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Übersichtsskript* zur Vorlesung:
Praktische Philosophie II: Politische Philosophie
WS 2014/15
von
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin
7.Vorlesung (25.11. 2014)
Die neuen Vertragstheoretiker:
Robert Nozick – James Buchanan – David Gauthier
Zu Beginn der Vorlesung hat Prof. Nida-Rümelin auf die in der angelsächsischen
Fachliteratur übliche Unterscheidung zwischen Contractualism und Contractarianism
hingewiesen. Unter contractualism seien dabei solche Theorien zu verstehen, die die
Rechtfertigung politischer Herrschaft an vernünftige Zustimmungsfähigkeit im Sinne der auf
die Kriterien der Verallgemeinerbarkeit und Unparteilichkeit abstellenden kantischen
Tradition199
anknüpfen. Der Contractarianism stehe dagegen für Theorien, die die Legitimität
politischer Herrschaft im Sinne des hobbes’schen Paradigmas200
danach beurteilen, ob sie den
Interessen (zweck-)rationaler Individuen dient. Eine vollständige Zuordnung zu den
klassischen Paradigmen sei allerdings in Hinblick auf beide Richtungen oft nicht möglich.
Grundzüge der politischen Philosophie von Robert Nozick
Robert Nozick (1938-2002) beruft sich in Anarchy, State, and Utopia anders als die eben
gerade genannten Hauptströmungen der zeitgenössischen Politischen Philosophie explizit auf
die Konzeption von John Locke. Nozick, der lange Jahre neben John Rawls in Harvard lehrte,
wird als Vordenker des sogenannten Libertarismus (engl. Libertarianism) angesehen – einer
* Zusammengestellt von Klaus Staudacher. Das Skript ist kein Ersatz für den regelmäßigen Besuch der
Vorlesung! Zusätzlich zur Vorlesung findet jeweils freitags von 14 Uhr - 16 Uhr c.t. in Raum A U 115 ein
Tutorium statt, in dem der Stoff der Vorlesung rekapituliert wird. Die dort behandelten Fragen werden (wenn
auch manchmal leicht zeitversetzt) ebenso wie das Skript über die Lehrstuhl-website zugänglich gemacht. 199
Vgl. dazu das 4.Skript/S. 38 ff. 200
Vgl. dazu das 3.Skript/S. 22 ff.
74
politischen Strömung, die vor allem in der Reagan-Ära und während der Thatcher-Regierung
in Großbritannien großen Einfluss hatte.
Vor der Darstellung seiner Theorie, sei hier ein kurzer Überblick über die verschiedenen
Spielarten des Libertarismus gegeben. „Unstrittiges Hauptmerkmal des Libertarismus ist sein
schmales normatives Fundament: Für den Libertarismus ist ausschließlich die Freiheit des
Einzelnen moralisch relevant. Konkret findet diese ihren Ausdruck in bestimmten
Freiheitsrechten, die dem Einzelnen zukommen, absolut gelten und beachtet bzw. geschützt
werden müssen. Alle Autoren führen den Rechtekanon, für den sie jeweils eintreten, auf ein
fundamentales Recht zurück, nämlich auf das Eigentumsrecht am eigenen Körper. Denn aus
diesem häufig als self-ownership bezeichneten Recht des Einzelnen, frei über seinen Körper
und seine Talente zu verfügen, lassen sich alle weiteren Freiheitsrechte, die der Libertarismus
fordert, ableiten.
Doch obwohl das normative Fundament der meisten Libertarier identisch ist, unterscheiden
sich die daraus entwickelten Ansätze teilweise sehr deutlich voneinander: In
gesellschaftlichen Fragen nehmen die meisten Libertarier Positionen ein, die man eher dem
linken Spektrum zuordnen würde. So ist jede Form der geschlechtlichen Beziehung für den
Libertarier legitim, solange sie in beiderseitigem Einverständnis – und damit unter Beachtung
der Freiheit des Einzelnen – geschieht; ebenso sprechen sich Libertarier gegen ein generelles
Verbot von Drogen oder von Sterbehilfe aus, da solche Verbote die Freiheitsrechte mündiger
Bürger einschränken. In wirtschaftlichen Fragen sowie in Fragen sozialer Gerechtigkeit (also
der Verteilung gesellschaftlich erarbeiteter Kooperationsüberschüsse) jedoch zerfällt das
Spektrum der Libertarier in zwei unterschiedliche Lager: Einerseits in diejenigen, die jegliche
Regulierung des Marktes durch den Staat sowie jede staatlich koordinierte Umverteilung von
auf dem Markt erwirtschafteten Gewinnen im Namen der individuellen Freiheit der
Marktteilnehmer strikt ablehnen, andererseits in diejenigen, die gewisse Eingriffe in den
Markt seitens des Staates für gerechtfertigt halten. Dieser Spaltung liegt eine tiefere Differenz
zugrunde, nämlich über die Frage der ersten Aneignung: Diejenigen, die sich für den
uneingeschränkt freien Markt aussprechen, sind im Allgemeinen der Ansicht, dass natürliche
Ressourcen, solange sie sich niemand explizit […] angeeignet hat, auch niemandem gehören;
daher muss die Allgemeinheit nicht für den Verlust, der ihr durch die individuelle Aneignung
dieser Ressourcen geschieht, entschädigt werden. Das gegnerische Lager bestreitet dies:
Ressourcen sind kollektives Eigentum, so dass derjenige, der sich eine solche aneignet,
denjenigen, die ihrer dadurch verlustig gegangen sind, Kompensationszahlungen in Form von
staatlich koordinierten Umverteilungen leisten muss. Anhand dieser Frage wird das Spektrum
75
der Libertarier häufig in Links- und Rechts-Libertarier eingeteilt: Den ersten lassen sich
Autoren wie Philippe van Parijs und Michael Otsuka zuordnen[201]
[…]; zu zweiten zählen
Autoren wie Jan Narveson[202]
[…] sowie die mit dem Nobelpreis für Ökonomie
ausgezeichneten Milton Friedman und Friedrich August von Hayek[203]
[…]. Die Schriften der
beiden letztgenannten standen, ebenso wie Nozicks Anarchy, State, and Utopia, Pate für die
die wirtschaftsliberalen Reformen der 80er Jahre, die zu einer weitreichenden Deregulierung
der Märkte führten. Über diese Instrumentalisierung seines Werkes scheint Nozick selbst
nicht erfreut gewesen zu sein: Anarchy, State, and Utopia bleibt sein einziger Beitrag zur
politischen Theorie, in dessen Vorwort er zudem explizit feststellt, dass auch er hinsichtlich
der sozialen Härten, die sein Ansatz mit sich zu bringen droht, ein gewisses Unwohlsein
empfindet“204
.
Libertäre Ansätze zeichnen sich also dadurch aus, dass sie als normative Grundlage für ihre
Argumentation bestimmte absolut geltende individuelle Freiheitsrechte heranziehen.
Ausgangspunkt für Nozicks Konzeption ist dabei das sog. Locke’sche Proviso, d.h. die
Individualrechte: Recht auf Leben, Recht auf körperliche Unversehrtheit und Recht auf
Eigentum. Deren Geltung wird von Nozick nicht weiter begründet, sondern als gesetzt
vorausgesetzt205
; alle über diese Freiheitsrechte hinausgehenden Normen lehnt Nozick
hingegen ab206
. Eine derartige Vorgehensweise legt nahe, „wer der argumentative
Hauptgegner des Libertären ist. Denn wenn man fordert, dass die Freiheit des Einzelnen zu
achten sei, so scheint das Unterfangen, politische Theorie im Sinne von Legitimationstheorie
staatlicher Herrschaft zu betreiben, insgesamt verfehlt: Stellt denn nicht jeder Staat eine
Einschränkung der Freiheit des Einzelnen dar? Da also staatliche Herrschaft immer eine
Einschränkung der Freiheit des Einzelnen darstellt, sollte jemand, dem es um den Schutz
201
Vgl. Van Parijs, Philippe, Real freedom for all: what (if anything) can justify capitalism?, Oxford 1995 (Van
Parijs (*1951)zählt zu den Fürsprechern eines bedingungslosen Grundeinkommens); Otsuka, Michael,
Libertarianism without Inequality, Oxford 2003; und als Überblicksdarstellung: Vallentyne, Peter/ Steiner, Hillel
(Hrsg.) [2000b], The Origins of Left. 202
Vgl. dazu Narveson, Jan, The Libertarian Idea, Philadelphia 1988; ders., “Libertarianism”, in: LaFollette,
Hugh (Hrsg.), The Blackwell Guide to Ethical Theory, Malden et al. 2000, S. 306-324. 203
Vgl. dazu Friedman, Milton, Capitalism and Freedom, Chicago 1962; von Hayek, Friedrich A., The
Constitution of Liberty, Chicago 1960. 204
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 169 f. sich zum Schluss auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006
[1974], 23 beziehend (Hervorhebung bei Nida-Rümelin). 205
Nozick macht sich dabei nicht die religiöse Begründung Lockes zu eigen, sondern scheint vielmehr davon
auszugehen, dass Geltung dieser Rechte intuitiv einsichtig ist (vgl. Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie
der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung, Paderborn 2009, 173). 206
Bereits an dieser Stelle seiner Argumentation kann man aber fragen, warum nur die genannten
Individualrechte und nicht noch weitere (z.B. auch soziale) Rechte als normative Basis seiner Theorie dienen
können; jedenfalls ist nicht offensichtlich warum ausschließlich das Locke’sche Proviso Evidenz beanspruchen
können sollte. Vgl. dazu auch unten S. 81 f.
76
individueller Freiheitsrechte geht, eigentlich Anarchist sein und jede Form staatlicher
Herrschaft ablehnen“207
. Denn für einen Anarchisten ist jede politische Herrschaft illegitim,
da durch sie stets Vorrechte über andere etabliert werden. Es ist daher nur konsequent, wenn
Nozick das Grundproblem seines Ansatzes als Rechtfertigungsaufgabe gegenüber dem
Anarchisten formuliert:
“Die Grundfrage der Philosophie der Politik, die den Fragen, wie der Staat organisiert
sein sollte, vorausgeht, ist die Frage, ob es überhaupt einen Staat geben soll. Warum
keine Anarchie?”208
Da Nozick aber gerade für die Notwendigkeit staatlicher Institutionen argumentieren will,
muss er zeigen, dass der von ihm favorisierte Staat die Freiheitsrechte des Einzelnen ebenso
wenig einschränkt wie die Anarchie und dabei darüber hinaus aber gegenüber einem
anarchischen Gebilde Vorteile aufweist.
Nozicks Aufgabe kann nun allerdings „nicht nur darin bestehen, dem Anarchisten zu
beweisen, dass bestimmte Formen staatlicher Herrschaft durchaus mit der absoluten Geltung
individueller Freiheiten vereinbar sind. Wäre dem so, so würde sich der Libertarismus
nämlich nicht wesentlich vom Liberalismus unterscheiden. Denn auch diese politik-
theoretische Schule geht – wie ihr Name bereits andeutet – davon aus, dass Freiheit ein
wichtiges politisches Gut beziehungsweise Recht ist, dem eine gelungene politische Theorie
Rechnung zu tragen hat. Doch darüber hinaus fühlt sich der Liberalismus auch anderen
normativen Prämissen verpflichtet, etwa derjenigen der Gleichheit aller Menschen (wobei
einige Liberale[209]
[…] Gleichheit als Bestandteil von Freiheit verstehen, andere […] sie
dagegen als eigenständige normative Bedingung anführen[210]
). So zeichnen sich liberale
politische Theorien dadurch aus, dass sie für staatliche Ordnungen – die Nozick als
weitergehende Staaten bezeichnet[211]
[…] – argumentieren, die die Freiheit des Individuums
ernst nehmen, die zudem aber darauf achten, dass kein Individuum in radikaler Weise
schlechter gestellt ist als die anderen Bürger des Staates“212
.
„Um seine Eigenständigkeit gegenüber dem Liberalismus zu behaupten und nicht lediglich als
ein Teilbereich desselben zu erscheinen, muss der Vertreter des Libertarismus daher zudem
zeigen, dass jede Ausweitung der normativen Basis unzulässig und demnach jeder Staat, der
207
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 171. 208
Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 23. 209
Vgl. z.B. Dworkin, Ronald, Sovereign Virtue, Cambridge 2000. 210
Vgl. etwa Nida-Rümelin, Julian, „Eine Verteidigung von Freiheit und Gleichheit“, in: ders., Demokratie und
Wahrheit, München 2006. 211
vgl. Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München, 2006 [1974], 201. 212
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 171 unter Hinweis auf die Theorie von John Rawls.
77
sich um mehr als nur die Verwirklichung der Freiheit seiner Bürger bemüht, illegitim ist. Dies
könnte der Libertarier erreichen, indem er dafür argumentiert, dass tatsächlich nur die
Freiheitsrechte, die er anführt, moralisch relevant sind. Doch […] ist dies nicht der Weg, den
Nozick wählt. Statt nachzuweisen, dass nur Freiheit moralisch zählt beziehungsweise dass
andere Vorstellungen wie etwa Gleichheit tatsächlich moralisch fragwürdig sind, verlegt er
sich darauf zu zeigen, dass jeder Staat, der versucht neben den Freiheitsrechten auch noch
andere moralische Erwägungen zu berücksichtigen, dadurch gegen die Freiheiten des
Einzelnen verstößt – und daher illegitim ist“213
. Folgerichtig charakterisiert Nozicks sein
Vorhaben selber als zweistufig: “In Teil 1 wird der Minimalstaat gerechtfertigt; in Teil 2 wird
behauptet, daß sich kein weitergehender Staat rechtfertigen lasse”214
.
Aber welche Argumente führt Nozick nun für die Entstehung eines derartigen Minimalstaates
an? Ebenso wie Locke verweist auch Nozick zu Begründung staatlicher Herrschaft auf die
Problematik der unverhältnismäßigen Selbstjustiz im Naturzustand215
: Mangels einer
neutralen rechtsprechenden Instanz, kann es bei der Durchsetzung der (ja genau wie bei
Locke) auch im Naturzustand geltenden Individualrechte sowohl in Hinblick auf die
Bestrafung von Rechtsverletzungen als auch bei der Klärung von Eigentumsfragen zu
Fehleinschätzungen und in der Folge (insbesondere bei der Bestrafung) zu überzogenen
Maßnahmen kommen, die ihrerseits entsprechende (und wieder über das Ziel
hinausschießende Vergeltungsmaßnahmen) nach sich ziehen können. Um dieser nicht enden
wollenden Spirale von unverhältnismäßiger Gewalt, Gegengewalt und Streit über
Entschädigungsfragen zu entgehen kommt es zur Bildung sog. (zunächst rein privater)
Schutzvereinigungen.
„In diesen Vereinigungen wird Schutz zuerst kooperativ bereitgestellt, indem sich alle
Mitglieder wechselseitig schützen. Schließlich aber werden sich die Mitglieder der
Schutzgemeinschaft aus Effektivitätsgründen nicht mehr selbst verteidigen, sondern einige
wenige, besonders starke Individuen gegen Bezahlung dazu anstellen, die Verteidigung der
gesamten Vereinigung zu übernehmen: ‚Einige Menschen werden für die Schutzleistungen
angestellt, und Unternehmer beginnen damit, Schutzleistungen zu verkaufen. Verschiedene
213
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 172 (Hervorhebung bei Nida-Rümelin). 214
Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 16. 215
Vgl. dazu das 3.Skript/S.31. Allerdings fasst Nozick die „Beschreibung des Naturzustandes und seiner
Eskalation anders als Locke nicht als Beschreibung eines faktischen, wenn auch vergangenen Zustands an,
sondern als potentielle Erklärung“ (Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität
und Politische Ordnung, Paderborn 2009, 175 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia,
München 2006 [1974], 29 (Hervorhebung bei Nida-Rümelin)).
78
Schutzprogramme werden zu verschiedenen Preisen angeboten, damit man sich verschieden
umfangreichen und intensiven Schutz verschaffen kann.‘”216
Weiterhin sei es für diese Art professionalisierter Schutzvereinigungen kennzeichnend, „dass
sie gegenüber ihren Mitgliedern ein Gewaltmonopol beanspruchen – dass sie also von ihren
Mitgliedern fordern und sie bei Nichtbeachtung auch dazu zwingen, der Selbstjustiz zu
entsagen“217
. Gerechtfertigt wird dieser Anspruch aufs Gewaltmonopol und der bei seiner
Durchsetzung damit einhergehende Verlust eigener Rechtdurchsetzungsbefugnis wieder mit
dem ansonsten fortdauernden Kreislauf an Gewalt und Gegengewalt, der jetzt sogar noch
Maßnahmen anderer privater Schutzgemeinschaften enthalten kann218
.
„Da sich bei solchen Streitigkeiten unweigerlich die stärkere Schutzvereinigung durchsetzen
wird, sind starke Vereinigungen für potentielle Kunden attraktiver, so dass sie mehr Zulauf
erfahren[…]. Die Kunden werden solange zur jeweils stärkeren Schutzvereinigung wechseln
bis schließlich innerhalb eines bestimmten geographischen Gebiets nur noch eine
Schutzvereinigung auf dem Markt besteht. Sicherheit und Schutz sind für Nozick demnach
Güter, die Monopolstrukturen begünstigen, so dass sich eine vorherrschende
Schutzvereinigung ausbilden wird“219
.
Hat Nozick nun mit der Entstehung derartiger territorial abgegrenzter
Schutzvereinigungsmonopole schon sein Ziel der Etablierung eines dem Zustand der
Anarchie vorzuziehenden Minimalstaates erreicht? Nach seiner eigenen Einschätzung noch
nicht, denn damit es sich bei einer Organisation um einen Staat handelt, müssen seiner
Ansicht nach zwei notwendige und zusammen auch hinreichende Bedingungen erfüllt sein:
„Zum einen muss er innerhalb seines Territoriums das Gewaltmonopol innehaben, zum
anderen alle Menschen und nicht nur seine Bürger schützen“220
. Erfüllt ein territoriales
Gebilde hingegen nur die erste Bedingung, „so kann man nach Nozick lediglich von einem
216
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 176 zum Schluss Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 35
zitierend. 217
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 176. 218
Nämlich dann, wenn die überzogene Selbstjustiz gegenüber einer Person ausgeübt wird, die unter dem Schutz
einer anderen privaten Schutzgemeinschaft steht, die dann zugunsten dieser Person gegen die Selbstjustiz tätig
wird, was im Falle erneuter Unverhältnismäßigkeit wiederum deren Schutzgemeinschaft auf den Plan ruft etc.,
so dass die Schutzgemeinschaften ohne ein von ihnen ausgeübtes Gewaltmonopol wesentlich mehr und
aufwendigere Arbeit zu verrichten hätten, was ihre Klienten schon aus Kostengründen nicht wollen können (vgl.
dazu Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 176 f.). 219
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 177 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 38-
40. 220
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 176 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 47.
79
Ultraminimalstaat sprechen – nur wenn sie beiden Bedingungen gerecht wird, ist eine
Organisation ein Minimalstaat. Nozick muss also zeigen, dass die vorherrschende
Schutzvereinigung sowohl das Gewaltmonopol innehat als auch so genannte Außenseiter[221]
[…] – also Menschen, die in ihrem Einflussgebiet leben, aber nicht ihre Kunden sind –
schützt“222
. Diese Miteinbeziehung der Außenseiter erscheint nun aber in zweierlei Hinsicht
in Nozicks libertären Ansatz kaum zu rechtfertigen zu sein. Denn zum einen verlieren die
Außenseiter dadurch selber ihr Recht auf Selbstjustiz, und zum anderen müssen, die
Mitglieder der das Monopol innehabenden Schutzgemeinschaft für die Außenseiter mitzahlen;
in beiden Fällen sind die Individualrechte der von diesen Maßnahmen betroffenen Personen
tangiert.
Der Verlust des Rechts auf Selbstjustiz, den die Außenseiter zu erleiden haben, ergibt sich in
Nozicks Konzeption bereits durch die Dominanz der vorherrschenden Schutzgemeinschaft
und ist bereits Kennzeichen des Ultraminimalstaates (der ja dadurch charakterisiert worden
war, dass er das Gewaltmonopol über alle seine Bewohner innehat). Die damit einhergehende
Verletzung der Freiheitsrechte der Außenseiter kann nach Nozick nur gerechtfertigt werden,
wenn sie kompensiert wird, „und die Kompensation, die er vorschlägt, ist, dass die
Außenseiter zu verbilligten Preisen in den Genuss des Schutzes durch die vorherrschende
Schutzvereinigung kommen:
“Demgemäß müssen die Klienten der Schutzorganisation die Außenseiter für die
Benachteiligung entschädigen, die sie durch das Verbot der Selbsthilfe zur
Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber den Klienten der Organisation erleiden. Ohne
Zweifel bestünde die am wenigsten aufwendige Entschädigung darin, ihnen bei
Konflikten mit den zahlenden Kunden der Schutzorganisation Schutz angedeihen zu
lassen.”223
Trotz der dadurch für sie entstehenden Kosten haben auch die Klienten der
Schutzorganisation von dieser Miteinbeziehung der Außenseiter einen Vorteil gegenüber der
Situation, in der die Außenseiter nach wie vor über ihr Recht auf Selbstjustiz verfügen. Oder
anders formuliert: erst der Minimalstaat bietet den umfassenden Schutz, der ihn attraktiver
macht gegenüber einem Zustand der Anarchie; die Einschränkung der der Individualrechte,
zu der es bei der Etablierung des Minimalstaates unweigerlich kommt, wird dabei, wie gerade
221
Vgl. dazu Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 85. 222
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 177. 223
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 178 f. am Ende Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 155
zitierend (Hervorhebung bei Nozick).
80
dargestellt, durch einen Zuwachs an Sicherheit für die Klienten der Schutzorganisation und
durch kostenlosen Schutz der Außenseiter kompensiert.
„Nozick gelingt es also, eine hypothetische Entwicklungsgeschichte zu zeichnen, nach der der
Minimalstaat nicht intendiert, sondern spontan aus den freiwilligen Handlungen einzelner
Individuen entsteht. Doch inwiefern hilft ihm dies in der Auseinandersetzung mit dem
Anarchisten? Worin genau besteht das Argument, das Nozick gegen diesen vorbringt? Zum
einen in dem Nachweis, dass es einen Staat gibt, der mit den normativen Forderungen des
Anarchisten vereinbar ist: Der Nozick’sche Minimalstaat entsteht ohne die Freiheitsrechte der
Individuen zu verletzen, da sie jeden Schritt seiner Entwicklung freiwillig vollziehen oder
aber für Zwänge, die auf sie ausgeübt werden, entschädigt werden. Zum anderen gelingt es
Nozick zu zeigen, dass der Anarchist einer nicht zu realisierenden Hoffnung nachhängt. Denn
nach Nozicks Rekonstruktion wandelt sich die Anarchie des Naturzustandes ganz natürlich in
einen staatlichen Zustand. […] Dabei ist zu betonen, dass diese Hervorbringung in einem
Prozess der unsichtbaren Hand geschieht – dass es also für die Entstehung eines Staats nicht
notwendig ist, dass die einzelnen Akteure diesen hervorbringen wollen (anders als im
Locke’schen Modell, das einen willentlichen Vertragsschluss der Individuen vorsieht). Denn
der Anarchist würde natürlich bestreiten, dass freie Menschen jemals den Wunsch entwickeln
könnten, gemeinsam ein Zwangssystem wie einen Staat zu erschaffen. Nozicks Modell
akzeptiert diese Prämisse des Anarchisten und zeigt, dass ein Staat dennoch entstehen kann
und muss“224
.
Interne und externe Kritik an Nozicks Theorie
An Nozicks Konzeption lässt sich auf zwei unterschiedliche Weisen Kritik üben. Man kann
zum einen bestreiten, dass sich auf Grundlage der von ihm gewählten normativen Basis des
Locke’schen Provisos lediglich der von ihm beschriebene Minimalstaat herausbildet. „Denn
warum sollte es nicht in einem analogen Prozess der unsichtbaren Hand neben
Schutzvereinigungen auch zu Bildungsgemeinschaften kommen, die auf Grund individueller
Verträge entstehen? Warum sollten sich nicht die Eltern A und die Eltern B
zusammenschließen und eine Abgabe zahlen, um beider Kinder gemeinsam von einer
professionellen Kraft unterrichten zu lassen, da dies sicher effizienter ist, als den Unterricht je
individuell zu gestalten. Ebenso kann man fragen, weshalb nicht in gleicher Weise
Sozialgemeinschaften entstehen sollten, die gegen existentielle Risiken wie Krankheit, Alter
224
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009,179.
81
oder Arbeitslosigkeit versichern? Auch hier gilt das gleiche Argument der Größe: Je größer
die jeweilige Gemeinschaft, desto effektiver kann sie das jeweilige Gut bereitstellen. Wenn
aber solche Bildungs- und Sozialgemeinschaften wie die Schutzvereinigung auch unter
Beachtung der individuellen Freiheitsrechte entstehen, so sind sie unter den normativen
Voraussetzungen des Libertarismus legitimiert. Damit würde es Nozick aber nicht mehr zu
zeigen gelingen, dass jeder über den liberalen Nachtwächterstaat hinausgehende
weiterreichende Staat illegitim ist“225
.
Neben dieser theorieinternen Kritik kann man Nozicks Argumentation aber auch von einem
externen Standpunkt aus hinterfragen. Die von Nozick vorgenommene Beschränkung auf die
Locke‘schen Freiheitsrechte als Ausgangspunkt seiner Argumentation ist nämlich durchaus
nicht zwingend. So intuitiv plausibel die Annahme der Geltung dieser Freiheitsrechte ist – gilt
dies nicht möglicherweise in vergleichbarem Umfang auch für weitere Rechte, und
insbesondere für ein Recht auf ein Leben in Würde? „Und gehört zu diesem Recht auf ein
Leben in Würde nicht auch, dass sie das Recht darauf haben, durch den Staat eine
Grundsicherung ihrer elementarsten Bedürfnisse zu erfahren, sollten sie nicht dazu in der
Lage sein, diese selbst zu gewährleisten?“ Für Nozick ergibt sich aus dieser grundlegenden
und gegebenenfalls auch existentiellen Bedürfnislage jedoch nicht die Notwendigkeit eines
entsprechenden einklagbaren juridischen Rechts; vielmehr bleibe es „der karitativen Sorge
des Einzelnen überlassen, sich freiwillig um das Wohl seiner in Not geratenen Mitbürger zu
kümmern[226]
[…]. Doch dass der Einzelne für sein Überleben auf das Wohlwollen anderer
angewiesen sein soll und von denen nicht erwarten und fordern darf, dass sie ihm helfen,
scheint intuitiv wenig plausibel“227
.
Ganz generell lässt sich argumentieren, dass Nozicks Freiheitsbegriff auf einem zu engen,
nämlich negativen Freiheitsverständnis beruht, dem zu Folge „Freiheit ausschließlich in der
Abwesenheit von Zwang besteht. Aber bedeutet frei sein nicht gleichermaßen ‚frei sein von‘
wie frei sein zu‘“228
. Nozick würde einen derartigen positiven Freiheitsbegriff wohl aber in
dem Maße ablehnen, in dem dieser zu Umverteilung von Eigentum (auch in Form von
225
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 185/186 unter Hinweis auf ders., „Eine Verteidigung von Freiheit und Gleichheit“, in ders.,
Demokratie und Wahrheit, München 2006, 118-153, dort: 118-123. 226
Vgl. dazu Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 348-352. 227
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 185/186 unter Hinweis auf ders., „Eine Verteidigung von Freiheit und Gleichheit“, in ders.,
Demokratie und Wahrheit, München 2006, 118-153. 228
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 185/186 unter Hinweis auf vgl. MacCallum, Gerald C. Jr., “Negative and Positive Freedom”,
in: The Philosophical Review, 76 (1967), 312-342.
82
Vermögen) führt. Denn jede Umverteilung ist für Nozick als eine in das Eigentumsrecht
eingreifende Zwangsanwendung zu bewerten, die für ihn auch nicht durch den Umstand
gerechtfertigt werden kann, dass auch Armut, wenn sie dazu führt, dass die von ihr
betroffenen Personen mangels Chancengleichheit an bestimmten Formen des Lebens
teilhaben können, eine Einschränkung von Freiheitsrechten bedeuten kann; frei ist für Nozick
jemand eben bereits immer dann, wenn er, wie der Arme, dem ja nichts weggenommen wird,
in seinen Eigentumsrechten nicht eingeschränkt wird. Da aus Nozicks Sicht daher extreme
Ungleichverteilungen keine Verletzung der Rechte von Armen darstellen, bewertet er
Umverteilungsmaßnahmen nicht als eine Wiederherstellung, sondern im Gegenteil als Bruch
des Rechts derer, die im Zuge der Umverteilung etwas von ihrem Eigentum abgeben müssten.
„Insofern verwundert es nicht, dass Nozick zu dem Schluss kommt, dass die ‚Besteuerung
von Arbeitsverdiensten […] mit Zwangsarbeit gleichzusetzen‘ ist“229
. Für die Frage, ob eine
gegebene Güterverteilung gerecht ist, ist für Nozick weder relevant, ob sie gemäß
ergebnisorientierter Theorien230
(im engl. Orginal: end-state oder end-result principles)
bestimmten Idealen in einer Gesellschaft entspricht, noch ob sie nach Maßgabe von Theorien,
die auf einem strukturierten Verteilungsgrundsatz (im englischen Original: patterned
principles) beruhen, „bestimmten Strukturen folgt, etwa ob jeder das bekommt, was ihm
aufgrund seiner Leistung oder seines moralischen Verdienstes zusteht“231
. Ausschlaggebend
sei vielmehr lediglich, ob sie im Sinne von Anspruchstheorien (im englischen Original (und
wie auch bei den beiden vorangehenden Begriffen in Nozicks eigener Terminologie):
entitlement theory) „ausschließlich aufgrund legitimer Aneignungs- und Transferprozesse
zustande gekommen ist – […ob] also nur das, was rechtmäßig angeeignet und besessen
wurde, legal getauscht, verkauft oder verschenkt worden ist“232
.
Nun ist Nozick sicherlich darin zuzustimmen, dass die Frage, wie es zu einer bestimmten
Verteilung gekommen ist, eine entscheidende Rolle bei Beurteilung dieser Verteilung als
gerecht oder ungerecht zu spielen hat233
. Selbst wenn man aber Nozick noch weitergehend
229
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 182 am Ende Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 225
zitierend. 230
Vgl Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 206. 231
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 180 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974],
209-215. 232
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 180 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 202. 233
Nozick unterscheidet zwischen historischen (die Genese der Verteilung berücksichtigenden oder am
Zeitquerschnitt orientierten Theorien (im englischen Original: historical principles im Gegensatz zu current
time-slice principles). Während die Anspruchstheorien stets als historische Theorien und die
ergebnisorientierten als Zeitquerschnitt orientiert zu qualifizieren sind, könnten die auf einem strukturierten
Verteilungsgrundsatz beruhenden Theorien sowohl historisch wie auch am Zeitquerschnitt orientiert sein (vgl.
83
auch darin folgen würde, dass ausschließlich Anspruchstheorien ein legitimes Kriterium zur
Beurteilung von Verteilungszuständen liefern, ist doch fraglich, ob sich die aktuelle
Güterverteilung in einem Staat im Rahmen dieser Theorien immer als gerechtfertigt erweisen
müsste; denn auch dann, wenn alle dem aktuellen Verteilungszustand vorausgehenden
Tausch, Verkaufs-, Schenkungs- und etwaige sonstigen Übereignungsprozesse rechtmäßig
verlaufen sind, könnte man zumindest in Hinblick auf natürliche Ressourcen immer noch den
historischen Ausgangspunkt eines Aneignungsprozesses in den Fokus rücken. Dabei würde
dann wieder das oben bei der Unterteilung zwischen Links- und Rechts-Libertarier
herangezogene Kriterium relevant werden: wem gehören natürliche Ressourcen, bevor sie sich
jemand explizit angeeignet? - Niemandem, so dass sich für den/die „Ersteigentümer“ aus
seinem/ihrem Eigentumserwerb keinerlei Verpflichtungen zu Ausgleichszahlungen an die
Nichteigentümer ergeben? Oder Allen, so dass die nun vom Eigentum ausgeschlossenen
Personen ein Anrecht auf Rekompensation haben?
Exkurs: Gefangenendilemma
Da bei der anschließenden Darstellung der Theorien von Buchanan und Gauthier auf
das sog. Gefangenendilemma Bezug genommen wird, wird dies im Folgenden etwas
ausführlicher behandelt als dies in der Vorlesung aus Zeitgründen möglich war.
Das sog. Gefangenendilemma (GD; oder prisonners dilemma (PD)) wird
üblicherweise durch eine Variante der folgenden Geschichte eingeführt:
Zwei Männer werden eines Bankraubs verdächtigt, der ihnen jedoch nicht
nachgewiesen werden kann. Sie werden in einem Untersuchungsgefängnis in
getrennte Zellen gesperrt, so dass sie nicht miteinander kommunizieren können. Die
öffentliche Hand ist sich zwar sicher, dass beide den Bankraub begangen haben,
nachweisen kann man ihnen aber nur (das weitaus weniger schwere) Delikt des
illegalen Waffenbesitzes. Nun wird jeder der beiden Gefangenen einzeln vor die Wahl
einer von zwei Optionen gestellt: Den Bankraub zu gestehen, oder nicht zu gestehen.
Wenn beide Gefangenen schweigen, also nicht gestehen (d. h. miteinander
kooperieren), werden beide nur wegen des illegalen Waffenbesitzes zu einer Strafe
von je einem Jahr Gefängnis verurteilt. Wenn beide gestehen (also nicht miteinander
kooperieren, d.h. defektieren) werden beide wegen Bankraubs verurteilt, wobei die
Strafe wegen des Geständnisses jeweils von eigentlich 10 auf 8 Jahre abgemildert
wird. Wenn nur einer gesteht, dann geht der Geständige als Kronzeuge frei, während
der andere zur Höchststrafe verurteilt wird.
Nennen wir die Gefangenen 1 und 2, so können wir das jeweilige Strafmaß in
Gefängnisjahren in folgender Matrix wiedergeben (dabei ist gefangener 1 Zeilen-,
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung, Paderborn
2009, 181 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 206 u. 210.
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Gefangener 2 Spaltenwähler und „(10,0)“ steht für „10 Jahre Gefangenen 1 und 0
Jahre für Gefangenen 2“):
G2 schweigt G2 gesteht
G1 schweigt (1,1) (G1 schweigt /G2 schweigt) (10,0) (G1 schweigt / G2 gesteht)
G1 gesteht (0,10) (G1 gesteht / G2 schweigt) (8,8) (G1gesteht /G2 gesteht)
Oder, wie in der Vorlesung, dargestellt mit ordinalen Nutzenwerten (je geringer die
Gefängnisjahre, desto höher der Nutzen für die Gefangenen), wobei als weitere (und
keineswegs selbstverständliche) Voraussetzung davon ausgegangen wird, „dass sich
die Gefangenen ausschließlich für die Dauer des je eigenen Gefängnisaufenthaltes
interessieren, die sie zu minimieren trachten“ 234
:
G2 schweigt G2 gesteht
G1 schweigt 3/3 (G1 schweigt / G2 schweigt) 1/4 (G1 schweigt / G2 gesteht)
G1 gesteht 4/1 (G1 gesteht / G2 schweigt) 2/2 (G1gesteht /G2 gesteht)
Nach dem in der Entscheidungstheorie bedeutsamen Dominanzprinzip ist es rational,
stets diejenige Handlung zu wählen, deren Konsequenzen unter allen Umständen
besser sind als die aller andern möglichen Alternativen235
.
Angewandt auf die Situation des GD bedeutet dies, dass es jeweils für beide
Gefangenen rational ist, nicht zu gestehen, denn nicht zu gestehen ist (unter der oben
gemachten Voraussetzung, dass es ihnen jeweils ausschließlich um die Dauer des je
eigenen Gefängnisaufenthaltes geht) für jeweils beide Gefangene unter allen
Umständen (und das heißt hier, unabhängig davon, ob der jeweils andere gesteht oder
nicht gesteht) besser als zu gestehen. Da dies aber eben für beide Gefangene gilt, führt
die Anwendung des Dominanzprinzips zu dem für beide vom Ergebnis her nicht
optimalen Strategiepaar: gestehen - gestehen (defektieren- defektieren).
234
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und politische Ordnung, Paderborn
2009, 37 (Hervorhebung bei Nida-Rümelin). Keiner der beiden Gefangenen muss also für den Fall, dass er
derjenige ist, der frei kommt, irgendwie geartete externe Sanktionen (also z.B. insbesondere Strafmaßnahmen
von Freunden des wegen seines Geständnisses nun besonders lange einsitzenden anderen Gefangenen)
befürchten. – Hinweis: Mit Ordinalzahlen (1., 2., 3. Etc). wird eine Rangordnung wiedergegeben (sie antworten
auf die Frage: ‚der/die/das wievielte?‘). Der höchste Nutzenwert (in der Matrix mit „4“ angegeben) steht für die
beste Position. Dabei sind die jeweiligen Nutzenwerte weder interpersonell vergleichbar (frei zu kommen,
finden zwar beide Gefangen von den gegebenen Alternativen jeweils am besten, es kann aber durchaus sein, das
für G1 Freiheit noch wichtiger ist als für G2) noch intrapersonell einander in ein genaues Verhältnis zu setzen
(aus dem Nutzenwert „4“ lässt sich also nicht entnehmen, dass die Gefangenen die ihm zugeordnete Alternative
„frei kommen“ für jeweils doppelt so wertvoll halten wie die mit dem Nutzenwert 2 versehene Alternative „8
Jahre Gefängnis“ ). 235
Das Dominanzprinzip klingt höchst plausibel, sein Problem besteht allerdings darin, dass es nur dann sinnvoll
anzuwenden ist, wenn die Wahrscheinlichkeiten der relevanten Umstände die eintreten können, von der eigenen
Entscheidung unabhängig sind. Doch das Vorliegen handlungsunabhängiger Wahrscheinlichkeiten ist
keineswegs immer der Fall (siehe dazu Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart.
Rationalität und politische Ordnung, Paderborn 2009, 16 f.)
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Insbesondere ist dieses Ergebnis nicht pareto-optimal, da es ein anderes Strategiepaar,
nämlich: nicht gestehen – nicht gestehen (kooperieren – kooperieren), gibt, welches
beide besser stellt und darüber hinaus seinerseits pareto-optimal ist236
.
Dieser Befund bedeutet auch insofern eine Herausforderung für die Spieltheorie als es
sich bei dem Strategiepaar: defektieren-defektieren um einen Gleichgewichtspunkt
bzw. ein Nash-Gleichgewicht handelt. Ein Gleichgewichtspunkt ist ein Strategiepaar,
bei dem es sich für keinen der Spieler auszahlt, einseitig (d.h. bei gleichbleibender
Strategiewahl des jeweils anderen) von seiner Strategie abzuweichen237
; nur
Gleichgewichtspunkte sind also stabile Strategiepaare. (Bezogen auf unseren Fall:
gesteht der eine, ist es für den anderen stets besser, ebenfalls nicht zu gestehen, weil er
sonst die Höchststrafe erhält; dagegen ist das pareto-optimale Strategiepaar: nicht
gestehen - nicht gestehen (kooperieren – kooperieren) kein Gleichgewichtspunkt, da es
sich, sofern (wie oben vorausgesetzt) sich beide nur für die Dauer des jeweils eigenen
Gefängnisaufenthaltes interessieren, sich bei gleichbleibender Strategiewahl des einen,
für den jeweils anderen lohnt, von der Strategie Kooperieren abzugehen, um als
einseitig Geständiger freizukommen).
Das unter der Bezeichnung „Gefangenendilemma“ bekannte Dilemma besteht somit
darin, „daß die übereinstimmende Wahl der dominanten Strategie zu einem Ergebnis
führt, das durch ein anderes paretodominiert wird, welches jedoch nur erreichbar ist,
wenn beide eine Strategie wählen, für die es eigentlich keine ‚rationale‘ Begründung
gibt: die nicht-dominante Strategie“238
.
Rationale Interessenverfolgung im Sinne der Entscheidungstheorie führt also bei
Situationen nach Art des Gefangenendilemmas also gerade nicht zu einem optimalen
Ergebnis.
236
Eine Verteilung/ein ökonomischer Zustand X ist pareto-optimal (oder pareto-effizient) genau dann, wenn gilt,
dass es keine andere Verteilung Y gibt, die mindestens von einer Person gegenüber X vorgezogen wird, ohne
dass dabei eine andere Person X gegen über Y vorzieht. Beim GD ist der durch das Strategiepaar: nicht gestehen
- nicht gestehen beschriebene Zustand sogar für beide besser als der Zustand: gestehen-gestehen;
bemerkenswerterweise sind beim GD, abgesehen von der Kombination: defektieren-defektieren (also demjenigen
Strategiepaar, das sich ergibt, wenn sich beide Gefangenen jeweils gemäß dem Dominanzprinzip verhalten), alle
anderen Strategiepaare pareto-optimal. Nach einer schwächeren Variante des Pareto-Kriteriums ist eine
Verteilung X pareto-effizient genau dann, wenn es keine alternative Verteilung Y gibt, die alle Personen
gegenüber X vorziehen. Auch bei Zugrundelegung dieser Variante wären außer der Kombination: defektieren-
defektieren alle Strategiepaare des GD pareto-effizient. 237
Vgl. Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und politische Ordnung,
Paderborn 2009, 39. WICHTIG: Es kommt dabei für das Vorliegen eines Gleichgewichtspunktes weder darauf
an, dass das Strategiepaar für alle Spieler die selben gleichgroßen ordinalen Nutzenwerte, noch darauf, dass es
für alle jeweils die höchsten ordinalen Nutzenwerte aufweist. 238
Kern, Lucian, Nida-Rümelin, Julian, Logik kollektiver Entscheidungen, München 1994, 203.
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Die Grundzüge der politischen Philosophie von James M. Buchanan239
In dem Werk The Limits of Liberty von 1975 machte der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger
James M. Buchanan (1919-2013) die Essenz seiner ökonomischen Theorie für die politische
Theorie fruchtbar und entwickelt dabei eine Konzeption, die klar in der Tradition von Hobbes
kontraktualistischen Ansatz steht. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei der von ihm
vertretene „Methodologische Individualismus“, den man als eine soziologische Theorie
qualifizieren kann, der zufolge sich soziale Phänomene nur unter Bezug auf individuelle
Handlungen und Intentionen erklären lassen. In normativer Hinsicht geht Buchanan des
Weiteren von einem Ethischen Individualismus aus, der Individuen als ausschließliche
Quellen moralischer Werte identifiziert: Alles, was sich rechtfertigen lässt, muss sich
gegenüber jedem einzelnen Individuum und dessen Eigeninteresse rechtfertigen lassen;
insbesondere sind staatliche Institutionen gegenüber einem Individuum nur dann
gerechtfertigt, wenn sie dessen Interessen dienen.
Im Naturzustand, also vor aller staatlichen Ordnung, existiert eine „natürliche“ Verteilung von
Gütern, die lediglich dem Kräfteverhältnis der Individuen unter Einschluss von
Gewaltanwendung entspricht. Da dieser Naturzustand von einem hohen Maß an Unsicherheit
für alle geprägt ist, und niemand sich seiner Güter sicher sein kann, gibt es ein gemeinsames
Interesse der Individuen, bestimmte individuelle Rechte und Freiheiten zu etablieren. Das
Recht auf Leben, d.h. das Verbot andere zu töten, auch, wenn dies im eigenen Interesse sein
sollte, gehört dazu. Rationale Individuen werden deshalb einen Vertrag schließen, der diese
individuellen Rechte und Freiheiten etabliert und sanktioniert, d.h. ihre Übertretung mit
Strafen ahndet. Buchanan nennt dies den constitutional contract, den konstitutionellen
Vertrag, und den so etablierten Staat den constitutional state, den konstitutionellen Staat.
Die einzelnen Güter werden im konstitutionellen Staat vom Markt im Sinne von Angebot und
Nachfrage bereitgestellt. Dabei kommt es allerdings zur Problematik kollektiver Güter.
Während individuelle Güter je individuell konsumiert, nachgefragt, gekauft und transferiert
werden können, stehen kollektive Güter (häufig auch als öffentliche Güter bezeichnet),
grundsätzlich allen zur Verfügung: Kollektive Güter sind nicht teilbar sind und niemand ist
folglich von ihrer Nutzung ausgeschlossen; es kann sich also auch niemand ein kollektives
Gut durch Kauf für die alleinige Nutzung sichern. Zu kollektiven Gütern zählen etwa die
öffentliche Infrastruktur oder auch Umweltgüter240
. Kollektive Güter sind nicht marktgängig,
239
Die folgende Darstellung greift an einigen Stellen auf ein im WS 2012/13 von Herrn Nikolai Blaumer
verfasstes Skript zurück. 240
Typische Beispiele für kollektive Güter sind etwa: Luft; Frieden; Deiche; Leuchttürme; Straßenbeleuchtung
etc. Anders als diese Beispiele es nahelegen, ist der Begriff des kollektiven Guts allerdings nicht essentialistisch
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denn wegen ihrer allgemeinen Verfügbarkeit hat in einem ausschließlich von individueller,
eigeninteressierter Präferenzrealisierung bestimmten Rahmen wie dem Markt niemand ein
Interesse daran, für ihre Nutzung zu bezahlen; und dies hat - zumindest dann, wenn das
kollektive Gut nicht unbegrenzt in gleicher Qualität zur Verfügung steht – die Konsequenz,
dass das entsprechende kollektive Gut in immer schlechterer Qualität zur Verfügung steht
oder gegebenenfalls sogar gar nicht mehr vorhanden ist.
Kollektiv (d.h. von allen oder vielen Marktteilnehmern) durchgeführte individuelle
Eigennutzoptimierung, also kollektives marktkonformes Verhalten, kann also bei kollektiven
Gütern dazu führen, dass ein pareto-ineffizienter241
(also im Sinne des Marktes selbst nicht
optimaler) Zustand entsteht242
.
gemeint, d.h. hier: nicht auf Entitäten beschränkt, die von ihrer materiellen stofflichen Beschaffenheit das
Kriterium der Nicht-Ausschließbarkeit erfüllen; vielmehr können manche Güter auch durch staatliche
Entscheidung als kollektive Güter bereitgestellt werden. Dass die entsprechenden Entscheidungen dabei politisch
manchmal umstritten sind, zeigen Beispiele aus den Bereichen Bildung und Kultur: Welche Bildungsangebote
soll der Staat seinen Bürgern kostenlos (in dem Sinne, dass diejenigen, die die Angebote nutzen, dafür nicht
zusätzlich zu den von Ihnen gegebenenfalls geleisteten Steuerabgaben etwas bezahlen müssen) anbieten: nur
Schule oder auch das Studium an der Universität (Streitgenstand Studiengebühren)? Sollen staatliche Theater-
und Opernhäuser subventioniert werden, und wenn ja, in welchem Umfang? 241
Vgl. zum Begriff der Pareto-Effiziens die Charakterisierung in Fn.236. 242
Ein Beispiel für eine derartige Entwicklung ist die sog. „Tragödie der Allmende“:
„Eine bäuerliche Ansiedlung verfügt über eine Allmende, d.h. ein Areal von Weideland, das von den ansässigen
Herdenbesitzern gemeinschaftlich genutzt werden kann. Nun ist klar, daß jeder Besitzer einer Viehherde um so
mehr Nutzen aus diesem gemeinschaftlichen Weideland zieht, je mehr Tiere er darauf weiden lassen kann. Für
die Herdenbesitzer ist damit der Anreiz gegeben, die Herden auf der Allmende zunehmend zu vergrößern.
[…Damit] bahnt sich unvermeidlich die ‚Tragödie der Allmende‘ an, denn jeder Herdenbesitzer wird
argumentieren: Füge ich meiner Herde ein Tier hinzu, das ich auf der Allmende weiden lassen, so kommt der
Nutzen daraus mir zugute, während die Kosten durch die ‚Abweidung‘, die der Allmende durch ein einzelnes
Tier entstehen, nur ein Bruchteil davon sind und sich überdies auf alle Herdenbesitzer und weidenden Tiere
verteilen. Auch bei anteiliger Berücksichtigung dieser Kosten ergibt sich für jedes zusätzliche Tier ein positiver
Nutzen. Da die gleiche Überlegung für alle Herdenbesitzer und jedes zusätzliche Tier gilt, scheint es
unausweichlich, daß die Herden nach und nach vergrößert werden. Selbst wenn die Vergrößerung in kleinen
Schritten erfolgt, ist der entscheidende Punkt die Stetigkeit der Vergrößerung, so daß irgendwann der Zeitpunkt
erreicht ist, ab dem der Schaden durch ‚Überweidung irreparabel wird und die Allmende zerstört ist“
(Textausschnitt übernommen aus: Kern, Lucian, Nida-Rümelin, Julian, Logik kollektiver Entscheidungen,
München 1994, 212) . Als „Tragödie bzw. Tragik der Allmende” (vgl. engl: „tragedy of the commons“) können
auch unabhängig von dem Bereich landwirtschaftlicher Nutzung ganz allgemein Situationen bezeichnet werden,
in denen frei verfügbare, aber begrenzte Ressourcen nicht effizient genutzt werden und dabei durch Übernutzung
in einer Weise bedroht sind, die wiederum für die Nutzer selbst bedrohlich ist.
Die hier geschilderte Situation entspricht einer n-Personenvariante des in dem obigen Exkurs behandelten
Gefangenendilemmas, dessen Grundstruktur hier zur Veranschaulichung noch einmal als Matrix wiedergegeben
wird:
3/3 1/4
4/1 2/2
Alle Nutznießer der Allmende landen, da sie bloß danach streben, ihren Eigennutzen zu optimieren, in dem
pareto-ineffizienten Quadranten 2/2.
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Dies bedeutet jedoch, dass kollektive Güter nicht bereitgestellt werden, und da kollektive
Güter aber solche sind, an denen alle ein Interesse haben, ist dieser Mangel für alle von
Nachteil. Dieser Befund führt in Buchanans Konzeption hin zur zweiten Stufe des
Staatsaufbaus: Um diesen Nachteil auszugleichen, soll nämlich der Staat selber zum
Produzenten kollektiver Güter werden, deren Kosten er durch Steuern und Abgaben deckt.
Idealiter wird er nur solche kollektiven Güter bereitstellen, die im Interesse aller sind. Die
Ergänzung des konstitutionellen Staats (constitutional state) um das Element des produktiven
Staats (productive state) erscheint daher (idealiter) jedem einzelnen gegenüber gerechtfertigt
zu sein. Daher ist es nach Buchanan auch im Interesse aller, einer derartigen Erweiterung der
Staatsaufgaben in einer weiteren Übereinkunft, nämlich dem post-konstitutionellen Vertrag
(post-constitutional contract) zuzustimmen.
In einer Demokratie wird mit Mehrheit entschieden, welche kollektiven Güter bereitgestellt
werden. Damit entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Demokratieprinzip und der
Rechtfertigung über ökonomische Rationalität gegenüber jedermann. Es kann nämlich sein,
dass eine Mehrheit die Produktion eines kollektiven Gutes bevorzugt, dessen Kosten höher
sind als sein Gesamtnutzen. So kann es in der Demokratie zu Ineffizienzen kommen. Die
Bereitstellung kollektiver Güter kann zu einem sich immer mehr aufblähenden öffentlichen
Sektor führen; folglich zu einer Ausdehnung des Staates.
Dies wird im folgenden Beispiel deutlich, in dem wir von einem Gut mit einem Wert von 80
Nutzeneinheiten ausgehen. Da die Produktion des Gutes 90 Einheiten kostet, ist sie
ineffizient. Liegt nun folgende Aufteilung von Kosten und Nutzen vor, so gibt es trotzdem
eine 2/3 Mehrheit für die Produktion des Gutes, da Gruppe I und Gruppe II einen größeren
Nutzen als Kosten erwarten, während für Gruppe III nur Kosten entstehen. Gruppe I und
Gruppe II werden, obgleich die Gesamtkosten den Gesamtnutzen überschreiten, für die
Bereitstellung dieses Gutes votieren243
:
Nutzen 40 40 0
Kosten 30 30 30
Gruppe I Gruppe II Gruppe III
243
Interessanterweise kann es auch bei mehrheitlich ablehnenden Entscheidungen zu Ineffizienzen bei der
Bereitstellung kollektiver Güter kommen: Wenn Kosten und Nutzen des kollektiven Gutes ungleich verteilt sind,
kann es nämlich auch Mehrheiten gegen die Produktion eines kollektiven Gutes geben, dessen Bereitstellung
effizient wäre, also dessen Gesamtnutzen größer ausfällt als die Gesamtkosten für seine Bereitstellung. Während
Buchanan befürchtet, dass die Demokratie zur hypertrophen, zur übermäßigen Produktion kollektiver Güter
führt, kann also auch der umgekehrte Fall eintreten, nämlich dass vom Staat auf Grund demokratischer
Mehrheitsentscheidungen zu wenig kollektive Güter bereitgestellt werden.
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In solchen von ihm als „Ausbeutung der Minderheit durch die Mehrheit“ bezeichneten Fällen
plädiert Buchanan dafür, durch eine „Verfassungsregel festzulegen, dass nur solche
Ausgabenprobleme in Betracht kommen, die einen allgemeinen Nutzen, und zwar für alle
Mitglieder der Gemeinschaft, versprechen“244
. Würden Projekte als Ganzes und nicht getrennt
behandelt, und müssten die an der Abstimmung beteiligten Personen oder Gruppen Kosten
und Nutzen genau in Rechnung stellen, dann würden „Projekte, die nachweislich allen
Personen einen Nettoschaden zufügen, nicht bewilligt“245
.
Ungeachtet der Effiziensproblematik spricht sich Buchanan klar für die Demokratie aus,
wobei er Demokratie mit dem methodologischen Individualismus gleichsetzt, oder zumindest
als dessen Ausformung interpretiert246
. In der Vorlesung wurde darauf hingewiesen, dass ein
solches Demokratieverständis bezogen auf einzelne Entscheidungen, die in der Demokratie in
der Regel kaum im Konsens (also durch die Zustimmung aller an der Abstimmung beteiligten
Individuen), sondern von einer die Minderheit überstimmenden Mehrheit getroffen werden,
wenig überzeugend ist. Konsens ist in einer Demokratie nicht (oder zumindest nicht generell)
in Hinblick auf Einzelentscheidungen zu erreichen, sondern er kann sich nur auf das
Verfahren der Entscheidungsfindung - nämlich: Mehrheitsentscheidung nach einer
öffentlichen Diskussion über die zu Entscheidung anstehenden Alternativen – beziehen,
wobei es Bereiche, wie die Grundrechte geben kann, die auch bei extrem großen Mehrheiten
nicht zu Disposition stehen247
.
244
Buchanan, James, „Die Grenzen der Freiheit“, Tübingen 1984 [1975], 220 (Hervorhebung bei Buchanan). 245
Ebd. 246
Vgl. dazu Buchanan, James, „Die Grenzen der Freiheit“, Tübingen 1984 [1975], 3: „Der gewählte Ansatz
muß […] demokratisch sein. Darunter verstehen wir lediglich eine andere Definition des Individualismus“
(Hervorhebung bei Buchanan). 247
Nach diesem offensichtlich nicht rein prozeduralen Demokratieverständnis, wäre z.B. die Versklavung einer
Minderheit auch dann nicht zulässig, wenn sie von 90 % Bevölkerung befürwortet werden würde.
90
Die Grundzüge der politischen Philosophie von David Gauthier
Für die Position von D. Gauthier (*1932) sei hier verwiesen auf die Darstellung in dem unter
dem Titel: „Rationalität Praktische Philosophie“ passwortgeschützt über die Lehrstuhl-
website (unter: Material zur Vorlesung) vollständig zugänglichen Buch248
:
Nida-Rümelin, Julian, Schmidt, Thomas, Rationalität in der praktischen Philosophie.
Eine Einführung, Berlin 2000, S. 150-165 (Kapitel 10)
Eine anhand dieses Textes erstellte Kurzfassung befindet sich auf den Folien 50-51.
248
Eine fast identische Darstellung findet sich auch in: Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der
Gegenwart. Rationalität und politische Ordnung, Paderborn 2009, 153-168. Auf S. 161 ist es bei der
Formatierung offensichtlich zu einem Druckfehler gekommen: Die Striche, die die Ausdrücke xA# etc.
durchstreichen, sind „verrutscht“; es handelt sich um zwei Bruchstriche, zwischen der jeweils oberhalb unten
unterhalb stehenden Subtraktion.