«,wer die »Zeichen der Zeit« nichterfasst, der kann auch keinerichtigen Handlungsoptionentreffen. Und wir wissen uns zu-dem einig in der Zielsetzung, dieGlobalisierung solidarisch undgerecht zu gestalten.« Albin Krämer

Bundespräses der KAB

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Ich erinnere mich noch genau: Kurznachdem ich im Sommer des Jahres1979 das Pfarramt der Blumhardt-Ge-meinde Heidelberg-Kirchheim ange-treten hatte, fand ich mich mit meinemKollegen an der benachbarten Wi-cherngemeinde, Gerhard Liedke, demLeiter der in Kirchheim beheimatetenRegionalstelle für Mission und Ökume-ne, Ulrich Duchrow, und meinem ka-tholischen Kollegen Paul Dieter Auerzu einem »konspirativen Treffen« zu-sammen. Die Apartheidpolitik im Süd-lichen Afrika zeigte damals ihre hässli-che Fratze, und wir waren gefragt, waswir zur Unterstützung unserer schwar-zen Schwestern und Brüder in Südafri-ka und zur Überwindung des Apart -heidregimes tun konnten, um unseremAuftrag, als Christen Salz der Erde zusein, wenigsten ansatzweise entspre-chen zu können.

Wir gründeten damals eine Aktions-gruppe gegen die Apartheid mit deman die Bekenntnissituation der ältes-ten Christenheit erinnernden Namen»Katakombe«. Viel haben wir in denfolgenden Jahren gegen das Apart -heidregime unternommen und aucherreicht: Mahnwachen auf den StraßenKirchheims, Unterstützungsaktionenfür südafrikanische Gefangene mit

Einschaltung des deutschen Außenmi-nisteriums, Friedenswochen… undimmer wieder Fürbitte für das ge-schundene südafrikanische Volk.

Im Laufe der Zeit führte uns das En-gagement gegen die südafrikanischeApartheid immer stärker hinein inFragestellungen der wirtschaftlichenVerflochtenheit unseres eigenen Lan-des mit der so genannten DrittenWelt. Unser Blick wurde weiter –nicht zuletzt dank der Mitarbeit brasi-lianischer Theologiestudenten, dieuns mit der Situation in Lateinameri-ka vertraut machten. So entstand ausder Katakombe der Verein »Christenfür Gerechtigkeit weltweit«, bei des-sen Zusammenkünften wir schwer-punktmäßig das Agieren transnatio-naler Konzerne diskutierten.

Allerdings gab es immer wieder eingewisses Unbehagen über unsere Ar-beit, denn wir spürten, dass das Ver-stehen und Erforschen, Darstellenund Diskutieren globaler Wirtschafts-zusammenhänge dringend einer Pro-fessionalisierung bedurfte, wenn esnicht destruktiv werden, sondernauch zur Formulierung von Alternati-ven führen soll. So kam es zur Grün-dung der »Werkstatt Ökonomie« undder Anstellung wissenschaftlich aus-gewiesener Mitarbeiter. Allerdingswaren deren Anstellungsverhältnissestets sehr prekär, weil die Finanzie-rung der sehr schmalen Gehälter oft-mals über Monate ungesichert war.Als wir dann die Initiative »Solidari-scher Lohn – Gerechtes Teilen« grün-deten, besserte sich die Situation et-was, denn de facto entwickelte sichdiese Initiative zu einem Unterstüt-zerkreis, der mithalf, die Gehälter derMitarbeiter der Werkstatt durchSpenden abzusichern.

Im Laufe der Jahre erwarb sich dieWerkstatt Ökonomie durch die hoheFachkompetenz von Klaus Heidel

(seit langem Mitglied unserer Lan-dessynode) und Uwe Kleinert (wieKlaus Heidel aus der evangelischenJugendarbeit in Leimen hervorgegan-gen) ein solches Renommee, dass esgelang, immer wieder Forschungsauf-träge von kirchlichen Institutionen(leider hat sich unsere EvangelischeLandeskirche in Baden mit der Inan-spruchnahme der Werkstatt immerschwer getan), Non-Profit-Organisa-tionen und Ministerien zu erhaltenund damit erhebliche Drittmittel ein-zuwerben. Inzwischen gehört dieWerkstatt zu den anerkanntesten Or-ganisationen, in denen auf hohem Ni-veau Alternativen zu einer rein neoli-beralen Weltwirtschaftsordnung dis-kutiert werden.

Besonders durch die Herausgabe des»Jahrbuchs Gerechtigkeit« hat sichdie Werkstatt großes Ansehen erwor-ben. Das in diesen Jahrbüchern aufbe-reitete Datenmaterial ist beeindru-ckend, die Analysen lassen hohenSachverstand erkennen und helfennicht nur gesamtwirtschaftliche Zu-sammenhänge zu erfassen, sondernauch intensiv über Alternativen nach-zudenken, die dringend geboten sind,wenn wir nach einer Gestaltung welt-weiten Zusammenlebens unter derPerspektive des Reiches Gottes als ei-nes Reiches der Gerechtigkeit ernst-haft fragen.

Ich danke den Mitarbeitern der Werk-statt für ihr Durchhalten in sehrschweren Zeiten, für ihr unermüdli-ches Wirken, mit dem sie nicht nur einStachel im Fleisch unserer Kirchesind, sondern mit dem sie auch michin meinem kirchenleitenden Handelnimmer wieder daran erinnern, dass wirin der Nachfolge Jesu den Weg der Ge-rechtigkeit gehen müssen – auch in-dem wir uns für eine Wirtschaftsord-nung einsetzen, in der den Armen derWelt Gerechtigkeit widerfährt.

Landesbischof Dr. UlrichFischer, Evangelische Landeskirche in Baden

Maria Theresia OpladenBundesvorsitzende, Kath. Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd)

»Ihre fundierten Recherchen, ihre gründliche Aufbe-reitung von Informationen und ihre kompetente Bera-tung zur strategischen Planung sind ein unverzichtba-rer Bestandteil der Aktion fair spielt. Die WerkstattÖkonomie leistet mit … dieser Aktion einen herausra-genden Beitrag zur Alphabetisierung in wirtschaft-lichen und menschenrechtlichen Fragestellungen.«

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Die Werkstatt Ökonomie begann 1983.Wichtig scheint mir weniger die Längeder Zeit als die Umbrüche, die vor al-lem das Team im Dienst immer dersel-ben Sache – »Arbeit und Gerechtigkeitweltweit« – selber eingeleitet und be-wältigt hat. Wie ist das zu verstehen?Handelt es sich um so etwas wie Werk-statt-Umgründungen?

Schon nach dem 1. Weltkrieg und derRussischen Revolution hat Eugen Ro-senstock-Huessy im Blick auf die da-mals erkennbare technisch dynami-sierte globale Wirtschaft die Lebensfä-higkeit einer Werkstatt – eines Betrie-bes – daran bemessen, ob sie zu Aus-gründungen fähig sei. Er nannte dasWerkstatt-Aussiedlung.1 Aussiedlun-gen oder Tochtergründungen hat dieWerkstatt Ökonomie nach meinerKenntnis nicht betrieben. Aber: Siehat sich alle paar Jahre einmal umge-gründet. Ich nenne ein paar Stationen:

Nach achtjährigem Bestehen – diegroße Studie »Multis, Markt und Krise– Unternehmensstrategien im Struk-turbruch der Weltwirtschaft« ist gera-de fertig – konsolidiert sich das Team1991 namentlich als »Werkstatt Öko-nomie« in der Trägerschaft des Ver-eins »Christen für Arbeit und Gerech-tigkeit weltweit«.2 So gesehen wird dieWerkstatt Ökonomie in diesem Jahrsiebzehn – auch ein interessantes Al-ter.

1995/96 unternimmt die WerkstattÖkonomie – als Signal gegen denNiedergang der Südafrika-Solidari-tätsarbeit nach den ersten demokrati-schen Wahlen 1994 – einen Prüfpro-

zess mit dem Ergebnis der Einrich-tung der »Kirchlichen ArbeitsstelleSüdliches Afrika (KASA)«. Zehn Jahrespäter (2006/07) führt eine ausge-dehnte Evaluierung zur Neuausrich-tung der KASA, jetzt in einem etwasengeren Verbund mit der WerkstattÖkonomie, und mit zwei Halbtagsmit-arbeitenden, je eine/r aus einem derbeiden Kontexte, um deren Sache esgeht: dem Südlichen Afrika undDeutschland.

Sommer 1999 geht die Werkstatt Öko-nomie mit www.woek.de ins Internet.Ich kann nicht abschätzen, in welchemUmfang die Internet-Öffentlichkeit dieTätigkeit der Werkstatt Ökonomie be-ansprucht und in welchem Umfang siezu ihrer Wirksamkeit beiträgt. Abervielleicht kann das Team dazu ein paarDaten mitteilen.3

Zug um Zug bildet sich eine Strukturheraus, in der die Werkstatt ÖkonomieKnoten in einem Netzwerk ist. Zurzeitzählt sie zehn solche Netzwerk-Betei-ligungen, neben der bewährten KASAund der ebenfalls regional ausgerich-teten Initiative »EU-China: Civil Socie-ty Forum«. Inzwischen aufgegebeneund jetzt im Hintergrund ruhende, ak-tivierbare Verknüpfungen sind dabeinicht mitgezählt.

Was 1992 »Strukturbruch« heißt, ließesich mit Luc Boltanski und Ève Chia-pello auch als Ausbreitung eines neu-en Geistes des Kapitalismus bezeich-nen.4 Die Zug um Zug und im Wettbe-werb global operierenden Unterneh-men ziehen sich aus der alten, fordisti-schen Regulation zurück und verlegensich auf »neue«, d.h. noch ältere For-men der Organisation der Arbeit zu-rück, die für sie den Charme der Flexi-

bilität haben. Andere sprechen von»Flexploitation«.5 Auch unter denUnternehmen breitet sich die Praxisund die Sprache der Projekte und ih-rer Vernetzung aus. Etwas, das manaus dem Alltag der Werkstatt Ökono-mie seit fünfundzwanzig Jahren kennt.Fast hat man den Eindruck, Zivilge-sellschaft und Wirtschaft wetteiferndarum, wer hier das Rennen macht.

Das Team der Werkstatt Ökonomie je-denfalls erwirbt sich ein beträchtli-ches Know-how in der Projekt-Grün-dung und Projekt-Vernetzung. Das ge-fährdete Fließgleichgewicht zwischen– so will ich das versuchsweise nennen– der Ankerfunktion.(die angeboteneLeistung muss von einem Ort aus dau-erhaft und verlässlich gewährleistetwerden) und der Lotsenfunktion (dieleistungsvermittelnden Netze müssengefunden und verknüpft werden) hates auch durch Konflikte hindurch auf-recht erhalten. Glückwunsch zum fünfundzwanzig-jährigen Bestehen, das auch ein sieb-zehnjähriges ist!

1 Eugen Rosenstock, Werkstattaussiedlung, Berlin1922

2 Der Rundbrief 14 vom 24.11.1988 firmierte nochunter dem Namen »Forschungs- und Aktionsbera-tungsgruppe Christen für Arbeit und Gerechtigkeitweltweit«, der Rundbrief 15 vom April 1989 dannschon unter »Werkstatt Ökonomie« in neuer Ge-stalt – so bis Rundbrief 25 vom Dezember 1993,dem zehnjährigen Bestehen. Mit dem Rundbrief26 vom Oktober 1994 wechselt das Format vonDIN A5 auf DIN A4 und der Namensbestandteil»Christen für Arbeit und Gerechtigkeit« fällt.

3. Das tun wir gerne, siehe »Aus der laufenden Ar-beit« (Red.)

4 Luc Boltanski und Ève Chiapello, Der neue Geistdes Kapitalismus (1999), Konstanz 2003. – Bolt-anski hat gerade in Frankfurt die Adorno-Vorlesunggehalten.

5 Anne Gray, Flexibilisation of Labour and the Attacon Workers’ Living Standards, Common Sense 18(December 1995)

»Uns verbinden viele Jahre der kollegialen underfolgreichen Zusammenarbeit: zum SüdlichenAfrika, zu Themen des Fairen Handels – Rug-mark und den Global March haben wir gemein-sam unterstützt. Das Jahrbuch Gerechtigkeitverbindet uns, und unsere gemeinsame Arbeitin der Aktion fair spielt. Immer ist die Werk-statt Ökonomie für die weltweite Achtung derMenschenrechte und die Option für die Armeneingetreten. Das war und ist die Basis unsererlangjährigen Zusammenarbeit.«

Kristian Hungar, emeritierter Hochschullehrer, von1990 bis Juli 2008 Mitglied des Vorstandes der Werkstatt Ökono-mie, von 1993 bis zu seinem Aus-scheiden dessen Vorsitzender

Prof. Dr. Josef SayerHauptgeschäftsführer, Misereor

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Spätestens mit der Eröffnungsrededes chinesischen AußenministersYang Jiechi beim 7. Asia EuropePeople’s Forum in Beijing am 13.Oktober 2008 wurde deutlich, dasses sich bei dieser Begegnung vonVertreterinnen und Vertretern zi-vilgesellschaftlicher Organisatio-nen aus Europa und Asien um ei-ne Gratwanderung handeln wür-de: Signalisierte doch der chinesi-sche Minister mit seiner Beschwö-rung einer »harmonischen Welt«,dass die Regierung Chinas zwardas Treffen der Nichtregierungsor-ganisationen zumindest verbal(und außerdem in beträchtlichemMaße finanziell) unterstützte, zu-gleich aber unbedingt verhindernwollte, dass das Treffen allzu kriti-sche Botschaften in die BeijingerÖffentlichkeit würde senden kön-nen. Trotz aller Kritik aber bleibtanzuerkennen, dass alleine schondie Tatsache, dass dieses Treffenüberhaupt in Beijing stattfindenkonnte, für die Bemühungen derchinesischen Regierung um einePolitik der kontrollierten Öffnungspricht. An diesem Treffen nahmauch Klaus Heidel in seiner Funk-tion als Sprecher von Social WatchDeutschland/Forum Weltsozialgip-fel Teil und hielt einen Vortragüber die Verwirklichung des Rech-tes auf soziale Sicherheit in derEuropäischen Union (vgl S. 8).

»In den modernen Reformdiskussionen inder Kirche wird gern gefordert, dass Kir-che drin sein muss, wo Kirche draufsteht.Von der Werkstatt Ökonomie habe ich et-was Anderes gelernt, nämlich, dass garnicht explizit Kirche drüber stehen mussund dabei doch viel Kirche drin ist; undzwar die Kirche, die unangenehme Fragenstellt, die Strukturen beschreibt, die Miss-stände offen legt, die sich ökonomischschlau macht und für die Ökumene keinWohlfühlprogramm ist, sondern eine Her-ausforderung für das Zusammenleben inder einen Welt.«

»Das Erfreuliche und zu-gleich Spannende [an der Ar-beit der Werkstatt Ökono-mie] ist, dass im Ergebnis da-bei nicht nur an höchst ak-tuellen Fällen gewonnene,sachlich fundierte Diskus-sionsbeiträge herauskom-men, sondern ebenso oftauch das umsichtig erarbei-tete Sachwissen einmündetin eine sorgfältig geplante,auf Effektivität abzielendeKampagne.«

Aus der laufenden Arbeit

Zum siebten Mal fand im Vorfeld desinzwischen regelmäßigen Treffenseuropäischer und asiatischer Regie-rungsmitglieder (Asia Europe Mee-ting, ASEM) eine mehrtägige Konfe-renz von Vertreterinnen und Vertre-tern zivilgesellschaftlicher Organisa-tionen aus Europa und Asien – das sogenannte Asia Europe People’s Fo-rum (AEPF) – statt. Gut abgeschirmtvon der Öffentlichkeit, diskutiertenrund 500 Teilnehmende in einem lu-xuriösen Tagungszentrum am süd-westlichen Stadtrand Beijings überFrieden und Sicherheit, soziale undwirtschaftliche Menschenrechte undökologische Gerechtigkeit so wieüber Demokratie und politische wiebürgerliche Menschenrechte.

Es war dies das erste Mal, dass dasASEM und damit auch das AEPF inChina durchgeführt wurde – und eswar seit der Weltfrauenkonferenz inBeijing im Jahre 1995 das größte zivil-gesellschaftliche Treffen in China. Al-leine dies machte es bemerkenswert –und die thematische Schwerpunktset-zung ließ im Vorfeld der zivilgesell-schaftlichen Konferenz die Spannungsteigen: Wie würden die chinesischeRegierung und die Vertreterinnen undVertreter von Nichtregierungsorgani-sationen aus China damit umgehen,dass ausgerechnet Menschenrechteauf der Agenda standen?

Auf diese Frage gab es bis zuletzt kei-

ne eindeutige Antwort. Einerseits ver-traten Mitarbeitende von chinesischenzivilgesellschaftlichen Organisationenin den zahlreichen Diskussionsrundenim von Sicherheitskräften abge-schirmten Tagungszentrum regie-rungsoffizielle Positionen, anderer-seits gab es in den Pausen und an denAbenden sehr offene inoffizielle Dis-kussionen, bei denen sich Chinesin-nen und Chinesen durchaus kritischüber soziale, wirtschaftliche und öko-logische Probleme Chinas äußerten.Zwar blieb bis zuletzt undurchsichtig,mit welchen Kriterien welche chinesi-schen zivilgesellschaftlichen Organisa-tionen ausgewählt wurden, dennochaber kam zumindest ansatzweise einspannender Diskurs in Gang, etwawenn Teilnehmende aus anderen asia-tischen Ländern kritisch zu Entwick-lungen in China oder zur chinesischenAußenpolitik Stellung bezogen.

Vorbild Europa?

Bezeichnend für das Diskussionsklimawar die Antwort des chinesischenWirtschaftswissenschaftlers auf denVortrag von Klaus Heidel über die Ver-wirklichung des Rechtes auf soziale Si-cherheit: Er betonte, auch in Deutsch-land sei das System sozialer Sicherheitnur schrittweise aufgebaut worden,und Bismarck habe – wie jetzt die chi-nesische Regierung – zunächst nur dieSozialversicherung für Arbeiterinnenund Arbeiter eingeführt. Zu einer ent-sprechenden Absicherung von Land-arbeiterinnen und Landarbeitern seies erst in den 1920er Jahren gekom-men.

Martin Huhn, Industrie- und Sozialpfarrer in Mannheim

Gerd HenschenPfarrer i.R.,langjähriges Mitglied

7. Asia Europe People’s Forum in BeijingNRO aus Europa und Asien diskutierten über Frieden, Sicherheit,Menschenrechte und Ökologie

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Diese Reaktion war typisch für die Ar-gumentationsweisen von Teilnehmen-den aus China: Zwar leugneten sienicht bestehende soziale, wirtschaftli-che und ökologische Probleme, siewiesen aber immer wieder darauf hin,dass Europa 150 Jahre gebraucht ha-be, um das jetzige soziale, wirtschaftli-che und ökologische Niveau zu errei-chen. Daher verstehe es sich vonselbst, dass auch China Zeit braucheund sich zunächst auf die dringlich-sten Fragen konzentrieren müsse.

Diese (zumindest verbale) Ausrich-tung an – oder genauer: Bezugnahmeauf – Europa stand im deutlichenKontrast zu manchen Positionen vonTeilnehmenden aus Hongkong undaus anderen asiatischen Ländern, diesich deutlich von der vorherrschen-den Politik Europas und vor allem derEuropäischen Union abgrenzten. Dieswurde in der Arbeitsgruppe über diesoziale und ökologische Verantwor-tung von Unternehmen (CorporateSocial Responsibility, CSR) deutlich.Während Teilnehmende aus Chinavom Boom der CSR-Debatte in ihremLand berichteten und sich dabei auchauf europäische Vorstellungen vonUnternehmen bezogen, betonten Ver-treter von Nichtregierungsorganisa-tionen aus Hongkong und Europa,

dass sie inzwischen überaus skep-tisch hinsichtlich des Nutzens vonCSR-Instrumenten seien und statt auffreiwillige Unternehmensmaßnah-men auf staatliche Regulierungen set-zen würden.

Ganz ähnlich verliefen die Diskus-sionslinien in der Arbeitsgruppe überwürdige Arbeit (decent work): Diechinesische Vertreterin betonte dieBemühungen der chinesischen Ge-werkschaften, die »Decent WorkAgenda« der Internationalen Arbeits-organisation umzusetzen. Mitarbei-tende von Nichtregierungsorganisa-tionen aus weiteren asiatischen Län-dern und aus Europa bezweifeltenaber den Nutzen dieser Agenda undbetonten stattdessen die Bedeutungunabhängiger Gewerkschaften für dieDurchsetzung von Forderungen zurGestaltung der Arbeitswelt.

Allgegenwärtige Finanzkrise

Nicht auf der Tagesordnung stand dieglobale Finanzkrise. Sie war dennochallgegenwärtig. Viele zivilgesellschaft-liche Organisationen fühlten sich in ih-rer seit Jahren vorgetragenen Kritikan der Liberalisierung und Deregulie-rung der Finanzmärkte bestätigt.Scharf ging der Soziologe Professor

Walden Bello aus den Philippinen (erist Träger des Alternativen Nobelprei-ses) mit der Unordnung der Finanz-märkte ins Gericht. Ganz allgemeinherrschte die Einschätzung vor, dassdas Ausmaß dieser Krise zu einer In-tensivierung zivilgesellschaftlicherAktivitäten führen müsse. Doch wäh-rend Teilnehmende aus Europa undaus vielen asiatischen Ländern scharfeKritik an der wirtschaftlichen Globali-sierung äußerten, hielten sich Teilneh-mende aus China zurück. Für sie wardie Finanzkrise lediglich der Ausdruckdes Scheiterns einer neoliberalen Poli-tik, nicht aber ein Beweis dafür, dasswirtschaftliche Globalisierung negativzu bewerten sei: Sie setzen wie ihreRegierung auf den weiteren Ausbauder Integration Chinas in die Weltwirt-schaft. Ob das dann wirklich die Posi-tion »der« chinesischen Zivilgesell-schaft ist – sofern es eine solche über-haupt gibt – muss offen bleiben, da(wie gesagt) nicht geklärt werdenkonnte, welche der beim AEPF vertre-tenen chinesischen Nichtregierungs-organisationen mit welchem Rechtund in welchem Maße als Vertreter»der« chinesischen Zivilgesellschaftgelten konnten.

Klaus Heidel

Aktion fair spielt

Im Juni besuchte Uwe Kleinert als Ko-ordinator der Aktion fair spielt zusam-men mit Elisabeth Strohscheidt vonMisereor Hongkong und das unmittel-bar angrenzende Shenzhen, um sichmit Nichtregierungsorganisationenüber ihre Einschätzung des ICTI CA-RE-Prozesses für die Verbesserungder Arbeitsbedingungen in der Spiel-zeugindustrie, über die arbeitsrecht-lichen Neuerungen in China und überangemessene Strategien gegenüberdem Weltverband sowie Spielzeugher-stellern und Handel auszutauschen.Auch die Teilnahme an einer Fabrikin-spektion im Auftrag der ICTI CAREFoundation stand auf dem Programm.

Die zentralen Ergebnisse der Reisesind in einem kurzen englischsprachi-gen Bericht zusammengefasst, derbei der Werkstatt Ökonomie angefor-dert werden kann.

Ebenfalls angefordert werden kanneine Zusammenstellung der Neurege-lungen, die sich aus dem Arbeitsver-tragsgesetz und dem Arbeitskonflikt-gesetz, die im Januar bzw. Mai diesesJahres in Kraft traten, ergeben.

Die Firmenliste der Aktion fair spieltwird nach der nächsten Aktualisie-rung unter dem Stichwort »Transpa-renz« auch darüber informieren, obUnternehmen mehr oder weniger be-reitwillig über die Umsetzung des IC-TI-Kodex bei ihren Lieferanten Aus-kunft geben. Ein Prototyp der Listekann bei der Werkstatt Ökonomie an-gefordert werden.

In einem Brief haben Anfang Dezem-ber die an der Aktion fair spielt betei-ligten Organisationen die drei Spiel-zeugfachhandelsverbände Vedes,Idee + Spiel sowie Spiel & Spaß auf-gefordert, ihre Zurückhaltung in Sa-chen ICTI-Zertifizierung aufzugebenund ihre Verantwortung für men-schenwürdige Arbeitsbedingungenbei ihren Lieferanten wahrzunehmen.

Im Februar 2009 findet in Kooperationmit GermanWatch eine Arbeitstagungverschiedener europäischer Produkt-kampagnen statt, um die Grenzen undPotenziale der jeweiligen Ansätze aus-zuloten, aus den Erfahrungen der an-deren zu lernen und gegebenenfallseine Zusammenarbeit auf spezifischenFeldern zu verabreden.

Ein besonderes Anliegen ist es der Ak-tion fair spielt im laufenden Projektab-schnitt, Kriterien für faire Lieferbezie-hungen zu entwickeln. Nicht selten se-hen sich Lieferanten durch enge Lie-ferfristen und/oder unangemessenePreise so sehr unter Druck gesetzt,dass sie keine Chance haben, die ge-forderten Standards einzuhalten.

Schließlich wird die Aktion fair spieltnach der Sommerpause 2009 einezeitlich befristete Kampagne durch-führen, die sich besonders an Erziehe-rinnen und Erzieher sowie Kinder undEltern in Kindertagesstätten richtet.

Uwe Kleinert

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Deutsches NRO-Forum Kinderarbeit

Seit zwei Jahren begleitet das Forumdie Erarbeitung einer umfassendenKinderrechtsstrategie kritisch (vgl.Rundbrief 48, S. 13ff. und Rundbrief49, S 14). Zwar hat die EU inzwischeneine Reihe interessanter Dokumentevorgelegt, doch noch immer sind diePositionen zur Stärkung von Kinder-rechten in den Außenbeziehungender EU mehr als unbefriedigend, set-zen sie sich doch zum Beispiel nichtkritisch mit den Auswirkungen derEU-Handelspolitik auf die Rechte desKindes auseinander. Gänzlich unbe-friedigend ist bisher auch die Beteili-gung von Kinderrechtsorganisationenan der Erarbeitung der Strategie, unddie bereits im Juli 2006 angekündigteBeteiligung von Kindern und Jugend-lichen aus Europa und aus den Län-dern des »Südens« ist bisher nochnicht einmal eingeleitet worden.

Vor allem ist das Deutsche NRO-Fo-rum Kinderarbeit besorgt darüber,dass sich in der Kommission und imRat der Europäischen Union ein un-zulässig vereinfachender Begriff vonKinderarbeit festgesetzt hat, der eineeindeutige kinderrechtliche Grundle-gung vermissen lässt. Dies prägteauch eine Stellungnahme des Ratesvom 26. Mai 2008 über den Schutzder Rechte des Kindes in den Außen-beziehungen der EuropäischenUnion. Daher hatte das Forum EndeJuli 2008 eine dreiseitige Stellung-nahme an Mitglieder des Europäi-schen Parlamentes und des Deut-schen Bundestages so wie an dieBundesregierung verschickt und füreine differenzierende Auseinander-setzung mit Kinderarbeit geworben.Diese Stellungnahme war Anlass füreine Initiative des SPD-Bundestags-abgeordneten Dr. Wodarg, der unteranderem Mitglied im Ausschuss fürwirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung (AWZ) sowie stellver-tretendes Mitglied im Europaaus-schuss und Berichterstatter der Eu-ropäischen Union im Gesundheits-ausschuss und im AWZ ist undDeutschland in der Parlamentari-schen Versammlung des Europaratesvertritt. Nach Gesprächen mit Prof.Dr. Manfred Liebel (Berlin) undKlaus Heidel als Vertreter des Fo-rums startete Dr. Wodarg Initiativenin der Parlamentarischen Versamm-

lung des Europarates und im Bundes-tag mit dem Ziel, parlamentarischeUnterstützung für die Vorstellungendes Deutschen NRO-Forums Kinder-arbeit einzuwerben.

Diesem Ziel dient auch die Mitarbeitvon Klaus Heidel im Themennetz-werk EU-Kinderrechtsstrategie derNational Coalition für die Umsetzungder EU-Kinderrechtsstrategie und ineuropäischen Zusammenschlüssenvon Kinderrechtsorganisationen, dasich diese eher nur selten mit Kinder-arbeit auseinandersetzen.

Klaus Heidel

Konsultationsprozess zum Jahrbuch Gerechtigkeit

Das nächste Jahrbuch Gerechtigkeit– es soll im Oktober 2009 erscheinen– wird wieder von einem großen Her-ausgeberkreis vorgelegt werden, deminzwischen über 30 Kirchen, kirchli-che Werke, Dienste und Organisatio-nen angehören. Mit Blick auf dasSchwerpunkthema »neue« Mitglieds-länder der EU sind neue Organisatio-nen wie Renovabis oder das Konfes-sionskundliche Institut in Bensheimdazu gestoßen. Außerdem beteiligensich die Gemeinschaft EvangelischerKirchen in Europa (GEKE) und dieKonferenz Europäischer Kirchen(KEK) an der Erarbeitung des Jahr-buches. Inzwischen haben Kirchenaus fast allen »neuen« EU-Mitglieds-ländern ihr Interesse an einer Mitwir-kung am europäischen ökumenischenKonsultationsprozess signalisiert. Hö-hepunkt wird eine europäische Ta-gung im Kardinal-König-Haus in Wienam 2. und 3. Februar 2009 sein. Beidieser Tagung unter dem Thema »Ar-me reiche EU? Soziale Gerechtigkeitin der EU verwirklichen, regionaleDisparitäten begrenzen und einer so-zialen Polarisierung in den ‚neuen’EU-Mitgliedsländern entgegenwir-ken« werden vorläufige Texte desJahrbuches Gerechtigkeit IV disku-tiert und die Eckpunkte eines ge-meinsamen kirchlichen Positionspa-piers diskutiert. Dies wird nicht ein-fach werden, zeigt sich doch schon,dass die wirtschaftlichen und sozialenEntwicklungen in den »neuen« EU-Mitgliedsländern sehr unterschied-lich sind.

Klaus Heidel

Splitter aus der laufenden Arbeit

18. Oktober 2008 | HeidelbergEPAs im Spannungsfeld …Veranstaltung der KASA mit HeidelbergerPartnerorganisationen, bei der 50 Teilneh-mende unter anderem mit Martin Dihmvon der Generaldirektion Handel der Eu-ropäischen Kommission diskutierten

13. November 2008 | BerlinBuchvorstellung & FilmpremiereZwei Veranstaltungen unter Beteiligungder KASA im Haus der Kulturen der Welt:Vorgestellt wurden der Sammelband »Ge-rechtigkeit und Versöhnung. Theologieund Kirche im Transformationsprozessdes neuen Südafrika« mit Beiträgen vonWolfram Kistner und der Dokumentarfilm»Land Matters« von Thorsten Schütte. Anden beiden Veranstaltungen nahmen 75bzw. 100 Personen teil. Die Redebeiträgebei der Buchvorstellung werden doku-mentiert und können bei der KASA abge-rufen werden; der Film steht in der engli-schen oder deutschen Fassung bei derKASA zur Ausleihe zur Verfügung.

21./22. November 2008 | StorckensohnKirchen als Konsumenten …Veranstaltung der Dienste für Industriear-beit der Kirchen im DreiländereckSchweiz, Frankreich und Deutschland zurökologischen und sozialen Verantwortungder Kirchen und Kirchengemeinden beider Geldanlage, der Beschaffung und derVergabe von Aufträgen. Der SchweizerSozialethiker Hans Ruh diagnostizierte ei-ne tiefe Systemkrise in den Beziehungenzwischen Politik, Wirtschaft und Gesell-schaft und skizzierte die Umrisse einesneuen (kontrovers diskutierten) Modells,das statt Regulierung und De-Regulierungauf Selbstregulierung und eine starke Rol-le der Zivilgesellschaft setzt. Uwe Kleinertunterstrich in seinem Beitrag, die Orien-tierung der Kirchen an sozialen und öko-logischen Kriterien sei nicht nur ein Zei-chen, das in die Gesellschaft ausstrahle,sondern auch eine Frage ihrer Glaubwür-digkeit. Das Verhalten der Kirchen imMarkt solle in den Kirchen offen diskutiertwerden. Die Dokumentation der Tagungkann nach Erscheinen auch bei der Werk-statt Ökonomie angefordert werden.

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trennt verwaltet wird und erst seit einigen Monaten zugänglich ist, wird über-raschenderweise auch schon fast 30.000 mal pro Monat zugegriffen. (uk)

Mitgliederversammlung 2008

Wechsel in der Besetzung des Vorstands

Mit den Neuwahlenzum Vorstand bei derMitgliederversamm-lung am 11. Juli 2008endete eine lange Pha-se der Kontinuität:Kristian Hungarstellte sich nach 15Jahren als Vorsitzen-der der Werkstatt Öko-nomie nicht noch ein-mal zur Wiederwahl.

Und auch Hiltrud Brookmann, seit1994 Vorstandsmitglied, schied aufeigenen Wunsch aus. Karl-Heinz De-jung dankte den beiden im Namender Mitglieder für ihr nachhaltigesEngagement, für das Team bedanktesich Klaus Heidel mit einer launigenRückschau auf die langjährige Zu-sammenarbeit.

Diese Zusammenarbeit gründete ins-besondere auf einer Basis solidenVertrauens von Seiten des Vorstandsin die Mitarbeitenden und entspre-chenden Freiräumen für Initiativen

aus dem Team oder aus laufendenKooperationsprojekten. Darüber hin-aus haben wir Kristian Hungar mitseiner Bescheidenheit, Offenheit undBereitschaft zum Zuhören als zutiefstmenschlichen Begleiter unserer Ar-beit schätzen gelernt.

Für die beiden Ausgeschiedenenwurden Renate Kirchhoff, Theolo-gie-Professorin an der Evang. Fach-hochschule Freiburg, als Vorsitzendeund Klaus-Peter Spohn-Logé, Sozi-alsekretär beim Industrie- und Sozial-pfarramt in Mannheim, als Schriftfüh-rer neu in den Vorstand gewählt. Inden beiden anschließenden Beiträgenstellen sich Renate Kirchhoff undKlaus-Peter Spohn-Logé kurz vor.Wiedergewählt wurden außerdemKarl-Heinz Dejung als Kassiererund Lothar Elsner als gleichberech-tigter zweiter Vorsitzender, die damitdie Kontinuität in der Arbeit des Vor-stands gewährleisten.

Wir wünschen den alten und neuenVorständen Freude an der Arbeit mit-einander und freuen uns auf eine gu-te Zusammenarbeit. (uk)

Die neue VorsitzendeRenate Kichhoff

Ich bin der WerkstattÖkonomie schon langeverbunden, und würdediese Verbundenheit ger-ne institutionalisierenund mit Lehre undWeiterbildung an derHochschule verbinden.Ich selbst habe mich mitGender als einem Feldvon Diversity beschäf-tigt und bringe Erfahrungen aus derArbeit mit Frauen mit, die nachDeutschland in die Prostitution mi-griert sind. Fragen der Gerechtigkeitweltweit sind Gegenstand meinerLehre, und ich verbinde sie durchge-hend mit theologischen Perspektivenauf Gerechtigkeit.

Ich bin Professorin für Neues Testa-ment und Diakoniewissenschaft ander Evangelischen Hochschule Frei-burg, und dort Dekanin des FB II:»Theologische Bildungs- und Diako-niewissenschaft«, außerdem Mitgliedder Synode der Evangelischen Kirche

Website

Die Website ist auch für die WerkstattÖkonomie zu einem wichtigen Infor-mationsmedium geworden, das wei-ter an Bedeutung gewinnt: Vor dreiJahren lag die durchschnittliche Zahlder Seitenaufrufe pro Monat bei40.000, heute sind es knapp 50.000.Die Grafik zeigt zum einen die amhäufigsten angeklickten Seiten unterwww.woek.de: Neben der Homepagesind das zunächst natürlich die Start-seiten der einzelnen Projekte, dieüber eigene Domains, also einen eige-nen Namen auch direkt angesteuertwerden können. Das Kreisdiagrammzeigt darüber hinaus, wie sich dieKlicks auf die einzelnen Arbeitsberei-che verteilen: Am häufigsten werdenInformationen zur Aktion fair spieltabgerufen, gefolgt von der KASA unddem Forum Kinderarbeit.

Auf die Website des Projektes »EU-China: Civil Society Network«, die ge-

Werkstatt Ökonomie: Startseite

Aktion fair spielt: Startseite

Forum Kinderarbeit: Startseit

Social Watch Deutschland: Startseite

KASA: Startseite

fair spielt: Hintergrund

fair spielt: Aktuell

Kinderarbeit: Materialien

KASA: Aktuell

fair spielt: Publikationen

fair spielt: Adressen

fair spielt: Firmenliste

fair spielt: Materialien

WÖK: Publikationen

WÖK: Aktuell

Zugriffe 2008 pro Themenbereich

Aktion fair spielt36,5%

KASA 18,3%Forum Kinderarbeit14,7%

Werkstatt Ökonomie11,4%

Social Watch 7,4%

Gewerkschaften in China 2,7%Jahrbuch Gerechtigkeit 2,7%

andere 6,3 %

Zugriffe 2008 pro Seite

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in Baden, Mitglied des Aufsichtsratesdes Diakonischen Werkes in Badenund Beiratsmitglied des Diakoniewis-senschaftlichen Instituts der Univer-sität Heidelberg.

Neu im VorstandKlaus-Peter Spohn-Logé

In diesem Jahr feiert die WerkstattÖkonomie ihr 25-jähriges Jubiläum,und fast genauso lang bin ich Verein-smitglied. Ein längerer Auslandsauf-enthalt brachte es mit sich, dass ichbei der Gründung der Werkstatt nichtdabei sein konnte. Als ich 1984 meineTätigkeit als Sozialsekretär beimKirchlichen Dienst in der Arbeitswelt(KDA) im Industriepfarramt Mann-heim aufgenommen habe, habe ichaber sogleich in einem der ersten Pro-jekte der Werkstatt Ökonomie aktivmitgearbeitet: Gemeinsam mit Be-triebsräten und gewerkschaftlichenVertrauensleuten von Mercedes Benzin Mannheim nahmen wir in einemArbeitskreis die Auslandsaktivitätendes Konzerns, insbesondere in Süd-afrika, kritisch unter die Lupe. ZweiReisen von Gewerkschaftsdelegatio-nen nach Südafrika zu den Hochzei-

ten des Apartheid-Regimes brachtensowohl viele Erkenntnisse zu denwirtschaftlichen Verstrickungendeutscher Firmen in Südafrika alsauch den Aufbau von direkten ge-werkschaftlichen und kirchlichen Be-ziehungen mit sich. Die Entstehungvon KASA als ein eigenständiger, abermit der Werkstatt verbundener Ar-beitsbereich begründet sich aus die-ser Zeit. In meiner Arbeit beim KDAwar mir ökumenische und internatio-nale Solidaritätsarbeit immer ein Her-zensanliegen.

Leider gab es in der Folge nur aus-nahmsweise ähnlich dichte Arbeitsbe-ziehungen zwischen der Werkstatt unddem KDA wie bei unserem Engage-ment in Südafrika. Ich beschäftige michin den letzen Jahren stärker mit Fragender europäischen Zusammenarbeit undunterstütze seit langem gemeinsam mitder IG Metall den Aufbau unabhängigerGewerkschaften in Belarus.

Weitere Arbeitsschwerpunkte von mirsind neben der Zusammenarbeit mitGewerkschaften und betrieblichenIntereressenvertretungen die Beglei-tung und Unterstützung von Erwerbs-loseninitiativen, Mobbing und Kon-fliktberatung sowie die Durchführungvon Schulungen über das kirchliche

Arbeitsrecht für Mitarbeitervertretun-gen. Es gibt also viele Schnittmengenmit der Arbeit der Werkstatt. Als einZiel setze ich mir, dass es in Zukunftgelingt, über das Jahrbuch Gerechtig-keit hinaus weitere praktische Koope-rationsprojekte zwischen Werkstattund KDA zu begründen.

Über meine Funktion als Vorstands-mitglied der Werkstatt Ökonomie hin-aus bin ich ehrenamtlich noch in an-deren Bereichen tätig. Neben der ak-tiven Mitarbeit bei ver.di bekleide ichunter anderem das Amt eines ehren-amtlichen Richters am Arbeitsgerichtund bin für Bündnis 90/Die Grünenim Gemeinderat meiner Wohnge-meinde.

Bitte vormerkenMitgliederversammlung am 27. März 2009

Die nächste Mitgliederversammlung derWerkstatt Ökonomie findet am 27. März2008 um 18 Uhr statt. Bitte merken Sie denTermin vor. Ort und Tagesordnung werdenwir Ihnen fristgerecht mitteilen.

Staphany Wong

Seit Oktober 2008 arbeite ich bei der Werkstatt Ökonomie undbin als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen des EU-ChinaCivil Society Netzwerkes unter anderem für die Auswertung chi-nesischer Statistiken, den Kontakt zu zivilgesellschaftlichen Or-ganisationen in China und die Sichtung von deren Stellungnah-men zu wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen Fragen zu-ständig. Außerdem werde ich bei der Erstellung von Bildungs-und Hintergrundinformationen des Netzwerkes mithelfen.

Ich bin in China geboren. Als ich sieben Jahre alt war, zog ichnach Hongkong. Dort machte ich ein Masterdiplom in Interkultu-rellen Studien. Meine Diplomarbeit behandelte die Literatur derGastarbeiterInnen. Ich arbeitete in einer Hongkonger Organisa-tion für Arbeitsrechte und betreute dort Fälle von Arbeitsrechts-verletzungen in China. Seit 2005 war ich Researcher und Kam-pagnenkoordinatorin des Kontaktbüros des Internationalen Ge-werkschaftsbunds in Hongkong und führte Recherchen in Ar-beitsrechts- und sozialen Angelegenheiten in China, Macau undHongkong durch.

Julia Stoye

Auf der Suche nach einem Studentenjob bin ich aufdie Ausschreibung der Werkstatt Ökonomie gesto-ßen. Ich war sofort fasziniert und wollte mitarbeiten.Nun bin ich seit November als studentische Hilfs-kraft für die Werkstatt tätig. Ich unterstütze KlausHeidel bei der Projektarbeit zum »EU - China: CivilSociety Forum« und zum »Jahrbuch Gerechtigkeit«.

Ich studiere Politikwissenschaft, Soziologie undKunstgeschichte an der Universität Heidelberg. Ichbin in Heidelberg geboren und Heidelberg ist undbleibt meine Lieblingsstadt. Trotzdem zieht es michdes Öfteren in die Ferne. So habe ich mein Aus-landssemester in Chile verbracht und mein Latein-amerika- Interesse entdeckt. In meinem Studiumbeschäftige ich mich besonders mit der Konflikt-und Friedensforschung und bin auch für das Heidel-berger Institut für Internationale Konfliktforschung(HIIK) tätig.

Neu im Team

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Werkstatt-Projekte

An den folgenden Vernetzungen ist die Werkstatt Ökonomie maßgeblich beteiligt:

AG WM 2010 Vernetzung entwicklungspolitischer Organisationen, darunter KASA, KOSA, issa, medico international, Misereor; Ziel ist es, die Fußball-WM2010 in Südafrika für eine entwicklungspolitische Bildungsinitiative zu nutzen; Mitarbeit in der Steuerungsgruppe: Simone Knapp / BonifaceMabanza

Aktion fair spielt. Für faire Regeln in der Spielzeugproduktion getragen von Misereor, Kath. Arbeitnehmer-Bewegung, Kath. Frauengemeinschaft, Nürnberger Bündnis Fair Toys und Werkstatt Ökonomie;tritt ein für die Durchsetzung von Arbeitsstandards in der Spielzeugproduktion, Koordination: Uwe Kleinert

CorA – Netzwerk für Unternehmensverantwortung mit 40 Mitgliedsorganisationen unter anderem aus den Bereichen Entwicklungspolitik, Verbraucherschutz, Umweltschutz und Gewerkschaf-ten; strebt die Stärkung verbindlicher Rechenschaftspflichten für Unternehmen an; Mitarbeit im Koordinierungskreis: Uwe Kleinert

Deutsches NRO-Forum Kinderarbeitgetragen von Brot für die Welt, DGB-Bildungswerk, Kindernothilfe, ProNATs, terre des hommes Deutschland und Werkstatt Ökonomie; Zielist die Qualifizierung der Auseinandersetzung mit Kinderarbeit in Politik und Öffentlichkeit; Koordination: Klaus Heidel

EU-China: Civil Society Forum 14 zivilgesellschaftliche Organisationen, darunter Asienstiftung, Forum Umwelt und Entwicklung, INKOTA, IG Metall, Südwind-Agentur(Wien), Weltumspannend Arbeiten, Transnational Institute und Focus on the Global South; setzt sich u.a. für chinesisch-europäische Bezie-hungen auf der Grundlage sozialer, ökologischer und menschenrechtlicher Entwicklungsziele ein; Koordination: Dr. Klaus Fritsche (Asienstif-tung) und Klaus Heidel

Internationale Kampagne für Entschuldung und Entschädigung im südlichen Afrika in Deutschland koordiniert von KASA und medico international; fordert die Streichung der durch die Apartheid verursachten Schulden imSüdlichen Afrika und die Entschädigung der Opfer der Apartheid; Mitarbeit in der Arbeitsgruppe: Simone Knapp / Boniface Mabanza

Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika (KASA) getragen und regelmäßig unterstützt von 18 kirchlichen Organisationen, darunter Brot für die Welt, EED, Misereor und Missio; leistet einenBeitrag zur politischen Durchsetzung und theologischen Reflexion wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit im Südlichen Afrika und hier;Koordination: Simone Knapp / Boniface Mabanza

Kirchlicher Herausgeberkreis Jahrbuch Gerechtigkeitzuletzt 31 Kirchen, kirchliche Werke, Dienste und Organisationen, darunter Misereor, zahlreiche Diakonische Werke, evang. Landeskirchen,die Evang.-methodistische Kirche in Deutschland, die Kath. Arbeitnehmer-Bewegung, der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt und die Werk-statt Ökonomie), Geschäftsführer: Klaus Heidel und Pfr. Dr. Thomas Posern (Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN)

Social Watch Deutschland/Forum Weltsozialgipfel insgesamt 29 sozial- und entwicklungspolitische Organisationen, darunter Brot für die Welt, Caritas, DGB-Bildungswerk, EED, FIAN Deutsch-land, Friedrich-Ebert-Stiftung, IG Metall, Kath. Arbeitnehmer-Bewegung, Pax Christi, terre des hommes, ver.di; Anliegen ist die Begleitung derUmsetzung u.a. der Beschlüsse des Kopenhagener Weltgipfels für soziale Entwicklung und der Millenniumserklärung der Vereinten Natio-nen durch Bundesregierung und Bundestag; Sprecher: Klaus Heidel

StopEPA-Kampagne Vernetzung unter anderem mit KASA, KOSA, Germanwatch, Oxfam, terre des hommes und WEED; setzt sich dafür ein, die unfairen Wirt-schaftspartnerschaftsabkommen zwischen EU und AKP-Staaten zu verhindern; Mitarbeit im Koordinierungskreis: Simone Knapp / BonifaceMabanza

Working Group on Child Labour NGO Group for the Convention on the Rights of the Child (Geneva), Convenor: Klaus Heidel

World Council of Churches Reference Group »Poverty, Wealth and Ecology« Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland: Klaus Heidel

Impressum

Der Rundbrief wird herausgegeben von der Werkstatt Ökonomie – Christen für Arbeit und Gerechtigkeit weltweit e.V., Obere Seegasse 18, 69124 Heidelberg, Telefon (06221) 43336-0, Telefax 43336-29, E-Mail: [email protected], Internet: www.woek.deBankverbindung: Werkstatt Ökonomie, Konto 190 687-759, Postbank Karlsruhe, BLZ 660 100 75Der Rundbrief erscheint unregelmäßig und wendet sich in erster Linie an die Mitglieder und Freundinnen der Werkstatt Ökonomie.Redaktion: Uwe KleinertAuflage: 300Gestaltung: Hantke & Partner, HeidelbergDruck: City Druck, Heidelberg

Die Werkstatt Ökonomie erhält projekt unabhängige Zuschüsse vom Evangelischen Entwicklungsdienst (EED), vom Evangeli-schen Missionswerk in Deutschland (EMW), von der Initiative »Solidarischer Lohn – Ökumenisches Teilen«, der Evang. Kirche inBaden und der Evang. Kirche in Hessen und Nassau. Dafür danken wir!

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