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73 Übersichtsskript * zur Vorlesung: Praktische Philosophie II: Politische Philosophie WS 2014/15 von Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin 7.Vorlesung (25.11. 2014) Die neuen Vertragstheoretiker: Robert Nozick James Buchanan David Gauthier Zu Beginn der Vorlesung hat Prof. Nida-Rümelin auf die in der angelsächsischen Fachliteratur übliche Unterscheidung zwischen Contractualism und Contractarianism hingewiesen. Unter contractualism seien dabei solche Theorien zu verstehen, die die Rechtfertigung politischer Herrschaft an vernünftige Zustimmungsfähigkeit im Sinne der auf die Kriterien der Verallgemeinerbarkeit und Unparteilichkeit abstellenden kantischen Tradition 199 anknüpfen. Der Contractarianism stehe dagegen für Theorien, die die Legitimität politischer Herrschaft im Sinne des hobbes’schen Paradigmas 200 danach beurteilen, ob sie den Interessen (zweck-)rationaler Individuen dient. Eine vollständige Zuordnung zu den klassischen Paradigmen sei allerdings in Hinblick auf beide Richtungen oft nicht möglich. Grundzüge der politischen Philosophie von Robert Nozick Robert Nozick (1938-2002) beruft sich in Anarchy, State, and Utopia anders als die eben gerade genannten Hauptströmungen der zeitgenössischen Politischen Philosophie explizit auf die Konzeption von John Locke. Nozick, der lange Jahre neben John Rawls in Harvard lehrte, wird als Vordenker des sogenannten Libertarismus (engl. Libertarianism) angesehen einer * Zusammengestellt von Klaus Staudacher. Das Skript ist kein Ersatz für den regelmäßigen Besuch der Vorlesung! Zusätzlich zur Vorlesung findet jeweils freitags von 14 Uhr - 16 Uhr c.t. in Raum A U 115 ein Tutorium statt, in dem der Stoff der Vorlesung rekapituliert wird. Die dort behandelten Fragen werden (wenn auch manchmal leicht zeitversetzt) ebenso wie das Skript über die Lehrstuhl-website zugänglich gemacht. 199 Vgl. dazu das 4.Skript/S. 38 ff. 200 Vgl. dazu das 3.Skript/S. 22 ff.

Die neuen Vertragstheoretiker: Robert Nozick James ... · 74 politischen Strömung, die vor allem in der Reagan-Ära und während der Thatcher-Regierung in Großbritannien großen

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Übersichtsskript* zur Vorlesung:

Praktische Philosophie II: Politische Philosophie

WS 2014/15

von

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin

7.Vorlesung (25.11. 2014)

Die neuen Vertragstheoretiker:

Robert Nozick – James Buchanan – David Gauthier

Zu Beginn der Vorlesung hat Prof. Nida-Rümelin auf die in der angelsächsischen

Fachliteratur übliche Unterscheidung zwischen Contractualism und Contractarianism

hingewiesen. Unter contractualism seien dabei solche Theorien zu verstehen, die die

Rechtfertigung politischer Herrschaft an vernünftige Zustimmungsfähigkeit im Sinne der auf

die Kriterien der Verallgemeinerbarkeit und Unparteilichkeit abstellenden kantischen

Tradition199

anknüpfen. Der Contractarianism stehe dagegen für Theorien, die die Legitimität

politischer Herrschaft im Sinne des hobbes’schen Paradigmas200

danach beurteilen, ob sie den

Interessen (zweck-)rationaler Individuen dient. Eine vollständige Zuordnung zu den

klassischen Paradigmen sei allerdings in Hinblick auf beide Richtungen oft nicht möglich.

Grundzüge der politischen Philosophie von Robert Nozick

Robert Nozick (1938-2002) beruft sich in Anarchy, State, and Utopia anders als die eben

gerade genannten Hauptströmungen der zeitgenössischen Politischen Philosophie explizit auf

die Konzeption von John Locke. Nozick, der lange Jahre neben John Rawls in Harvard lehrte,

wird als Vordenker des sogenannten Libertarismus (engl. Libertarianism) angesehen – einer

* Zusammengestellt von Klaus Staudacher. Das Skript ist kein Ersatz für den regelmäßigen Besuch der

Vorlesung! Zusätzlich zur Vorlesung findet jeweils freitags von 14 Uhr - 16 Uhr c.t. in Raum A U 115 ein

Tutorium statt, in dem der Stoff der Vorlesung rekapituliert wird. Die dort behandelten Fragen werden (wenn

auch manchmal leicht zeitversetzt) ebenso wie das Skript über die Lehrstuhl-website zugänglich gemacht. 199

Vgl. dazu das 4.Skript/S. 38 ff. 200

Vgl. dazu das 3.Skript/S. 22 ff.

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politischen Strömung, die vor allem in der Reagan-Ära und während der Thatcher-Regierung

in Großbritannien großen Einfluss hatte.

Vor der Darstellung seiner Theorie, sei hier ein kurzer Überblick über die verschiedenen

Spielarten des Libertarismus gegeben. „Unstrittiges Hauptmerkmal des Libertarismus ist sein

schmales normatives Fundament: Für den Libertarismus ist ausschließlich die Freiheit des

Einzelnen moralisch relevant. Konkret findet diese ihren Ausdruck in bestimmten

Freiheitsrechten, die dem Einzelnen zukommen, absolut gelten und beachtet bzw. geschützt

werden müssen. Alle Autoren führen den Rechtekanon, für den sie jeweils eintreten, auf ein

fundamentales Recht zurück, nämlich auf das Eigentumsrecht am eigenen Körper. Denn aus

diesem häufig als self-ownership bezeichneten Recht des Einzelnen, frei über seinen Körper

und seine Talente zu verfügen, lassen sich alle weiteren Freiheitsrechte, die der Libertarismus

fordert, ableiten.

Doch obwohl das normative Fundament der meisten Libertarier identisch ist, unterscheiden

sich die daraus entwickelten Ansätze teilweise sehr deutlich voneinander: In

gesellschaftlichen Fragen nehmen die meisten Libertarier Positionen ein, die man eher dem

linken Spektrum zuordnen würde. So ist jede Form der geschlechtlichen Beziehung für den

Libertarier legitim, solange sie in beiderseitigem Einverständnis – und damit unter Beachtung

der Freiheit des Einzelnen – geschieht; ebenso sprechen sich Libertarier gegen ein generelles

Verbot von Drogen oder von Sterbehilfe aus, da solche Verbote die Freiheitsrechte mündiger

Bürger einschränken. In wirtschaftlichen Fragen sowie in Fragen sozialer Gerechtigkeit (also

der Verteilung gesellschaftlich erarbeiteter Kooperationsüberschüsse) jedoch zerfällt das

Spektrum der Libertarier in zwei unterschiedliche Lager: Einerseits in diejenigen, die jegliche

Regulierung des Marktes durch den Staat sowie jede staatlich koordinierte Umverteilung von

auf dem Markt erwirtschafteten Gewinnen im Namen der individuellen Freiheit der

Marktteilnehmer strikt ablehnen, andererseits in diejenigen, die gewisse Eingriffe in den

Markt seitens des Staates für gerechtfertigt halten. Dieser Spaltung liegt eine tiefere Differenz

zugrunde, nämlich über die Frage der ersten Aneignung: Diejenigen, die sich für den

uneingeschränkt freien Markt aussprechen, sind im Allgemeinen der Ansicht, dass natürliche

Ressourcen, solange sie sich niemand explizit […] angeeignet hat, auch niemandem gehören;

daher muss die Allgemeinheit nicht für den Verlust, der ihr durch die individuelle Aneignung

dieser Ressourcen geschieht, entschädigt werden. Das gegnerische Lager bestreitet dies:

Ressourcen sind kollektives Eigentum, so dass derjenige, der sich eine solche aneignet,

denjenigen, die ihrer dadurch verlustig gegangen sind, Kompensationszahlungen in Form von

staatlich koordinierten Umverteilungen leisten muss. Anhand dieser Frage wird das Spektrum

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der Libertarier häufig in Links- und Rechts-Libertarier eingeteilt: Den ersten lassen sich

Autoren wie Philippe van Parijs und Michael Otsuka zuordnen[201]

[…]; zu zweiten zählen

Autoren wie Jan Narveson[202]

[…] sowie die mit dem Nobelpreis für Ökonomie

ausgezeichneten Milton Friedman und Friedrich August von Hayek[203]

[…]. Die Schriften der

beiden letztgenannten standen, ebenso wie Nozicks Anarchy, State, and Utopia, Pate für die

die wirtschaftsliberalen Reformen der 80er Jahre, die zu einer weitreichenden Deregulierung

der Märkte führten. Über diese Instrumentalisierung seines Werkes scheint Nozick selbst

nicht erfreut gewesen zu sein: Anarchy, State, and Utopia bleibt sein einziger Beitrag zur

politischen Theorie, in dessen Vorwort er zudem explizit feststellt, dass auch er hinsichtlich

der sozialen Härten, die sein Ansatz mit sich zu bringen droht, ein gewisses Unwohlsein

empfindet“204

.

Libertäre Ansätze zeichnen sich also dadurch aus, dass sie als normative Grundlage für ihre

Argumentation bestimmte absolut geltende individuelle Freiheitsrechte heranziehen.

Ausgangspunkt für Nozicks Konzeption ist dabei das sog. Locke’sche Proviso, d.h. die

Individualrechte: Recht auf Leben, Recht auf körperliche Unversehrtheit und Recht auf

Eigentum. Deren Geltung wird von Nozick nicht weiter begründet, sondern als gesetzt

vorausgesetzt205

; alle über diese Freiheitsrechte hinausgehenden Normen lehnt Nozick

hingegen ab206

. Eine derartige Vorgehensweise legt nahe, „wer der argumentative

Hauptgegner des Libertären ist. Denn wenn man fordert, dass die Freiheit des Einzelnen zu

achten sei, so scheint das Unterfangen, politische Theorie im Sinne von Legitimationstheorie

staatlicher Herrschaft zu betreiben, insgesamt verfehlt: Stellt denn nicht jeder Staat eine

Einschränkung der Freiheit des Einzelnen dar? Da also staatliche Herrschaft immer eine

Einschränkung der Freiheit des Einzelnen darstellt, sollte jemand, dem es um den Schutz

201

Vgl. Van Parijs, Philippe, Real freedom for all: what (if anything) can justify capitalism?, Oxford 1995 (Van

Parijs (*1951)zählt zu den Fürsprechern eines bedingungslosen Grundeinkommens); Otsuka, Michael,

Libertarianism without Inequality, Oxford 2003; und als Überblicksdarstellung: Vallentyne, Peter/ Steiner, Hillel

(Hrsg.) [2000b], The Origins of Left. 202

Vgl. dazu Narveson, Jan, The Libertarian Idea, Philadelphia 1988; ders., “Libertarianism”, in: LaFollette,

Hugh (Hrsg.), The Blackwell Guide to Ethical Theory, Malden et al. 2000, S. 306-324. 203

Vgl. dazu Friedman, Milton, Capitalism and Freedom, Chicago 1962; von Hayek, Friedrich A., The

Constitution of Liberty, Chicago 1960. 204

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 169 f. sich zum Schluss auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006

[1974], 23 beziehend (Hervorhebung bei Nida-Rümelin). 205

Nozick macht sich dabei nicht die religiöse Begründung Lockes zu eigen, sondern scheint vielmehr davon

auszugehen, dass Geltung dieser Rechte intuitiv einsichtig ist (vgl. Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie

der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung, Paderborn 2009, 173). 206

Bereits an dieser Stelle seiner Argumentation kann man aber fragen, warum nur die genannten

Individualrechte und nicht noch weitere (z.B. auch soziale) Rechte als normative Basis seiner Theorie dienen

können; jedenfalls ist nicht offensichtlich warum ausschließlich das Locke’sche Proviso Evidenz beanspruchen

können sollte. Vgl. dazu auch unten S. 81 f.

76

individueller Freiheitsrechte geht, eigentlich Anarchist sein und jede Form staatlicher

Herrschaft ablehnen“207

. Denn für einen Anarchisten ist jede politische Herrschaft illegitim,

da durch sie stets Vorrechte über andere etabliert werden. Es ist daher nur konsequent, wenn

Nozick das Grundproblem seines Ansatzes als Rechtfertigungsaufgabe gegenüber dem

Anarchisten formuliert:

“Die Grundfrage der Philosophie der Politik, die den Fragen, wie der Staat organisiert

sein sollte, vorausgeht, ist die Frage, ob es überhaupt einen Staat geben soll. Warum

keine Anarchie?”208

Da Nozick aber gerade für die Notwendigkeit staatlicher Institutionen argumentieren will,

muss er zeigen, dass der von ihm favorisierte Staat die Freiheitsrechte des Einzelnen ebenso

wenig einschränkt wie die Anarchie und dabei darüber hinaus aber gegenüber einem

anarchischen Gebilde Vorteile aufweist.

Nozicks Aufgabe kann nun allerdings „nicht nur darin bestehen, dem Anarchisten zu

beweisen, dass bestimmte Formen staatlicher Herrschaft durchaus mit der absoluten Geltung

individueller Freiheiten vereinbar sind. Wäre dem so, so würde sich der Libertarismus

nämlich nicht wesentlich vom Liberalismus unterscheiden. Denn auch diese politik-

theoretische Schule geht – wie ihr Name bereits andeutet – davon aus, dass Freiheit ein

wichtiges politisches Gut beziehungsweise Recht ist, dem eine gelungene politische Theorie

Rechnung zu tragen hat. Doch darüber hinaus fühlt sich der Liberalismus auch anderen

normativen Prämissen verpflichtet, etwa derjenigen der Gleichheit aller Menschen (wobei

einige Liberale[209]

[…] Gleichheit als Bestandteil von Freiheit verstehen, andere […] sie

dagegen als eigenständige normative Bedingung anführen[210]

). So zeichnen sich liberale

politische Theorien dadurch aus, dass sie für staatliche Ordnungen – die Nozick als

weitergehende Staaten bezeichnet[211]

[…] – argumentieren, die die Freiheit des Individuums

ernst nehmen, die zudem aber darauf achten, dass kein Individuum in radikaler Weise

schlechter gestellt ist als die anderen Bürger des Staates“212

.

„Um seine Eigenständigkeit gegenüber dem Liberalismus zu behaupten und nicht lediglich als

ein Teilbereich desselben zu erscheinen, muss der Vertreter des Libertarismus daher zudem

zeigen, dass jede Ausweitung der normativen Basis unzulässig und demnach jeder Staat, der

207

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 171. 208

Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 23. 209

Vgl. z.B. Dworkin, Ronald, Sovereign Virtue, Cambridge 2000. 210

Vgl. etwa Nida-Rümelin, Julian, „Eine Verteidigung von Freiheit und Gleichheit“, in: ders., Demokratie und

Wahrheit, München 2006. 211

vgl. Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München, 2006 [1974], 201. 212

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 171 unter Hinweis auf die Theorie von John Rawls.

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sich um mehr als nur die Verwirklichung der Freiheit seiner Bürger bemüht, illegitim ist. Dies

könnte der Libertarier erreichen, indem er dafür argumentiert, dass tatsächlich nur die

Freiheitsrechte, die er anführt, moralisch relevant sind. Doch […] ist dies nicht der Weg, den

Nozick wählt. Statt nachzuweisen, dass nur Freiheit moralisch zählt beziehungsweise dass

andere Vorstellungen wie etwa Gleichheit tatsächlich moralisch fragwürdig sind, verlegt er

sich darauf zu zeigen, dass jeder Staat, der versucht neben den Freiheitsrechten auch noch

andere moralische Erwägungen zu berücksichtigen, dadurch gegen die Freiheiten des

Einzelnen verstößt – und daher illegitim ist“213

. Folgerichtig charakterisiert Nozicks sein

Vorhaben selber als zweistufig: “In Teil 1 wird der Minimalstaat gerechtfertigt; in Teil 2 wird

behauptet, daß sich kein weitergehender Staat rechtfertigen lasse”214

.

Aber welche Argumente führt Nozick nun für die Entstehung eines derartigen Minimalstaates

an? Ebenso wie Locke verweist auch Nozick zu Begründung staatlicher Herrschaft auf die

Problematik der unverhältnismäßigen Selbstjustiz im Naturzustand215

: Mangels einer

neutralen rechtsprechenden Instanz, kann es bei der Durchsetzung der (ja genau wie bei

Locke) auch im Naturzustand geltenden Individualrechte sowohl in Hinblick auf die

Bestrafung von Rechtsverletzungen als auch bei der Klärung von Eigentumsfragen zu

Fehleinschätzungen und in der Folge (insbesondere bei der Bestrafung) zu überzogenen

Maßnahmen kommen, die ihrerseits entsprechende (und wieder über das Ziel

hinausschießende Vergeltungsmaßnahmen) nach sich ziehen können. Um dieser nicht enden

wollenden Spirale von unverhältnismäßiger Gewalt, Gegengewalt und Streit über

Entschädigungsfragen zu entgehen kommt es zur Bildung sog. (zunächst rein privater)

Schutzvereinigungen.

„In diesen Vereinigungen wird Schutz zuerst kooperativ bereitgestellt, indem sich alle

Mitglieder wechselseitig schützen. Schließlich aber werden sich die Mitglieder der

Schutzgemeinschaft aus Effektivitätsgründen nicht mehr selbst verteidigen, sondern einige

wenige, besonders starke Individuen gegen Bezahlung dazu anstellen, die Verteidigung der

gesamten Vereinigung zu übernehmen: ‚Einige Menschen werden für die Schutzleistungen

angestellt, und Unternehmer beginnen damit, Schutzleistungen zu verkaufen. Verschiedene

213

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 172 (Hervorhebung bei Nida-Rümelin). 214

Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 16. 215

Vgl. dazu das 3.Skript/S.31. Allerdings fasst Nozick die „Beschreibung des Naturzustandes und seiner

Eskalation anders als Locke nicht als Beschreibung eines faktischen, wenn auch vergangenen Zustands an,

sondern als potentielle Erklärung“ (Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität

und Politische Ordnung, Paderborn 2009, 175 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia,

München 2006 [1974], 29 (Hervorhebung bei Nida-Rümelin)).

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Schutzprogramme werden zu verschiedenen Preisen angeboten, damit man sich verschieden

umfangreichen und intensiven Schutz verschaffen kann.‘”216

Weiterhin sei es für diese Art professionalisierter Schutzvereinigungen kennzeichnend, „dass

sie gegenüber ihren Mitgliedern ein Gewaltmonopol beanspruchen – dass sie also von ihren

Mitgliedern fordern und sie bei Nichtbeachtung auch dazu zwingen, der Selbstjustiz zu

entsagen“217

. Gerechtfertigt wird dieser Anspruch aufs Gewaltmonopol und der bei seiner

Durchsetzung damit einhergehende Verlust eigener Rechtdurchsetzungsbefugnis wieder mit

dem ansonsten fortdauernden Kreislauf an Gewalt und Gegengewalt, der jetzt sogar noch

Maßnahmen anderer privater Schutzgemeinschaften enthalten kann218

.

„Da sich bei solchen Streitigkeiten unweigerlich die stärkere Schutzvereinigung durchsetzen

wird, sind starke Vereinigungen für potentielle Kunden attraktiver, so dass sie mehr Zulauf

erfahren[…]. Die Kunden werden solange zur jeweils stärkeren Schutzvereinigung wechseln

bis schließlich innerhalb eines bestimmten geographischen Gebiets nur noch eine

Schutzvereinigung auf dem Markt besteht. Sicherheit und Schutz sind für Nozick demnach

Güter, die Monopolstrukturen begünstigen, so dass sich eine vorherrschende

Schutzvereinigung ausbilden wird“219

.

Hat Nozick nun mit der Entstehung derartiger territorial abgegrenzter

Schutzvereinigungsmonopole schon sein Ziel der Etablierung eines dem Zustand der

Anarchie vorzuziehenden Minimalstaates erreicht? Nach seiner eigenen Einschätzung noch

nicht, denn damit es sich bei einer Organisation um einen Staat handelt, müssen seiner

Ansicht nach zwei notwendige und zusammen auch hinreichende Bedingungen erfüllt sein:

„Zum einen muss er innerhalb seines Territoriums das Gewaltmonopol innehaben, zum

anderen alle Menschen und nicht nur seine Bürger schützen“220

. Erfüllt ein territoriales

Gebilde hingegen nur die erste Bedingung, „so kann man nach Nozick lediglich von einem

216

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 176 zum Schluss Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 35

zitierend. 217

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 176. 218

Nämlich dann, wenn die überzogene Selbstjustiz gegenüber einer Person ausgeübt wird, die unter dem Schutz

einer anderen privaten Schutzgemeinschaft steht, die dann zugunsten dieser Person gegen die Selbstjustiz tätig

wird, was im Falle erneuter Unverhältnismäßigkeit wiederum deren Schutzgemeinschaft auf den Plan ruft etc.,

so dass die Schutzgemeinschaften ohne ein von ihnen ausgeübtes Gewaltmonopol wesentlich mehr und

aufwendigere Arbeit zu verrichten hätten, was ihre Klienten schon aus Kostengründen nicht wollen können (vgl.

dazu Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 176 f.). 219

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 177 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 38-

40. 220

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 176 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 47.

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Ultraminimalstaat sprechen – nur wenn sie beiden Bedingungen gerecht wird, ist eine

Organisation ein Minimalstaat. Nozick muss also zeigen, dass die vorherrschende

Schutzvereinigung sowohl das Gewaltmonopol innehat als auch so genannte Außenseiter[221]

[…] – also Menschen, die in ihrem Einflussgebiet leben, aber nicht ihre Kunden sind –

schützt“222

. Diese Miteinbeziehung der Außenseiter erscheint nun aber in zweierlei Hinsicht

in Nozicks libertären Ansatz kaum zu rechtfertigen zu sein. Denn zum einen verlieren die

Außenseiter dadurch selber ihr Recht auf Selbstjustiz, und zum anderen müssen, die

Mitglieder der das Monopol innehabenden Schutzgemeinschaft für die Außenseiter mitzahlen;

in beiden Fällen sind die Individualrechte der von diesen Maßnahmen betroffenen Personen

tangiert.

Der Verlust des Rechts auf Selbstjustiz, den die Außenseiter zu erleiden haben, ergibt sich in

Nozicks Konzeption bereits durch die Dominanz der vorherrschenden Schutzgemeinschaft

und ist bereits Kennzeichen des Ultraminimalstaates (der ja dadurch charakterisiert worden

war, dass er das Gewaltmonopol über alle seine Bewohner innehat). Die damit einhergehende

Verletzung der Freiheitsrechte der Außenseiter kann nach Nozick nur gerechtfertigt werden,

wenn sie kompensiert wird, „und die Kompensation, die er vorschlägt, ist, dass die

Außenseiter zu verbilligten Preisen in den Genuss des Schutzes durch die vorherrschende

Schutzvereinigung kommen:

“Demgemäß müssen die Klienten der Schutzorganisation die Außenseiter für die

Benachteiligung entschädigen, die sie durch das Verbot der Selbsthilfe zur

Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber den Klienten der Organisation erleiden. Ohne

Zweifel bestünde die am wenigsten aufwendige Entschädigung darin, ihnen bei

Konflikten mit den zahlenden Kunden der Schutzorganisation Schutz angedeihen zu

lassen.”223

Trotz der dadurch für sie entstehenden Kosten haben auch die Klienten der

Schutzorganisation von dieser Miteinbeziehung der Außenseiter einen Vorteil gegenüber der

Situation, in der die Außenseiter nach wie vor über ihr Recht auf Selbstjustiz verfügen. Oder

anders formuliert: erst der Minimalstaat bietet den umfassenden Schutz, der ihn attraktiver

macht gegenüber einem Zustand der Anarchie; die Einschränkung der der Individualrechte,

zu der es bei der Etablierung des Minimalstaates unweigerlich kommt, wird dabei, wie gerade

221

Vgl. dazu Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 85. 222

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 177. 223

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 178 f. am Ende Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 155

zitierend (Hervorhebung bei Nozick).

80

dargestellt, durch einen Zuwachs an Sicherheit für die Klienten der Schutzorganisation und

durch kostenlosen Schutz der Außenseiter kompensiert.

„Nozick gelingt es also, eine hypothetische Entwicklungsgeschichte zu zeichnen, nach der der

Minimalstaat nicht intendiert, sondern spontan aus den freiwilligen Handlungen einzelner

Individuen entsteht. Doch inwiefern hilft ihm dies in der Auseinandersetzung mit dem

Anarchisten? Worin genau besteht das Argument, das Nozick gegen diesen vorbringt? Zum

einen in dem Nachweis, dass es einen Staat gibt, der mit den normativen Forderungen des

Anarchisten vereinbar ist: Der Nozick’sche Minimalstaat entsteht ohne die Freiheitsrechte der

Individuen zu verletzen, da sie jeden Schritt seiner Entwicklung freiwillig vollziehen oder

aber für Zwänge, die auf sie ausgeübt werden, entschädigt werden. Zum anderen gelingt es

Nozick zu zeigen, dass der Anarchist einer nicht zu realisierenden Hoffnung nachhängt. Denn

nach Nozicks Rekonstruktion wandelt sich die Anarchie des Naturzustandes ganz natürlich in

einen staatlichen Zustand. […] Dabei ist zu betonen, dass diese Hervorbringung in einem

Prozess der unsichtbaren Hand geschieht – dass es also für die Entstehung eines Staats nicht

notwendig ist, dass die einzelnen Akteure diesen hervorbringen wollen (anders als im

Locke’schen Modell, das einen willentlichen Vertragsschluss der Individuen vorsieht). Denn

der Anarchist würde natürlich bestreiten, dass freie Menschen jemals den Wunsch entwickeln

könnten, gemeinsam ein Zwangssystem wie einen Staat zu erschaffen. Nozicks Modell

akzeptiert diese Prämisse des Anarchisten und zeigt, dass ein Staat dennoch entstehen kann

und muss“224

.

Interne und externe Kritik an Nozicks Theorie

An Nozicks Konzeption lässt sich auf zwei unterschiedliche Weisen Kritik üben. Man kann

zum einen bestreiten, dass sich auf Grundlage der von ihm gewählten normativen Basis des

Locke’schen Provisos lediglich der von ihm beschriebene Minimalstaat herausbildet. „Denn

warum sollte es nicht in einem analogen Prozess der unsichtbaren Hand neben

Schutzvereinigungen auch zu Bildungsgemeinschaften kommen, die auf Grund individueller

Verträge entstehen? Warum sollten sich nicht die Eltern A und die Eltern B

zusammenschließen und eine Abgabe zahlen, um beider Kinder gemeinsam von einer

professionellen Kraft unterrichten zu lassen, da dies sicher effizienter ist, als den Unterricht je

individuell zu gestalten. Ebenso kann man fragen, weshalb nicht in gleicher Weise

Sozialgemeinschaften entstehen sollten, die gegen existentielle Risiken wie Krankheit, Alter

224

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009,179.

81

oder Arbeitslosigkeit versichern? Auch hier gilt das gleiche Argument der Größe: Je größer

die jeweilige Gemeinschaft, desto effektiver kann sie das jeweilige Gut bereitstellen. Wenn

aber solche Bildungs- und Sozialgemeinschaften wie die Schutzvereinigung auch unter

Beachtung der individuellen Freiheitsrechte entstehen, so sind sie unter den normativen

Voraussetzungen des Libertarismus legitimiert. Damit würde es Nozick aber nicht mehr zu

zeigen gelingen, dass jeder über den liberalen Nachtwächterstaat hinausgehende

weiterreichende Staat illegitim ist“225

.

Neben dieser theorieinternen Kritik kann man Nozicks Argumentation aber auch von einem

externen Standpunkt aus hinterfragen. Die von Nozick vorgenommene Beschränkung auf die

Locke‘schen Freiheitsrechte als Ausgangspunkt seiner Argumentation ist nämlich durchaus

nicht zwingend. So intuitiv plausibel die Annahme der Geltung dieser Freiheitsrechte ist – gilt

dies nicht möglicherweise in vergleichbarem Umfang auch für weitere Rechte, und

insbesondere für ein Recht auf ein Leben in Würde? „Und gehört zu diesem Recht auf ein

Leben in Würde nicht auch, dass sie das Recht darauf haben, durch den Staat eine

Grundsicherung ihrer elementarsten Bedürfnisse zu erfahren, sollten sie nicht dazu in der

Lage sein, diese selbst zu gewährleisten?“ Für Nozick ergibt sich aus dieser grundlegenden

und gegebenenfalls auch existentiellen Bedürfnislage jedoch nicht die Notwendigkeit eines

entsprechenden einklagbaren juridischen Rechts; vielmehr bleibe es „der karitativen Sorge

des Einzelnen überlassen, sich freiwillig um das Wohl seiner in Not geratenen Mitbürger zu

kümmern[226]

[…]. Doch dass der Einzelne für sein Überleben auf das Wohlwollen anderer

angewiesen sein soll und von denen nicht erwarten und fordern darf, dass sie ihm helfen,

scheint intuitiv wenig plausibel“227

.

Ganz generell lässt sich argumentieren, dass Nozicks Freiheitsbegriff auf einem zu engen,

nämlich negativen Freiheitsverständnis beruht, dem zu Folge „Freiheit ausschließlich in der

Abwesenheit von Zwang besteht. Aber bedeutet frei sein nicht gleichermaßen ‚frei sein von‘

wie frei sein zu‘“228

. Nozick würde einen derartigen positiven Freiheitsbegriff wohl aber in

dem Maße ablehnen, in dem dieser zu Umverteilung von Eigentum (auch in Form von

225

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 185/186 unter Hinweis auf ders., „Eine Verteidigung von Freiheit und Gleichheit“, in ders.,

Demokratie und Wahrheit, München 2006, 118-153, dort: 118-123. 226

Vgl. dazu Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 348-352. 227

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 185/186 unter Hinweis auf ders., „Eine Verteidigung von Freiheit und Gleichheit“, in ders.,

Demokratie und Wahrheit, München 2006, 118-153. 228

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 185/186 unter Hinweis auf vgl. MacCallum, Gerald C. Jr., “Negative and Positive Freedom”,

in: The Philosophical Review, 76 (1967), 312-342.

82

Vermögen) führt. Denn jede Umverteilung ist für Nozick als eine in das Eigentumsrecht

eingreifende Zwangsanwendung zu bewerten, die für ihn auch nicht durch den Umstand

gerechtfertigt werden kann, dass auch Armut, wenn sie dazu führt, dass die von ihr

betroffenen Personen mangels Chancengleichheit an bestimmten Formen des Lebens

teilhaben können, eine Einschränkung von Freiheitsrechten bedeuten kann; frei ist für Nozick

jemand eben bereits immer dann, wenn er, wie der Arme, dem ja nichts weggenommen wird,

in seinen Eigentumsrechten nicht eingeschränkt wird. Da aus Nozicks Sicht daher extreme

Ungleichverteilungen keine Verletzung der Rechte von Armen darstellen, bewertet er

Umverteilungsmaßnahmen nicht als eine Wiederherstellung, sondern im Gegenteil als Bruch

des Rechts derer, die im Zuge der Umverteilung etwas von ihrem Eigentum abgeben müssten.

„Insofern verwundert es nicht, dass Nozick zu dem Schluss kommt, dass die ‚Besteuerung

von Arbeitsverdiensten […] mit Zwangsarbeit gleichzusetzen‘ ist“229

. Für die Frage, ob eine

gegebene Güterverteilung gerecht ist, ist für Nozick weder relevant, ob sie gemäß

ergebnisorientierter Theorien230

(im engl. Orginal: end-state oder end-result principles)

bestimmten Idealen in einer Gesellschaft entspricht, noch ob sie nach Maßgabe von Theorien,

die auf einem strukturierten Verteilungsgrundsatz (im englischen Original: patterned

principles) beruhen, „bestimmten Strukturen folgt, etwa ob jeder das bekommt, was ihm

aufgrund seiner Leistung oder seines moralischen Verdienstes zusteht“231

. Ausschlaggebend

sei vielmehr lediglich, ob sie im Sinne von Anspruchstheorien (im englischen Original (und

wie auch bei den beiden vorangehenden Begriffen in Nozicks eigener Terminologie):

entitlement theory) „ausschließlich aufgrund legitimer Aneignungs- und Transferprozesse

zustande gekommen ist – […ob] also nur das, was rechtmäßig angeeignet und besessen

wurde, legal getauscht, verkauft oder verschenkt worden ist“232

.

Nun ist Nozick sicherlich darin zuzustimmen, dass die Frage, wie es zu einer bestimmten

Verteilung gekommen ist, eine entscheidende Rolle bei Beurteilung dieser Verteilung als

gerecht oder ungerecht zu spielen hat233

. Selbst wenn man aber Nozick noch weitergehend

229

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 182 am Ende Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 225

zitierend. 230

Vgl Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 206. 231

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 180 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974],

209-215. 232

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,

Paderborn 2009, 180 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 202. 233

Nozick unterscheidet zwischen historischen (die Genese der Verteilung berücksichtigenden oder am

Zeitquerschnitt orientierten Theorien (im englischen Original: historical principles im Gegensatz zu current

time-slice principles). Während die Anspruchstheorien stets als historische Theorien und die

ergebnisorientierten als Zeitquerschnitt orientiert zu qualifizieren sind, könnten die auf einem strukturierten

Verteilungsgrundsatz beruhenden Theorien sowohl historisch wie auch am Zeitquerschnitt orientiert sein (vgl.

83

auch darin folgen würde, dass ausschließlich Anspruchstheorien ein legitimes Kriterium zur

Beurteilung von Verteilungszuständen liefern, ist doch fraglich, ob sich die aktuelle

Güterverteilung in einem Staat im Rahmen dieser Theorien immer als gerechtfertigt erweisen

müsste; denn auch dann, wenn alle dem aktuellen Verteilungszustand vorausgehenden

Tausch, Verkaufs-, Schenkungs- und etwaige sonstigen Übereignungsprozesse rechtmäßig

verlaufen sind, könnte man zumindest in Hinblick auf natürliche Ressourcen immer noch den

historischen Ausgangspunkt eines Aneignungsprozesses in den Fokus rücken. Dabei würde

dann wieder das oben bei der Unterteilung zwischen Links- und Rechts-Libertarier

herangezogene Kriterium relevant werden: wem gehören natürliche Ressourcen, bevor sie sich

jemand explizit angeeignet? - Niemandem, so dass sich für den/die „Ersteigentümer“ aus

seinem/ihrem Eigentumserwerb keinerlei Verpflichtungen zu Ausgleichszahlungen an die

Nichteigentümer ergeben? Oder Allen, so dass die nun vom Eigentum ausgeschlossenen

Personen ein Anrecht auf Rekompensation haben?

Exkurs: Gefangenendilemma

Da bei der anschließenden Darstellung der Theorien von Buchanan und Gauthier auf

das sog. Gefangenendilemma Bezug genommen wird, wird dies im Folgenden etwas

ausführlicher behandelt als dies in der Vorlesung aus Zeitgründen möglich war.

Das sog. Gefangenendilemma (GD; oder prisonners dilemma (PD)) wird

üblicherweise durch eine Variante der folgenden Geschichte eingeführt:

Zwei Männer werden eines Bankraubs verdächtigt, der ihnen jedoch nicht

nachgewiesen werden kann. Sie werden in einem Untersuchungsgefängnis in

getrennte Zellen gesperrt, so dass sie nicht miteinander kommunizieren können. Die

öffentliche Hand ist sich zwar sicher, dass beide den Bankraub begangen haben,

nachweisen kann man ihnen aber nur (das weitaus weniger schwere) Delikt des

illegalen Waffenbesitzes. Nun wird jeder der beiden Gefangenen einzeln vor die Wahl

einer von zwei Optionen gestellt: Den Bankraub zu gestehen, oder nicht zu gestehen.

Wenn beide Gefangenen schweigen, also nicht gestehen (d. h. miteinander

kooperieren), werden beide nur wegen des illegalen Waffenbesitzes zu einer Strafe

von je einem Jahr Gefängnis verurteilt. Wenn beide gestehen (also nicht miteinander

kooperieren, d.h. defektieren) werden beide wegen Bankraubs verurteilt, wobei die

Strafe wegen des Geständnisses jeweils von eigentlich 10 auf 8 Jahre abgemildert

wird. Wenn nur einer gesteht, dann geht der Geständige als Kronzeuge frei, während

der andere zur Höchststrafe verurteilt wird.

Nennen wir die Gefangenen 1 und 2, so können wir das jeweilige Strafmaß in

Gefängnisjahren in folgender Matrix wiedergeben (dabei ist gefangener 1 Zeilen-,

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung, Paderborn

2009, 181 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 206 u. 210.

84

Gefangener 2 Spaltenwähler und „(10,0)“ steht für „10 Jahre Gefangenen 1 und 0

Jahre für Gefangenen 2“):

G2 schweigt G2 gesteht

G1 schweigt (1,1) (G1 schweigt /G2 schweigt) (10,0) (G1 schweigt / G2 gesteht)

G1 gesteht (0,10) (G1 gesteht / G2 schweigt) (8,8) (G1gesteht /G2 gesteht)

Oder, wie in der Vorlesung, dargestellt mit ordinalen Nutzenwerten (je geringer die

Gefängnisjahre, desto höher der Nutzen für die Gefangenen), wobei als weitere (und

keineswegs selbstverständliche) Voraussetzung davon ausgegangen wird, „dass sich

die Gefangenen ausschließlich für die Dauer des je eigenen Gefängnisaufenthaltes

interessieren, die sie zu minimieren trachten“ 234

:

G2 schweigt G2 gesteht

G1 schweigt 3/3 (G1 schweigt / G2 schweigt) 1/4 (G1 schweigt / G2 gesteht)

G1 gesteht 4/1 (G1 gesteht / G2 schweigt) 2/2 (G1gesteht /G2 gesteht)

Nach dem in der Entscheidungstheorie bedeutsamen Dominanzprinzip ist es rational,

stets diejenige Handlung zu wählen, deren Konsequenzen unter allen Umständen

besser sind als die aller andern möglichen Alternativen235

.

Angewandt auf die Situation des GD bedeutet dies, dass es jeweils für beide

Gefangenen rational ist, nicht zu gestehen, denn nicht zu gestehen ist (unter der oben

gemachten Voraussetzung, dass es ihnen jeweils ausschließlich um die Dauer des je

eigenen Gefängnisaufenthaltes geht) für jeweils beide Gefangene unter allen

Umständen (und das heißt hier, unabhängig davon, ob der jeweils andere gesteht oder

nicht gesteht) besser als zu gestehen. Da dies aber eben für beide Gefangene gilt, führt

die Anwendung des Dominanzprinzips zu dem für beide vom Ergebnis her nicht

optimalen Strategiepaar: gestehen - gestehen (defektieren- defektieren).

234

Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und politische Ordnung, Paderborn

2009, 37 (Hervorhebung bei Nida-Rümelin). Keiner der beiden Gefangenen muss also für den Fall, dass er

derjenige ist, der frei kommt, irgendwie geartete externe Sanktionen (also z.B. insbesondere Strafmaßnahmen

von Freunden des wegen seines Geständnisses nun besonders lange einsitzenden anderen Gefangenen)

befürchten. – Hinweis: Mit Ordinalzahlen (1., 2., 3. Etc). wird eine Rangordnung wiedergegeben (sie antworten

auf die Frage: ‚der/die/das wievielte?‘). Der höchste Nutzenwert (in der Matrix mit „4“ angegeben) steht für die

beste Position. Dabei sind die jeweiligen Nutzenwerte weder interpersonell vergleichbar (frei zu kommen,

finden zwar beide Gefangen von den gegebenen Alternativen jeweils am besten, es kann aber durchaus sein, das

für G1 Freiheit noch wichtiger ist als für G2) noch intrapersonell einander in ein genaues Verhältnis zu setzen

(aus dem Nutzenwert „4“ lässt sich also nicht entnehmen, dass die Gefangenen die ihm zugeordnete Alternative

„frei kommen“ für jeweils doppelt so wertvoll halten wie die mit dem Nutzenwert 2 versehene Alternative „8

Jahre Gefängnis“ ). 235

Das Dominanzprinzip klingt höchst plausibel, sein Problem besteht allerdings darin, dass es nur dann sinnvoll

anzuwenden ist, wenn die Wahrscheinlichkeiten der relevanten Umstände die eintreten können, von der eigenen

Entscheidung unabhängig sind. Doch das Vorliegen handlungsunabhängiger Wahrscheinlichkeiten ist

keineswegs immer der Fall (siehe dazu Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart.

Rationalität und politische Ordnung, Paderborn 2009, 16 f.)

85

Insbesondere ist dieses Ergebnis nicht pareto-optimal, da es ein anderes Strategiepaar,

nämlich: nicht gestehen – nicht gestehen (kooperieren – kooperieren), gibt, welches

beide besser stellt und darüber hinaus seinerseits pareto-optimal ist236

.

Dieser Befund bedeutet auch insofern eine Herausforderung für die Spieltheorie als es

sich bei dem Strategiepaar: defektieren-defektieren um einen Gleichgewichtspunkt

bzw. ein Nash-Gleichgewicht handelt. Ein Gleichgewichtspunkt ist ein Strategiepaar,

bei dem es sich für keinen der Spieler auszahlt, einseitig (d.h. bei gleichbleibender

Strategiewahl des jeweils anderen) von seiner Strategie abzuweichen237

; nur

Gleichgewichtspunkte sind also stabile Strategiepaare. (Bezogen auf unseren Fall:

gesteht der eine, ist es für den anderen stets besser, ebenfalls nicht zu gestehen, weil er

sonst die Höchststrafe erhält; dagegen ist das pareto-optimale Strategiepaar: nicht

gestehen - nicht gestehen (kooperieren – kooperieren) kein Gleichgewichtspunkt, da es

sich, sofern (wie oben vorausgesetzt) sich beide nur für die Dauer des jeweils eigenen

Gefängnisaufenthaltes interessieren, sich bei gleichbleibender Strategiewahl des einen,

für den jeweils anderen lohnt, von der Strategie Kooperieren abzugehen, um als

einseitig Geständiger freizukommen).

Das unter der Bezeichnung „Gefangenendilemma“ bekannte Dilemma besteht somit

darin, „daß die übereinstimmende Wahl der dominanten Strategie zu einem Ergebnis

führt, das durch ein anderes paretodominiert wird, welches jedoch nur erreichbar ist,

wenn beide eine Strategie wählen, für die es eigentlich keine ‚rationale‘ Begründung

gibt: die nicht-dominante Strategie“238

.

Rationale Interessenverfolgung im Sinne der Entscheidungstheorie führt also bei

Situationen nach Art des Gefangenendilemmas also gerade nicht zu einem optimalen

Ergebnis.

236

Eine Verteilung/ein ökonomischer Zustand X ist pareto-optimal (oder pareto-effizient) genau dann, wenn gilt,

dass es keine andere Verteilung Y gibt, die mindestens von einer Person gegenüber X vorgezogen wird, ohne

dass dabei eine andere Person X gegen über Y vorzieht. Beim GD ist der durch das Strategiepaar: nicht gestehen

- nicht gestehen beschriebene Zustand sogar für beide besser als der Zustand: gestehen-gestehen;

bemerkenswerterweise sind beim GD, abgesehen von der Kombination: defektieren-defektieren (also demjenigen

Strategiepaar, das sich ergibt, wenn sich beide Gefangenen jeweils gemäß dem Dominanzprinzip verhalten), alle

anderen Strategiepaare pareto-optimal. Nach einer schwächeren Variante des Pareto-Kriteriums ist eine

Verteilung X pareto-effizient genau dann, wenn es keine alternative Verteilung Y gibt, die alle Personen

gegenüber X vorziehen. Auch bei Zugrundelegung dieser Variante wären außer der Kombination: defektieren-

defektieren alle Strategiepaare des GD pareto-effizient. 237

Vgl. Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und politische Ordnung,

Paderborn 2009, 39. WICHTIG: Es kommt dabei für das Vorliegen eines Gleichgewichtspunktes weder darauf

an, dass das Strategiepaar für alle Spieler die selben gleichgroßen ordinalen Nutzenwerte, noch darauf, dass es

für alle jeweils die höchsten ordinalen Nutzenwerte aufweist. 238

Kern, Lucian, Nida-Rümelin, Julian, Logik kollektiver Entscheidungen, München 1994, 203.

86

Die Grundzüge der politischen Philosophie von James M. Buchanan239

In dem Werk The Limits of Liberty von 1975 machte der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger

James M. Buchanan (1919-2013) die Essenz seiner ökonomischen Theorie für die politische

Theorie fruchtbar und entwickelt dabei eine Konzeption, die klar in der Tradition von Hobbes

kontraktualistischen Ansatz steht. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei der von ihm

vertretene „Methodologische Individualismus“, den man als eine soziologische Theorie

qualifizieren kann, der zufolge sich soziale Phänomene nur unter Bezug auf individuelle

Handlungen und Intentionen erklären lassen. In normativer Hinsicht geht Buchanan des

Weiteren von einem Ethischen Individualismus aus, der Individuen als ausschließliche

Quellen moralischer Werte identifiziert: Alles, was sich rechtfertigen lässt, muss sich

gegenüber jedem einzelnen Individuum und dessen Eigeninteresse rechtfertigen lassen;

insbesondere sind staatliche Institutionen gegenüber einem Individuum nur dann

gerechtfertigt, wenn sie dessen Interessen dienen.

Im Naturzustand, also vor aller staatlichen Ordnung, existiert eine „natürliche“ Verteilung von

Gütern, die lediglich dem Kräfteverhältnis der Individuen unter Einschluss von

Gewaltanwendung entspricht. Da dieser Naturzustand von einem hohen Maß an Unsicherheit

für alle geprägt ist, und niemand sich seiner Güter sicher sein kann, gibt es ein gemeinsames

Interesse der Individuen, bestimmte individuelle Rechte und Freiheiten zu etablieren. Das

Recht auf Leben, d.h. das Verbot andere zu töten, auch, wenn dies im eigenen Interesse sein

sollte, gehört dazu. Rationale Individuen werden deshalb einen Vertrag schließen, der diese

individuellen Rechte und Freiheiten etabliert und sanktioniert, d.h. ihre Übertretung mit

Strafen ahndet. Buchanan nennt dies den constitutional contract, den konstitutionellen

Vertrag, und den so etablierten Staat den constitutional state, den konstitutionellen Staat.

Die einzelnen Güter werden im konstitutionellen Staat vom Markt im Sinne von Angebot und

Nachfrage bereitgestellt. Dabei kommt es allerdings zur Problematik kollektiver Güter.

Während individuelle Güter je individuell konsumiert, nachgefragt, gekauft und transferiert

werden können, stehen kollektive Güter (häufig auch als öffentliche Güter bezeichnet),

grundsätzlich allen zur Verfügung: Kollektive Güter sind nicht teilbar sind und niemand ist

folglich von ihrer Nutzung ausgeschlossen; es kann sich also auch niemand ein kollektives

Gut durch Kauf für die alleinige Nutzung sichern. Zu kollektiven Gütern zählen etwa die

öffentliche Infrastruktur oder auch Umweltgüter240

. Kollektive Güter sind nicht marktgängig,

239

Die folgende Darstellung greift an einigen Stellen auf ein im WS 2012/13 von Herrn Nikolai Blaumer

verfasstes Skript zurück. 240

Typische Beispiele für kollektive Güter sind etwa: Luft; Frieden; Deiche; Leuchttürme; Straßenbeleuchtung

etc. Anders als diese Beispiele es nahelegen, ist der Begriff des kollektiven Guts allerdings nicht essentialistisch

87

denn wegen ihrer allgemeinen Verfügbarkeit hat in einem ausschließlich von individueller,

eigeninteressierter Präferenzrealisierung bestimmten Rahmen wie dem Markt niemand ein

Interesse daran, für ihre Nutzung zu bezahlen; und dies hat - zumindest dann, wenn das

kollektive Gut nicht unbegrenzt in gleicher Qualität zur Verfügung steht – die Konsequenz,

dass das entsprechende kollektive Gut in immer schlechterer Qualität zur Verfügung steht

oder gegebenenfalls sogar gar nicht mehr vorhanden ist.

Kollektiv (d.h. von allen oder vielen Marktteilnehmern) durchgeführte individuelle

Eigennutzoptimierung, also kollektives marktkonformes Verhalten, kann also bei kollektiven

Gütern dazu führen, dass ein pareto-ineffizienter241

(also im Sinne des Marktes selbst nicht

optimaler) Zustand entsteht242

.

gemeint, d.h. hier: nicht auf Entitäten beschränkt, die von ihrer materiellen stofflichen Beschaffenheit das

Kriterium der Nicht-Ausschließbarkeit erfüllen; vielmehr können manche Güter auch durch staatliche

Entscheidung als kollektive Güter bereitgestellt werden. Dass die entsprechenden Entscheidungen dabei politisch

manchmal umstritten sind, zeigen Beispiele aus den Bereichen Bildung und Kultur: Welche Bildungsangebote

soll der Staat seinen Bürgern kostenlos (in dem Sinne, dass diejenigen, die die Angebote nutzen, dafür nicht

zusätzlich zu den von Ihnen gegebenenfalls geleisteten Steuerabgaben etwas bezahlen müssen) anbieten: nur

Schule oder auch das Studium an der Universität (Streitgenstand Studiengebühren)? Sollen staatliche Theater-

und Opernhäuser subventioniert werden, und wenn ja, in welchem Umfang? 241

Vgl. zum Begriff der Pareto-Effiziens die Charakterisierung in Fn.236. 242

Ein Beispiel für eine derartige Entwicklung ist die sog. „Tragödie der Allmende“:

„Eine bäuerliche Ansiedlung verfügt über eine Allmende, d.h. ein Areal von Weideland, das von den ansässigen

Herdenbesitzern gemeinschaftlich genutzt werden kann. Nun ist klar, daß jeder Besitzer einer Viehherde um so

mehr Nutzen aus diesem gemeinschaftlichen Weideland zieht, je mehr Tiere er darauf weiden lassen kann. Für

die Herdenbesitzer ist damit der Anreiz gegeben, die Herden auf der Allmende zunehmend zu vergrößern.

[…Damit] bahnt sich unvermeidlich die ‚Tragödie der Allmende‘ an, denn jeder Herdenbesitzer wird

argumentieren: Füge ich meiner Herde ein Tier hinzu, das ich auf der Allmende weiden lassen, so kommt der

Nutzen daraus mir zugute, während die Kosten durch die ‚Abweidung‘, die der Allmende durch ein einzelnes

Tier entstehen, nur ein Bruchteil davon sind und sich überdies auf alle Herdenbesitzer und weidenden Tiere

verteilen. Auch bei anteiliger Berücksichtigung dieser Kosten ergibt sich für jedes zusätzliche Tier ein positiver

Nutzen. Da die gleiche Überlegung für alle Herdenbesitzer und jedes zusätzliche Tier gilt, scheint es

unausweichlich, daß die Herden nach und nach vergrößert werden. Selbst wenn die Vergrößerung in kleinen

Schritten erfolgt, ist der entscheidende Punkt die Stetigkeit der Vergrößerung, so daß irgendwann der Zeitpunkt

erreicht ist, ab dem der Schaden durch ‚Überweidung irreparabel wird und die Allmende zerstört ist“

(Textausschnitt übernommen aus: Kern, Lucian, Nida-Rümelin, Julian, Logik kollektiver Entscheidungen,

München 1994, 212) . Als „Tragödie bzw. Tragik der Allmende” (vgl. engl: „tragedy of the commons“) können

auch unabhängig von dem Bereich landwirtschaftlicher Nutzung ganz allgemein Situationen bezeichnet werden,

in denen frei verfügbare, aber begrenzte Ressourcen nicht effizient genutzt werden und dabei durch Übernutzung

in einer Weise bedroht sind, die wiederum für die Nutzer selbst bedrohlich ist.

Die hier geschilderte Situation entspricht einer n-Personenvariante des in dem obigen Exkurs behandelten

Gefangenendilemmas, dessen Grundstruktur hier zur Veranschaulichung noch einmal als Matrix wiedergegeben

wird:

3/3 1/4

4/1 2/2

Alle Nutznießer der Allmende landen, da sie bloß danach streben, ihren Eigennutzen zu optimieren, in dem

pareto-ineffizienten Quadranten 2/2.

88

Dies bedeutet jedoch, dass kollektive Güter nicht bereitgestellt werden, und da kollektive

Güter aber solche sind, an denen alle ein Interesse haben, ist dieser Mangel für alle von

Nachteil. Dieser Befund führt in Buchanans Konzeption hin zur zweiten Stufe des

Staatsaufbaus: Um diesen Nachteil auszugleichen, soll nämlich der Staat selber zum

Produzenten kollektiver Güter werden, deren Kosten er durch Steuern und Abgaben deckt.

Idealiter wird er nur solche kollektiven Güter bereitstellen, die im Interesse aller sind. Die

Ergänzung des konstitutionellen Staats (constitutional state) um das Element des produktiven

Staats (productive state) erscheint daher (idealiter) jedem einzelnen gegenüber gerechtfertigt

zu sein. Daher ist es nach Buchanan auch im Interesse aller, einer derartigen Erweiterung der

Staatsaufgaben in einer weiteren Übereinkunft, nämlich dem post-konstitutionellen Vertrag

(post-constitutional contract) zuzustimmen.

In einer Demokratie wird mit Mehrheit entschieden, welche kollektiven Güter bereitgestellt

werden. Damit entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Demokratieprinzip und der

Rechtfertigung über ökonomische Rationalität gegenüber jedermann. Es kann nämlich sein,

dass eine Mehrheit die Produktion eines kollektiven Gutes bevorzugt, dessen Kosten höher

sind als sein Gesamtnutzen. So kann es in der Demokratie zu Ineffizienzen kommen. Die

Bereitstellung kollektiver Güter kann zu einem sich immer mehr aufblähenden öffentlichen

Sektor führen; folglich zu einer Ausdehnung des Staates.

Dies wird im folgenden Beispiel deutlich, in dem wir von einem Gut mit einem Wert von 80

Nutzeneinheiten ausgehen. Da die Produktion des Gutes 90 Einheiten kostet, ist sie

ineffizient. Liegt nun folgende Aufteilung von Kosten und Nutzen vor, so gibt es trotzdem

eine 2/3 Mehrheit für die Produktion des Gutes, da Gruppe I und Gruppe II einen größeren

Nutzen als Kosten erwarten, während für Gruppe III nur Kosten entstehen. Gruppe I und

Gruppe II werden, obgleich die Gesamtkosten den Gesamtnutzen überschreiten, für die

Bereitstellung dieses Gutes votieren243

:

Nutzen 40 40 0

Kosten 30 30 30

Gruppe I Gruppe II Gruppe III

243

Interessanterweise kann es auch bei mehrheitlich ablehnenden Entscheidungen zu Ineffizienzen bei der

Bereitstellung kollektiver Güter kommen: Wenn Kosten und Nutzen des kollektiven Gutes ungleich verteilt sind,

kann es nämlich auch Mehrheiten gegen die Produktion eines kollektiven Gutes geben, dessen Bereitstellung

effizient wäre, also dessen Gesamtnutzen größer ausfällt als die Gesamtkosten für seine Bereitstellung. Während

Buchanan befürchtet, dass die Demokratie zur hypertrophen, zur übermäßigen Produktion kollektiver Güter

führt, kann also auch der umgekehrte Fall eintreten, nämlich dass vom Staat auf Grund demokratischer

Mehrheitsentscheidungen zu wenig kollektive Güter bereitgestellt werden.

89

In solchen von ihm als „Ausbeutung der Minderheit durch die Mehrheit“ bezeichneten Fällen

plädiert Buchanan dafür, durch eine „Verfassungsregel festzulegen, dass nur solche

Ausgabenprobleme in Betracht kommen, die einen allgemeinen Nutzen, und zwar für alle

Mitglieder der Gemeinschaft, versprechen“244

. Würden Projekte als Ganzes und nicht getrennt

behandelt, und müssten die an der Abstimmung beteiligten Personen oder Gruppen Kosten

und Nutzen genau in Rechnung stellen, dann würden „Projekte, die nachweislich allen

Personen einen Nettoschaden zufügen, nicht bewilligt“245

.

Ungeachtet der Effiziensproblematik spricht sich Buchanan klar für die Demokratie aus,

wobei er Demokratie mit dem methodologischen Individualismus gleichsetzt, oder zumindest

als dessen Ausformung interpretiert246

. In der Vorlesung wurde darauf hingewiesen, dass ein

solches Demokratieverständis bezogen auf einzelne Entscheidungen, die in der Demokratie in

der Regel kaum im Konsens (also durch die Zustimmung aller an der Abstimmung beteiligten

Individuen), sondern von einer die Minderheit überstimmenden Mehrheit getroffen werden,

wenig überzeugend ist. Konsens ist in einer Demokratie nicht (oder zumindest nicht generell)

in Hinblick auf Einzelentscheidungen zu erreichen, sondern er kann sich nur auf das

Verfahren der Entscheidungsfindung - nämlich: Mehrheitsentscheidung nach einer

öffentlichen Diskussion über die zu Entscheidung anstehenden Alternativen – beziehen,

wobei es Bereiche, wie die Grundrechte geben kann, die auch bei extrem großen Mehrheiten

nicht zu Disposition stehen247

.

244

Buchanan, James, „Die Grenzen der Freiheit“, Tübingen 1984 [1975], 220 (Hervorhebung bei Buchanan). 245

Ebd. 246

Vgl. dazu Buchanan, James, „Die Grenzen der Freiheit“, Tübingen 1984 [1975], 3: „Der gewählte Ansatz

muß […] demokratisch sein. Darunter verstehen wir lediglich eine andere Definition des Individualismus“

(Hervorhebung bei Buchanan). 247

Nach diesem offensichtlich nicht rein prozeduralen Demokratieverständnis, wäre z.B. die Versklavung einer

Minderheit auch dann nicht zulässig, wenn sie von 90 % Bevölkerung befürwortet werden würde.

90

Die Grundzüge der politischen Philosophie von David Gauthier

Für die Position von D. Gauthier (*1932) sei hier verwiesen auf die Darstellung in dem unter

dem Titel: „Rationalität Praktische Philosophie“ passwortgeschützt über die Lehrstuhl-

website (unter: Material zur Vorlesung) vollständig zugänglichen Buch248

:

Nida-Rümelin, Julian, Schmidt, Thomas, Rationalität in der praktischen Philosophie.

Eine Einführung, Berlin 2000, S. 150-165 (Kapitel 10)

Eine anhand dieses Textes erstellte Kurzfassung befindet sich auf den Folien 50-51.

248

Eine fast identische Darstellung findet sich auch in: Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der

Gegenwart. Rationalität und politische Ordnung, Paderborn 2009, 153-168. Auf S. 161 ist es bei der

Formatierung offensichtlich zu einem Druckfehler gekommen: Die Striche, die die Ausdrücke xA# etc.

durchstreichen, sind „verrutscht“; es handelt sich um zwei Bruchstriche, zwischen der jeweils oberhalb unten

unterhalb stehenden Subtraktion.