189
Kuno Lorenz Dialogischer Konstruktivismus

Dialogischer Konstr uktivismus

  • Upload
    asm-asm

  • View
    242

  • Download
    3

Embed Size (px)

DESCRIPTION

≥ KunoLorenz DialogischerKonstruktivismus KunoLorenz WalterdeGruyter·Berlin·NewYork von MitfreundlicherUnterstützungdurchdieSaarland-SporttotoGmbH GedrucktaufsäurefreiemPapier, ISBN978-3-11-020310-3 dasdieUS-ANSI-NormüberHaltbarkeiterfüllt.

Citation preview

Page 1: Dialogischer Konstr uktivismus

Kuno Lorenz

Dialogischer Konstruktivismus

Page 2: Dialogischer Konstr uktivismus
Page 3: Dialogischer Konstr uktivismus

Dialogischer Konstruktivismus

vonKuno Lorenz

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Page 4: Dialogischer Konstr uktivismus

Mit freundlicher Unterstützung durch die Saarland-Sporttoto GmbH

�� Gedruckt auf säurefreiem Papier,das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020310-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

� Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertungaußerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlagesunzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro-

verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Printed in Germany

Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Page 5: Dialogischer Konstr uktivismus

Inhaltsübersicht

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1. Dialogischer Konstruktivismus (1986) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

2. Artikulation und Prädikation (1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

3. Rede zwischen Aktion und Kognition (1997) . . . . . . . . . . . . . 72

4. Grammatik zwischen Psychologie und Logik (1999) . . . . . . . . 94

5. Sinnbestimmung und Geltungssicherung (2000) . . . . . . . . . . . . 118

6. Die Wiedervereinigung von theoretischer und praktischerRationalität in einer dialogischen Philosophie (2002) . . . . . . . . 142

7. Das Vorgefundene und das Hervorgebrachte (2008) . . . . . . . . . 159

Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Page 6: Dialogischer Konstr uktivismus
Page 7: Dialogischer Konstr uktivismus

Einleitung

Mit dieser Sammlung von Arbeiten aus den letzten zwanzig Jahrenmöchte ich die Entwicklung meiner Überlegungen zu einer Philoso-phie, die nach Methode und Gegenstand dialogisch sein will, nach-vollziehbar machen, gehört doch die im Mitdenken wirksame Prüfungeines Gedankengangs zum Kern dialogischen Philosophierens.

Im zeitlichen Nacheinander von immergleichen Bemühungen umein Verständnis von der Art des Zusammenhangs zwischen Ich und Du,der ständig ein Gegenüber von vertrautem Wir in einer als gemeinsamerfahrenen Welt und unvertrautem Ihr in einer unzugänglich bleiben-den Welt aus sich entläßt, spiegeln sich die ›Auseinandersetzungen‹ –eben das sind, ganz wörtlich, ›Dialoge‹ – mit Freunden und Kollegenebenso wie mit schriftlichen Zeugnissen zeitgenössischer und vergan-gener Autoren. Der so sichtbar werdende ›Dialog mit sich selbst‹ bedarfder Fortsetzung im ›Dialog mit anderen‹, soll dialogische Philosophie,wie ich sie hier im bisher vorliegenden Zusammenhang vorstelle, nichtvirtuell bleiben.

Dem aufmerksamen Leser wird dabei nicht verborgen bleiben, daßviele Schritte der hier niedergelegten Gedankengänge im Laufe der ZeitVeränderungen unterworfen wurden und sogar zu Änderungen derTerminologie führten, die bewußt nicht überall zu Gunsten einer›letzten Fassung‹ eliminiert worden sind. Erst im Weiterdenken wirdsich zeigen können, welche Schritte an welcher Stelle fruchtbareFortsetzungen erlauben und welche, zumindest vorläufig und vielleichtnur scheinbar, in eine Sackgasse führen.

Von besonderem Gewicht ist die in späteren Aufsätzen vorge-nommene Verlagerung der Termini ‘Teilhandlung’ und ‘Zeichen-handlung’ für jeweils die Phasen und Aspekte, wie sie im zweitenAufsatz Artikulation und Pr�dikation auftreten, auf jeweils die aus denPhasen und Aspekten entwickelten Vermittlungen und Artikulationen.Erst auf dieser differenzierteren Stufe nämlich werden die semiotischenFunktionen einer Handlung, als (praktisches) Zeigen (pars pro toto) inVermittlungen einerseits und als (theoretisches) Zeichen (aliquid, i. e.particulare, stat pro aliquo, i. e. universale) in Artikulationen anderer-seits, vom pragmatischen Charakter einer Handlung als Gegenstand

Page 8: Dialogischer Konstr uktivismus

ausdrücklich unterschieden. Für die mit den Phasen und Aspekten je-weils vorgenommene Binnengliederung und Außengliederung einerHandlung, nämlich um sie als einen Gegenstand überhaupt erst kon-stituieren zu können, trifft das noch nicht zu.

Von den sieben hier mit wenigen kleinen Korrekturen und Er-gänzungen zusammengestellten Aufsätzen, deren Bezug auf den je-weiligen Anlaß ihrer Entstehung um der besseren Verständlichkeitwillen nicht getilgt wurde, versucht der titelgebende erste den Beginneiner dialogischen Philosophie, wie er sich in der konstruktiven Phi-losophie und Wissenschaftstheorie der ›Erlanger Schule‹ herausgebildethat, vor allem am Beispiel des Unterschieds von Konstruieren undBeschreiben auseinanderzusetzen und dabei zugleich in einen größerenhistorischen Zusammenhang einzubetten.

Die dieses Unternehmen leitenden Gedankengänge, insbesondereund gerade im Rückgriff auf die Anfänge der Philosophie in der Antike,werden im sechsten Aufsatz Die Wiedervereinigung von theoretischer undpraktischer Rationalit�t in einer dialogischen Philosophie unter dem Ge-sichtspunkt der die philosophische Tradition und damit auch dasSelbstverständnis der westlichen Kultur weithin beherrschenden leid-vollen Trennung von theoretischer und praktischer Rationalität weiterausgeführt und im letzten Aufsatz Das Vorgefundene und das Hervorge-brachte wieder auf die besondere Geschichte der ›Erlanger Schule‹ be-zogen. In ihr spielen ein den Aufbau der Einzelwissenschaften leitendesmethodisches Prinzip und ein dialogisches Prinzip eine führende Rolle.Dieses ist unentbehrlich, will man begreifen, wie es überhaupt zuwissenschaftlicher Weltaneignung und zugleich auch zu künstlerischerWeltschöpfung kommen kann. Denn dazu bedarf es der Herausbildungdes Bewußtseins, als einzelner Mensch sowohl der Welt mitsamt denanderen Menschen gegenüberzustehen als auch ihr anzugehören unddieses Bewußtsein wiederum mit anderen zu teilen. Das aber istgleichbedeutend damit, Klarheit darüber zu gewinnen, was es heißt, daßGegenstände – Dinge oder Ereignisse, insbesondere Handlungen –Zeichenfunktionen übernehmen und so die Kluft zwischen Welt undSprache erzeugen, die sich mit Denken allein nicht mehr schließen läßt.Erst im Tun, im aneignenden Umgang mit Gegenständen, auchMenschen, gehören wir der Welt an, von der wir uns zugleich nur kraftSprache in einem ganz allgemeinen Sinn, nämlich dem Tun eine Zei-chenfunktion verleihend, distanzieren, ihr und den anderen Menschengegenüberstehen können. Es ist der dialogische Charakter des Handelnsselbst, in Ich-Rolle vollziehend und in Du-Rolle erlebend, der es er-

Dialogischer Konstruktivismus2

Page 9: Dialogischer Konstr uktivismus

laubt, die Dialektik von Aneignung und Distanzierung und damit dieDifferenz von Gegenstand und Zeichen und so auch einer Welt derNatur und einer Welt der Kultur begreifbar zu machen.

Eine befriedigende Klärung des Zusammenhangs von methodi-schem Prinzip und dialogischem Prinzip steht noch aus, muß dazu dochein bisher in der ›Erlanger Schule‹ vom methodischen Prinzip nochnicht deutlich unterschiedenes begriffliches Prinzip herausgestellt wer-den, das für das Verstehenkönnen insbesondere methodischer Schritteund ihrer Zusammenhänge maßgeblich ist. Einschlägig dafür sindmittlerweile vor allem die kritischen Diskussionen um den Inferentia-lismus von Robert Brandom (z.B. in: Articulating Reason. An Intro-duction to Inferentialism, Cambridge Mass. 2000, dt. Begründen undBegreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus, Frankfurt/Main2001) durch Friedrich Kambartel und Pirmin Stekeler-Weithofer (in:Sprachphilosophie. Probleme und Methoden, Stuttgart 2005).

Geht es beim methodischen Aufbau um lehr- und lernbares Kön-nen, ein ›knowing-how‹, so hat begriffliche Organisation allgemeinverfügbares Wissen, ein ›knowing-that‹, zum Ziel. Aber natürlich sindmethodisch aufgebautes Können und begrifflich organisiertes Wissennicht unabhängig voneinander, und zudem bedarf es noch eines wei-teren Schrittes, um über beides verfügen zu können. An dieser Stellesetzt wieder das dialogische Prinzip ein, indem die beiden Verfahren,das der Aneignung durch Einnahme der Ich-Rolle und das der Dis-tanzierung durch Einnahme der Du-Rolle, Können stabilisieren undWissen objektivieren. Durch Distanzierung erfährt Können eine Sta-bilisierung in einem sinnlich-symptomatischen Wissen – jemand weiß,was er kann und auch grundsätzlich jedermann in einem Lehr- undLernprozeß weiterzugeben vermag – , und durch Aneignung wirdWissen in Gestalt eines sprachlich-symbolischen Könnens objektiviert –jemand kann sagen und vermag auch grundsätzlich gegenüber jeder-mann in einem Argumentationsprozeß zu vertreten, was er weiß.

Die hierfür maßgebenden systematischen und historischen Zusam-menhänge werden im vierten Aufsatz Grammatik zwischen Psychologie undLogik näher ausgeführt. Sie sollten sich auch dazu eignen, das imsechsten Aufsatz auseinandergesetzte Verständnis dialogischer Philoso-phie als Zusammenführung des Pragmatismus von C.S. Peirce und desHistorismus von W. Dilthey noch deutlicher zu machen. Dann läßt sichauch besser begreifen, daß praktische Rationalität unter dem Primat desmethodischen Prinzips steht, während theoretische Rationalität vomPrimat des begrifflichen Prinzips lebt, beide Formen der Rationalität

Einleitung 3

Page 10: Dialogischer Konstr uktivismus

aber vom dialogischen Prinzip – hier hat das ›Vernunftprinzip‹ der›Erlanger Schule‹, verstanden als Aufforderung zur Überwindung dereigenen Subjektivität, seinen Ort – zusammengehalten werden und nurtheoretisch, im Denken, separierbar sind, nicht jedoch praktisch, imTun.

Wer sich über eine auch in technische Details gehende Darstellungder Verfahrensweise dialogischer Philosophie, wie ich sie verstehe,unterrichten will, ist eingeladen, sich nacheinander mit dem zweiten,dritten und fünften Aufsatz zu befassen, wobei die schon erwähnteälteste Darstellung im zweiten Aufsatz trotz ihrer thematisch erzwun-genen Konzentration auf Sprachzeichenhandlungen zugleich die aus-führlichste ist. Weiterführende Entwicklungen, konzentriert auf dieHandlungsebene, finden sich im dritten Aufsatz Rede zwischen Aktionund Kognition, während deren Konsequenzen vor allem für dieSprachhandlungsebene schließlich im fünften Aufsatz Sinnbestimmungund Geltungssicherung zu finden sind. Bestandteil dieser drei Aufsätze sindzudem eine Reihe von stammbaumartigen Schemata, deren diagram-matische Darstellung wichtiger Züge des Gedankengangs dessen reinverbale Darstellung ergänzen und damit das Verständnis erleichtern soll.Insbesondere lassen sich von diesen Abbildungen einige der im Laufeder Jahre vorgenommenen Veränderungen im Aufbau dialogischerPhilosophie besonders einprägsam ablesen.

Für die Hilfe beim Zustandekommen dieser Veröffentlichung habeich Vielen zu danken, ganz besonders aber meinen Freunden ProfessorDr. Jürgen Mittelstraß von der Universität Konstanz und Dr. BerndMichael Scherer vom ›Haus der Kulturen der Welt‹ in Berlin, ohnederen Engagement dieses Buch nie erschienen wäre. Mein Dank ge-bührt deshalb an dieser Stelle auch der Saarland-Sporttoto GmbH fürIhren großzügigen Druckkostenzuschuß, ohne den es gegenwärtigunmöglich gewesen wäre, diesen Band herauszubringen. Dem VerlagWalter De Gruyter schließlich bin ich zu Dank verpflichtet für dieBereitschaft, mit der bewährten verlegerischen Sorgfalt, für die seinName steht, die Herausgabe zu übernehmen.

Saarbrücken, im Sommer 2008 Kuno Lorenz

Dialogischer Konstruktivismus4

Page 11: Dialogischer Konstr uktivismus

Dialogischer Konstruktivismus

Unter den zahllosen Versuchen, den großen Umwälzungen auf allenGebieten – in den Wissenschaften und Künsten ebenso wie in Technikund Politik –, die an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert statt-fanden und deren Erbschaft bis heute noch nicht abgearbeitet ist, auchphilosophisch zu begegnen, hat die sprachkritische, von Ludwig Witt-genstein schließlich durchgesetzte, Weise zu philosophieren die nach-haltigste Wirkung gehabt. In diesem Verständnis ist Philosophie nichtselbst eine Wissenschaft mit einem eigenständigen Gegenstandsbereich,den sie, wie die übrigen Wissenschaften den ihren, erforscht und dar-stellt. Sie hat vielmehr als Bestandteil der Wissenschaften zu gelten,deren Aufbau sie sprachkritisch in der Weise noch einmal rekonstruiert,daß der Zusammenhang der Wissenschaften untereinander und ihrschrittweiser Aufbau aus einer gemeinsamen Welt des Alltags einsehbarwird. Philosophie ist weder eine ›Grundwissenschaft‹, eine Wissenschaftvom Seienden oder von den ersten Gründen oder den allgemeinstenGesetzen oder wie immer Philosophie einmal bestimmt war und danndas Schicksal erlitt, für unverbindliche oder gar unverständliche Spe-kulation gehalten zu werden. Sie ist aber auch keine ›Überwissenschaft‹,eine ihrerseits empirisch orientierte Wissenschaftswissenschaft, die an-dere Wissenschaften als ihren Gegenstand untersucht, könnte sie dochdann die Rekonstruktion wissenschaftlicher Tätigkeit nur noch inGestalt einer Beschreibung des status quo und damit unter Ausschlußihrer eigenen Verfahrensweise bewerkstelligen.

Erst wenn Wissenschaft auch noch weiß, was sie tut und warum siees tut, kehrt sie den zu ihr gehörigen philosophischen Aspekt heraus.Philosophie ist nur in der Tätigkeit des Nachdenkens darüber, was mansagt und tut und warum – in der Selbstreflexion –, und im Dieses-selbst-sagen-können wirklich. Weil aber ein solches Sagen-können das Dar-über-sich-verständigen-können einschließt – woran sollte sich dasSagen-können sonst bewähren –, ist Philosophie eine Einheit vonSelbstreflexion und Kommunikation. Damit ist zugleich deutlich, daßPhilosophie nicht nur als Bestandteil der Wissenschaften erscheint, auchden anderen menschlichen Handlungs- und Redeweisen, seien sie

Page 12: Dialogischer Konstr uktivismus

technisch, künstlerisch, politisch oder anders bestimmt, gliedert sichPhilosophie in Gestalt von Selbstreflexion und Kommunikation ein.

Sie verfährt selbst wissenschaftlich, insofern ihr die wissenschafts-theoretischen Werkzeuge, die für die sprachkritische Rekonstruktionder Einzelwissenschaften benötigt werden – und dazu gehört alles, wasdie von der Einzelwissenschaft verwendete Sprache und die von ihreingesetzten Untersuchungsmethoden bereitzustellen und zu beurteilenerlaubt –, in der Selbstreflexion stets sowohl Mittel wie Gegenstandsind. Aber darin erschöpft sich Philosophie nicht. In der Selbstreflexionkünstlerischen Handelns etwa tritt auch die Fertigkeit, darüber Ver-ständigungsprozesse in Gang zu setzen und damit die von den Künstenausgebildeten sinnlichen Zugangsweisen zu Gegenständen ihrerseitsvermitteln zu können, als eine philosophische Leistung auf. Der phi-losophische Aspekt politischer Tätigkeit wiederum – und natürlich darfer nicht mit wissenschaftstheoretischer Arbeit innerhalb einschlägigerEinzelwissenschaften, etwa der Politikwissenschaft oder der Rechts-und Staatswissenschaften verwechselt werden – ist mit dem Hervor-kehren von Konsensbildungs- und Entscheidungsprozessen in bezug aufZielvorstellungen, sowohl im Blick auf ihren Verlauf wie auf ihreBeurteilung, und zwar individuell und institutionell, aufs engste ver-knüpft.

Zunächst allerdings hat die um 1900 einsetzende, von BertrandRussell und George Edward Moore getragene sprachkritische Wendedie analytische Philosophie in einer Gestalt hervorgebracht, die dervollen Radikalität gegenüber leitenden Annahmen sowohl einzelwis-senschaftlicher Arbeit wie philosophischer Tradition noch entbehrt.Russell nämlich sah es als eine Hauptaufgabe an, eine für die exaktenWissenschaften – das sind primär Mathematik und Physik, er dachteaber, zum Beispiel, auch an die Psychologie – geeignete Wissen-schaftssprache aus der für unproblematisch gehaltenen Umgangssprachezu konstruieren, während Moore sich ganz auf die überlieferte Spracheder Philosophie konzentrierte und versuchte, den in ihr möglicherweiseverborgenen Sinn durch Reduktion auf die Umgangssprache freizule-gen.

Beiden Programmen, dem Konstruktionsprogramm Russells unddem Reduktionsprogramm Moores, liegen zwei Unterscheidungeninnerhalb der Gebrauchssprache, also der von den Wissenschaftlern undPhilosophen jeweils verwendeten natürlichen Sprache, zugrunde. Zumeinen nämlich wird der für die gegenseitige Verständigung unproble-matische Kern der Gebrauchssprache, die Umgangssprache, von der nur

Dialogischer Konstruktivismus6

Page 13: Dialogischer Konstr uktivismus

in schriftlichen Zeugnissen zugänglichen und der Interpretation be-dürftigen Sprache der philosophischen Tradition, der Bildungssprache,abgehoben, zum anderen wird diese selbe Umgangssprache der von denWissenschaften verwendeten Fachsprache gegenübergestellt. Für Bil-dungssprache und Wissenschaftssprache aber gibt es Verständigungs-probleme, die zunächst artikuliert und dann gelöst werden müssen.

Russell nun entledigt sich dieser Aufgabe, formuliert als Forderung,die ›logische Form sprachlicher Ausdrücke‹ zu bestimmen, durch dieKonstruktion einer wenigstens formal einwandfreien Wissenschafts-sprache, nämlich die nur das symbolische Schema einer Sprache bil-dende künstliche formale Sprache – eine ›Idealsprache‹ – der (zusammenmit Alfred North Whitehead verfaßten) Principia Mathematica. DieseIdealsprache wird in ihrem Aufbau allein dadurch gerechtfertigt, daß sieerstens widerspruchsfrei und zweitens ausreichend ist, alle bereits in-haltlich bewiesenen und damit als wahr geltenden Aussagen der fragli-chen Wissenschaft, also der Arithmetik und der Analysis im Falle derPrincipia Mathematica, nach expliziten Regeln rein syntaktisch abzuleiten.Ein solches Verfahren der Kalkülisierung einer wissenschaftlichenTheorie hat nun mit der Schwierigkeit zu kämpfen, daß einerseits be-reits vor der Aufstellung eines Kalküls eine zuverlässige inhaltlicheTheorie vorliegen muß, weil sonst nicht kontrolliert werden kann, obdie Kalkülisierung überhaupt angemessen ist, andererseits aber dieKalkülisierung gerade zu dem Zweck vorgenommen wird, eine präziseTheorie zur Verfügung zu haben, die an die Stelle einer nur vage in-tuitiv begründeten inhaltlichen Theorie treten kann. Dieser Schwie-rigkeit läßt sich ersichtlich nicht anders begegnen, als den ursprüngli-chen, mit dem Aufbau einer Wissenschaftssprache verbundenen An-spruch abzuschwächen und die in kalkülisierter Gestalt vorliegendeTheorie zu einer Beschreibung der faktisch in den Wissenschaften ge-übten inhaltlichen Begründungsverfahren zu machen, die sich zu derenRechtfertigung dann aber nicht mehr heranziehen läßt.

Aus dem Programm der der Konstruktion einer Wissenschafts-sprache ist aufgrund der Orientierung allein am Verfahren der Kalkü-lisierung, auch ›Formalisierung‹ genannt, unversehens eine bloße De-skription schon bestehenden Wissenschaftswissens mit den Mitteln einerIdealsprache geworden. Da sich dann aber auch das Russells Überle-gungen leitende Ziel, auf dem Weg über eine korrekte Sprache dasWesen der Welt (the nature of the world) sichtbar zu machen, nachdem neugewonnenen sprachkritischen Verfahren gar nicht mehr ein-wandfrei formulieren läßt – was soll es heißen, von einer ›Natur‹,

Dialogischer Konstruktivismus 7

Page 14: Dialogischer Konstr uktivismus

›Struktur‹ oder ›Form‹ der Welt zu reden unabhängig und neben denentsprechenden Eigenschaften der sprachlichen Darstellung –, ist imlogischen Empirismus Russells Konstruktionsprogramm konsequent ineine verselbständigte Untersuchung von Art und Leistung formalerSprachen umgebildet worden. Es kann höchstens ein vorläufiges, ge-brauchssprachlich repräsentiertes Wissen über die Welt mit dem in einerformalisierten Wissenschaftssprache aufgehobenen Wissenschaftswissenverglichen werden. Der metaphysische Rest in den KonstruktionenRussells wird dadurch eliminiert, daß man darauf verzichtet, der Ide-alsprache Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der nichtsprachlichenWirklichkeit abzuverlangen, und statt dessen fordert, daß die Ideal-sprache in ihrer Struktur, der logischen Form, mit der Struktur derUmgangssprache übereinstimmt. Aus dem Gegenüber von Sprache undWelt ist ein Gegenüber zweier Sprachen geworden.

In der folgerichtigen Fortsetzung, wie sie im logischen Empirismusdurch Rudolf Carnap Profil gewann, geht es nunmehr darum, dennichtempirischen Teil der Wissenschaftstheorie als Theorie der Wis-senschaftssprache zu entwickeln. Philosophie wird zur ›Wissenschafts-logik‹. Denn erst dann, wenn philosophische Aussagen konsequent aufdie logische Syntax der Gebrauchssprache, also die grammatische Syntaxder ursprünglich von Russell entworfenen Idealsprache beschränktwerden, läßt sich die grundsätzlich nicht verifizierbare philosophischeRede über das Verhältnis von Sprache und Welt als angeblicher Leit-faden für die Konstruktion der Idealsprache vermeiden. Jede Mög-lichkeit einer Rechtfertigung der Regeln dieser Idealsprache ist damitvertan. Was bleibt, ist lediglich ein Verfahren der, wie Carnap es nennt,›rationalen Nachkonstruktion‹,1 nämlich des in der realistischen Ge-brauchssprache der Einzelwissenschaften dargestellten Wissens mithilfeeiner formalen Sprache. Die sprachkritische Rekonstruktion einerEinzelwissenschaft als philosophische Aufgabe wird auf die Konstruk-tion einer geeigneten Metasprache beschränkt und erscheint damit alsein Fall allein von ›knowledge by description‹ in der AusdrucksweiseRussells.2

Für die Behandlung der von der Bildungssprache gestellten Ver-ständigungsprobleme hat Moore einen anderen Weg als Russell ein-geschlagen, allerdings endet er an einer sehr ähnlich zu charakterisie-renden Stelle. Moore hat von Anfang an die Bestimmung der logischen

1 Carnap 1961, S. IX.2 Vgl. dazu etwa Russell 1912.

Dialogischer Konstruktivismus8

Page 15: Dialogischer Konstr uktivismus

Form sprachlicher Ausdrücke im Unterschied zu ihrer grammatischenForm nicht an den Aufbau einer formalen Sprache gebunden, die dieselogische Form als grammatische Form zeigt. Vielmehr erlauben bereitsdie grammatischen Umformungen innerhalb der Gebrauchssprache allerelevanten logischen Unterschiede bei grammatisch gleichartigen Er-scheinungen zum Ausdruck zu bringen. Zum Beispiel erlaubt dieAussage ›Einhörner sind unwirklich‹ im Unterschied zur Aussage›Löwen sind Säugetiere‹ die synonyme Umformung ›es gibt keineEinhörner‹, womit der grundsätzlich von normalen Begriffswörternverschiedene Status des Wortes ‘unwirklich’ nachgewiesen ist. Es bedarfalso keineswegs erst einer Idealsprache, um die logische Form sprach-licher Ausdrücke zu bestimmen, vielmehr genügt dazu bereits dieKenntnis der Umgangssprache. Worauf es bei der logischen Analysenach Moore ankommt, ist, für den zu analysierenden Ausdruck, dernormalerweise einen bildungssprachlichen, der philosophischen Tradi-tion zugehörenden Teil enthält, zum Beispiel das Wort ‘unwirklich’,eine umgangssprachliche Fassung vorzuschlagen und dann zu prüfen, obdiese Fassung dem Alltagswissen oder ›common sense‹ entspricht.Moores philosophische Arbeit galt daher der möglichst sorgfältigenAufdeckung der in der Umgangssprache inkraft befindlichen inhaltli-chen Bestimmungen, und nicht, wie bei Russell, der Angabe des for-malen Rahmens einer für wissenschaftliche Zwecke geeigneten Spra-che.

Die inhaltlichen Bestimmungen der Umgangssprache, die es auf-zusuchen gilt und die durch den alltäglichen Gebrauch der jeweiligenAusdrücke gegeben sind, bedürfen nach Moore auch keiner eigenenRechtfertigung. In ihnen stellt sich nämlich das Alltagswissen dar, dasjeder, der hier weiterfragen wollte, ohnehin bereits in Anspruch neh-men müßte. Für Moore wie für Russell ist es daher richtig zu sagen, daßeinerseits das bestehende Alltagswissen und andererseits das bestehendeWissenschaftswissen durch eine sprachphilosophische Reflexion nichtmehr hintergangen werden und nach ihrem eigenen Verständnis auchnicht mehr hintergangen werden können. Die in beiden Fällen leitendePrämisse, nämlich die eindeutig bestimmte Welt der überlieferten Na-turphilosophie (natural philosophy) und der überlieferten Moralphilo-sophie (moral philosophy) sprachlich treu darzustellen, bleibt unausge-sprochen und kann daher auch nicht kritisch geprüft werden. Es bleibtbei einem realistisch verkürzten Ideal möglichst vollständiger Be-schreibung der einen, als eindeutig bestimmt geltenden Welt.

Dialogischer Konstruktivismus 9

Page 16: Dialogischer Konstr uktivismus

In ganz ähnlicher Konsequenz hat daraufhin der linguistische Phä-nomenalismus, auch ›ordinary language philosophy‹ genannt, die phi-losophische Aufgabe auf eine selbständig gewordene Untersuchungnatürlicher Sprachen eingeschränkt. Diese Untersuchungen dienennicht mehr bloß dazu, die philosophische Tradition auf der Basis einesvon jedem anzuerkennenden Alltagswissens verständlich zu machen.Auch hier war der Einfluß Wittgensteins, nicht durch seinen Tractatuslogico-philosophicus, wie für den logischen Empirismus, sondern durch dieVorstudien zu den erst aus dem Nachlaß herausgegebenen Philosophi-schen Untersuchungen entscheidend. Hatte Wittgenstein doch im Ge-genzug zu Russell und Moore im Lauf der dreißiger Jahre eine neueForm der sprachanalytischen Methode zu entwickeln versucht, diedurch den Rückgang auf die Praxis menschlichen Lebens, die „ge-meinsame menschliche Handlungsweise“,3 wie es bei ihm heißt, jeneSicherheit vermitteln soll, die der bloß theoretische Ansatz auf demWege einer Konstruktion formaler Sprachen nicht zu liefern vermag.Die logische Form sprachlicher Ausdrücke kann im Unterschied zuihrer grammatischen Form nur durch Rückgang auf ihren Gebrauch inder Lebenspraxis aufgefunden werden. So heißt etwa eine Aussageverstehen bei Gilbert Ryle, wissen, unter welchen Bedingungen sieverwendet werden kann, heißt, mit ihr umgehen, heißt, um sie argu-mentieren können.4 Die philosophische Aufgabe kann sich nicht miteiner bloßen Übersetzung fragwürdiger Aussagen der Tradition inscheinbar unverfängliche umgangssprachliche Ausdrucksweisen begnü-gen, wie es die ihrer Rede von Bedeutungen sichere Sprachanalyse nachdem Vorbild Moores noch unbedenklich tun konnte, war doch derenVertrauen in das den ›common sense‹ repräsentierende Alltagswissennoch nicht erschüttert. Im linguistischen Phänomenalismus weiß man,daß Irreführungen in allen Teilen der Gebrauchssprache, auch in derUmgangssprache, auftreten können; sie zu beheben erfordert die Ein-übung in die Kunst der Argumentation, ein per definitionem um-gangssprachlicher oder auch fachsprachlicher Gebrauch. Bildungs-sprachlicher Gebrauch entsteht zusammen mit den philosophischenProblemen der Tradition erst, „wenn die Sprache feiert“,5 dem Kontextder Lebenspraxis also entzogen wird. Natürlich dürfen dann zum Bei-spiel die üblichen philosophischen Debatten, auch viele der Gegenwart,

3 PU, § 206.4 Vgl. Ryle 1971.5 PU, § 38.

Dialogischer Konstruktivismus10

Page 17: Dialogischer Konstr uktivismus

nicht als die gesuchte Kunst der Argumentation zugelassen werden. Derganze infrage stehende Unterschied zwischen Umgangs- und Bil-dungssprache würde aufgehoben: der gewöhnliche Sprachgebrauch(ordinary use) muß vor philosophischem Sprachgebrauch (philosopher’sjargon) auf irgendeine Weise ausgezeichnet werden. Das aber geschiehtjetzt durch den empirisch feststellbaren Sprachgebrauch (ordinary usage)in einer natürlichen Sprache.

Aus der logischen Analyse der Gebrauchssprache wird unversehensdoch wieder eine grammatische Analyse ihres Kernbereichs, eben derfaktisch verwendeten Umgangssprache. Die Zuverlässigkeit der Um-gangssprache läßt sich ohne methodischen Zirkel nicht mehr in Zweifelziehen, und deshalb verdient die Struktur der Umgangssprache diebesondere Aufmerksamkeit auch des Philosophen, allerdings ohne daßer für die Prinzipien seiner Beschreibung noch eigenständig begründeteHilfsmittel mitbringen könnte.

In dieser Situation kann der Ansatz der konstruktiven Philosophieund Wissenschaftstheorie, wie er von Wilhelm Kamlah und Paul Lo-renzen begonnen und in der von Jürgen Mittelstraß herausgegebenenEnzyklop�die Philosophie und Wissenschaftstheorie in seiner bisherigenArbeit dokumentiert ist, als ein Versuch verstanden werden, die in deranalytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie vernachlässigte Rolledes Russellschen ›knowledge by acquaintance‹ wieder in das ihm ge-bührende Licht zu setzen. Historisch allerdings ist dieser systematischeZusammenhang erst in jüngster Zeit beachtet worden, bedurfte es dazudoch einer Befreiung des ›knowledge by acquaintance‹ aus dem beiRussell vorherrschenden sensualistischen Kontext einer durch ›gege-bene Sinnesdaten‹ hervorgerufenen sprachunabhängigen Evidenz. Siewar zwar der konsequent weitergeführten Sprachkritik im logischenEmpirismus bereits zum Opfer gefallen, dabei aber gleich derart, daßwegen der an die Stelle der Lehre von der sinnlichen Basis gerücktenTheorie der Protokollsätze auch das ›knowledge by acquaintance‹ selberals ein eigenständiges Wissen neben dem ›knowledge by description‹nicht mehr bemerkt werden konnte. Selbst wenn die von Wittgensteinin seinem Tractatus benützte Unterscheidung zwischen dem, was sichsagen, und dem, was sich nur zeigen läßt, als ein erster Schritt zu einemadäquaten Verständnis dieser beiden Weisen von Wissen aufgefaßtworden wäre – Carnap hat im logischen Empirismus gegen Wittgen-steins erklärte Überzeugung die Behauptung durchgesetzt, daß das, wassich zeigen lasse, metasprachlich wiederum gesagt werden könne –, sohätten sich – Carnaps Fehldeutung Vorschub leistend – die internen

Dialogischer Konstruktivismus 11

Page 18: Dialogischer Konstr uktivismus

Beziehungen zwischen Sprache und Welt, die sich an Sätzen zeigenlassen, im Unterschied zu den externen Beziehungen, die sich mitSätzen sagen lassen, auf Übereinstimmungen allein der Form oderStruktur von Sprache und Welt beschränkt. Materielle Teilhabe,Sprechen selbst auch als einen Bestandteil der Gegenstände aufzufassen,von denen gesprochen wird, gehört noch nicht zu den Einsichten desTractatus. Und übrigens auch noch nicht zu den Einsichten im WerkMoritz Schlicks, obwohl dessen Unterscheidung zwischen Erleben undErkennen durchaus das Verständnis von der Existenz zweier durchZwischenstufen miteinander verbundener Weisen von Wissen, einemauf die Sprechsituation bezogenen Wissen um etwas, oder Objektkom-petenz, und einem von der Sprechsituation unabhängigen Wissen �beretwas, oder Metakompetenz, hätte vorbereiten können.6

Erst mit der von Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungenvollzogenen pragmatischen Wende, die zu einem neuen Verständnisauch des philosophischen Pragmatismus bei Ch. S. Peirce geführt hat,7

wurde es möglich, im Bereich der Handlungen eine für Sprache undWelt gemeinsame Basis zu sehen. Die Sprachebene ist nicht mehrselbstverständlich die Metaebene gegenüber der Ebene der Gegenstän-de, vielmehr ist an ihr durchgehend ein symptomatischer, also ›gegen-ständlicher‹, und ein symbolischer, also ›repräsentierender‹, Zug be-stimmbar, nämlich je nachdem, ob Sprache gegenstandskonstituierend,zur Objektkompetenz gehörig, oder gegenstandsbeschreibend, zurMetakompetenz gehörig, eingesetzt wird.

Natürlich treten dieselben Verhältnisse auch im Zusammenhangvon Objekt- und Metasprache auf und haben dort zu der historischersten Auseinandersetzung zwischen konstruktiver und analytischerWissenschaftstheorie geführt, nämlich angesichts der Frage, ob eineTheorie von Kalkülen operativ oder axiomatisch auszusehen habe. ImFalle des arithmetischen Kalküls

Ko: => jn => nj

etwa lassen sich unter den Aussagen über den Kalkül – es handelt sichdabei grundsätzlich um Ableitbarkeitsaussagen einschließlich ihrer lo-gischen Zusammensetzungen, z.B. ‘jjj’ ist ableitbar in Ko, symbolisiert :

6 Vgl. Schlick 1979.7 Vgl. Scherer 1984.

Dialogischer Konstruktivismus12

Page 19: Dialogischer Konstr uktivismus

‘Ko jjj, als arithmetische Elementaraussage gelesen: jjj e natürliche Zahl– einige wahre Aussagen als Axiome oder ›erste Sätze‹ in der Weiseauszeichnen, daß sich alle übrigen wahren Aussagen durch logischesSchließen gewinnen lassen. Man kann daher Aussagen über den Kalkülentweder ›umweglos‹ beweisen, durch Vorführen der behauptetenAbleitbarkeiten, oder ›mit Umweg‹, indem sie als logische Folgerungenaus den Axiomen gewonnen werden. Es bedarf zusätzlich nur nocheiner operativen Deutung auch der logischen Verknüpfungen, etwa so,wie sie Lorenzen in seiner Einf�hrung in die operative Logik und Mathe-matik vorgeschlagen hat.

Im axiomatischen Fall werden die konstanten arithmetischen Termemithilfe eines Operationszeichens ‘’’ für die Nachfolgeroperation, aus-gehend vom konstanten Term ‘0’, gebildet: 0, 0’, 0’’ 0’’’, ….. . Die sogebildeten Zeichen gehören sämtlich der Ebene der Sprache �ber diearithmetischen Gegenstände an, also ›0’ e natürliche Zahl‹ und nicht›‘0’ e natürliche Zahl‹ ist eine korrekt gebildete arithmetische Elemen-taraussage. Im operativen Fall hingegen werden die konstanten arith-metischen Terme unmittelbar durch Aneinanderfügen des Grundzei-chens ‘j’ gebildet: j, jj, jjj, jjjj, ……

Die Nachfolgeroperation wird nicht bezeichnet sondern ausgeführt,ein eigenes Operationszeichen ist überflüssig. Allerdings bleibt es nichtbei bloßer Ausführung, in Gestalt der Regel ‘n => nj’ tritt zugleichauch noch eine Notation der Ausführung auf, es handelt sich also umeine Vorf�hrung der Nachfolgeroperation. Mit der Vorführung wirdsowohl der Handlungsaspekt als auch der Sprachaspekt dieser Operationaktualisiert : es wird Objektkompetenz ausgedrückt. Der Term ‘nj’, derdeshalb, als Bestandteil der Regel, zur Sprache �ber die Konstantengehört – und das sind in diesem Fall selbst die arithmetischen Gegen-stände und nicht bloß ihre Namen, wenn man von dem Abstraktions-schritt, der das Grundzeichen ‘j’ durch ein beliebiges anderes Grund-zeichen zu ersetzen erlaubt, der Einfachheit halber einmal absieht –, istauch Bestandteil der Ebene der arithmetischen Gegenstände: In derTermbildung ‘nj’ wird Sprache auch gegenstandskonstituierend, in derTermbildung ‘n’’ hingegen nur gegenstandsbeschreibend eingesetzt. Indiesem besonderen Fall von Gegenstandsbeschreibung allerdings wirdauf der Ebene der Namen von genau demjenigen gegenstandskonstitu-ierenden Verfahren Gebrauch gemacht – Strichfolgenbilden –, das diebeschriebenen Gegenstände zu charakterisieren erlaubt. Augenfälligertritt die ›abstrakte‹, d.i. gegenstandsbeschreibende, und ›konkrete‹, d.i.gegenstandskonstituierende, Termbildung etwa im Fall der Additions-

Dialogischer Konstruktivismus 13

Page 20: Dialogischer Konstr uktivismus

terme auseinander: Wieder ist die Regel ‘n, m => nm’ zugleich eineNotation der Ausführung der Operation der Addition von zweiStrichfolgen, also der Term ‘nm’ eine Vorführung der Additionsope-ration, hingegen ‘n+m’ lediglich eine Beschreibung, deren Berechti-gung, nämlich daß genau ein so beschriebener Gegenstand, das Resultatder Addition ›n+m‹, auch existiert, hier sogar eigener theoretischerÜberlegungen bedarf.

Die operative Theorie tritt auf als System von Aussagen zur Kon-struierbarkeit konkreter Modelle für die von der axiomatischen Theorielediglich durch Beschreibungsmittel unterstellten Gegenstände mitihren Eigenschaften und Beziehungen. Noch deutlicher, und dabeizugleich der historischen Entwicklung im Zusammenhang der Bemü-hungen um die Widerspruchsfreiheit der (axiomatisierten) Arithmetikund Analysis näher, läßt sich der Unterschied zwischen konstruktiverund analytischer Wissenschaftstheorie in bezug auf Kalküle auf folgendeWeise charakterisieren: Die in der analytischen Wissenschaftstheoriemetasprachlichen Konstruktionen, nämlich bei der Untersuchung vonAxiomensystemen, werden von der konstruktiven Wissenschaftstheorieobjektsprachlich verstanden, und das heißt als vorgef�hrte Konstruktionenmit Figuren, die anschließend natürlich auch noch beschrieben werdenkönnen. An die Stelle syntaktischer Untersuchungen einer interpre-tierten oder interpretationsbedürftigen, also mit einer Semantik zuversehenden (axiomatischen) Theorie tritt eine inhaltliche, nicht selbstschon axiomatisierte Theorie syntaktischer Konstruktionen.8

Dieser Schritt hatte mindestens zwei wichtige Folgen. Die ersteKonsequenz war, daß die Beschreibungsmittel, also insbesondere dieprädikativen Ausdrücke, wieder ausdrücklich an die Verfahren gebun-den werden, die zur Konstitution der zu beschreibenden Gegenstände/Gegenstandsbereiche dienen, ähnlich wie in der Frühphase der analy-tischen Philosophie bei Bertrand Russell das ›knowledge by description‹an das ›knowledge by acquaintance‹ anschloß, auch wenn bei Russell,wie bereits erwähnt, die in das ›knowledge by acquaintance‹ einge-henden sprachlichen Hilfsmittel – ihr Einsatz zur Gegenstandskonsti-tution, nicht zur Beschreibung – noch keine Beachtung fanden. Das istauch der Grund, warum hier von ›Objektkompetenz‹ und ›Metakom-petenz‹ statt von ›knowledge by acquaintance‹ und ›knowledge by de-scription‹ gesprochen wird. Es könnte sonst erneut suggeriert werden,

8 Zur Verwandtschaft mit der Philosophie und Wissenschaftstheorie Gonsethsvgl. Heinzmann 1982.

Dialogischer Konstruktivismus14

Page 21: Dialogischer Konstr uktivismus

die zum ›knowledge by acquaintance‹ führende Tätigkeit enthalte aus-schließlich Wahrnehmungshandlungen, insbesondere also keineSprachhandlungen, und weiter, daß sich ›knowledge by description‹allein auf der Ebene der sprachlichen Repräsentation sichern lasse, ohneden Prozeß, der zu den Repräsentationen führt, miteinzubeziehen.

Festhalten aber läßt sich, daß der Reduktionsschritt Russells, näm-lich der seine logischen Konstruktionen ursprünglich leitende Gedankenach vollständiger Eliminierbarkeit sowohl der Mengenterme ÆxA(x)(gelesen: Die Menge der Gegenstände, die die Aussageform A(x) er-füllen) wie der Kennzeichnungsterme ixA(x) (gelesen: derjenige Ge-genstand, der die Aussageform A(x) erfüllt) durch geeignete Bedin-gungen an die beteiligten Aussageformen A(x), von der konstruktivenWissenschaftstheorie voll übernommen worden ist. Es kommt nunmehrdarauf an, über die Verfahren zur Gewinnung von Aussageformen, undzwar in Abhängigkeit von den Verfahren, mit denen die Gegen-standsbereiche, über denen sie erklärt sind, zur Verfügung gestelltwerden, Klarheit zu gewinnen.

Für die auf dem arithmetischen Kalkül als primärer Praxis aufge-bauten Disziplinen Arithmetik und Analysis liegt seit längerem einausgearbeiteter Vorschlag vor,9 dessen Durchführung an die Befolgunginsbesondere des methodischen Prinzips gebunden ist: Jeder Verfahrens-schritt geht aus und bedient sich ausschließlich solcher Unterschei-dungen, die als Resultate früherer Schritte gewonnen wurden, wobeisolche Elementarsituationen lebensweltlicher Erfahrung – im Fall derArithmetik die Zählpraxis – den Ausgangspunkt bilden, die gemeinsa-mer unmittelbarer Vergewisserung zugänglich sind. Damit soll erreichtwerden, daß jede Aussage über eine Konstruktion und ihre Ergebnissedurch umgekehrtes Durchlaufen des Konstruktionsverfahrens zirkelfreibegründbar wird.

In dieser Zuspitzung bei der Beschreibung des Programms derkonstruktiven Philosophie und Wissenschaftstheorie wird nun einweiteres Problem sichtbar, das mit dem methodischen Prinzip alleinnicht gelöst werden kann: Wie lassen sich Konstruktionen vorführen,wenn sie nicht mit Schreibmarken vorgenommen werden, also wenndie am Anfang stehenden Elementarsituationen lebensweltlicher Er-fahrung nicht, wie die Zählpraxis, als Kalkülregeln notierbar sind. Hinzukommt, daß auch die logischen Verknüpfungen von Aussagen, sindAussagen dann doch nicht mehr auf Ableitbarkeitsaussagen in Kalkülen

9 Vgl. Lorenzen 1965.

Dialogischer Konstruktivismus 15

Page 22: Dialogischer Konstr uktivismus

zurückfuhrbar, nicht mehr mit den Mitteln der operativen Logik erklärtwerden können.

Erst der weitere Schritt, und das war die zweite Konsequenz, derdarin bestand, ein die Anwendbarkeit des methodischen Prinzips re-gierendes dialogisches Prinzip herauszuarbeiten, hat diese Probleme lösbargemacht: Jede nach dem methodischen Prinzip gewonnene Unter-scheidung ist nur dadurch gemeinsam verfügbar, daß sie in einer dia-logischen Elementarsituation des Lehrens und Lernens, einer Lehr- undLernsituation, von beiden Handlungspartnern erworben wird. Ange-wandt auf die anfänglichen Elementarsituationen lebensweltlicher Er-fahrung, die gemeinsamer unmittelbarer Vergewisserung zugänglichsein sollten, wird die unmittelbare Vergewisserung in einen Prozeß derVermittlung verwandelt und erst damit in einer Praxis, und zwar ineiner kommunikativen Praxis, verankert.

So wird es möglich, den zunächst auch von der konstruktivenPhilosophie wie schon von der analytischen Philosophie RussellscherPrägung geteilten Glauben an die eine, grundsätzlich gemeinsam zu-gängliche Welt, die es begründet darzustellen gilt – meist als Appell andie einheitliche, kein theoriebetreibendes Subjekt auszeichnende Ver-nunft formuliert –, als ›metaphysischen Rest‹ aufzugeben, ohne dabeizugleich den Schritt des logischen Empirismus im Sinne Carnaps zu tun,nämlich eine sprachkritische Behandlung des Zusammenhangs zwischenProzessen der Gegenstandsbeschreibung und Prozessen der Gegen-standskonstitution für undurchführbar zu halten. Vielmehr werden inAnknüpfung an und in Weiterbildung von Wittgensteins Sprachspiel-verfahren – Sprachspiele sind eigens entworfene Muster und damit›Maßstäbe‹ menschlicher Sprachverwendung in Handlungszusammen-hängen10 – Lehr- und Lernsituationen als methodisches Hilfsmitteleingesetzt, Sprachverwendungshandlungen durch Spracheinführungs-handlungen zu rekonstruieren.

Dabei ist entscheidend, daß an Sprache der gegenständliche Zug –ihr Handlungscharakter – und an Handlungen der repräsentierende Zug– ihr Sprachcharakter – beachtet wird, soll der Zusammenhang vonGegenstandskonstitution und Gegenstandsbeschreibung, von Objekt-kompetenz und Metakompetenz, nicht nur postuliert, sondern seiner-seits sprachlich artikulierbar werden.

Die scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen Sprache und Welt –das Erbe der neuzeitlichen Philosophie –, von der in der analytischen

10 Vgl. insbes. PU, §§ 10–23, 130–135.

Dialogischer Konstruktivismus16

Page 23: Dialogischer Konstr uktivismus

Philosophie fast durchweg (zu den wichtigen Ausnahmen zählt nebenWittgenstein auch Schlick) behauptet wird, daß sie sich sprachkritischnicht rekonstruieren lasse und insofern gar nicht existiere, wird durchdie zugleich pragmatische und dialogische Verankerung des Philoso-phierens im dialogischen Konstruktivismus überwindbar: Symbolisierenvon Welt – Handlungen ›bezeichnen‹ die Gegenstände, mit denenhandelnd umgegangen wird – und Naturalisieren von Sprache –Sprachhandlungen sind ›Bestandteile‹ der Gegenstände, von denen ge-redet wird – machen Wittgensteins Einsicht, daß der Bereich derHandlungen gemeinsame Basis für Sprache und Welt ist, ihrerseits ar-tikulierbar.

Mit einer Lehr- und Lernsituation nämlich kann das Auseinander-treten von Handeln und Sprechen so vorgeführt werden, daß dermenschliche Handlungsspielraum zunehmend differenzierter bestimmt,insbesondere die Ausgliederung der Subjekte und der Objekte aus demHandlungsganzen jeweils selbst als Prozeß begriffen werden kann. DieHandlungssubjekte werden dabei in den voneinander abhängigen Pro-zessen der Individuation und der Sozialisation ausgebildet; man zählt diedifferenzierteren unter den daran beteiligten Handlungen zur Praxis derKünste. Entsprechend voneinander abhängige Prozesse zunehmenddifferenzierterer Feststellung von Identität und Verschiedenheit – jen-seits von Handlungen der Alltagspraxis gehören die hier auftretendenHandlungen zu den Wissenschaften – führen zur Bestimmung derHandlungsobjekte.

Zu Beginn jedoch ist die dialogische Elementarsituation der Lehr-und Lernprozeß (processus d’apprentissage) einer Handlung – der zu-nächst fehlenden Differenzierungen des Handlungsganzen wegen besser›Prähandlung‹ genannt – durch Vor- und Nachmachen, also durchRepetition und Imitation. Dabei markieren die beiden beteiligtenPersonen zwei unterscheidbare Gesichtspunkte – und das ist bereits dieerste, aber hier auch einzige Subjektdifferenzierung – gegenüber der alsfortsetzbare Folge von Aktualisierungen (singulare ›tokens‹) einesSchemas (universaler ›type‹) auftretenden Prähandlung: Ausf�hrung oderVollzug auf der Seite des gerade Tätigen, und Anf�hrung oder Erkennenauf der Seite des gerade ›nichttätigen‹ Gegenübers. Die Ausführung istdabei nichts anderes als der singulare Aspekt, die Anführung hingegender universale Aspekt der Prähandlung.

Sollte der Ausführende auch die Rolle des Gegenübers überneh-men, Anführen das ›Ziel der Ausführung‹ sein (umgangssprachlich: je-manden wissen machen, um welche Handlung es sich handelt), so

Dialogischer Konstruktivismus 17

Page 24: Dialogischer Konstr uktivismus

sprechen wir von Vorf�hren: die Handlung ist auch eine Zeichenhand-lung, tritt also sowohl gegenständlich wie repräsentierend auf.

Wird in einem neuen Schritt die Anführung ausdrücklich als Aus-führung einer anderen Prähandlung verstanden, nämlich einer gegen-über der ursprünglichen Handlung als Zeichenhandlung auftretendenWahrnehmungshandlung, einer ›Wahrnehmungsperspektive‹ – dazubedarf es einer eigenen Lehr- und Lernsituation –, so läßt sich dieunabhängig von immer wieder neu aufgesuchten Lehr- und Lernsi-tuationen bestehende Einheit einer Prähandlung, die Prähandlung alsPräobjekt(-Schema), als Invariante ihrer Wahrnehmungsperspektiven,in Fregescher Terminologie: ihrer ›Gegebenheitsweisen‹, begreifen.Von ›Präobjekt‹ und nicht von ›Objekt‹ sprechen wir an dieser Stelledeshalb, weil noch keine Gliederung des Schemas in unterscheidbareEinheiten, die Individuen, vorliegt. In einer Lehr- und Lernsituationhöherer Ordnung schließlich, einer ›Prädikation‹, kann ein Artikulatorals symbolische Repräsentation eines Präobjekts eingeführt werden.Dabei ist ein Artikulator die (phonische oder graphische) Marke einerals selbständige Sprachhandlung auftretenden ursprünglichen Wahr-nehmungsperspektive, die zunächst, als Teil des Präobjekts, nur derenSymptom gewesen ist.

So ergibt sich in Verallgemeinerung der oben erläuterten Verhält-nisse beim arithmetischen Kalkül, daß ein Artikulator in seiner sym-ptomatischen Rolle gegenstandskonstituierend, in seiner symbolischenRolle hingegen gegenstandsbeschreibend auftritt.

Unter Beachtung beider Prinzipien, des methodischen wie desdialogischen, können im dialogischen Konstruktivismus sowohl dieGegenstandsgemeinschaft, die Teilhabe an einer in einem Kernbereichgemeinsamen Welt – und das schließt die Verfügung über gemeinsameMittel der Repräsentation ein –, als auch die Sprachgemeinschaft, dieVerfügung über einen Kern gemeinsamer Verständigungsmittel – undhier müssen zugleich gewöhnliche Handlungen gemeinsam beherrschtwerden –, also sowohl Objektkompetenz wie Metakompetenz, kritischrekonstruiert werden.

Das bedeutet, worauf wir mit Beispielen aufmerksam gemachthaben, daß man faktisch als beherrscht wie als gestört erfahrene Fer-tigkeiten, zunächst im Alltag, dann auch in dessen Fortsetzung in denWissenschaften und in den Künsten rekonstruiert, und zwar durch dieKonstruktion von Sprachspielmodellen wachsender Komplexität mitdem Ziel, sowohl ein Verstehen des Selbsterzeugten als auch eine Er-klärung des Widerfahrenen zu erreichen.

Dialogischer Konstruktivismus18

Page 25: Dialogischer Konstr uktivismus

Historisch allerdings ist das dialogische Prinzip zuerst nur in einemsehr eingeschränkten Bereich, dem der formalen Logik, eingesetztworden und hat dort bei dem Versuch, die Beschränkungen der ope-rativen Logik zu überwinden, zur Entwicklung der dialogischen Logikgeführt: An die Stelle des von der analytischen Philosophie grundsätz-lich bevorzugten semantischen Wahrheitsbegriffs zur Charakterisierungsprachlicher Gebilde als Aussagen – mit seiner Hilfe ist eine befriedi-gende Behandlung des Zusammenhangs von Gegenstandskonstitutionund Gegenstandsbeschreibung der strikten Trennung von Objekt- undMetasprache wegen ausgeschlossen – ist in der konstruktiven Philoso-phie ein pragmatischer Wahrheitsbegriff getreten, expliziert als Ge-winnbarkeit in einem für jede logisch zusammengesetzte Aussage er-klärten Dialogspiel, dessen Regeln als Argumentationsregeln relativ zumBereich der logisch einfachen Primaussagen gelten sollten.11

Der anfangs vernachlässigte Unterschied zwischen den Regeln inihrer Funktion für eine einzelne Partie und den Regeln in ihrerFunktion für die Existenz von Strategien hat dazu geführt, die Spiel-regeln weitgehend nur in ihrer die Geltung von Aussagen festlegendenRolle zu betrachten. Die Spielregeln als Argumentationsregeln wurdenals Sprachspielmodell für die Begr�ndung von Aussagen verstanden undso der Anschluß an die platonische Charakterisierung des philosophi-schen Miteinanderredens als eines argumentierenden Gesprächs herge-stellt ; die Suche nach einem selbständigen pragmatisch-dialogischenFundament schon der Bedeutung logisch zusammengesetzter Aussagen,auf das sich die Argumentation zu stützen hätte, unterblieb.

Erst der weitere, in der konstruktiven Philosophie und Wissen-schaftstheorie bislang umstrittene Schritt,12 die Spielregeln ausschließlichals Bedeutungsregeln aufzufassen, und das heißt, den jeder Aussagekanonisch zugeordneten Artikulator13 im Falle logisch zusammenge-setzter Aussagen als Repräsentation eines durch die Spielregeln festge-legten Interaktionsschemas zu lesen, macht es möglich, die Argumen-tation um die Geltung einer Aussage, also die Existenz einer Gewinn-strategie, auf das die Bedeutung der Aussage festlegende, in Partienaktualisierte Dialogspiel zu beziehen.

11 Eine Übersicht findet sich in Lorenzen/Lorenz 1978.12 Vgl. etwa die Dokumentation Gethmann 1982.13 Durch den Stern-Operator in Reichenbach 1947, §48; z.B. gehört zur Aussage

›Sam raucht‹ der Artikulator ›Rauchen von Sam‹.

Dialogischer Konstruktivismus 19

Page 26: Dialogischer Konstr uktivismus

Nur so ist beides, Gegenstandsgemeinschaft und Sprachgemein-schaft, auch im Fall logisch zusammengesetzter Aussagen, in gegensei-tiger Abhängigkeit auf einer pragmatisch-dialogischen Basis kritischrekonstruiert.

Für das argumentierende Gespräch als Gestalt der Philosophie, wiesie von Platon erstmals bestimmt und im dialogischen Konstruktivismusausdrücklich wieder aufgegriffen worden ist, hat diese gegenseitigeAbhängigkeit zumindest zwei wichtige Folgen: Erstens darf Philoso-phieren als ein besonderes Reden nicht aus dem Zusammenhang mitden übrigen Handlungsvollzügen, denen es überlegend – sie reflektie-rend, wie es in der neuzeitlichen Tradition heißt – gegenübersteht,gerissen werden. Es kann diese Handlungsvollzüge nämlich weder er-setzen – das wäre ein Versuch zu einer rein theoretischen Lebensfüh-rung und könnte zu den Verirrungen führen, einer Vergeistigungmenschlichen Lebens zum Zweck der Überwindung seiner materiellenAbhängigkeiten das Wort zu reden – noch darf es sie sich gleichsetzen –dies wiederum wäre ein Versuch zu einer rein praktischen Lebensfüh-rung, der überlegenden Distanzierung unbedürftig, weil im Vollzugschon sich zeige, was nur nachträglich als theoretisch oder praktischgültig überflüssigerweise noch gesagt werden könne.

Zweitens muß im Philosophieren nicht nur jeder geäußerte Gel-tungsanspruch argumentationsfähig gemacht werden, es müssen sichvielmehr dabei zugleich auch noch die Vorbedingungen für eine Aus-bildung dieser Fähigkeit zur Argumentation schaffen lassen, nämlichdurch Aufdecken und Überbrücken der Verschiedenheit der Ge-sprächspartner in den nicht geäußerten und weitgehend auch nichtbewußten Vormeinungen und Erwartungen, den ›Hinterwünschen‹, imZusammenhang mit den Äußerungen.

Von solchen gern als ›offen‹ charakterisierten Dialogen, den argu-mentierenden Gesprächen, die nicht wirklich vorkommen, sondern nurein Ideal sind, also bloß sprachlich vorgestellte Situationen, derenVerwirklichung das Ziel geeigneter, natürlich nicht nur sprachlicherHandlungen sein soll, müssen die nichtoffenen oder ›verzerrten‹ wirk-lichen Dialoge unterschieden werden, die nur in dem Maße als verzerrt,nämlich mit unaufgelösten Standpunktvoraussetzungen belastet, er-kennbar sind, als in ihnen das Interesse am offenen Dialog verfolgt wird.Jeder Abbruch eines Dialogs, ob aus Zeitmangel oder aus Resignationoder auch aus zunächst unbekannten Gründen, ist ein Anzeichen dafür,daß Verzerrungen sich nicht haben ausgleichen, vielleicht nicht einmalhaben aufdecken lassen.

Dialogischer Konstruktivismus20

Page 27: Dialogischer Konstr uktivismus

Hier nun werden wir erneut der Grenze gewahr, die, historischgesehen, die Auflösung des zumindest unsere Tradition weithin be-herrschenden Glaubens an die eine eindeutig bestimmte Welt der Naturund die ebenso eindeutig bestimmte Welt der Sitten befördert hat. Wirhaben gelernt, nicht nur eine Vielzahl gleich berechtigter und dabeidurchaus nicht miteinander verträglicher Regelungen von Lebenswei-sen anzuerkennen, sondern auch gelernt, mit einer Vielzahl ebensogleich berechtigter und doch nicht durchweg miteinander verträglicherStrukturen von Weltansichten zu rechnen, die als verschiedene ›ways ofworldmaking‹ (ein zugleich als Buchtitel verwendeter Ausdruck NelsonGoodmans) uns zur Entdeckung und Ausbildung derzeit noch ganzungenutzter Fähigkeiten herausfordert. Dazu gehören beispielsweiseWahrnehmungsfähigkeiten gegenüber künstlerischem Handeln ebensowie das Wahrnehmenkönnen von heute so dringlich gewordenenökologischen Gleichgewichtszuständen.

So wichtig es ist, angesichts der gegenwärtigen Situation zu fragen,wieviel von dem, was man mittlerweile könne, auch zu tun erlaubt sei,so wichtig ist die Mühe um die andere Frage, wieviel von dem, was anFähigkeiten verschüttet jeder einzelne mit sich führt, wieder auszubil-den möglich ist.

In diesen zwei Fragen wird auf zwei einander widerstreitendeZielsetzungen angespielt, die in dem Maße sich herausbilden, als dieSelbstverständlichkeit eingespielter Lebensweisen und artikulierterWeltansichten verlorengeht: Das eine Ziel, die eine Sozialität erst er-möglichende Gleichheit der Menschen zu befördern – das PrinzipGerechtigkeit – und das andere Ziel, die eine Individualität erst ver-wirklichende Verschiedenheit der Menschen zu schützen – das PrinzipFreiheit.

Beide Ziele markieren Situationen in der Zukunft beim Versuch,diese Situationen als gegenwärtige festzuhalten. In der Reflexionshal-tung, im einfachsten Fall von der als ›Prädikation‹ bezeichneten Lehr-und Lernsituation höherer Ordnung rekonstruiert, treten Reden undHandeln auseinander, insofern zugleich mit dem Versuch, sich dergemeinsamen Welt, aus der man kommt, zu vergewissern, diese Ge-meinsamkeit verschwindet: Es wird die schon genannte Vielfalt derLebensweisen und Weltansichten sichtbar, in der die gemeinsame Weltnurmehr als bloße, von vielen Individuen oder auch Gruppen getra-gene, handlungsleitende Idee zur Wiederherstellung der verlorenge-gangenen Einheit, der Gegenstandsgemeinschaft und der Sprachge-meinschaft, wiederkehrt.

Dialogischer Konstruktivismus 21

Page 28: Dialogischer Konstr uktivismus

Die von den Meinungen dargestellte und von den Wünschen zuverändernde Welt als eine einheitliche Welt jenseits bloß individuellerMeinungen und Wünsche auch zu wissen suchen, verwandelt das ge-suchte Faktum der gemeinsamen Welt in eine erst zu erfüllende Norm.Und die beiden Aspekte dieser Norm, der soziale und der individuelle,treten als die genannten einander widerstreitenden Prinzipien Gerech-tigkeit und Freiheit auf.

Die Suche nach Aufrechterhaltung des labilen Gleichgewichtszwischen Gerechtigkeit und Freiheit, und sie spiegelt sich in den dia-logischen Elementarsituationen als ein Erzeugen von Übereinstimmungunter Beachtung der Verschiedenheit der Perspektiven, birgt vielleichtdie Chance einer neuen Zusammengehörigkeit zwischen den in ihrerVerschiedenartigkeit nun auch anerkannten Lebensweisen und Welt-ansichten.

Literaturverzeichnis

Carnap, Rudolf, 21961: Der logische Aufbau der Welt, Hamburg [Berlin1928].

EPW = Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. v. JürgenMittelstraß, 4 Bände, Mannheim 1980–1984. Neubearbeitete u. wesentl.ergänzte Auflage in 8 Bänden, Stuttgart 2005 ff.

Gethmann, Carl Friedrich, (Hg.), 1982: Logik und Pragmatik. Zum Recht-fertigungsproblem logischer Sprachregeln, Frankfurt am Main.

Heinzmann, Gerhard, 1982: Schematisierte Strukturen. Eine Untersuchungüber den Idonëismus Ferdinand Gonseths auf dem Hintergrund eineskonstruktivistischen Ansatzes, Bern.

Lorenzen, Paul, 1965: Differential und Integral. Eine konstruktive Einführungin die klassische Analysis, Frankfurt am Main.

Lorenzen, Paul, 21969: Einführung in die operative Logik und Mathematik,Berlin [1955].

Lorenzen, Paul/Lorenz, Kuno, 1978: Dialogische Logik, Darmstadt.PU = Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, dt./engl. ,

Oxford 1953.Reichenbach, Hans, 1947: Elements of Symbolic Logic, New York.Russell, Bertrand, 1912: The Problems of Philosophy, Oxford [dt. Probleme

der Philosophie, Frankfurt 1967].Russell, Bertrand/Whitehead, Alfred North, 1910–13: Principia Mathematica

I-III, Cambridge.Ryle, Gilbert, 1971: Categories, in: Gilbert Ryle, Collected Papers, vol. II:

Collected Essays 1929–1968, London, pp 170–184 [Proc. Arist. Society38, 1938].

Dialogischer Konstruktivismus22

Page 29: Dialogischer Konstr uktivismus

Scherer, Bernd Michael, 1984: Prolegomena zu einer einheitlichen Zeichen-theorie. Ch. S. Peirces Einbettung der Semiotik in die Pragmatik, Tü-bingen.

Schlick, Moritz, 1979: Allgemeine Erkenntnislehre, Frankfurt am Main [NDvon Berlin 21925, 11918].

T = Wittgenstein, Ludwig: Tractatus Logico-Philosophicus, dt./engl. , hg. v.David F. Pears/Brian F. McGuinness, London 21971 [1922].

Dialogischer Konstruktivismus 23

Page 30: Dialogischer Konstr uktivismus

Artikulation und Prädikation

I

Artikulation bildet Einheiten als ein Ganzes, ›gegliedert‹ in Teile,1 miteiner Prädikation werden Eigenschaften von einer als unteilbares ›In-dividuum‹ auftretenden Einheit, unter Umständen relativ zu anderenIndividuen, ›ausgesagt‹.2 Die Tätigkeiten des Gliederns und Aussagenssind von jeher Gegenstand des auf Sprechen und Sprache gerichtetenNachdenkens gewesen, auch wenn bis heute über die Natur dieserTätigkeiten – ihr Material, ihren Zweck, ihren Erwerb, also ganz all-gemein ihren Kontext – viele Auffassungen im Streit miteinander lie-gen, die sich naturgemäß nach keiner schon vorab bereitliegendenMethode entwickeln lassen.

So wird gewöhnlich Artikulation allein auf die Sprachebene, lautlichoder schriftlich, bezogen, gehört also zu den Charakteristika vonHandlungen, wenn sie als Zeichenhandlungen auftreten,3 während Prä-dikation ausdrücklich den Zusammenhang von Zeichen und Gegen-ständen betrifft, wobei die Gegenstände bereits (sprachlich) artikuliertvorliegen. Hinzukommt gewöhnlich ein Bereich ›geistiger‹ Tätigkeitenmit ›abstrakten‹ Gegenständen, etwa den auf Begriffe bezogenen Vor-stellungen, die nur vermöge der Zeichenhandlungen mit der Welt der›konkreten‹ Gegenstände in Verbindung stehen. So spiegelt sich, odersollte es doch nach Meinung von Wilhelm von Humboldt,4 die ›geis-tige‹ Gliederung durch Reflexion in der ›körperlichen‹ Gliederungdurch Artikulation, mithin der begriffliche Gehalt der Sprache in ihrersinnlichen Gestalt, und Gottlob Frege verankert die elementare Prädi-kation in der prädikativen Natur der Begriffe, den ›Bedeutungen‹ prä-dikativer Ausdrücke beziehungsweise grammatischer Prädikate,5 ver-möge der Gegenstände ›unter einen Begriff fallen‹ können.

1 Cf. z.B. Kant, KrV, B 861.2 Cf. z.B. Diogenes Laërtius: FDS, Fragment 861.3 Cf. etwa die Definition von ‘articulate’ durch ‘finitely differentiated’ in bezug

auf Notationssysteme bei Goodman 1976, p 153.4 Humboldt 1820, p 3.5 Cf. z.B. Frege 1892, p 168.

Page 31: Dialogischer Konstr uktivismus

Ohne eine Klärung, aus welchem Grund und auf welche WeiseZeichenhandlungen als Zeichen ›geistige‹ Gegenstände, seien sie sub-jektiv als Kognitionen (etwa Vorstellungen, auch Urteile) oder objektivals Begriffe beziehungsweise Propositionen bestimmt, bezeichnenmüssen, um sich auf beliebige Gegenstände beziehen zu können, alsoder Herkunft des ›semiotischen Dreiecks‹, ist kein zureichendes Ver-ständnis weder der Artikulation noch der Prädikation und damit auchkein Verständnis der Welt-Sprache-Differenz zu gewinnen. Einerseitsnämlich werden die geistigen Gegenstände oder die Handlungen, diesich auf sie richten oder die sie erzeugen, für die unentbehrliche Brückezwischen Welt und Sprache gehalten, sie haben den Charakter einessowohl empirischen, d.i. psychologischen, als auch rationalen, d.i. lo-gischen, Hilfsmittels, dessen es bedarf, um die Zeichenfunktion derSprache ausüben zu können, andererseits aber müssen sie natürlich selbstals ein Teil sowohl der Welt – dann als ›innere‹, mentale Welt der›äußeren‹, corporalen Welt gegenübergestellt – als auch der Sprache, diesie subjektiv ausdrückt und objektiv darstellt, betrachtet werden. OhneBehandlung des eigentümlichen Statuswechsels von Mittel zu Gegen-stand und umgekehrt – er steckt auch in der vertrauten Unterscheidungzwischen Verwenden (use) und Erwähnen (mention) speziell vonSprachzeichen – wird ein uneingeschränkter Zugang zum PhänomenSprache, insbesondere zu den elementaren Sprachhandlungen des Ar-tikulierens und Prädizierens, ausgeschlossen bleiben.

Die reflexiven Verfahren der Sprachphilosophie zeichnen sich vorden teils empirischen, teils rationalen Verfahren der Sprachwissenschaft– in ihrem empirischen Teil stehen sie stets in der Gefahr einer Re-duktion auf die Untersuchung psychosozialer oder physiologischerTatbestände,6 in ihrem rationalen Teil laufen sie ganz entsprechendGefahr, auf rationale Konstruktionen der Logik oder Argumentations-theorie reduziert zu werden7 – dadurch aus, daß der Zusammenhang desErzeugens von Sprache mit ihrer Beschreibung seinerseits thematisiertwird. Zu den Folgen gehört es, daß Sprachhandlungen stets zugleich

6 Ein typisches Beispiel liefert Noam Chomskys mentalistischer Ansatz mit einemempirischen Fundament, den partikularen mentalen Repräsentationen einer›Universalgrammatik‹, auch für rationale Methoden; cf. insbes. Chomsky1992.

7 Für diesen Fall ist Karl-Otto Apels ›Transzendentalpragmatik‹ mit ihren ra-tionalen Rechtfertigungen auch für die empirische Ausdifferenzierung vonPhänomenen ein typisches Beispiel; cf. insbes. Apel 1973.

Artikulation und Prädikation 25

Page 32: Dialogischer Konstr uktivismus

Gegenstand und Mittel sowohl der Forschung als auch der Darstellungsind: sie werden ›nachschaffend erzeugt‹.

In dieser systematisch-genetischen Rekonstruktion als der Aufgabeder Sprachphilosophie genügt es nun nicht, gleich mit Sprachhand-lungen zu beginnen. Die Differenz von Sprache und Welt wäre bloßunterstellt und nicht ihrerseits systematisch-genetisch rekonstruiert. Erstdurch eine Naturalisierung von Sprache auf der einen Seite, eine Radi-kalisierung der naturalisierten Erkenntnistheorie von Willard VanOrman Quine8 – Sprachhandlungen sind ›Bestandteile‹ der Gegen-stände, von denen geredet wird9 – und durch eine Symbolisierung vonWelt auf der anderen Seite, eine Radikalisierung der Theorie dersymbolischen Formen von Ernst Cassirer10 – Handlungen ›bezeichnen‹die Gegenstände, mit denen handelnd umgegangen wird – wird einBereich sichtbar, der Bereich der Handlungen, von dem sich zeigenläßt, daß er unter dem Gesichtspunkt, einerseits als Mittel und ande-rerseits als Gegenstand auftreten zu können, Anteil an Sprache wie anWelt hat.

Charles Sanders Peirce ist der erste gewesen, der diese Einsicht dazubenutzt hat, eine als Semiotik verallgemeinerte Sprachphilosophie auseiner Pragmatik heraus zu entwickeln, wobei er, anders als LudwigWittgenstein mit seinem aus derselben Einsicht hervorgegangenenVerfahren der Sprachspiele, sich primär um die Einbeziehung des em-pirischen Teils sprachwissenschaftlichen Zugriffs, diesen dabei in ge-wissem Umfang rational machend, in die Semiotik kümmert, währendWittgensteins Sprachspiele vor allem als Alternative zu den als rationaleKonstruktionen auftretenden Anteilen der Sprachwissenschaft, diesedadurch ein Stück weit empirisch wendend, entworfen sind.

Im folgenden sollen beide Akzentsetzungen zum einen in konse-quent reflexiver Einstellung verschärft und zum anderen in der ge-planten systematisch-genetischen Rekonstruktion von Sprache auf derreflexiven Ebene als miteinander verbunden vorgestellt werden. Diedank der Handlungs- und Sprachkompetenz bereits mitgebrachte Er-fahrung zu verstehen erfordert nämlich eine ph�nomenologische Reduktiondurch Abblenden der vorliegenden Gliederungen vermöge eines Ein-griffs und damit einer ausdrücklich hervorgehobenen Gliederung dieserErfahrung mithilfe zunächst einfacher Handlungen und Sprachhand-

8 Cf. besonders Quine 1960 u. 1974.9 Cf. Wittgenstein, PU, §23.

10 Cf. vor allem Cassirer 1923–29.

Dialogischer Konstruktivismus26

Page 33: Dialogischer Konstr uktivismus

lungen als Mittel – praktisch geht die Erfahrung ihrer Rekonstruktionvoraus – , was bei Peirce von den daraufhin möglichen Konstruktionen,insbesondere in den erklärenden Sequenzen von Interpretanten,11 nochnicht geschieden wird, während dieselbe Erfahrung zu machen erst durcheine dialogische Konstruktion gelingt, in der eine Genese der Handlungs-und Sprachkompetenz in Gestalt zunächst einfacher und dann immerdifferenzierterer Handlungen und Sprachhandlungen als Gegenstand dieOrientierung für mögliche Erfahrung bildet – theoretisch wird Erfah-rung erst durch ihre Konstruktion möglich – , was bei Wittgensteinwiederum durch die Erklärung, seine Sprachspiel-Konstruktionen seienbloße Beschreibungen,12 mit der Reduktion bereits identifiziert wird.Gleichwohl dürfen sowohl Peirces Insistenz auf dem begrifflichenCharakter seiner Reduktionen – eine absteigende Interpretantense-quenz kommt durch ›Gedankenexperimente‹ zustande – als auchWittgensteins wiederholte Verwendung der Metapher vom ›Maßstab‹für die Funktion der Sprachspiele13 als Indiz dafür gelesen werden, daßbeide Autoren das gegenseitige Angewiesensein von phänomenologi-scher Reduktion und dialogischer Konstruktion zwar gewußt haben, esaber wegen mangelnder begrifflicher Trennung des Wegs zurück unddes Wegs voran – für den Weg zurück werden genau die Handlungenund Sprachhandlungen als Mittel eingesetzt, die im Weg voran jeweilsvom Ende eines Wegs zurück als Gegenstände gewonnen werden –nicht wirklich artikulieren konnten. Wer eine Erfahrung macht (undnicht nur erleidet), beschreibt nicht eine ihm gegebene Erfahrung,sondern ist mit der (theoretischen) Handlung der Wiedergabe einerdialogischen Konstruktion befaßt, und zwar eben derjenigen, die für diephänomenologische Reduktion als Mittel eingesetzt wurde; entspre-chend steckt jemand, der eine Erfahrung versteht (und nicht nur um sieweiß), nicht in der Vermittlung einer von ihm erzeugten Erfahrung,sondern übt die (praktische) Handlung der Weitergabe einer phäno-menologischen Reduktion aus, und zwar diejenige, die bei der dialo-gischen Konstruktion als Gegenstand gewonnen wurde.

11 Cf. CP, 2.230.12 Cf. PU, §124.13 Z.B. PU, §131.

Artikulation und Prädikation 27

Page 34: Dialogischer Konstr uktivismus

II

1. Handlung – Zeichenhandlung

Unter den gegenwärtigen Forschungen zur Sprachkompetenz undSprachperformanz auf dem Hintergrund vorausgesetzter menschlicherFähigkeiten lassen sich insbesondere zwei gegenläufige Strategien un-terscheiden, die man mit den Wendungen ›Semantisierung der Prag-matik‹ und ›Pragmatisierung der Semantik‹ charakterisieren kann. Imersten Fall wird von einem semantischen Ansatz ausgegangen, der dieSprache (langage) als ein System sprachlicher Einheiten (langue) auffaßt,dessen Binnenstruktur sowohl seiner lautlichen und schriftlichen Gestaltnach (Oberflächenstruktur) als auch seiner logischen Form nach (Tie-fenstruktur), wobei streitig ist, ob die Tiefenstruktur als universal an-gesehen werden darf, durch eine satzorientierte Grammatik zunächstadäquat beschrieben und schließlich mithilfe geeigneter psychologi-scher, soziologischer und physiologischer Theorien auch noch adäquaterklärt werden soll. Insofern es sich bei den sprachlichen Einheitengrundsätzlich um Zeichen handelt, also Zeichenträger von Sprechernund Hörern als Zeichen verwendet werden, muß Grammatik auf meh-reren Ebenen, der syntaktischen auf der Ebene der Zeichenträger, dersemantischen auf der Ebene der Zeichen und der pragmatischen auf derEbene der Zeichenverwendung betrieben werden. Der Primat der se-mantischen Ebene zeigt sich dabei in Versuchen, die Syntax zumindestgrundsätzlich, in der Tiefenstruktur, als von der Semantik bestimmt zuerweisen, und die Pragmatik ebenso grundsätzlich durch Hinzufügungvon Beschreibungen des Kontextes von Zeichenverwendung, eineErzeugung von ›Superzeichen‹, in die Semantik einzubetten.

Im zweiten Fall wird von einem pragmatischen Ansatz ausgegangen,der die Sprache als Zusammenhang sprachlicher Handlungen und damitgrundsätzlich als Rede (parole) auffaßt, deren Aufbau zwar ebenfalls voneiner, hier allerdings äußerungsorientierten Grammatik beschriebenwerden soll – dazu gehört dann die Sprechakttheorie – , aber nie ohnedabei auch die äußeren (sozialen) und inneren (psychischen) Bedin-gungen für ihr Auftreten zu berücksichtigen. Sprache besteht aus Äu-ßerungen, und die Semantik ist grundsätzlich auf Handlungseigen-schaften, allen voran die Intentionalität, zu gründen. Als besondereEigenschaft von Rede aber gilt ihre Eignung zur Kommunikation:kommunikatives Handeln ist (zeichen)sprachliches Handeln. Und auchdie Eigenschaften von Sprache(n) als System sollten sich als ›historisch

Dialogischer Konstruktivismus28

Page 35: Dialogischer Konstr uktivismus

sedimentierte‹ Eigenschaften kommunikativer Handlungen deuten las-sen, Eigenschaften, deren Konservierung in der Sprache Gründe habenmuß, die sich sprachgeschichtlich unter Beiziehung weiterer histori-scher Disziplinen erforschen lassen. Dazu gehören dann so verschie-denartige Phänomene wie die Subjekt-Prädikat-Struktur von (einfa-chen) Sätzen in ganzen Sprachfamilien und die für die meisten euro-päischen Sprachen auffällige Familienähnlichkeit zwischen Ausdrückendes Bereichs Wissen und Ausdrücken des Bereichs Sehen.

Der Streit zwischen den in ihren Verfahren systemtheoretisch ori-entierten ›Semantikern‹ und den unter Bezug auf ihre Gegenständeverhaltenstheoretisch orientierten ›Pragmatikern‹ sieht aus wie ein ter-ritorialer Konflikt: Lassen sich sprachliche Phänomene, seien es primafacie Eigenschaften der ›langue‹ oder der ›parole‹, wenn es nicht ohnehinfeststeht, ob sie zur Sprachstruktur, gleichgültig welchen Abstraktions-niveaus, gehören, oder ob sie von nichtsprachlichen Kontextbedin-gungen ihrer Verwendung abhängen, der einen oder der anderen Do-mäne zuschlagen? Am Beispiel von Höflichkeitsregeln14 läßt sich dieseFrage verdeutlichen: Gehört es zur Bedeutung des Ausdrucks ‘mögen’in einer Äußerung des Typs ‘ich möchte dir sagen, daß …’, also beiHinzufügung zu Verben in grundsätzlich performativer Rolle, daß er in›Höflichkeitssituationen‹ auftritt, ist also die fragliche Äußerung beiihrer Verwendung ein Index für eine Höflichkeit erfordernde Situation,oder sind solche Situationen Bedingungen für eine Äußerung solchenTyps? Handelt es sich vielleicht um einander gar nicht ausschließendeMöglichkeiten, weil auf verschiedenen Ebenen argumentiert wird, imsemantischen Fall auf der Ebene der Äußerungen und Situationen alsTypen, im pragmatischen Fall auf der Ebene der Äußerungen und Si-tuationen als Instanzen (token)? Der gegenwärtige, auf einer grund-sätzlichen Arbeitsteilung beruhende ›Waffenstillstand‹ zwischen denKonfliktparteien, wobei die Pragmatiker in der Regel dann als Kom-munikationswissenschaftler und die Semantiker meist als Kognitions-wissenschaftler auftreten, spricht für diesen Verdacht: Satzstrukturensind das Feld für semantische Untersuchungen mit Alfred Tarskis fürformale Sprachen entwickelter Wahrheitstheorie als Paradigma, dieRollen von Satzäußerungen (forces of utterances) hingegen bilden denBereich für pragmatische Untersuchungen, wobei Argumentations-theorie paradigmatische Funktion hat.15 An die Stelle einer Alternative

14 Cf. Kasher 1980.15 Cf. Wohlrapp 2008.

Artikulation und Prädikation 29

Page 36: Dialogischer Konstr uktivismus

von Sprache als System oder Sprache als Handlung hätte deren gegen-seitige Ergänzung zu treten. Das aber läuft auf nichts anderes hinaus, alsSprachhandlungen im ersten Fall als Zeichen und im zweiten Fall alsHandlungen zu untersuchen.

Hat man sich diese Perspektive zu eigen gemacht, so fällt es nichtschwer, auch schon innerhalb der kommunikationsorientierten Ansätze– Entsprechendes ließe sich unter den kognitionsorientierten Ansätzenherauspräparieren – beide Akzentsetzungen unter den Titeln ›Primat desVerstehens‹ und ›Primat des Handelns‹ wiederzufinden. Der Primat desVerstehens wird zum Beispiel im hermeneutischen Ansatz Hans-GeorgGadamers ausgearbeitet,16 ebenso im analytischen Ansatz zum Beispiel beiGeorg Meggle;17 beides zu vereinigen ist Absicht des transzendental-pragmatischen Ansatzes von Karl-Otto Apel beziehungsweise seineruniversalpragmatischen Variante bei Jürgen Habermas.18 Der Primat desHandelns wiederum findet sich zum Beispiel im interaktionistischen An-satz von George Herbert Mead19 und im evolutionistischen Vorgehen zumBeispiel von Eric H. Lenneberg.20 Beide gehen der Sache nach ein zumBeispiel in die naturalistischen Theorien Quines und Jean Piagets.21 DieKomplementarität von Handeln und Verstehen selbst gehört dabei zumkommunikationsorientierten Ansatz zum Beispiel von Georg Henrikvon Wright.22 Aber erst die dialogischen Ansätze von Peirce und Witt-genstein erlauben es bei ihrer Radikalisierung und Vereinigung, dasje-nige Verständnis von Sprachhandlungen in ihrer Funktion als Zeichenund als Handlung derart auf zwei durch die beiden Dialogpartner aus-drückbare Rollen beim Handeln im allgemeinen, die Schematisierungund die Aktualisierung, zu gründen, daß sowohl ihre kognitive Struktur,ihr Wissensaspekt, als auch ihre interaktive Funktion, ihr Wollensaspekt,im Erwerb eines Könnens sichtbar gemacht wird.

Wir beginnen mit einer dialogischen Elementarsituation, in der zweiAkteure ein Können, z.B. Schwimmen oder Bausteinebringen, durchVor- und Nachmachen, also repetierend und imitierend, ausbilden.Dabei ist es wichtig, sich klarzumachen, daß mit dieser Beschreibung

16 Cf. Gadamer 1960.17 Cf. Meggle 1981.18 Cf. Habermas 1981.19 Cf. Mead 1934.20 Cf. Lenneberg 1967; neuerdings unter Beachtung der Trennung von sprach-

licher und begrifflicher Ebene Tomasello 1999.21 Cf. Piaget 1950.22 Cf. v. Wright 1971.

Dialogischer Konstruktivismus30

Page 37: Dialogischer Konstr uktivismus

einerseits ein Verfahren, das wie eine Folie auf die gegebene Erfahrungschon vorliegenden Könnens gelegt wird, um einen ersten Ausschnittvon ihr zu verstehen, und andererseits ein Verfahren zur Erzeugungeiner elementaren Erfahrung, wiederum nur dargestellt sind, daher ohneEintritt in eine solche dialogische Elementarsituation ihre gerade be-schriebene Aufgabe unerfüllbar bleibt. Insbesondere wird nur so auchdeutlich, daß die zwei Personen in der Beschreibung der dialogischenElementarsituation in der dialogischen Elementarsituation selbst nur alszwei dialogische Rollen, gebunden in einer ›Ich-Du-Dyade‹, vor-kommen, beim ›Tun‹ – im Vor- und Nachmachen; dabei entsprechenRepetition und Imitation auf der empirischen Ebene gegebener Er-fahrung Piagets ›assimilation‹ und ›accomodation‹, sofern zugleich dieInteraktion zweier Person(roll)en zur Interaktion zwischen Mensch undUmwelt verallgemeinert wird23 – und beim ›Erleiden‹, der Rolle desjeweils gerade Nicht-Tätigen, um schon hier die beiden grundlegendenKategorien poie ?m und p²sweim von Aristoteles zu benützen,24 die erstvon John Dewey in ähnlich zentraler Rolle mit ›doing‹ und ›suffering‹wieder aufgegriffen worden sind.25 Die dialogische Elementarsituationist der an einem Wittgensteinschen Sprachspiel in stilisierter Formherauspräparierte Handlungsanteil, ein ›Handlungsspiel‹, werden dochvon Wittgenstein nichtsprachliche Handlungskompetenzen nur zu-sammen mit Sprachhandlungskompetenzen mithilfe von Sprachspielen›gemessen‹. Aber nicht nur die Personen, auch alle weiteren, in derBeschreibung nicht ausdrücklich aufgetretenen Situationsbestandteile,z.B. das Wasser beim Schwimmen, die Orte beim Bausteinebringenoder gar dessen Gliederung in Dinge, die gebracht werden, gehörennicht etwa zur dialogischen Elementarsituation, sondern zu den ihr›unterliegenden‹, von den Akteuren mitgebrachten Situationen, derenGliederungen bis auf die von der dialogischen Elementarsituation her-vorgehobenen Züge dadurch ›abgeblendet‹ werden. Eine dialogischeElementarsituation liefert einen erleuchteten ›Vordergrund‹ vor einemnoch dunklen ›Hintergrund‹. Das durch eine dialogische Elementarsi-tuation im ständigen Rollenwechsel von aktivem Tun und passivemErleiden erzeugte geteilte Können kann sowohl als Ausbilden einerHandlungskompetenz bezeichnet werden – man muß sich nur klar vorAugen halten, daß es hier noch niemanden gibt, dem eine solche

23 Cf. Ros 1983.24 Top. 103b20 ff.25 Dewey 1921, p 86.

Artikulation und Prädikation 31

Page 38: Dialogischer Konstr uktivismus

Handlungskompetenz zugesprochen werden kann, auch Personenmüssen erst noch ›gebildet‹ werden – als auch als das Gewinnen einerHandlungssituation: Schwimmhandlungen und Schwimmsituationen(d. s. Schwimmhandlungen unter Einschluß eines Kontexts), also ›Le-bensform‹ und ›Lebensraum‹, sind noch ununterscheidbar. Das ist auchder Grund, warum das durch dialogische Elementarsituationen syste-matisch-genetisch rekonstruierte Können als Gewinnen beziehungs-weise Ausbilden von Pr�handlungen und nicht schon von Handlungenbezeichnet werden soll.

Immer gibt es in diesem Prozeß zwei dialogische Rollen, die desjeweils Tätigen und die des jeweils dabei gerade Nicht-Tätigen: derAusf�hrende und die Anf�hrende. Der Ausführende aktualisiert die Prä-handlung, die Anführende schematisiert sie. Daher sind die verkürztenWendungen ›eine Aktualisierung ausführen‹ (= ›ein Schema aktuali-sieren‹) und ›ein Schema anführen‹ (= ›eine Aktualisierung schemati-sieren‹) auf dieser Grundstufe streng synonym und nur von verschie-denen Rollen her formuliert. In einer Aktualisierung (performance) istdie Prähandlung singular,26 in einer Schematisierung (recognition) hinge-gen universal.27 Von beiden ›rationalen‹ Gesichtspunkten aus kann eine›empirische‹, also in den Hintergrund der dialogischen Elementarsitua-tion bereits mitgebrachte Handlung gesehen werden. In diesem Sinnesind Prähandlungen als Mittel und als Gegenstand, beides noch unge-schieden, gewonnen worden. Es ist daher nur eine mißverständliche›ontologisierende‹ Redeweise, wenn man sagt, daß eine Prähandlung inder dialogischen Elementarsituation als offene Folge von Aktualisie-rungen eines Schemas vorliegt; weder Aktualisierungen (Singularia)noch Schemata (Universalia) sind ihrerseits Gegenstände, vielmehrVerfahren, über Prähandlungen zu verfügen. Trotzdem ist die Rede-weise nützlich, weil die Untrennbarkeit beider Gesichtspunkte klarausgedrückt ist: Aktualisierungen sind nur im Blick auf ihr Schema›verstanden‹, und ein Schema ist nur in seinen Aktualisierungen ›vor-handen‹. Der Ausführende erzeugt vom Singularen her das Universale,die Anführende versteht vom Universalen her das Singulare. Diese Ja-nusköpfigkeit der Prähandlungen, ohne die es ›geteiltes‹ Könnenüberhaupt nicht gäbe, ist zugleich der Ansatzpunkt für eine Wieder-holung des Verfahrens dialogischer Elementarsituationen durch Selbst-anwendung, haben wir doch in den beiden Seiten die Keimzellen für

26 Peirce sagt dafür: ›it exists‹, CP, 6.335.27 Hierfür sagt Peirce: ›it is real‹, CP, 5.430.

Dialogischer Konstruktivismus32

Page 39: Dialogischer Konstr uktivismus

die Ebene der Handlungen (ein ›Reich des Seins‹) – auf der Seite desAusführenden – und für die Ebene des Wissens (ein ›Reich des Er-kennens‹) – auf der Seite der Anführenden – vor uns, deren Zusam-menhang in der Tradition so notorische Schwierigkeiten gemacht hat.Peirce wußte allerdings, daß Ontologie und Epistemologie nur zweiSeiten derselben Medaille sind,28 und wir können daher auch sagen:jede Prähandlung hat eine pragmatische und eine semiotische Seite. Erstnach weiteren Rekonstruktionsschritten endet die für dialogische Ele-mentarsituationen des Ausbildens von Prähandlungskompetenz cha-rakteristische Gleichwertigkeit der zwei Ausdruckspaare für die beidendialogischen Rollen ›pragmatisch – semiotisch‹: ›aktiv – passiv‹ auf derpragmatischen Seite und ›singular – universal‹ auf der semiotischenSeite.

Wir setzen jetzt die Rekonstruktion fort mit dialogischen Ele-mentarsituationen, in der die beiden Seiten einer Prähandlung, diepragmatische und die semiotische, und damit die beiden dialogischenRollen, ihrerseits mithilfe eigenständiger sekund�rer Pr�handlungen aus-drücklich bereitgestellt werden. Erst mit diesem Schritt, bei dem indialogischen Elementarsituationen 2. Ordnung die Ausführrolle in vielemögliche Ausführungsprähandlungen und in einer dialogischen Ele-mentarsituation 2. Stufe die Anführrolle in viele mögliche Anfüh-rungsprähandlungen zerfällt, ergeben sich Gliederungen – aber auchdiese wiederum noch nicht nach Mittel und Gegenstand geschieden,wie es erst in einem weiteren Schritt unter dem Titel ‘Artikulation’geschehen wird – einer Prähandlung, die pragmatisch als Phasengliede-rung durch Ausführungsprähandlungen oder ›Ich-Perspektiven‹ undsemiotisch als Aspektegliederung durch Anführungsprähandlungen oder›Du-Perspektiven‹ auftritt und es erlaubt, Prähandlungen in Pr�objekteund Pr�subjekte zu überführen und so Unabhängigkeit von den ur-sprünglichen dialogischen Elementarsituationen, also der Ausführungund Anführung einer Prähandlung, zu erreichen.

Zunächst nämlich sind zwei dialogische Elementarsituationen un-vergleichbar: Erwirbt eine Person A1 mit zwei verschiedenen PersonenB1 und B2 eine Prähandlung, so ist zwar die Übereinstimmung derPrähandlung für die Dyade A1 - B1 mit der Prähandlung für die DyadeA1- B2 durch Hintereinanderschalten beider Elementarsituationen ineine dritte zu erreichen, für die B1 und B2 nur als Stadien einer Person B3

auftreten, es gibt aber keine Möglichkeit, auch für die Dyade B1 – B2

28 Cf. CP, 5.257.

Artikulation und Prädikation 33

Page 40: Dialogischer Konstr uktivismus

eine Übereinstimmung des Prähandlungserwerbs mit A1 – B1 oder A1 –B2 zu sichern; der Prähandlungserwerb ist nicht komparativ. Es bedarf derausdrücklichen Heranziehung Dritter zu den dialogischen Elementar-situationen, einer Überführung des ›Beobachters‹ in einen ›Teilnehmer‹,so daß Kompetenzerwerb durch ›Zuschauen‹ dem durch ›Mitmachen‹angeglichen wird, um Vergleichbarkeit zwischen ihnen durchzusetzen.Am Beispiel Schwimmen etwa geht es darum, auch Prähandlungen wieArme-eines-Schwimmers-Beobachten neben Schwimmen-Hören undanderen Prähandlungen eines der dialogischen Elementarsituation zumErwerb der Schwimmkompetenz Gegenüberstehenden in die dialogi-sche Elementarsituation mitaufzunehmen, eben als die in eine eigen-ständige Anführungsprähandlung überführte Anführrolle der Prähand-lung Schwimmen. Das läuft auf nichts anderes hinaus, als die dialogischeElementarsituation in bezug auf die beiden dialogischen Rollen zuschematisieren, also eine dialogische Elementarsituation 2. Stufe mit derKonsequenz des Zerfallens der Anführrolle in viele Anführung-sprähandlungen, die Aspekte der Prähandlung, aufzusuchen.

Ganz entsprechend wird es erst durch die Auffassung der dialogi-schen Elementarsituationen als Schematisierung von dialogischen Ele-mentarsituationen 2. Ordnung in bezug auf (Teil-)Prähandlungenmöglich, die Ausführrolle in viele Ausführungsprähandlungen zu zer-legen, also etwa Schwimmen in Bewegen-der-Arme-beim-Schwim-men, Bewegen-der-Beine-beim-Schwimmen usw., natürlich unterEinschluß auch suprasegmentaler Gliederungen, um neben der Ver-gleichbarkeit von dialogischen Elementarsituationen auch ihre Zusam-mensetzbarkeit durchzusetzen. Der Übergang von vielen dialogischenElementarsituationen zu einer dialogischen Elementarsituation 2. Stufeund von einer dialogischen Elementarsituation zu dialogischen Ele-mentarsituationen 2. Ordnung sind die reflexiven Entsprechungen zuden sonst allein auf der Sprachebene abgehandelten Verfahren derAbstraktion und der Konkretion. Sie können als Verfahren der Dis-tanzierung (durch ›Naturalisierung‹) und der Aneignung (durch ›Symbo-lisierung‹) bezeichnet werden.

Wir erhalten daher Präobjekte auf der semiotischen Seite durchIdentifizierung der Anführungsprähandlungen und auf der pragmatischenSeite durch Summierung der Ausführungsprähandlungen: die Anfüh-rungsprähandlungen bezeichnen das Präobjekt und sind insofern Zei-chenpr�handlungen, die Ausführungsprähandlungen hingegen gliederen dasPräobjekt und sind insofern Teilpr�handlungen, beide zusammen konsti-tuieren es durch seine Perspektiven. Die Identifizierung macht Präob-

Dialogischer Konstruktivismus34

Page 41: Dialogischer Konstr uktivismus

jekte zu semiotischen Invarianten, die Summierung macht sie zupragmatischen Ganzheiten: Präobjekte haben stets eine semiotische undeine pragmatische Seite; sie sowohl zu erkennen als auch zu kennen heißtüber (mindestens) eine Zugangsweise in einem Aspekt und über(mindestens) eine Gliederungsweise mit einer Phase zu verfügen.

Präsubjekte wiederum sind auf der pragmatischen Seite das Ergebniseiner Differenzierung von Ausführungsprähandlungen und auf der se-miotischen Seite das Ergebnis einer Fixierung von Anführung-sprähandlungen. Die Differenzierung läßt Präsubjekte auf der pragma-tischen Seite individuell als Bündel hinreichend differenzierter Schematavon Ausführungsprähandlungen, durch einen Stil, auftreten, währenddie Fixierung sie auf der semiotischen Seite sozial durch ein Systemhinreichend, nämlich kraft Konventionen, stabilisierter Aktualisierun-gen von Anführungsprähandlungen, ihre (gemeinsame) Sprache, cha-rakterisiert. Die Naturalisierung einer Prähandlung bei einer Distan-zierung bedient sich daher einer Sprache, ihre Symbolisierung bei einerAneignung geschieht durch einen Stil.29

2. Zeichen – Sprachzeichen

Mit der Verselbständigung von Ausführung und Anführung in eigenenAusführungs- und Anführungshandlungen, die als Teilprähandlungenund Zeichenprähandlungen die Phasen und Aspekte eines Präobjektsbilden, sind wir auf dem Wege zu einer Rekonstruktion sowohl derGegenstandsgemeinschaft, also der Teilhabe an einer ein Stück weit ge-meinsamen Welt (von Objekten), als auch der Sprachgemeinschaft, alsoder Verfügung über einen Bereich gemeinsamer Zeichen (für Objekte),aber eben nur auf dem Weg. Für die Bildung zunächst der Präobjekteund dann der Objekte sind weder das Verfahren der Identifikation vonAnführungsprähandlungen, die dazu ihrerseits erst zu Anführung-spräobjekten, eben den Zeichenhandlungen, gemacht werden müssen,noch das Verfahren der Summierung von Ausführungsprähandlungen,das ebenfalls von deren vorherigen Verselbständigung in Teilhandlungenabhängig ist, bisher selbst systematisch-genetisch rekonstruiert worden.Gleiches gilt für die beiden Verfahren der Ausbildung zunächst derPräsubjekte und dann der Subjekte, nämlich die Differenzierung derAusführungsprähandlungen in einem Stil und die Fixierung der An-

29 Cf. Lorenz 1990, Kap. 3.4.

Artikulation und Prädikation 35

Page 42: Dialogischer Konstr uktivismus

führungsprähandlungen in einer Sprache. Erst dann können wir sagen,daß Zeichenhandlungen als Handlungen Subjekte ausdr�cken und alsZeichen Objekte bezeichnen und außerdem Teilhandlungen als ZeichenObjekte (vermöge der Summierung) anwesend und als HandlungenSubjekte (vermöge der Differenzierung) gegenw�rtig sein lassen.

Zur Vorbereitung des Schrittes von den Präobjekten und Präsub-jekten zu den Objekten und Subjekten, also Einheiten zunächst relativzu Situationen und dann zu situationsunabhängig bestimmten Einheiten– auf der Ebene der Präobjekte (und Präsubjekte) gibt es wegen der fürdialogische Elementarsituationen noch nicht rekonstruierten Unter-scheidung von gegenständlichem Vordergrund und situativem Hinter-grund keine Gliederung in einzelne identifizierbare Einheiten, erst rechtnicht eine Aufspaltung der Ich-Du-Dyaden durch Einbettung von Duin Ich (in der klassischen Gegenüberstellung von ›Ich als Subjekt‹ und›Ich als Objekt‹ unzulässig verkürzt) – werden wiederum mithilfe dia-logischer Elementarsituationen der nächst höheren Ordnung bezie-hungsweise Stufe zum einen die Ausführrolle und Anführrolle derAnführungsprähandlungen in eigenen Prähandlungen verselbständigt,die auf der pragmatischen Seite (bezüglich des Präobjekts) Vermittlungenund auf der semiotischen Seite (bezüglich des Präobjekts) Wahrneh-mungen zu heißen verdienen; zum anderen führt die Verselbständigungder Ausführrolle und Anführrolle der Ausführungsprähandlungen zuPrähandlungen, die (bezüglich des Präobjekts) auf der pragmatischenSeite Hervorbringungen und auf der semiotischen Seite Artikulationengenannt werden sollten.

Hier nun ist zu beachten, daß die Verselbständigung auch unterBezug auf die allein der pragmatischen Ebene zugehörigen dialogischenRollen ›aktiv – passiv‹ sowie die allein der semiotischen Ebene zuge-hörigen dialogischen Rollen ›singular – universal‹ formuliert werdenkann. Im ersten Fall nämlich wird auf der pragmatischen Seite die zu einerDu-Perspektive entwickelte Anführrolle, i. e. die Anführende als Du, alseine Ich-Perspektive der Anführenden und deshalb als ›passiv‹ dargestellt(ich erleide deine Aktualisierung), auf der semiotischen Seite hingegen diezu einer Ich-Perspektive entwickelte Ausführrolle, i. e. der Ausführendeals Ich, als eine ›aktive‹ Du-Perspektive des Gegenübers, i. e. des Aus-führenden als Du, behandelt (ich schematisiere dir). Die Ausführrolleauf der pragmatischen Seite und die Anführrolle auf der semiotischenSeite aber bleiben weiter aktiv beziehungsweise passiv: die Zei-chen(prä)handlungen und Teil(prä)handlungen treten nur als Handlun-gen auf. Im zweiten Fall wiederum werden auf der semiotischen Seite die

Dialogischer Konstruktivismus36

Page 43: Dialogischer Konstr uktivismus

zu einer Du-Perspektive entwickelte Anführrolle (i. e. die Anführendeals Du) als eine Ich-Perspektive der Anführenden und deshalb als›universal‹ angesehen (ich verstehe dein Schema), während auf derpragmatischen Seite die zu einer Ich-Perspektive entwickelte Ausführrolle(i. e. der Ausführende als Ich) als eine ›singulare‹ Du-Perspektive be-handelt wird (ich aktualisieren dir gegenüber). Die Anführrolle auf derpragmatischen Seite und die Ausführrolle auf der semiotischen Seitehingegen bleiben weiter universal beziehungsweise singular: die Zei-chen(prä)handlungen und Teil(prä)handlungen treten nur als Zeichenauf.

Die erste Abbildung erlaubt es abzulesen, daß in Vermittlungen einPräobjekt auf seiner pragmatischen Seite, also vermöge der Phasen-gliederung, unter einem Aspekt, d. i. der Ausführung einer Zeichen-handlung, von Ich an Du ›weitergegeben‹ wird (ich aktualisiere dirgegenüber + ich erleide deine Aktualisierungen), während in Artiku-lationen einem Präobjekt auf seiner semiotischen Seite, also vermögeder Aspektegliederung, unter Bezug auf eine Phase, d. i. der Anführungeiner Teilhandlung, für eine Ich-Du-Dyade ein Zeichen gegeben wird(ich verstehe dein Schema + ich schematisiere dir). Der Aspekt, unterdem die Vermittlung im ersten Fall geschieht, garantiert ebenso wie derBezug auf die Phase, vermöge der die Artikulation im zweiten Fallerfolgt, die Ich-Du-Rollen-Invarianz von Vermittlung und Artikulati-on. Denn die allein Ich-bezogene singulare Vermittlung mit einer

Abbildung 1

Artikulation und Prädikation 37

Page 44: Dialogischer Konstr uktivismus

Teilhandlung als Zeichen wird erst durch die singulare Vermittlung miteiner Zeichenhandlung als Zeichen Ich-Du-invariant (das ›ich beab-sichtige‹, das mit dem Aktualisieren dir gegenüber auf der varianten›sinnlichen‹ Ebene geschieht, wird erst durch den Übergang zur ›geis-tigen‹ Ebene invariant), und entsprechend bedarf die allein Ich-bezo-gene universale Artikulation mit einer Zeichenhandlung als Zeichen deruniversalen Artikulation durch eine Teilhandlung als Zeichen, um Ich-Du-invariant zu werden (das ›ich verstehe‹ bezüglich einer ›begriffli-chen‹ Schematisierung muß zum Zwecke der Verständigung ›veran-schaulicht‹ werden). Neben diesen ›intersubjektiven‹ Anteilen einesPräobjekts, die zusammengenommen für Ich-Du zum ›Erkennen‹führen, bleiben Hervorbringungen und Wahrnehmungen seine ›sub-jektiven‹, gemeinsam die Grundlage für das ›Kennen‹ seitens Ich aus-machenden Anteile.

Ehe wir nun das Gleichsetzen von Zeichen(prä)handlungen und dasZusammensetzen von Teil(prä)handlungen ausdrücklich rekonstruieren,ist es dringlich, noch auf einen weiteren Punkt kurz einzugehen. Bishersind Präobjekte verselbständigte Prähandlungen, die in Aspekten se-miotisch und in Phasen pragmatisch zugänglich sind; es scheint aberunter ihnen noch keine Gegenstände zu geben, die sich als Vorstufeneiner Rekonstruktion von Dingen, Ereignissen oder anderen Gegen-standsarten eignen, welche man nicht ohne weiteres in Gestalt an- undausführbarer Handlungen begreifen kann – dazu gehören auch die fürMenschen nicht direkt ausführbaren ›Handlungen‹, wie z.B. Fliegen.Wie also läßt sich der Unterschied von, zum Beispiel, Schwimmen undFliegen methodisch rekonstruiert charakterisieren? Die schlichte Ant-wort lautet: Schwimmen läßt sich vorf�hren, Fliegen nicht. Hier wirdunter Vorführen ein Anführen durch Ausführen verstanden, eine Aus-drucksweise dafür, daß Präobjekte nur noch in Perspektiven und nichtmehr ›im Ganzen‹ an- und ausführbar sind.

Um daher beliebige Gegenstandsarten als Präobjekte zu gewinnen,ist der radikale Schritt erforderlich, sie aus der Prähandlung Umgehen-mit-der-Gegenstandsart hervorgehen zu lassen, ganz in Übereinstim-mung mit der schon bei Platon anzutreffenden Charakterisierung deremta als pq²clata (und pq²neir). Auch das Präobjekt Schwimmen istdann mit der verselbständigten Prähandlung Umgehen-mit-Schwim-men zu identifizieren. Dinge, z.B. Wasser oder Pfeifen, und Ereignisse,z.B. Verkehr oder Fallen-eines-Herbstblatts, sind nur in Phasen, z.B.Wasser-abfüllen, Pfeifen-schnitzen, Verkehrregeln, Fallen-eines-Herbstblatts-unterbrechen, pragmatisch, und in Aspekten, z.B. Was-

Dialogischer Konstruktivismus38

Page 45: Dialogischer Konstr uktivismus

serrauschen-hören, Pfeifen-malen, Verkehr-zählen, Auf-Fallen-eines-Herbstblatts-aufmerksam-machen, semiotisch zugänglich (die um-gangssprachliche Wiedergabe der Teilhandlungen und Zeichenhand-lungen bei diesen Beispielen ist natürlich cum grano salis zu nehmen,bedürfte es doch einer auf dieser Stufe noch nicht verfügbaren Re-konstruktion der hochdifferenzierten Struktur einer schon in Gebrauchbefindlichen natürlichen Sprache; als Kriterium für die Unterscheidungder pragmatischen von der semiotischen Perspektive dient dabei dieBeteiligung am Entstehen, Vergehen und Aufrechterhalten des Präob-jekts).

Mit der Verselbständigung nun der Phasengliederung zu Teil-handlungen und der Aspektegliederung zu Zeichenhandlungen wird esmöglich, die Identifikation der Zeichenhandlungen und die Summie-rung der Teilhandlungen auf folgende Weise zu bewerkstelligen: Eineausgewählte Zeichenhandlung im aktiven Aspekt, also eine Artikulati-on, übernimmt die Funktion der Vertretung beliebiger Zeichenhand-lungen, d.h. in einer dialogischen Elementarsituation 3. Stufe, derSchematisierung (der dialogischen Rollen) von Zeichenhandlungen,läßt sich die Variation der Elementarsituationen 2. Stufe zu einerTrennung von konstantem Vordergrund vor variablem Hintergrundeiner Situation (zu der als Elementarsituation 2. Stufe die Interakti-onspartner jetzt auch als Glieder der Situation und nicht nur als situa-tionsgliedernd gehören) heranziehen, und dabei zerfällt ein Präobjektkraft der jeweils verschiedenen Situationen, zu denen es gehört, in›situationsspezifische‹ Einheiten, die (semiotisch bestimmten) Objekte ineiner (angef�hrten) Situation. Ganz entsprechend werden die (pragmatischbestimmten) Objekte in einer (ausgef�hrten) Situation aufgrund einer dia-logischen Elementarsituation 3. Ordnung, deren Schematisierung alsozu Teilhandlungen führt, als Einheiten eines variablen Vordergrundesvor konstantem Hintergrund einer Elementarsituation 2. Ordnung ge-wonnen. Jede Teilhandlung im passiven Aspekt, also eine Vermittlung,übernimmt die Funktion einer Erweiterung durch beliebige Teilhand-lungen. Gegenständlicher Vordergrund und situativer Hintergrund,semiotisch als konstanter Vordergrund vor variablem Hintergrund undpragmatisch als variabler Vordergrund vor konstantem Hintergrund,also ein Objekt zusammen mit seiner Umgebung, machen eine Situa-tionseinheit aus.

Geht es zum Beispiel um das Präobjekt Schwimmen und be-schränken wir uns auf das Umgehen-mit-Schwimmen in Gestalt derbeiden Handlungen Im-Wasser-Schwimmen und Mit-den-Armen-

Artikulation und Prädikation 39

Page 46: Dialogischer Konstr uktivismus

Schwimmbewegungen-machen, so sind diese, hinsichtlich ihrer prag-matischen und semiotischen Seite noch ungegliederten, Handlungen alsZeichenhandlungen eine Aspektegliederung und als Teilhandlungeneine Phasengliederung von Schwimmen. In der mittlerweile dreifachgegliederten dialogischen Elementarsituation zum Erwerb derSchwimmkompetenz übernehmen Ich ebenso wie Du pragmatischsowohl eine aktive als auch eine passive Rolle, und semiotisch zeigen siesowohl die singulare als auch die universale Seite eines Präobjekts. Inaktiver Rolle von Ich, bei der Vermittlung von Schwimmen durchAusführung der Zeichenhandlungen, ist die Anführung von Schwim-men mit Im-Wasser-Schwimmen und Mit-den-Armen-Schwimmbe-wegungen-machen die Artikulation von Schwimmen (ein ›Schemaab-schnitt‹: die Aktualisierungen sind gleich) im Vordergrund derSchwimmsituation, in passiver Rolle von Ich hingegen die Wahrneh-mung von Wasser und Armbewegung (eine ›Aktualisierungsvariation‹:die Aktualisierungen gehören zu verschiedenen Wahrnehmungssche-mata und sind insofern verschieden) im Hintergrund der Schwimmsi-tuation. Dem entspricht, daß in passiver Rolle von Du die Anführungvon Schwimmen mit den beiden Zeichenhandlungen beidemal alsSchwimmen (ein Universale) im Vordergrund der Schwimmsituationwahrgenommen sind, während in aktiver Rolle von Du im Hinter-grund der Schwimmsituation jeweils die verschiedenen UmgebungenWasser und Armbewegung artikuliert werden. Komplementär dazu istin aktiver Rolle von Ich die Ausführung von Schwimmen mit Im-Wasser-Schwimmen und Mit-den-Armen-Schwimmbewegungen-ma-chen das Hervorbringen von Schwimmen, nämlich jeweils verschie-dener (natürlich nicht ›disjunkter‹) Teile im Vordergrund derSchwimmsituation, während sie in passiver Rolle von Ich für dengleichen Hintergrund der Schwimmsituation bei der Vermittlung vonSchwimmen sorgen. Wiederum entsprechend ist in passiver Rolle vonDu, bei der Artikulation von Schwimmen durch Anführung der Teil-handlungen, die Ausführung von Schwimmen mit Im-Wasser-Schwimmen und Mit-den-Armen-Schwimmbewegungen-machen dieVermittlung von Schwimmen (durch ›Phasenvielfalt‹: die Schemata sindverschieden) im Vordergrund der Schwimmsituation, hingegen wird inaktiver Rolle von Du ein konstanter Hintergrund der Schwimmsitua-tion, eben Schwimmen (Einbettung der Phasen in dasselbe Schema)hervorgebracht.

Am Beispiel sieht man, daß auf der semiotischen Seite die Variationzur Umgebung des Objekts, also ›nach außen‹, gehört, während sie auf

Dialogischer Konstruktivismus40

Page 47: Dialogischer Konstr uktivismus

der pragmatischen Seite ›nach innen‹ gewendet ist: die semiotischeAspektegliederung der Objekte ist eine Außengliederung, ihre prag-matische Phasengliederung eine Binnengliederung. Beide zusammenerst, und dabei werden Transformationen von Außengliederungen inBinnengliederungen und umgekehrt, sogenannte Involutionen, einewichtige Rolle spielen, bestimmen ein Objekt in einer Situation, undzwar invariant gegenüber einer Vertauschung von Ich und Du.

Eine dialogische Elementarsituation 3. Stufe kann daher selbst alsArtikulation der Identifikation und damit als symbolische Artikulation vonObjekten aufgefaßt werden, während eine dialogische Elementarsitua-tion 3. Ordnung die Vermittlung der Summierung bildet und daher alskomprehensive Vermittlung von Objekten bezeichnet werden kann. Es istüblich zu sagen, daß die Objekte in einer Situation als Einheiten einesObjekttyps auftreten, wobei strenggenommen nur ›unterste‹ Einheitenauch ‘Individuen’ heißen. Die in einer symbolischen Artikulation ent-haltenen Übersetzungsregeln von einer Zeichenhandlung in eine anderebewirken eine Dekontextualisierung der Objektbestimmung im Un-terschied zu ihrer Kontextualisierung vermöge der mit der kompre-hensiven Vermittlung gesetzten Aufbauregeln. Noch etwas genauer undzugleich suggestiver kann die doppelte, nämlich semiotische und prag-matische Bestimmung der Objekte so ausgedrückt werden, daß einObjekt als Kern der Schemata der Zeichenhandlungen ein logisch-semi-otisches Abstraktum, hingegen als H�lle der Aktualisierungen der Teil-handlungen ein logisch-pragmatisches Konkretum bildet. Die ›individuellen‹Objekte in einer Situation sind sowohl abstrakte Invarianten als auchkonkrete Ganzheiten. Dabei dienen die (verselbständigten) Aktualisie-rungen einer Zeichenhandlung, die Artikulationen, der Bezeichnungdes abstrakten Objekts; mit den (verselbständigten) Schemata einerTeilhandlung, den Vermittlungen hingegen, wird am konkreten Objektpartizipiert. Sowohl die Relationen zwischen den Singularia, den Zei-chenhandlungsvollzügen, und den Universalia (des logisch-semiotischenAbstraktums) als auch die Relationen zwischen den (universalen) Teilenund dem Ganzen (des logisch-pragmatischen Konkretums) sind internund können nicht als externe Relationen zwischen zuvor schon ver-fügbaren Gegenständen aufgefaßt werden. Vielmehr sind es die (raum-zeitlich charakterisierbaren) ›individuellen‹ Objekteinheiten selbst, diePartikularia, an denen die Rekonstruktion die internen Relationen derBezeichnung und der Partizipation sichtbar zu machen imstande ist.

Was die komplementäre, in diesem Zusammenhang aber nicht endetail auseinanderzusetzende Subjektbestimmung betrifft, so genügt es

Artikulation und Prädikation 41

Page 48: Dialogischer Konstr uktivismus

festzuhalten, daß die Artikulation eines Präsubjekts (gen. subj. !) mit der(durch Konvention gewonnenen) symbolischen Artikulation, und damitdurch Fixierung, zur Artikulation eines sozialen Subjekts wird, währenddie Vermittlung innerhalb eines dyadischen Subjekts (des Präsubjektseiner Ich-Du-Dyade) durch Differenzierung, also Eigenständig-werdenbei der komprehensiven Vermittlung, eine Vermittlung zwischen in-dividuellen Subjekten entstehen läßt.

Im Handlungscharakter der Ausführhandlungen zusammen mit demHandlungscharakter der Anführhandlungen (›was man [individuell] tut‹+ ›wie man [sozial] spricht‹) haben wir die Lebensweisen (ways of life)von Subjekten im Umgang mit Objekten, im Zeichencharakter derAnführhandlungen zusammen mit dem Zeichencharakter der Aus-führhandlungen (›was man [universal] sagt‹ + ›wie man [individuell]handelt‹) ihre Weltansichten (world views) im Bezeichnen und Teil-haben bezüglich Objekten vor uns.

Mit der symbolischen Artikulation sind wir bei (verselbständigten)sprachlichen Zeichenhandlungen im engeren Sinne angekommen, diewegen der Gleichsetzung von Umgehen-mit-Sprachzeichen undSprachzeichen von Sprachzeichen systematisch nicht mehr unterschie-den zu werden brauchen. Sie artikulieren die Kompetenz der Gleich-behandlung aller Zeichenhandlungen in bezug auf ein Objekt, also dieKompetenz, mit der Ausführung einer bestimmten Zeichenhandlungzugleich eine beliebige andere Zeichenhandlung in bezug auf dasselbeObjekt anzuführen. Allerdings ist es dabei wichtig, sich klar zu machen,daß mit der Charakterisierung ‘sprachlich’ noch keine Festlegung aufdas verbalsprachliche Medium erfolgt ist, symbolische Artikulationkönnte durchaus auch zum Beispiel gestisch oder pictural erfolgen. Esgehört zu den Fakten der Entwicklungsgeschichte von homo sapiens, daßgrundsätzlich ›vokale Gestern‹ die Rolle symbolischer Artikulationübernommen haben. Und auch umgekehrt ist zu beachten, daß‘sprachlich’ durchaus auch in einem weiteren Sinn zur Charakterisie-rung von Zeichenhandlungen dann verwendet wird, wenn sie durchlautliche oder schriftliche Äußerungen aktualisiert werden. Es ist daherdamit zu rechnen, daß lautlich oder schriftlich geäußerte Zeichen-handlungen im weiteren und im engeren Sinne eine Sprachhandlungund damit Artikulationen auf zwei verschiedenen logischen Stufen sind,was dazu führt, daß ihre Ausführung dann zugleich sich selbst anführt.

Dialogischer Konstruktivismus42

Page 49: Dialogischer Konstr uktivismus

III

1. Ostension und Prädikation. Gegebenheitsweise und Modus

Auch wenn symbolische Artikulation nicht lautlich (oder schriftlich),also verbalsprachlich, vorzuliegen braucht und darüber hinaus vonSprachzeichenhandlungen auch bei einfachen Artikulationen die Redeist, so sollen im folgenden Schreibmarken, in der Regel Buchstaben, alsNotation für grundsätzlich symbolisch gemeinte Artikulationen ver-wendet werden. Damit ist vorausgesetzt, daß eine Artikulation ihrerseitszu einem Objekttyp verselbständigt worden ist, der Artikulator heißenmöge (und in erster Näherung als Rekonstruktion eines hier nochunzusammengesetzten ›signifiant‹ im Sinne de Saussures aufgefaßtwerden kann). Er ist damit auf der semiotischen Seite – ein Artikulatorals Zeichen(-Handlung) – im üblichen Sinne ›artikuliert‹, nämlich ge-gliedert, obwohl diese Gliederung auch bei zusammengesetzten Arti-kulatoren nur in einem beschränkten Umfang als morphematischeBinnengliederung die zu jedem (symbolischen) Artikulator gehörigeÜbersetzungsregel von einer Zeichenhandlung in eine andere explizitwiedergibt; zugleich ist er auf der pragmatischen Seite – ein Artikulatorals (Zeichen-)Handlung – phonematisch (oder graphematisch) geglie-dert, so daß sich die übliche Charakterisierung der Sprachebene durch›doppelte Artikulation‹ jedenfalls für (symbolische) Artikulatoren aufeine ganz natürliche Weise ergibt.30 Im übrigen wird von der prag-matischen Seite eines Artikulators in diesem Aufsatz nicht weiter ge-handelt werden.

Für einen Artikulator als Zeichen gilt jede Artikulatoreinheit alsaustauschbar mit jeder anderen, so daß Artikulatoren in semiotischerHinsicht stets als Typen zu gelten haben, die in Sprechsituationen geäu-ßert werden. Will man gleichwohl auf Artikulatoreinheiten (in einerSprechsituation) zurückgreifen, so genügt es, das Paar (P, s) mit einemArtikulator(typ) ‘P’ und einer Sprechsituationseinheit s als Notation fürdie Artikulatoreinheit in der Sprechsituation s, also die �ußerung von ‘P’in s, zu nehmen.

Wie für jede Handlung, ist auch für Artikulationen als Zeichen inihrer systematisch-genetischen Rekonstruktion durch dialogische Ele-mentarsituationen eine pragmatische und eine semiotische Seite zuberücksichtigen, die wiederum verselbständigt werden können und

30 Cf. dazu Martinet 1960.

Artikulation und Prädikation 43

Page 50: Dialogischer Konstr uktivismus

dann unter Bezug auf das von sozialen Subjekten artikulierte Objekt in einerSituation mit Kommunikation und Signifikation wiederzugeben sind. Esläßt sich hier sehr deutlich der mit der Differenz von pragmatischer undsemiotischer Seite einer Artikulation (als Zeichen) verbundene Status-wechsel einer Handlung als Gegenstand und als Mittel ablesen, liegtdoch Signifikation, ein Nennen, nur im Vollzug einer Kommunikation,einem Sagen, vor, und deshalb ist Signifikation das Mittel für Kom-munikation: was genannt wird, ist ein Gegenstand, der, in ein Mittelverwandelt (d. i. das Umgehen mit ihm), als etwas gesagt (d.i. vermitteltund artikuliert) wird.

Unter Berücksichtigung dieser bereits von Platon eingeführtenUnterscheidung von ›Sagen‹ (k´ceim) und ›Nennen‹ (amol²feim) als Titelfür zwei ausgezeichnete Funktionen von Sprachhandlungen bezie-hungsweise ›Wörtern‹ (amºlata), die er mit did²sjeim ti !kk¶kour

[etwas einander beibringen] und diajq¸meim t± pq²clata [die Sachenunterscheiden] erläutert hat,31 soll unter Kommunikation der Personbe-zug und unter Signifikation der Sachbezug einer Artikulation als Zeichenverstanden werden. Signifikation kann nur innerhalb einer Kommu-nikation erfolgen, und Verständigung über ein Objekt ist nur unterVerwendung einer Bezeichnung möglich. Unter erneuter Anwendungdes Verselbständigungsschrittes zerfällt Kommunikation in ihre semi-otische Seite Pr�dikation und ihre pragmatische Seite Modus: die An-führung einer Kommunikation geschieht durch eine Prädikation, unddie Ausführung einer Kommunikation durch einen Modus. Daher inknapper Formulierung: jede Prädikation findet in einem Modus statt.

Ganz entsprechend zerfällt Signifikation in ihre pragmatische SeiteOstension und ihre semiotische Seite Gegebenheitsweise: nur unter Ver-wendung einer Gegebenheitsweise kann die Ostension auf ein Objekterfolgen. Werden diese Verhältnisse nicht beachtet und einerseits Prä-dikation selbst bereits als pragmatisch, andererseits Ostension selbstbereits als semiotisch betrachtet, so entstehen methodisch unlösbareStreitfragen, zum Beispiel um den Status der Prädikation – Ist Prädi-kation ein eigenständiger Sprechakt oder der ›propositionale Kern‹ be-liebiger Sprechakte? – oder um die Entbehrlichkeit von Intensionen –Muß das Hilfsmittel für eine Ostension, die Gegebenheitsweise, in einerKommunikation zur artikulierten Situation gezählt werden, oder sindGegebenheitsweisen grundsätzlich extern?

31 Crat. 388b; allerdings mit derr Erklärung, amol²feim sei ein Teil von k´ceim, cf.Crat. 387c.

Dialogischer Konstruktivismus44

Page 51: Dialogischer Konstr uktivismus

Im hier vorgeschlagenen Aufbau treten Prädikationen ausschließlichals semiotisches Gegenüber zu ›Satzradikalen‹ auf, und Ostensionenwerden als zweckmäßiges Instrument zur Unterscheidung des durchDistanzierung gewonnenen gegenständlichen Charakters eines Objekts(extensionaler Gegenstand) und des durch Aneignung gewonnenenintensionalen Charakters eines Objekts (intensionales Mittel) eingesetzt.

Berücksichtigt man nun, daß in symbolischer Artikulation ein Ar-tikulator als Übersetzungsregel zur Durchsetzung der Gleichwertigkeitder Aspekte und damit der Invarianz eines Objekts gegenüber seinenAspekten auftritt (abstrakte Bestimmung), wobei jede Aspektegliede-rung unter Bezug auf eine Phase vorliegt, so sind durch einen Artiku-lator einerseits beliebige Aspekte, sowohl Artikulationen als auchWahrnehmungen, vertreten und andererseits dabei beliebige Phasen alsZeichen eingeschlossen.

Wer etwa ‘Wasser’ äußert – ein durch hier nicht näher zu unter-suchende Umstände in symbolischer Funktion auftretendes Lautschemaals Artikulator – , hat auf der pragmatischen Seite das Lautschema ak-tualisiert, und auf der semiotischen Seite identifiziert er die Sprechsi-tuation als eine Wassersituation mit einer Wassereinheit im Vorder-grund (und u. a. ‘Wasser’ im Hintergrund, während in der ‘Wasser’-Situation die Äußerung ‘Wasser’ den Vordergrund bildet), die den(abstrakten) Kern eines offenen Bereichs von Zeichenhandlungen,hervorgegangen durch Distanzierung aus der semiotischen Seite desUmgehens-mit-Wasser, bildet: die Artikulation ‘Wasser’ auf der semi-otischen Seite artikuliert als Zeichen und damit für Ich eine (Zei-chen-)Handlung – Ich ist in der Sprechsituation und in der bespro-chenen Situation, einer ‘Wasser’-Situation und einer Wassersituation.Zugleich wird mit ‘Wasser’ ein offener Bereich von Teilhandlungenartikuliert, die an der Wassereinheit im Vordergrund, hervorgegangendurch Aneignung aus der pragmatischen Seite des Umgehens-mit-Wasser in Gestalt der (konkreten) Hülle der Teilhandlungen, partizi-pieren: Ich ist in der besprochenen Wassersituation auch noch durchArtikulation einer (Teil-)Handlung.

Gegenüber dem Partner in der Sprechsituation nun wird mit derÄußerung ‘Wasser’, also der semiotischen Seite der Artikulation mit‘Wasser’ als Handlung und damit für Du, gesagt, daß die Sprechsitua-tionseinheit (ihres Schemas für Du und einer Aktualisierung für Ich)eine Wassersituation ›ist‹, nämlich ›war‹ aufgrund einer Zeichenhand-lung, z.B. Wassersehen, oder ›sein wird‹ aufgrund einer Teilhandlung,z.B. Ins-Wasser-gehen. Mit dieser Sprechweise ist die Differenz der

Artikulation und Prädikation 45

Page 52: Dialogischer Konstr uktivismus

Rollen von Ich und Du in der besprochenen Situation zum Ausdruckgebracht: Äußert Ich ‘Wasser’ etwa im Zusammenhang der Zeichen-handlung Wasser-sehen, so ist es Du, der Wassersehen ausführt, auf denIch mit ‘Wasser’ ›ant-wortet‹ – da auf der Stufe symbolischer Artiku-lation bereits Dialogrolleninvarianz, also Ich-Du-Invarianz vorliegt,agieren Ich und Du beide als Subjekte und damit Ich auch als Du undDu auch als Ich32 –, und ganz entsprechend wird dann, wenn Ich‘Wasser’ etwa im Zusammenhang der Teilhandlung Ins-Wasser-gehenäußert, Du mit der Ausführung von Ins-Wasser-gehen auf diese Äu-ßerung ›antworten‹. Mit den beiden ›Reihenfolgen‹ von Äußerung undAusführung der Zeichenhandlung beziehungsweise Teilhandlung, vonJohn Searle unter der Bezeichnung ›directional fit‹ eingeführt,33 sind diebeiden fundamentalen Arten von Modi einer Äußerung in kommuni-kativer Funktion bestimmt, nämlich Mitteilen und Auffordern, Mitteilenauf der semiotischen Seite des Modus und Auffordern auf seiner prag-matischen Seite. Die Ostension wiederum, also die pragmatische Seiteeiner Äußerung in signifikativer Funktion, wird vollzogen unter Ver-wendung der Gegebenheitsweisen auf der semiotischen Seite, im Bei-spiel durch eine Zeichenhandlung, ein Beobachten, und eine Teilhand-lung, ein Selbertun, die beiden fundamentalen Arten von Gegeben-heitsweisen, wobei Beobachten auf die semiotische Seite der Gege-benheitsweise und Selbertun auf deren pragmatische Seite gehört.

Symbolische Artikulation auf der semiotischen Seite hat dialogrol-leninvariant als (Zeichen-)Handlung die Funktion der Kommunikationund als Zeichen(-Handlung) die Funktion der Signifikation. Die zu-gehörigen Artikulationen auf der pragmatischen Seite sind die ›Ein-wortsätze‹, schlichte Äußerungen von Artikulatoren ‘P’. Die zweiteAbbildung gibt eine diagrammatische Übersicht über die wesentlichenersten Schritte im Iterationsprozeß von Aneignung und Distanzierung.

Bisher entbehren die Artikulatoren allerdings noch jeder semanti-schen Komplexität. Zwar sind sie auf der pragmatischen Seite explizitgegliedert, aber auf der semiotischen Seite nur implizit, eben dadurch,daß die Kompetenz symbolischer Artikulation die Kompetenz einesoffenen Bereichs von Zeichenhandlungen und Teilhandlungen (aufderen semiotischer Seite) einschließt. Um diese implizite semiotischeGliederung schrittweise in eine explizite und dann semantisch zu nen-

32 Cf. dazu Meads Konstitution des ›Self‹ aus ›I‹ und ›Me‹ in: Mead 1934, part III(Identity).

33 Cf. Searle 1979, chap. 1.

Dialogischer Konstruktivismus46

Page 53: Dialogischer Konstr uktivismus

nende Gliederung überführen zu können, sollen in einem ersten Schrittdie beiden Funktionen, die ein Artikulator ‘P’ auf der semiotischenSeite hat, auf unterschiedliche Weise notiert werden. Das heißt, wirführen zwei Operatoren d und e ein, die jeweils eine der beiden

Abbildung 2

Artikulation und Prädikation 47

Page 54: Dialogischer Konstr uktivismus

Funktionen abblenden: der d-Operator oder Demonstrator neutralisiertdie kommunikative Funktion eines Artikulators, und der e-Operatoroder die Kopula (systematisch besser Attributor genannt) seine signifika-tive Funktion. Das hat zur Folge, daß ‘dP’ nichts mehr besagt, nur nochbenennt, und ‘eP’ nur noch etwas besagt, nicht mehr benennt, also mit‘dP’ eine Verselbständigung der Signifikation und mit ‘eP’ eine Ver-selbständigung der Kommunikation artikuliert ist. In der Terminologievon Peirce müssen die ‘dP’ ebenso wie der Demonstrator selbst jeweilszusammen mit der Sprechsituation als (genuine) Indices für P-Ausfüh-rungen gelten.34

Da nun, wie stets, die semiotische Seite nur im pragmatischenVollzug verselbständigt, also als Mittel für die korrespondierendepragmatische Seite, auftritt, werden wir unter Bezug auf die dialogi-schen Rollen ›singular – universal‹ eine andere Darstellung der signifi-kativen und kommunikativen Funktion erhalten als unter Bezug auf diedialogischen Rollen ›aktiv – passiv‹. Im ersten Fall ergibt sich eineprädikationsbezogene Darstellung unter dem Titel Aussagen, im zweitenFall eine ostensionsbezogene Darstellung unter dem Titel Anzeigen.Und die beiden Operatoren d und e gehören, wie sofort klar wird, zurprädikationsbezogenen Darstellung. Die terminologische Festlegung istdamit so erfolgt, daß Sagen das Aussagen und seinen Modus undNennen das Anzeigen und seine Gegebenheitsweise einschließt. Es wirdsich zudem herausstellen, daß mit den beiden Notationen ‘dP’ und ‘eP’nicht schlicht prädikationsbezogene Verselbständigungen von Signifi-kation und Kommunikation zum Ausdruck gebracht sind, sondern nurein erster Schritt auf dem Wege zur Aufspaltung von Signifikation inGegebenheitsweise und Ostension sowie von Kommunikation inModus und Prädikation markiert ist.

Bei dieser Gelegenheit ist der Hinweis angebracht, daß durchausverschiedene ›Feinheitsgrade‹ dialogischer Konstruktion vor dem Hin-tergrund phänomenologischer Reduktion möglich und auch bei frü-heren Gelegenheiten gewählt worden sind. So lassen sich etwa dieeinfachen Wittgensteinschen Sprachspiele zu Beginn der PhilosophischenUntersuchungen als solche systematisch-genetischen Rekonstruktionender Handlungs- und Sprachkompetenz verstehen, bei denen schon imersten Schritt der Zusammenhang (und die Zerlegung) von Handlungs-Performanz und -Kompetenz auf der einen Seite und der Kommuni-kation und Signifikation von Sprachhandlungen auf der anderen Seite,

34 Cf. Scherer 1984, p 76 f.

Dialogischer Konstruktivismus48

Page 55: Dialogischer Konstr uktivismus

und zwar unter ausdrücklicher Berücksichtigung des Modus, ›rekon-struiert‹, nämlich für sie ein Maßstab bereitgestellt, sind. Auch die Lehr-und Lernsituationen meiner eigenen Elemente der Sprachkritik setzengleich mit dem Erwerb der Sprachkompetenz auf der Basis einerHandlungskompetenz ein, behandeln also die semiotischen Teile derVermittlung und der Artikulation als nachträgliche Objektivierung einerpragmatischen Basis des Gegenübers von lehren/lernen und sprechen/hören. Schon die Peirceschen Rekonstruktionen hingegen waren, wieBernd Scherer in seinen Prolegomena zu einer einheitlichen Zeichentheorienachweisen konnte, durch ihre iterierten Triaden von erheblich grö-ßerer Feinheit.

Die prädikationsbezogene Darstellung von signifikativer und kom-munikativer Funktion eines Artikulators ‘P’ auf der Basis der Trennungbeider Funktionen erfolgt durch Nebeneinanderschreiben (bzw.Nacheinandersprechen): ‘dPeP’, gelesen: ‘dies P ist P’ So wird deutlich,daß in dieser Darstellung eine singulare P-Aktualisierung im Vorder-grund der besprochenen Situation auftritt. Natürlich hätten wir ohneSchwierigkeiten auch dual verfahren und mit zwei Operatoren, demUniversalisator s zur Neutralisierung der kommunikativen Funktion unddem Pr�sentator p zur Neutralisierung der signifikativen Funktion, dieDarstellung ‘sPpP’ (gelesen: ‘Schema P ist P-vollzogen’) wählen kön-nen, bei der im Vordergrund der besprochenen Situation das universaleP-Schema auftritt. Erst, wenn es um die explizite Darstellung auch derModi Mitteilen und Auffordern geht, lassen sich die relativen Vorzügebeider prädikationsbezogenen Darstellungen, der ›singularen‹ für dasMitteilen und der ›universalen‹ für das Auffordern, angemessen beur-teilen. Das kann im Zusammenhang dieses Beitrags nicht näher erörtertwerden. Hingegen wird jetzt die auf einer Kombination beider Prädi-kationsdarstellungen beruhende traditionelle Formulierung ›das Uni-versale/das Allgemeine sP wird durch ‘eP’ von P ausgesagt‹ – es handeltsich um eine Artikulation des Vollzugs des Aussagens – durchaus ver-ständlich, obwohl sie die irreführende Behandlung des ‘P’ in ‘eP’ als›Namen‹ für sP nahelegt. In der mittelalterlichen Sprachlogik allerdingswird dieser Irreführung durch die Unterscheidung ›nominantur singu-laria, sed universalia significantur‹ begegnet.35

Für die ostensionsbezogene Darstellung von signifikativer undkommunikativer Funktion eines Artikulators ‘P’ auf der Basis einerTrennung beider Funktionen sind die beiden Operatorenpaare d, e und

35 Cf. Johannes von Salisbury 1991, part II, chap. XX.

Artikulation und Prädikation 49

Page 56: Dialogischer Konstr uktivismus

s, p, weil auf die dialogischen Rollen ›singular – universal‹ bezogen,nicht brauchbar. Statt dessen wählen wir unter Bezug auf die dialogi-schen Rollen ›aktiv – passiv‹ einmal den Demonstrator und einenOperator f, den Partitor, analog zu d und e, und dual dazu machen wirvon einem Operator j, dem Totalisator, und einem Operator n, demExemplifikator, Gebrauch, diese beiden analog zu s und p. Als Osten-sionsdarstellung ergibt sich dann: ‘dPfP’, gelesen: ‘dies P an P’.

Tatsächlich tritt in dieser Darstellung P im Vordergrund der be-sprochenen Situation nur aktiv auf; die duale Darstellung wiederum, diebezüglich P im Vordergrund der besprochenen Situation passiv ist,lautet: ‘jPnP’, (gelesen: ‘das Ganze P ist P-exemplifiziert’). So erhältman eine ähnlich suggestive, beide Darstellungen kombinierende unddaher auch zu Mißverständnissen einladende Formulierung, nämlich›das Ganze jP ist durch ‘dP’ an P angezeigt‹, eine Artikulation desVollzugs des Anzeigens.

Damit haben wir die Grundlage für die oben legitimierte und dabeizugleich Wittgensteins Sagen-(Sich)Zeigen-Differenz im Tractatus ineinem größeren Rahmen rekonstruierende Erklärung:36 Die interneRelation der Benennung (eines Objekts hinsichtlich seines semiotisch-abstrakten Anteils) wird im Aussagen angezeigt, die ebenso interneRelation der Partizipation (eines universalen Teils an einem Ganzen alspragmatisch-konkretem Anteil eines Objekts) wird im Anzeigen aus-gesagt. Allerdings ist trotz der Trennung von signifikativer und kom-munikativer Funktion eines Artikulators die Stufe der Einwortsätze unddamit die Übereinstimmung von Sprechsituation und besprochenerSituation, Vertauschung von Vordergrund und Hintergrund unbe-rücksichtigt lassend, weder mit ‘dPeP’ noch mit den drei anderenVersionen verlassen worden. Es bedarf der ausdrücklichen Hervor-bringung komplexer Artikulatoren entweder durch Zusammensetzungaus Artikulatoren oder durch ihre Zerlegung in Artikulatoren, sichtbardann an der grammatischen Struktur, um den Schritt zu Elementar-aussagen machen zu können, also diejenige Stufe zu entwickeln, auf derin der Regel das Prädizieren, ›etwas über etwas sagen‹, als Sprach-handlung aufgesucht und untersucht wird.

36 Cf. T, 4.022 ff u. 4.12 ff.

Dialogischer Konstruktivismus50

Page 57: Dialogischer Konstr uktivismus

2. Partikularia – ihre Phasen und Aspekte

In der bisherigen Darstellung waren die symbolischen Artikulationen,gleichgültig ob die Trennung ihrer beiden Funktionen, der kommu-nikativen und der signifikativen, prädikationsbezogen als Aussagen oderostensionsbezogen als Anzeigen artikuliert wurden, streng situations-abhängig. Sprechsituation mit der Äußerung eines Artikulators ‘P’ imVordergrund und besprochene Situation mit P im Vordergrund stim-men unter Vertauschung von Vordergrund und Hintergrund, einerVertauschung der Dialogrollen von Ich und Du, der pragmatischen aufder Gegenstandsebene (Lehrender – Lernender) und der semiotischenauf der Sprachebene (Sprecher – Hörer), überein. Aussagen des TypsdQeP oder Anzeigen des Typs dPfQ können nach Konstruktion nichtvorkommen. Andererseits wissen wir, daß ein Artikulator ‘P’ in einerSprechsituation eine P-Einheit, d.i. ein P-Objekt, in einer P-Situationdialogrolleninvariant artikuliert, ein P-Objekt aber aus zwei Seiten,einer abstrakten Invarianten und einer konkreten Ganzheit, als Kern derSchemata von Zeichenhandlungen (Handlungen auf der semiotischenSeite von Umgehen-mit-P) und als Hülle der Aktualisierungen vonTeilhandlungen (Handlungen auf der pragmatischen Seite von Umge-hen-mit-P), besteht mit der Folge, daß ‘P’ beliebige Zeichenhandlun-gen und beliebige Schemata von Teilhandlungen in bezug auf das P-Objekt vertritt. Der Jotaoperator i soll, die übliche Rolle als Kenn-zeichnungsoperator erweiternd, von nun an dazu benutzt werden,solche zunächst sprechsituationsabhängige Einheiten, die Partikularia, zuartikulieren. Erst ein weiterer Prozeß, der schrittweise zur Unabhän-gigkeit der Partikularia von der Sprechsituation durch dialogisch kon-struierte Trennung von Sprechsituation und besprochener Situationführt, wird den Jotaoperator auch in seiner Funktion als Kennzeich-nungsoperator auftreten lassen. Dieser Prozeß führt unter signifikativerPerspektive daher von den deiktischen Kennzeichnungen zu den be-stimmten Kennzeichnungen.

Die Individuatoren ‘iP’ artikulieren entsprechend zwei Seiten, dieabstrakte Invariante s(iP) – ein ›Zwischenschema‹ von P (bzw. sP), densemiotischen Anteil von iP – und die konkrete Ganzheit j(iP) – ein›Teilganzes‹ von P (bzw. jP), den pragmatischen Anteil von iP – ,wodurch deutlich wird, daß Partikularia aus ›halb Denken, halb Han-deln‹, in Schematisierung und in Aktualisierung, bestehen: schematisiertdurch ihre Aspekte und aktualisiert durch ihre Phasen. Partikularia sinddialogrolleninvariant – Ich auch als Du und Du auch als Ich – bestimmt.

Artikulation und Prädikation 51

Page 58: Dialogischer Konstr uktivismus

Wir haben eine systematische Rekonstruktion des traditionellen, aufAristoteles zurückgehenden, Lehrstücks vor uns, daß Partikularia (beiAristoteles: 6jasta), darunter die Einzeldinge, aus ›Form‹ (eWdor, i. e.s(iP), obwohl klassisch dabei meistens auf das allgemeinere sP zu-rückgegriffen wird) und ›Stoff‹ (vkg, i. e. j(iP)) bestehen (bei Alexandervon Aphrodisias in seinem Kommentar zu den aristotelischen Meta-physica ausdrücklich ein mixtum compositum, s¼mhetom 1n vkgr ja·

eWdour37), wobei sich zwanglos jeweils jP als ›primäre Substanz‹ und die

j(iP) als ›sekundäre Substanzen‹ auszeichnen lassen und darüber hinausdie Lehre von den Partikularia als infima species zurückweisen läßt.

In einer Aussage ‘iPeP’, wie wir jetzt statt ‘dPeP’ schreiben können,wird das Universale sP durch ‘eP’ von j(iP) ausgesagt, und umgekehrtwird in der Anzeige ‘dPfP’ durch ‘dP’ das Ganze jP an s(iP) angezeigt.Durch beide Darstellungen, der prädikationsbezogenen mit einerHandlung auf der Sprachebene und des ostensionsbezogenen mit einerHandlung auf der Gegenstandsebene, ist die Doppelnatur der Partiku-laria artikuliert worden. Natürlich gilt Gleiches für die Situationen.Auch sie sind ihrer Dialogrolleninvarianz wegen mixta composita – undhier ist eine Situationseinheit wörtlich ein ›Kompositum‹ aus Ich-Per-spektive (Vordergrund) und aus Du-Perspektive (Hintergrund), statt›komponiert‹ durch Rollenübernahme.

Diese Überlegungen eignen sich, um zum Beispiel Wittgensteins, ineine dialogische Situation eingebettete, Betrachtung zum Unterschiedvon Meldung und Ausruf am Beispiel eines Hasen in der Landschaft,also einer Hasensituation, besser zu verstehen:

Ich schaue auf ein Tier; man fragt mich: ›Was siehst du?‹ Ich antworte:›Einen Hasen.‹ – Ich sehe eine Landschaft; plötzlich läuft ein Hase vorbei.Ich rufe aus: ›Ein Hase!‹ Beides, die Meldung und der Ausruf, ist einAusdruck der Wahrnehmung und des Seherlebnisses. Aber der Ausdruck istes in anderem Sinne, als die Meldung. Er entringt sich uns. – Er verhält sichzum Erlebnis ähnlich, wie der Schrei zum Schmerz.

Aber da er die Beschreibung einer Wahrnehmung ist, kann man ihnauch Gedankenausdruck nennen. – Wer den Gegenstand anschaut, mußnicht an ihn denken; wer aber das Seherlebnis hat, dessen Ausdruck derAusruf ist, der denkt auch an das, was er sieht.

Und darum erscheint das Aufleuchten des Aspekts halb Seherlebnis,halb ein Denken.38

37 Cf. CAG I, p. 545, l. 30 ff; p. 497, l. 4 ff.38 PU, II. XI.

Dialogischer Konstruktivismus52

Page 59: Dialogischer Konstr uktivismus

Hier vertritt Wahrnehmung eine Zeichenhandlung bezüglich Hase (imSchema-Aspekt) und Seherlebnis eine (aktualisierte) Teilhandlung be-züglich Hase. Im Fall des Ausrufs gehört ‘Hase’ auch zum Seherlebnis,im Fall der Meldung liegt nur eine die Wahrnehmung vertretendeZeichenhandlung vor. Im Seherlebnis ist ein semiotischer und einpragmatischer Anteil ›des Hasen‹ enthalten.

Die Aussage ‘iPeP’ übrigens kann sowohl als explizite Version von‘deP’ – der Demonstrator ist zusammen mit der Sprechsituation einIndex für ein P-Objekt (‘dies ist (ein) Hase’) – als auch von ‘jnP’ – hierist der (P-exemplifizierte) Totalisator in der Sprechsituation ein Ikon füreine P-Situation (‘es [das Ganze hier] ist (eine) Hasensituation’, mit derKopula formuliert, entspricht dem mit dem Exemplifikator formulierten‘das Hasenganze [die ›Hasenheit‹] ist Hase-exemplifiziert’) – gelesenwerden, im ersten Fall (dies ist …) wird von einem P-Objekt, imzweiten Fall (es ist …) von einer P-Situation geredet. Ohne Artikula-toren fungiert der Demonstrator als reiner Vollzugsindex (tºde ti) undder Totalisator als reines Ikon für ›die Welt im Ganzen‹ (fkom).

Die Trennung von Sprechsituation und besprochener Situation unddamit die Verfügung über zunehmend situationsunabhängiger be-stimmte Partikularia wird möglich mit der Einführung komplexer Ar-tikulatoren, im einfachsten Fall aus zwei Artikulatoren ‘P’ und ‘Q’. Wirsetzen also voraus, daß P-Objekte in P-Situationen und Q-Objekte inQ-Situationen artikuliert werden können und nehmen als Beispiele: PÐHolz, Q ÐStuhl und P ÐRauchen, Q ÐMensch. Was soll es jetzt

heißen, in einer Q-Situation ‘P’ zu äußern – im Beispiel: in einerStuhlsituation ‘Holz’ oder in einer Menschsituation ‘Rauchen’? NachVoraussetzung ist die Sprechsituation, eine ‘P’-Situation, zugleich eineQ-Situation. Da sich der Hörer (Du) in der Sprechsituation und derSprecher (Ich) dabei in der besprochenen Situation befindet, wegen derDialogrolleninvarianz aber beide – unter Vertauschung von Vorder-grund und Hintergrund – in bezug auf P übereinstimmen, ist für Ich einP-Objekt im Vordergrund der Q-Situation und die Äußerung ‘P’ inihrem Hintergrund, umgekehrt für Du. Darüber hinaus gehört wegender gemeinsamen Q-Situation auch ein Q-Objekt für Ich und für Du inden Vordergrund der Q-Situation, Sprechsituation und besprocheneSituationen stimmen also nicht überein.

Im Vordergrund der besprochenen Situation, artikuliert durch ‘P’,befinden sich jetzt zwei Partikularia, die als ein komplexes Partikularebegriffen werden müssen. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: ein Aspektvon P, eine Zeichenhandlung aus s(iP), ›passt zu‹ einer Phase von Q,

Artikulation und Prädikation 53

Page 60: Dialogischer Konstr uktivismus

einer Teilhandlung aus j(iQ) (im Beispiel: Auf-dem-Stuhl-aus-Holz-sitzen als ›Teilhandlung von Stuhl‹ ist zugleich die ›Zeichenhandlung fürHolz‹ Auf-dem-Holz-des-Stuhls-sitzen), prädikativ artikuliert durch‘ePiQ’ (im Beispiel: ‘ist ein Holz dieses Stuhls’ bzw. ‘ist ein Rauchendieses Menschen’), oder eine Phase von P, eine Teilhandlung aus j(iP),›passt zu‹ einem Aspekt von Q, einer Zeichenhandlung aus s(iQ),ostensiv artikuliert durch ‘d(QP)’ (im Beispiel: ‘dieses stuhlförmigeHolz’ bzw. ‘dieses ›menschliche‹ [zu einem Menschen gehörende]Rauchen’).

Anstelle von ‘dPiQ e PiQ’ schreiben wir ‘iQeP’ und anstelle von‘d(QP)f(QP)’ entsprechend ‘dPfiQ’ (im Beispiel: unter einem Aspektvon Holz/Rauchen und in einer Phase von Stuhl/Mensch ist dieserStuhl hölzern bzw. dieser Mensch rauchend; in einer Phase von Holz/Rauchen und unter einem Aspekt von Stuhl/Mensch gehört einVollzug des Umgehens-mit-Holz zu diesem Stuhl bzw. ein Vollzug desUmgehens-mit-Rauchen zu diesem Menschen). Anschaulich gespro-chen wird mit der Elementaraussage ‘iQeP’ ausgesagt, daß Vollzüge ausj(iQ) zugleich das Schema sP aktualisieren, d.h. dQeP, und j(iQ) istTr�ger des Universale sP und damit der Eigenschaft sP; hingegen wird mit‘dPfiQ’ angezeigt, daß Schemata aus s(iQ) zugleich das Ganze jP ex-emplifizieren, d.h. dPfQ, und s(iQ) ist Erscheinung des Ganzen jP unddamit der Substanz jP.

Etwas sorgfältiger geredet wird im ersten Fall dem j(iQ) P-attribuiert,das Partikulare auf der Seite der konkreten Ganzheit durch ‘eP’ als eineP-Instanz und damit als Träger einer Eigenschaft ausgesagt – deshalb inder Tradition die Charakterisierung der ›Beziehung‹ zwischen Eigen-schaft sP und Substanz j(iQ) in wahren Elementaraussagen durch In-h�renz, derjenigen zwischen Substanz und Eigenschaft, also der kon-versen, durch Subsistenz39 – im zweiten Fall hingegen wird s(iQ) P-partitioniert, das Partikulare auf der Seite der abstrakten Invarianten durch‘dP’ als mit einem P-Teil ausgestattet und damit als Erscheinung einerSubstanz angezeigt – deshalb in der Tradition die konkurrierendeCharakterisierung der ›Beziehung‹ zwischen s(iQ) und j(iP) durchIdentit�t, eine pars-pro-toto-Beziehung.40 Der mittelalterliche Streitzwischen einer Inhärenztheorie der Prädikation und einer Identitäts-

39 Cf. Ziehen 1920, §§ 110 f.40 Cf. z.B. Henry 1972, pp 53 ff.

Dialogischer Konstruktivismus54

Page 61: Dialogischer Konstr uktivismus

theorie der Prädikation41 findet so eine einsichtige Erklärung und zu-gleich seine Auflösung.

Das läßt sich noch besser sichtbar machen, indem die bisherigeDarstellung der Partikularia iQ aus Phasen – die Hülle ihrer Aktuali-sierungen ist j(iQ) – und Aspekten – der Kern ihrer Schemata ist s(iQ)– , die es möglich gemacht hat, eine ›innere‹ Phase durch Attributioneiner Eigenschaft und einen ›äußeren‹ Aspekt durch Partition, Aus-stattung mit einem Teil, und damit die ›Vereinigung‹ zweier Partikulariawiederzugeben, als explizite Konstruktion einer Transformation vonBinnengliederung in Außengliederung und umgekehrt, eine Involution,aufgefaßt wird, bei der ein Teil eines Partikulare in eine seiner Eigen-schaften und eine Eigenschaft in einen Teil von ihm umgewandeltwerden (im Beispiel: eine ›Teilhandlung von Stuhl‹, eigentlich dieverselbständigte pragmatische Seite eines Umgehens-mit-Stuhl, in eine›Zeichenhandlung für Holz‹, eigentlich die verselbständigte semiotischeSeite eines Umgehens-mit-Holz, und umgekehrt).

Der Hintergrund einer Q-Situation kann stets als Eigenschaft desQ-Objekts im Vordergrund angesehen oder aber in den Vordergrundals Teil des Q-Objekts übernommen werden.42 Schließlich kann dieAnzeige ‘dPfiQ’ aus Symmetriegründen – Vertauschung von Aspektund Phase – auch prädikationsbezogen wiedergegeben werden durch‘iPeQ’ (im Beispiel: ‘dieses Holz ist stuhlförmig’ bzw. ‘dieses Rauchenist ›menschlich‹ [zu einem Menschen gehörend]’) und entsprechend dieAussage ‘iQeP’ ostensionsbezogen durch ‘dQfiP’ (im Beispiel ‘dies[Umgehen mit] Stuhl gehört zu diesem Holz’ bzw. ‘dies [Umgehen mit]Mensch gehört zu diesem Rauchen’). Aber wir werden noch sehen, daßes unvernünftig wäre, auf diese Weise die Vordergrund-Hintergrund-Differenzierung wieder rückgängig zu machen, die Identifizierung vonObjekten, zum Beispiel Menschen (vor variablem Hintergrund, z.B.Rauchen, Essen), bei gleichzeitiger Berücksichtigung ihres Wandels,zum Beispiel rauchend, essend (vor konstantem Hintergrund, z.B. einerMenschsituation), bliebe situationsgebunden und ließe sich nicht si-tuationsinvariant machen.

Eigenschaft sP und Substanz jP sollen nun zusammengenommendie Referenz eines Artikulators ‘P’ bilden, wobei unter Eigenschaft dieintensionale Referenz und unter Substanz die extensionale Referenz zuverstehen ist. In entsprechender Weise – und damit werden auch diese

41 Cf. Moody 1953; Pinborg 1972.42 Zum Nachweis der Eineindeutigkeit dieser Transformation, cf. Lorenz 1977.

Artikulation und Prädikation 55

Page 62: Dialogischer Konstr uktivismus

terminologischen Vorschläge im Lichte des bisherigen Sprachgebrauchs,der an Freges nur einfach vorgenommener, aber für alle Sortensprachlicher Ausdrücke durchgesetzten, Trennung von Sinn und Re-ferenz orientiert bleibt, besser verständlich – kann dann von der Re-ferenz der Individuatoren ‘iP’ gesprochen werden: j(iP) und damit dasPartikulare als konkrete Ganzheit – aufgebaut ›von unten‹ – ist dieextensionale Referenz, s(iP) hingegen und damit das Partikulare alsabstrakte Invariante – aufgebaut ›von oben‹ – die intensionale Referenz.

Gottfried Wilhelm Leibniz verfügt mit seiner Monadologie überbeide Möglichkeiten, allerdings nicht miteinander verschränkt: eineeinfache oder individuelle Substanz (das ist die ›Monade‹ s(iP) und nichtj(iP), ihr ›Körper‹!) ist ein ›vollständiges Seiendes‹ (Estre complet), daseinen so ›vollständigen Begriff‹ (notion si accomplie) hat, „qu’elle soitsuffisante à comprendre et à en faire déduire tous les prédicats du sujet àqui cette notion est attribuée“,43 eben die zu s(iP) gehörenden Aspektedes Partikulare. Erst die Ersetzung des ›Phänomens‹ j(iP) durch sein›Fundament‹ s(iP) an Subjektstelle verwandelt ein (empirisch) synthe-tisches Urteil in ein (rational) analytisches Urteil und begründet es damitnach Leibniz.

Der Übergang von ‘dPiQ e PiQ’ zu ‘iQeP’, also die Einführung der(einstelligen) Elementaraussage, verdankt sich der Umkehrung undPräzisierung einer Idee von Hans Reichenbach,44 die übliche ›Ding-sprache‹ in eine ›Ereignissprache‹ dadurch zu übersetzen, daß alle prä-dikativen Anteile des Subjektterms einer einstelligen Elementaraussagein den Prädikatterm überführt werden. Reichenbach benutzt dafüreinen ›Sternoperator‹ und verwandelt so, zum Beispiel, ‘dieser Menschraucht’ in ‘dies ist Rauchen dieses Menschen’ beziehungsweise ‘dieserStuhl ist hölzern’ in ‘dies ist Holz dieses Stuhls’, also (iQeP)* = PiQ. JedeElementaraussage – und dann auch jede logisch zusammengesetzteAussage – kann auf diese Weise auf einen (komplexen) Artikulatorzurückgeführt werden, der als Adressat all jener semantischen Erörte-rungen aufzufassen ist, die bisher unter dem Titel ›Satzsemantik‹ denAussagen gegolten haben. Aussagen gehören wieder ganz ins Gebieteiner Untersuchung von Zeichengebrauch und nicht von Zeichenbe-deutung; sie sind zusammen mit ihren Modi der Gegenstand einerSprachpragmatik, und nur die Artikulatoren lassen sich sowohl hin-sichtlich ihrer kommunikativen als auch ihrer signifikativen Funktion

43 Discours de Métaphysique, §8.44 Cf. Reichenbach 1947, §48.

Dialogischer Konstruktivismus56

Page 63: Dialogischer Konstr uktivismus

untersuchen. Gleichwohl werden auch weiterhin signifikationsbezo-gene Erörterungen zu komplexen Artikulatoren schon deshalb nichtunabhängig von kommunikationsbezogenen ablaufen können, weil imProzeß selbst der Zusammensetzung die auf die signifikative Funktionbezogene Komposition nur unter Bezug auf die kommunikativeFunktion bestimmbar ist, wie es in den Fällen ‘PiQ’ und ‘QP’ deutlichgeworden ist.

Die oberflächengrammatische Realisierung beider Zusammenset-zungen ist natürlich vom grammatischen Repertoire natürlicherSprach(famili)en abhängig; sie erfolgt in indoeuropäischen Sprachen imFall ‘PiQ’ durch eine Possessivkonstruktion, die Relativierung von ‘P’etwa zu ‘P von’, einem zweistelligen Artikulator (von P-Objekten inQ-Situationen), und anschließende Einsetzung eines Q-Individuators‘iQ’ an der zweiten Stelle. Dabei muß man sich klar machen, daß beidem Übergang von ‘P’ zu ‘P von iQ’ die Artikulationsfunktion von ‘P’restringiert wird, nämlich von der Artikulation von P-Objektenschlechthin auf P-Objekte in Q-Situationen: der ursprünglich zu Pgehörende Q-Anteil ist in ‘P von iQ’ aus P ausgegliedert worden. Imübrigen dient diese grammatische Konstruktion selbstverständlich auchnoch anderen Zwecken, zum Beispiel dort, wo sich ‘P’ von Haus auseiner Variablenbindung in ‘P von’ verdankt (z.B. ‘Holz dieses Stuhls’ vs.‘Vater dieses Menschen’), mit ‘P’ daher nicht P-Objekte artikuliert,sondern bereits artikulierte Objekte klassifiziert werden. Die Unter-scheidung von P-Instanzen aufgrund einer P-Attribution und aufgrundeiner P-Klassifikation geht auf die weiter unten behandelte Unter-scheidung apprädikativer und eigenprädikativer Verwendung von Prä-dikatoren zurück.

Der hier eingeschlagene Weg einer systematisch-genetischen Re-konstruktion von Sprache bis zu den elementaren SprachhandlungenArtikulation und Prädikation – und darin ist er der Sprachauffassungvon, zum Beispiel, Aristoteles und Leibniz verwandt – verläuft zwischenzwei nur formal möglichen Extremen, die sich wie folgt charakterisierenlassen: (a) bei sämtlichen Artikulatoren ‘P’ einschließlich ihrer Zusam-mensetzungen bleibt die Artikulation der Objekte auf ihren semioti-schen Anteil beschränkt, es werden ausschließlich P-Attribute von der›Welt im Ganzen‹ j ausgesagt – es gibt nur eine ›Substanz‹ mit internenEigenschaften, die Position zum Beispiel von Baruch de Spinoza, (b)sämtliche Artikulatoren ‘P’ werden auf den Artikulator ‘Gegenstand’ zurArtikulation des ›Universalschemas‹ s (in der Tradition die obersteGattung ›Sein‹ mit ihren Einheiten ›Seiendes‹) zurückgeführt, von

Artikulation und Prädikation 57

Page 64: Dialogischer Konstr uktivismus

dessen ›einfachen‹ Einheiten sich nur noch ihre relationale Struktur,etwa ihre ›Konfiguration‹, aussagen läßt – es gibt viele ›Substanzen‹ mitexternen Beziehungen, im Grundsatz die Position des logischen Ato-mismus, zum Beispiel bei Bertrand Russell während der Diskussionenmit dem jungen Wittgenstein.45 Interne und externe Strukturierung,radikalisiert entweder durch Beschränkung auf Vordergrund oder durchVerzicht auf jede Binnenstruktur des Vordergrunds, sollten jedoch nichteinander konkurrierend sondern einander ergänzend verstanden wer-den.

Die oberflächengrammatische Realisierung der Zusammensetzung‘PQ’, einer Spezialisierung von ‘Q’, erfolgt durch Modifikation mithilfeeines attributiv hinzugefügten ‘P’ und verdankt sich der Überführungdes Prädikatterms einer einstelligen Elementaraussage ‘iQeP’ in denSubjektterm, diesen dabei näher bestimmend.

Sowohl Relativierung als auch Spezialisierung lassen sich iterieren:‘Rauchen dieses Menschen dieser Stadt’ beziehungsweise ‘Pfeife rau-chender Mensch’ etc. Deshalb ist es, systematisch gesehen, also inner-halb einer ›logischen‹ Grammatik, unsinnig, obgleich es für empirischeGrammatiken oder auch nur Grammatikformen natürlicher Sprachendurchaus praktisch durchführbar sein mag, vorab durch Einführunggenügend vieler Variablen zu jedem Artikulator die Anzahl der inAnwendungen nötig werdenden Relativierungsschritte festlegen zuwollen. Aber auch in empirischen Grammatiktheorien wäre es imLichte des hier vorgetragenen Aufbaus angemessener, Dingartikulatorenvon vornherein mit mindestens einer freien Variablen für Handlungendes Umgehens mit Dingen auszustatten – Dingartikulatoren sind janichts anderes als eben solche Formen – , statt regelmäßig für Hand-lungsartikulatoren bereits Variable für Handlungsobjekte vorzusehen.46

Wir waren ausgegangen von der Äußerung ‘P’ in einer Q-Situationund hatten bisher allein die besprochene Situation, also die des Spre-chers, erörtert, in der sich der Hörer nicht befindet, von der wir abersagen wollen, daß er sie, wie der Sprecher natürlich auch, weil nachVoraussetzung über die Artikulationen mit ‘P’ und ‘Q’ und damit auchüber die komplexe Artikulation mit ‘PiQ’ verfügend, ›sich vorstellen‹kann. Es soll sinnvoll sein zu sagen, daß auch der Hörer ›weiß, wovondie Rede ist‹. Wie läßt sich diese Redeweise einlösen? An dieser Stellehilft es weiter, wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Artikulator ‘P’

45 Cf. etwa Russell 1918.46 Cf. z.B. Rescher 1967.

Dialogischer Konstruktivismus58

Page 65: Dialogischer Konstr uktivismus

als symbolischer Artikulator die Vertretung beliebiger Zeichenhand-lungen, gegebenenfalls unter Einschluß seiner selbst, also von Aspektenin bezug auf P und auch von Schemata von Teilhandlungen von Pübernimmt. Mit der Äußerung von ‘P’ in einer Q-Situation werdenmindestens eine Zeichenhandlung bezüglich P durch den Sprechervollzogen und mindestens eine Zeichenhandlung bezüglich P, abernicht unbedingt dieselben, vom Hörer verstanden (z.B. vollzieht derSprecher mit ‘P’ zugleich Hinsehen-auf-das-Rauchen in der Mensch-situation, der Hörer aber versteht neben dem Schema ‘P’ nur nochRauchen-skizzieren in derselben Menschsituation). Das Verfügen überdie schematische Seite oder ›Schemaverstehen‹ eines Aspekts (oder aucheines Phasenschemas) von einem Objekt soll das Sich-vorstellen des Ob-jekts in einer Situation unter einer Perspektive heißen; dem steht mit derAktualisierung eines Aspekts (oder auch eines Phasenschemas) das Pr�-sentieren des Objekts in einer Situation unter einer Perspektive gegenüber. FürSprecher und Hörer braucht beides nicht zusammenzupassen.

Die Äußerung ‘P’ in einer Q-Situation tritt dem Hörer gegenüber,also in ihrer kommunikativen Funktion, als ein durch den Modus derÄußerung ausgedrückter Anspruch auf, die Übereinstimmung vonSprechsituation und besprochener Situation erzeugen zu können. ImModus der Kommunikation findet sich auf der Ebene sprachlichenHandelns die ursprünglich auf der Handlungsebene entwickelte Auf-gabe wieder, die für die Bestimmung von PiQ erforderliche Phasen-gliederung (erneut) vorzunehmen, ganz entsprechend der in der Ge-gebenheitsweise der Ostension dPiQ auf der Ebene sprachlichen Han-delns wiederkehrenden Erfahrung, die sich ursprünglich in der Aspek-tegliederung von PiQ auf der Zeichenebene niedergeschlagen hat.

Der Forderung nach ontologischer Bestimmung der Objekte wirddurch die Phasengliederung entsprochen, derjenigen nach ihrer epis-temologischen Bestimmung durch ihre Aspektegliederung. In denGegebenheitsweisen einer Ostension zeigt sich (auf der Metastufe) dieAneignung der naturalisierten Aspekte, sie (und damit die Gegeben-heitsweise) wird in Perzeptionen – soweit es Wahrnehmungsaspektebetrifft sind das die Wahrnehmungsurteile der Tradition – auf der kom-munikativen Seite artikuliert; mit den Modi einer Prädikation hingegenwird die Distanzierung der symbolisierten Phasen (auf der Metastufe)ausgesagt, sie (und damit der Modus) ist durch Performatoren – darunterdie in der Sprechakttheorie geläufigen – auf der signifikativen Ebeneartikuliert.

Artikulation und Prädikation 59

Page 66: Dialogischer Konstr uktivismus

Der Modus entscheidet über die Art der Einlösung des Anspruchsauf übereinstimmende Situationsgliederung. Der Grenzfall, daß mit derÄußerung ‘P’ in einer Q-Situation allein schon ‘PiQ’ als vom Sprechervollzogene und vom Hörer verstandene Zeichenhandlung auftritt, unterdieser Perspektive also Sprechsituation und besprochene Situationübereinstimmen – nichts anderes besagt die gemeinsame Verfügbarkeitder komplexen Artikulation mit ‘PiQ’ – ist als Verst�ndlichkeit der Äu-ßerung ‘P’ in der Q-Situation und damit als Verständlichkeit der ge-äußerten Aussage ‘iQeP’ ein in jedem Modus enthaltener und mit derÄußerung unter der genannten Voraussetzung bereits eingelöster An-spruch.

Übereinstimmende Situationsgliederung und damit Anerkennung derAussage ‘iQeP’ in bezug auf ihren Modus kann im übrigen nur so erreichtwerden, daß man nach Regeln, die den jeweiligen Modus charakteri-sieren, solche Perspektiven sucht, unter denen Vorstellung und Prä-sentation einander entsprechen. Im wichtigen Modus des Behauptens,der zur Modusart des Mitteilens gehört, bedeutet Anerkennung dieWahrheit der Aussage. In diesem Fall muß Übereinstimmung unterPerspektiven aller vier Sorten: Hervorbringung, Vermittlung, Artiku-lation und Wahrnehmung, gelingen. Anschaulich gesprochen geschiehtdas, indem mit einer Variation der Q-Situation die Phasengliederungvon iQ – die Präsentation – und mit der dadurch hervorgerufenenVariation der P-Situation auch die Aspektegliederung von P (‘iP’ darfhier nicht stehen, das P-Objekt ist abhängig von iQ bestimmt!) – dieVorstellung – soweit einander angeglichen werden, daß ein PiQ-Objektpars-pro-toto die Aussage ‘iQeP’ wahr macht.

Für andere Modi hingegen, zum Beispiel den Modus des Erzählens,der ebenfalls zur Modusart Mitteilen gehört, genügt Übereinstimmungallein unter semiotischen Perspektiven, also Artikulationen und (wohlnicht für alle Erzählarten erforderlichen) Wahrnehmungen. Hierbeigeht es nicht um Wahrheit sondern um Authentizität. Jeder Geltungs-anspruch läßt sich nur unter Bezug auf einen Modus erheben. Dahermacht es auch keinen Sinn, von der Wahrheit von Aussagen unabhängigvom Behauptungsmodus ihrer Äußerung zu reden. Der sich aus demhier vorgetragenen Aufbau ergebende Wahrheitsbegriff ist ein prag-matischer und kein semantischer: „Die Form des Behauptungssatzes istalso eigentlich das, womit wir die Wahrheit aussagen, und wir bedürfendazu des Wortes ‘wahr’ nicht“.47 Die besondere Bedeutung der Be-

47 Frege 1969, p 139; cf. dazu Lorenz 1980, p 9 f.

Dialogischer Konstruktivismus60

Page 67: Dialogischer Konstr uktivismus

hauptungen ergibt sich aus den Regeln zur Einlösung des mit ihnenerhobenen Wahrheitsanspruchs: es wird Übereinstimmung vonSprechsituation und besprochener Situation unter allen vier SortenPerspektiven verlangt. Auf der einen Seite gewinnen wir eine ge-meinsame Welt aufgrund einer in begrenztem Umfang übereinstim-menden Sprache: ›Objektivität‹ ist ein Ergebnis symbolischer Artiku-lation; auf der anderen Seite wird die Verwendbarkeit sprachlicherÄußerungen durch die in begrenztem Umfang tradierbare Dauerhaf-tigkeit der Gegenstandstypen garantiert: ›Stabilität‹ ist ein Ergebniskomprehensiver Vermittlung.

Dem Diagramm der dritten Abbildung läßt sich entnehmen, daß eszu der für den letzten Abschnitt vorgesehenen Untersuchung der Ele-mentaraussagen gehört, noch zwei weitere, auf Formbildung beruhendeAbstraktionsprozesse zu behandeln, die es erlauben, zum einen Eigen-schaften zu Begriffen zusammenzufassen und zum anderen Substanzenin Elemente einer Klasse zu zerlegen. Erst dann werden wir die syste-matisch-genetische Rekonstruktion bis zu derjenigen Stufe wenigstensgrundsätzlich vorangetrieben haben, auf der die gegenwärtig verbrei-teten mengentheoretischen und mereologischen Modellbildungen ein-setzen.

3. Die Elementaraussage – Prädikatoren und Nominatoren

Die Elementaraussagen ‘iQeP’ und ‘iPeQ’, die wir als zwei möglicheprädikative Darstellungen einer P-Artikulation in einer Q-Situationerhalten haben, ‘iQeP’ aus ‘dPiQ e PiQ’ und ‘iPeQ’ aus ‘d(QP)f(QP)’, unddie sich im ersten Fall dem ›Zusammenpassen‹ von s(iP) und j(iQ) (eine›Zeichenhandlung für Holz‹ ist zugleich eine ›Teilhandlung von Stuhl‹)und im zweiten Fall dem ›Zusammenpassen‹ von s(iQ) und j(iP) (eine›Zeichenhandlung für Stuhl‹ ist zugleich eine ›Teilhandlung von Holz‹)verdanken – sie gehen durch Involution auseinander hervor und kön-nen daher auch als prädikative Darstellung einer Q-Artikulation in einerP-Situation aufgefaßt werden – erlauben zwar jetzt die Redeweise ‘dieEigenschaft sP wird von j(iQ) ausgesagt’ oder ‘j(iQ) ist eine P-Instanz’beziehungsweise ‘die Substanz jP wird an s(iQ) angezeigt’ oder ‘s(iQ)hat einen P-Teil’, aber noch immer sind situationsunabhängige Iden-tifizierungen der Partikularia, also Identitätsaussagen auf der Basis derIndividuatoren allein nicht möglich.

Artikulation und Prädikation 61

Page 68: Dialogischer Konstr uktivismus

Die jetzt auch artikulierten Perspektiven der Partikularia, seien sieAspekte oder Phasen, müssen eingesetzt werden, um Partikularia ent-weder durch Eigenschaften oder durch Teile zu charakterisieren. AlsKandidaten können dabei die wesentlichen Eigenschaften beziehungs-weise Substanzen von Q-Partikularia, die sich dadurch auszeichnenlassen, daß sie an allen Q-Partikularia auftreten, als ungeeignet ausge-schieden werden, es sei denn, man möchte sie als Charakteristika desGrenzfalls ›Gesamt-Q‹, bestehend aus seinen zwei Seiten, der einheit-lichen Substanz jQ aller Q-Partikularia und der universellen EigenschaftsQ aller Q-Partikularia, auffassen. Im Falle von ‘Wasser’ für ‘Q’, z.B.,

Abbildung 3

Dialogischer Konstruktivismus62

Page 69: Dialogischer Konstr uktivismus

wäre jQ das konkrete Ganze allen Wassers und sQ das abstrakteWasserschema.48

Alle übrigen Artikulatoren für Aspekte beziehungsweise Phasen vonQ charakterisieren je nach Auswahl die ›Feinheit‹ der Q-Individuationin Partikularia als Einheiten aus Invarianten und Ganzheiten. Die üb-lichen Verfahren sind entweder Kennzeichnung der Invarianten oderkennzeichnende Teile der Ganzheiten.49

Genau genommen ist Substanz eine ›Form‹: jP wird durch Hand-lungsvollzüge dP an Partikularia iQ angezeigt, ist also die streng prag-matische Fassung einer traditionellen ›Anschauungsform‹, eben der›Anzeigeform‹ ‘jPx’ mit einer Variablen x für Partikularia iQ. Das P-Teil von iQ ist eine der Realisierungen dieser Form, nämlich ein Ele-ment einer durch Individuation aus der Substanz hervorgegangenenKlasse ÆP: j(i(QP)) als ein Element von ÆP partizipiert an iQ. Mit denBeispielen für ‘P’ und ‘Q’ hätte man zu lesen:‘dies stuhlförmige Holz’,nämlich ein Holz mit ›aufgeprägter‹ Stuhlform – die Q-Attribution aus‘iPeQ’ ist in ›attributive‹ Stellung von ‘Q’ relativ zu ‘P’ verwandelt, derFall einer Spezialisierung von ‘P’ – , ist ein Element der Klasse von›Holzstücken‹, die als Teile beliebiger iQ auftreten.

Ersichtlich können Substanzen auf viele Weisen als Klassen von(nicht notwendig disjunkten!) Einheiten auftreten, und in natürlichenSprachen, den verschiedenen, durch Fachsprachen aufgrund besondererHandlungskompetenzen angereicherten Umgangssprachen, werdenauch verschiedene Normierungen nebeneinander auftreten, z.B. Was-ser als Klasse der Wassermoleküle neben Wasser als Klasse von Ein-heiten, die jeweils durch die Situationen, in denen Wasser auftritt,bestimmt sind.

Auf der anderen Seite nun ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen,daß im Aussagen einer Eigenschaft sP von iQ natürlich ein Aspekt vonP als Gegebenheitsweise von iQ identifiziert wird – wenn etwa von derEigenschaft Hölzernsein geredet wird, so vertritt ‘hölzern’ eine Ton-qualität beim Draufschlagen auf Holz und ein Durchsägenkönnen undeine Maserung und andere ›sinnliche‹ Aspekte von Holz, mithin ist mit›hölzern‹ die Eigenschaft nur intersensuell charakterisiert, und statt ‘höl-zern’ könnte ebensogut ‘durchsägbar‹, ‘gemasert’ oder Ähnliches stehen,d.h. Artikulatoren, die ihrerseits eine intersensuelle Rolle spielen – , esdaher einer ›begrifflichen‹ Zusammenfassung aller von ‘P’ vertretenen

48 Cf. die Behandlung von ›mass-terms‹ als ›singular terms‹ bei Quine 1960, §19.49 Cf. Lorenz 1977.

Artikulation und Prädikation 63

Page 70: Dialogischer Konstr uktivismus

Eigenschaften bedarf, die jeweils an einem iQ auftreten können. Die P-Attribution erfüllt die als Begriff ¢P auftretende ›Aussageform‹ ‘x¢P’, unddie in ‘iQeP’ von iQ ausgesagten Eigenschaften realisieren die Merkmaledes Begriffs ¢P, also die ›Teilbegriffe‹: j(iQ) fällt unter den Begriff ¢P,ein interlinguales Abstraktum, realisiert durch die in seinen Merkmalenbegrifflich gefaßten Eigenschaften. Das macht deutlich, daß es nur eineeinzige begriffliche Charakterisierung von Eigenschaften sP gebenkann, diejenige nämlich, deren Merkmale von den wesentlichen Ei-genschaften von P-Partikularia realisiert werden.

Die Anzeigeform ist als Substanz ein Konkretum, die Aussageformals Begriff – hier handelt es sich um die semiotische Fassung der tra-ditionellen ›Denkformen‹ – ein Abstraktum. Die Realisierungen dieserFormen, im ersten Fall durch Elemente einer die Einheitengliederungder Substanz bildenden Klasse – zweckmäßigerweise ebenfalls als Ex-emplifikation eines Konkretums bezeichnet – und im zweiten Fall durchEigenschaften, die den Merkmalen des Begriffs gehorchen – hier sollteman von der Repr�sentation eines Abstraktums reden – , führen zu spe-ziellen Fassungen der schon weiter oben erläuterten beiden internenRelationen der (durch Partition ermöglichten) Partizipation und der(durch Attribution ermöglichten) Bezeichnung, diese jetzt unter demTitel ‘Nomination’ oder ‘Benennung’ weitergeführt. Damit ist auch derAnschluß an die seit Frege geläufige Redeweise, nach der Begriffe,unter die ein Gegenstand fällt, als dessen Eigenschaften bezeichnetwerden,50 bis auf die Differenz der logischen Stufe von ‘Begriff’ und‘Eigenschaft’ erreicht worden.

Klasse ÆP und Begriff ¢P zusammengenommen sollen nun wegenihres prädikativen und damit ›ungesättigten‹ Charakters den Sinn einesArtikulators ‘P’ bilden, und zwar eine Klasse den extensionalen Sinn undder Begriff den intensionalen Sinn. Daraus folgt, daß für die P-Partikularia– sie sind sowohl P-Instanzen als auch P-Elemente – der Begriff ¢P dazuverwendet wird, um Eigenschaften sP aussagen zu können, und auf dieAnzeige der Substanz jP zurückgegriffen werden muß, um eine KlasseÆP zu bilden. Intensional ist der Sinn für die Referenzbestimmung er-forderlich – wir befinden uns in der Bewegung vom Zeichen, einer›mentalen Größe‹, zum Zeichen bezüglich Gegenstand, d.i. dem ›Aus-sagenmachen‹, extensional hingegen bedarf es der Referenz, um einenSinn zu bekommen – hier liegt die umgekehrte Bewegung vor, vomGegenstand, einer ›corporalen Größe‹, zum Gegenstand mit Zeichen,

50 Cf. Frege 1892, p 175.

Dialogischer Konstruktivismus64

Page 71: Dialogischer Konstr uktivismus

d.i. der ›Namengebung‹. Beide Bewegungen können, wie der gesamteAufbau zeigt, nicht unabhängig voneinander vollzogen werden.

Als Bedeutung [meaning] eines Artikulators ‘P’ sollen jetzt Anzeige-form und Aussageform zusammen, Substanz jP und Begriff ¢P, ange-sehen werden; ihr gegenüber steht, mit einer Eigenschaft sP und einerKlasse ÆP zusammen, die Verwirklichung [realization] eines Artikulators‘P’, wie im Diagramm der dritten Abbildung veranschaulicht.

Werden, wie bisher üblich, einerseits intensionale Referenz undintensionaler Sinn als Intension (oder Sinn) und andererseits extensio-nale Referenz und extensionaler Sinn als Extension (oder Referenz)jeweils miteinander identifiziert, und auf diese Weise die ontologischen(und deshalb referenzbezogenen) Begriffsbildungen ›Eigenschaft-Sub-stanz‹ von den epistemologischen (und deshalb sinnbezogenen) Be-griffsbildungen ›Begriff-Klasse‹ nicht unterschieden, so besteht dieständige, in den sprachphilosophischen Diskussionen nahezu jederThematik bis heute virulente Gefahr entweder eines ›Lingualismus‹(bzw. Mentalismus), wenn Eigenschaften als Begriffsbildungen aufgefaßtund in ihrem Gefolge die Identität zwischen Gegenständen durchKoextensionalität von Begriffen erklärt sind, oder eines ›Partikularismus‹(bzw. Naturalismus), wenn die Einteilung einer Substanz in Einheitenfür mitgegeben gehalten werden.

Zum ›Handlungsanteil‹ einer Artikulation, wiedergegeben mithilfedes Demonstrators ‘d’, in signifikativer Funktion als ‘dP’, oder desExemplifikators ‘n’, in kommunikativer Funktion als ‘nP’, gehören›Denkanteile‹ stets in zweierlei Gestalt, der Gestalt eines begrifflichen,Merkmale von ¢P repräsentierenden Denkanteils s in Prädikationen(korrespondierend zu ‘dP’ als Zeichen einer sinnlichen Aktualisierung),und der Gestalt eines sinnlichen, in Elementen von ÆP exemplifiziertenDenkanteils j in Ostensionen (korrespondierend zu ‘nP’ als begriffli-chem Zeichen für das Vollziehen einer Aktualisierung). Und wenn dieP-Artikulation in einer Q-Situation auftritt, spielen sich diese Diffe-renzierungen, wie dargestellt, an einem Q-Objekt ab.

Das ist die Ausgangsposition für die übliche Behandlung der Prä-dikation. In einer (einstelligen) Elementaraussage wird von einem Q-Objekt, benannt durch einen Nominator ‘n’ – bisher war ‘n’eine deik-tische Kennzeichnung ‘iQ’, die aber durch hinreichende Spezialisierungvon ‘Q’ in eine bestimmte Kennzeichnung ‘i(RQ)’ umgeformt werdenkann51 – durch ‘eP’ eine Eigenschaft sP ausgesagt, indem n der (ein-

51 Die besonderen Probleme bei Eigennamen als Nominatoren, insbesondere im

Artikulation und Prädikation 65

Page 72: Dialogischer Konstr uktivismus

stellige) Pr�dikator ‘P’ zugesprochen wird: neP. Hier ist ein Gegen-standsbereich Q mit Einheiten iQ als Prädikationsbereich für ‘P’ zu-grundegelegt, der in dem Sinne ›hinreichend groß‹ bezüglich ‘P’ seinsoll, daß für mindestens ein iQ die Aussage ‘iQeP’ im Modus der Be-hauptung wahr (und im übrigen verständlich) ist.

In ‘neP’ mit einem Q-Objekt n ist n eine P-Instanz, und dabei kannn zugleich als mit einem P-Teil ausgestattet begriffen werden. InsoferniP dabei, außer im Fall P = Q, ein echter Teil ist, wird ‘P’ zwar von iQim Ganzen prädiziert, aber gleichwohl ist iQ keines der P-Objekte. Wirwollen daher sagen, daß in der Aussage ‘iQeP’ der Prädikator ‘P’ ap-pr�dikativ verwendet wird. Demgegenüber tritt ‘P’ in einer Aussage‘iPeP’ an der prädikativen Stelle eigenpr�dikativ auf, ebenso in Aussagen‘i(QP)eP’, weil auch i(QP) zu den P-Einheiten iP gehört und damit einP-Beispiel ist. Da ‘i(QP)eP’ aufgrund der bisherigen Konstruktionenunter den gewählten Voraussetzungen gleichwertig ist mit ‘iPe(QP)’,wird hier auch ‘QP’ im Unterschied zum apprädikativ verwendeten‘Q’, eigenprädikativ verwendet. Wir wollen sagen, daß ‘QP’ als Klas-sifikator auf dem Bereich der P-Objekte auftritt und diesen in (QP)-Beispiele und (QP)-Gegenbeispiele einteilt.52 Der für die Spezialisierungvon ‘P’ verwendete Modifikator ‘Q’ ist der für die Klassifikation her-angezogene, einer Unterscheidung dienende, Gesichtspunkt. Wenndaher von Prädikatoren gesagt wird, daß sie relativ zu ihrem Prädika-tionsbereich der Unterscheidung dienen, statt wie Nominatoren der Be-nennung,53 so sind die Prädikatoren grundsätzlich als Klassifikatoren, alsoeigenprädikativ verwendet, zu verstehen. In Aussagen ‘iQeP’ ist stets erstder Übergang von ‘P’ zu ‘PQ’ auszuführen, damit man sagen kann, daßim Bereich der Q-Objekte mit ‘PQ’ eine Unterscheidung getroffen unddamit eine Klassifikation vorgenommen worden ist. An diese Stellegehört die vertraute Redeweise, daß Prädikatoren durch Beispiele undGegenbeispiele ›exemplarisch bestimmt‹ (ostensively defined) werdenkönnen, zumal sich Artikulatoren durchaus auch erst auf dieser Stufe,

Zusammenhang der Debatte zwischen den ›Kausaltheoretikern‹ und den›Kennzeichnungstheoretikern‹, können hier nicht einbezogen werden; cf. fürdie Verbindung dieser Debatte mit der Prädikationstheorie z.B. die beidenSammelbände: French/Uehling/Wettstein 1989; Grazer Philosophische Stu-dien 25/26 (1985/86).

52 Bei Strawson treten die Substanzen jP als ›feature-universals‹ und die Sub-stanzen j(QP) bezüglich einer Klasse ÆP als ›sortal universals‹ mit den Eigen-schaften sQ dabei als ›characterizing universals‹ auf; cf. Strawson 1959, pp 202,168.

53 Cf. z.B. Kamlah/Lorenzen 1967.

Dialogischer Konstruktivismus66

Page 73: Dialogischer Konstr uktivismus

also klassifikatorisch, auf schon verfügbaren Objektbereichen und damit›unselbständig‹ einführen lassen.54 In ihnen drückt sich Metakompetenz(knowledge by description), ein Beschreibenkönnen von schon aufandere Weise artikulierten Objektbereichen, aus, im Unterschied zu dermit der eigenständigen Artikulation von Objekten, dem sie Konstitu-ierenkönnen, einhergehenden Objektkompetenz (knowledge by ac-quaintance).55

In einer Prädikation ist bei einer Attribution ebenso wie bei einerKlassifikation eine Nomination unterstellt, die aufgrund der Prädikation– durch Überführung des apprädikativ verwendeten Prädikators (beieinem Klassifikator ist er erst als Modifikator ›herauszuziehen‹) in at-tributive Stellung bezüglich des zur Nomination verwendeten Artiku-lators – in eine bestimmtere Nomination umgewandelt werden kann:‘dieser Stuhl ist hölzern’ in ‘dieser hölzerne Stuhl ist …’. Umgekehrtwird bei einer Nomination in einer Prädikation eine Attribution oderKlassifikation, das Rhema (le conçu) offengehalten, während eine andereAttribution, das Thema (le saisi), dabei bereits als vollzogen unterstelltoder ›präsupponiert‹ ist : mit ‘dieser Holzstuhl …’ ist ‘dieser Stuhl ist ausHolz’ präsupponiert.

Der letzte Schritt zu einer Vergegenständlichung auch der internenRelationen der Exemplifikation eines Konkretums und der Repräsen-tation eines Abstraktums ist jetzt vorbereitet. Die Exemplifikation wirdexternalisiert, indem die Partition durch die Teil-Ganzes-Relation ‘<’ihrerseits artikuliert wird, also ‘iP < iQ’ anstelle von ‘jP ist durch ‘dP’ aniQ angezeigt’, und die Repräsentation wird gleich zweifach, der ei-genprädikativen und der apprädikativen Verwendung von Prädikatorenentsprechend, externalisiert, indem entweder die Klassifikation durchdie Element-Klasse-Relation ‘Æ’ oder die Attribution durch die Instanz-Begriff-Relation ‘¢’ artikuliert wird, also ‘iQÆ ÆP’ beziehungsweise‘iQ¢ ¢P’ anstelle von ‘sP ist durch ‘eP’ von iQ ausgesagt’. Aufgrund derInvolution zwischen Eigenschaften und Teilen eines Partikulare kannnatürlich die Instanz-Begriff-Relation durch die Teil-Ganzes-Relationersetzt werden. Mit mereologischer und mengentheoretischer Be-schreibung, wobei die Mereologie auch noch in die Mengenlehreeinbettbar ist,56 läßt sich nach hinreichend vielen Distanzierungsschrit-ten der hier vorliegende Aufbau durchaus ausdrücken. In allen drei

54 Op.cit. , p 29.55 Cf. die Ausführungen in Lorenz 1986 [in diesem Bd. pp 5–23].56 Cf. Goodman/Leonard 1940.

Artikulation und Prädikation 67

Page 74: Dialogischer Konstr uktivismus

Fällen wird die Externalisierung der betroffenen internen Relationenaber nur um den Preis einer Verlagerung des Attributors, d.i. der Ko-pula, beziehungsweise des Partitors auf die Metaebene bewerkstelligt,ablesbar an der Standardnotation: ‘iP, iQ e <’, ‘iQ, ÆP e Æ’ und‘iQ, iP e ¢’ beziehungsweise ihren ostensionsbezogenen Äquivalenten;eliminieren lassen sich die internen Relationen niemals.

Nun kann über die Externalisierung des Anzeigens durch ‘<’ unddes Aussagens durch ‘Æ’ hinaus anstelle einer Einbettung der Mereologiein die Mengenlehre auch umgekehrt durch eine mereologische, nämlich›termlogische‹ Fassung der Mengenlehre eine logische Stufen über-greifende Darstellung im Rahmen der Argument-Funktion-Termino-logie gegeben werden – Freges Weg – , bei der unter Benutzung vonGleichungen ‘t(x) = y’ mit einer ›Objektform‹ ‘t(x)’ als Repräsentationeiner Funktion sowohl die Element-Klasse-Relation als auch die Teil-Ganzes-Relation als Spezialfälle behandelt werden: t1 (a, P) Ða Æ P undt2 (a, b) Ða < b. Aussagen und damit die Kopula treten nur noch ›ganzoben‹ in Gestalt von Gleichheitsaussagen auf; der systematische Aufbauist einer größtmöglichen Einheitlichkeit, nämlich außer bei denGleichheitsaussagen ausschließlich bezeichnungsorientierten Darstellunggeopfert worden. Die grundlegende Rolle der Sprachhandlung Arti-kulation mit ihrer kommunikativen Funktion, inhaltlich in Prädika-tionen dargestellt, und ihrer signifikativen Funktion, formal in Osten-sionen vollzogen, läßt sich aber selbst in diesem Gewand einer mathe-matischen Sprache nicht verleugnen. Es bleibt bei der alten EinsichtPlatons im Sophistes, daß in einem kºcor ›eine Sache mit einer Hand-lung vereinigt‹ (sumhe·r pq÷cla pq²nei)57 wird.

Literaturverzeichnis

Apel, Karl-Otto, 1973: Transformation der Philosophie I-II, Frankfurt amMain.

Aristoteles, 1997: Topik. Topik, neuntes Buch oder Über die sophistischenWiderlegungsschlüsse, griech.-dt. , hg., übersetzt, mit Einl. u. Anm. ver-sehen v. Hans Günter Zekl, Hamburg.

Bogen, James/McGuire, James E., (eds.), 1985: How Things Are. Studies inPredication and the History of Philosophy and Science, Dordrecht.

CAG, = Commentaria in Aristotelem Graeca. Academia Litterarum RegiaeBorussicae, I-XXIII, Berlin 1882–1900.

57 Soph. 262e12.

Dialogischer Konstruktivismus68

Page 75: Dialogischer Konstr uktivismus

Cassirer, Ernst, 1923–29: Philosophie der symbolischen Formen I-III, Berlin.Chomsky, Noam, 1992: A Minimalist Program for Linguistic Theory, Cam-

bridge Mass. .CP, = Collected Papers of Charles Sanders Peirce I-VI, ed. by Charles

Hartshorne and Paul Weiss, Cambridge, Mass. 1931–1935.Dewey, John, 1921: Reconstruction in Philosophy, London.Discours de Métaphysique, = G. W. Leibniz, Discours de Métaphysique/

Metaphysische Abhandlung, in: Gottfried Wilhelm Leibniz. KleineSchriften zur Metaphysik, hg. u. übers. v. Hans Heinz Holz, Darmstadt1965, pp 49–172.

FDS, = Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Neue Sammlung der Textemit dt. Übersetzung u. Kommentaren v. Karlheinz Hülser, Stuttgart-BadCannstatt 1987–1988.

Frege, Gottlob, 1892: Über Begriff und Gegenstand, in: Gottlob Frege, KleineSchriften, hg. v. Ignacio Angelelli, Darmstadt 1967, pp 167–178.

French, Peter A./Uehling, Theodore E. jr./Wettstein, Howard K., (eds.),1989: Midwest Studies in Philosophy XIV. Contemporary Perspectives inthe Philosophy of Language II, Minneapolis.

Gadamer, Hans-Georg, 1960: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer phi-losophischen Hermeneutik, Tübingen.

Geach, Peter Thomas, 1950: Subject and predicate, in: Mind 59, pp 461–482.Goodman, Nelson/Leonard, Henry, 1940: The calculus of individuals and its

uses, in: The Journal of Symbolic Logic 5, pp 45–55.Habermas, Jürgen, 1981: Theorie des kommunikativen Handelns I-II, Frank-

furt am Main.Hegselmann, Rainer, 1979: Klassische und konstruktive Theorie des Ele-

mentarsatzes, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 33, pp 89–107.Henry, Paul Desmond, 1972: Medieval Logic and Metaphysics. A Modern

Introduction, London.Humboldt, Wilhelm von, 1820: Über das vergleichende Sprachstudium in

Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung, in:Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner u.Klaus Giel, Darmstadt 1960–1981, Bd. III, pp 1–25.

Johannes von Salisbury, 1991: Metalogicon, ed. by J. B. Hall, Turnhout.Kamlah, Wilhelm/Lorenzen, Paul, 1967: Logische Propädeutik. Vorschule des

vernünftigen Redens, Mannheim.Kasher, Asa, 1980: Three kinds of linguistic commitments, in: Time, Tense,

and Quantifier. Proc. of the Stuttgart Conference on the Logic of Tenseand Quantification, hg. v. Christian Rohrer, Tübingen, pp 207–222.

Körner, Stephan, 1959: Conceptual Thinking. A Logical Enquiry, New York.KrV, = Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Raymund Schmidt,

Hamburg 1956 [Riga 1781, 21787].Lenneberg, Eric H., 1967: Biological Foundations of Language, New York.Lorenz, Kuno, 1970: Elemente der Sprachkritik. Eine Alternative zum Dog-

matismus und Skeptizismus in der Analytischen Philosophie, Frankfurt amMain.

Artikulation und Prädikation 69

Page 76: Dialogischer Konstr uktivismus

Lorenz, Kuno, 1977: On the relation between the partition of a whole intoparts and the attribution of properties to an object, in: Studia Logica 36, pp351–362.

Lorenz, Kuno, 1980: Sprachphilosophie, in: Lexikon der GermanistischenLinguistik, hg. v. Hans Peter Althaus, Helmut Henne, Herbert ErnstWiegand, Tübingen, pp 1–28.

Lorenz, Kuno, 1986: Dialogischer Konstruktivismus, in: Was ist Philosophie?Neue Texte zu ihrem Selbstverständnis, hg. v. Kurt Salamun, Tübingen, pp335–352.

Lorenz, Kuno, 1990: Einführung in die philosophische Anthropologie,Darmstadt.

Martinet, André, 1960: Éléments de linguistique général, Paris.Mead, George Herbert, 1934: Mind, Self, and Society, ed. by Charles W.

Morris, Chicago.Meggle, Georg, 1981: Grundbegriffe der Kommunikation, Berlin.Moody, Ernest A., 1953: Truth and Consequence in Mediaeval Logic, Ams-

terdam.Piaget, Jean, 1950: Introduction à l’épistémologie génétique I-III, Paris.Pinborg, Jan, 1972: Logik und Semantik im Mittelalter. Ein Überblick,

Stuttgart-Bad Cannstatt.Quine, Willard Van Orman, 1960: Word and Object, Cambridge Mass..Quine, Willard Van Orman, 1974: The Roots of Reference, La Salle Ill. .Reichenbach, Hans, 1947: Elements of Symbolic Logic, New York.Rescher, Nicholas, 1967: Aspects of action, in: The Logic of Decision and

Action, ed. by Nicholas Rescher, Pittsburgh PA, pp 215–219.Ros, Arno, 1983: Die Genetische Epistemologie Jean Piagets. Resultate und

offene Probleme, Tübingen.Russell, Bertrand, 1918: The philosophy of logical atomism, in: Bertrand

Russell. Logic and Knowledge. Essays 1901–1950, ed. by Robert CharlesMarsh, London 1956, pp 175–281.

Scherer, Bernd Michael, 1984: Prolegomena zu einer einheitlichen Zeichen-theorie. Ch. S. Pierces Einbettung der Semiotik in die Pragmatik, Tü-bingen.

Schneider, Hans Julius, 1979: Ist die Prädikation eine Sprechhandlung? ZumZusammenhang zwischen pragmatischen und syntaktischen Funktionsbe-stimmungen, in: Konstruktionen versus Positionen. Beiträge zur Diskus-sion um die Konstruktive Wissenschaftstheorie, hg. v. Kuno Lorenz, Ber-lin, Band II, pp 23–36.

Searle, John Roger, 1969: Speech Acts. An Essay in the Philosophy ofLanguage, London.

Searle, John Roger, 1979: Expression and Meaning. Studies in the Theory ofSpeech Acts, London.

Strawson, Peter Frederick, 1959: Individuals. An Essay in Descriptive Meta-physics, London.

Strawson, Peter Frederick, 1974: Subject and Predicate in Logic and Grammar,London.

Dialogischer Konstruktivismus70

Page 77: Dialogischer Konstr uktivismus

Tomasello, Michael, 1999: The Cultural Origins of Human Cognition,Cambridge Mass./London.

Wohlrapp, Harald, 2008: Der Begriff des Arguments. Über die Beziehungenzwischen Wissen, Forschen, Glauben, Subjektivität und Vernunft, Würz-burg.

Wright, Georg Henrik von, 1971: Explanation and Understanding, IthacaN.Y..

Ziehen, Theodor, 1920: Lehrbuch der Logik auf positivistischer Grundlage.Mit Berücksichtigung der Geschichte der Logik, Bonn.

Artikulation und Prädikation 71

Page 78: Dialogischer Konstr uktivismus

Rede zwischen Aktion und Kognition

I

Es gehört zu den fest verwurzelten Überzeugungen, daß es mentalerGegenstände und darüber hinaus besonderer ›innerer‹ Handlungen, diesich auf sie richten oder sie gar erzeugen, bedarf, um die Kluft zwischenWelt und Sprache und damit zwischen Gegenständen und Zeichen fürGegenstände überbrücken zu können. Selbst die radikalen Strategien,entweder alles in Zeichen zu verwandeln, wie einst im mittelalterlichenund frühneuzeitlichen Topos vom ›Buch der Natur‹, das es zu lesengelte, unterstellt, oder Zeichen durchweg als eine besondere Art vonGegenständen zu behandeln, wie es gegenwärtig dem durch Charles W.Morris ins Leben gerufenen Programm einer Wissenschaft von empi-rischen Zeichenprozessen zugrunde liegt, können keine Abhilfe ver-sprechen, gehört doch im ersten Fall die ›Bedeutung‹ der Zeichen nichtohne weiteres selbst zum Reich der Zeichen und bleiben im zweitenFall die von einer Wissenschaft eingesetzten Hilfsmittel, solange sieeingesetzt und nicht zu Gegenständen einer empirischen Forschunghöherer Stufe gemacht werden, jenseits des Reichs bloßer Gegenstände.Auch in den beiden radikalen Varianten erscheinen mentale Gegen-stände (bei der Bestimmung von Bedeutungen) beziehungsweisementale Handlungen (als Hilfsmittel einer Untersuchung) als unent-behrlich.

Die mentalen Gegenstände oder Handlungen haben auf der einenSeite ihrerseits den Charakter eines sowohl empirischen, d.i. psycho-logischen, als auch rationalen, d.i. logischen, Hilfsmittels, dessen esanscheinend bedarf, um die Zeichenfunktion der Sprache ausüben zukönnen, während sie auf der anderen Seite dann natürlich selbst sowohlals ein Teil der Welt, nämlich als ›innere‹ gegenüber der ›äußeren‹, alsauch als ein Teil der Sprache, die sie subjektiv ausdrückt und objektivdarstellt, angesehen werden müssen. In der Sprache als Gegenstandverfügen wir über eine Verkörperung der mentalen Welt, des ›Geistes‹,rational als sinnliche Gestalt eines begrifflichen Gehalts, empirisch(psychologisch) als Ausdruck, und zwar Wirkung (eigener) und Ver-ursachung (fremder), psychischer Phänomene, mit der Sprache alsZeichen hingegen bauen wir vor der corporalen Welt, der ›Natur‹, eine

Page 79: Dialogischer Konstr uktivismus

trennende Schranke auf, rational durch Darstellung und empirisch(kausal und/oder intentional), indem sie Eingriffe in natürliche Prozessesteuert und diese so stört.

Mit der Gegenüberstellung von Gegenstand und Zeichen für Ge-genstand ist offensichtlich weder eine (ontologische) Einteilung desUniversalbereichs aller Gegenstände vorgenommen worden noch eine(epistemologische) Unterscheidung verschiedener Weisen, sich ihnenzuzuwenden. Vielmehr geht es um die Unterscheidung ‘ontologisch-epistemologisch’ selbst, also darum, die Bestimmung der Gegenständeund die Bestimmung des Zugangs zu ihnen als korrelative Unterneh-mungen zu verstehen, eine Einsicht, die Charles S. Peirce als ersterbegrifflich scharf im Zusammenhang seiner Methodologie des Prag-matismus herausgestellt hat.1 Wovon ich handle oder rede und womit ichhandle oder rede müssen in der Darstellung unterschieden, dürfen abersachlich nicht als getrennt angesehen werden; deshalb auch LudwigWittgensteins in seinem Tractatus gegen Gottlob Frege gewendetesBeharren auf dem verschiedenen Status von Namen und Aussagen,2 wiees schon von Platon im Kratylos mit der Unterscheidung einer signifi-kativen und einer kommunikativen Funktion der Sprachzeichen, dem(Be-)Nennen (amol²feim) und dem (Aus-)Sagen (k´ceim), fixiert wordenist.3

Aber natürlich reicht es nicht, die Korrelation von Gegenstand undMittel je bei Handlungen und bei Zeichenhandlungen, zu denen nebenden verbalen auch die nicht-verbalen Sprachhandlungen gehören, zuthematisieren, der Übergang von Handlungen zu Zeichenhandlungenselbst ist das Problem, wobei zugleich eine Klärung des Zusammenhangszwischen Handlungen und Handlungen an Gegenständen einerseits undZeichenhandlungen und Zeichen f�r Gegenstände andererseits ansteht.

Wieder sind wir mit zwei Reduktionsstrategien konfrontiert, die bisheute die einschlägigen Debatten bestimmen, einer behavioristischenund einer mentalistischen. In der behavioristischen Reduktion soll diementale Welt des Geistes auf Sprachverhalten, aber natürlich unterEinschluß auch nicht-verbalen Sprachverhaltens, zurückgeführt wer-den: die Unterscheidung von Innenwelt und Außenwelt ist dann nichtsanderes als die infrage stehende Unterscheidung von Sprache und Welt;

1 Cf. CP, 5.257.2 Cf. T, 3.143.3 Cf. Crat. 388b, wobei Platon allerdings Namen für spezielle Aussagen hält

(Crat. 387c), während bei Frege Aussagen spezielle Namen sind.

Rede zwischen Aktion und Kognition 73

Page 80: Dialogischer Konstr uktivismus

umgekehrt hingegen soll in der mentalistischen Reduktion eine Sprachebloßer Ausdruck einer Sprache der mentalen Repräsentationen ihrerBedeutung, der ›Kognitionen‹, sein: die Unterscheidung von Spracheund Welt erscheint hier als eine Unterscheidung von (erkennendem)Geist und (erkannter) Natur. In den Debatten des 17. Jahrhunderts umden Zusammenhang von Denken und Sprechen war der das Sprechenauf Denken zurückführende Mentalismus communis opinio, als Kogniti-vismus ist er in den Debatten dieses Jahrhunderts hingegen beweis-pflichtig. Umgekehrt verhält es sich mit dem Behaviorismus, dessenschwache Form in Gestalt der schon auf Platon zurückgehenden These,daß Denken stilles Sprechen sei, vom 18. bis zum 19. Jahrhundert sichallmählich durchsetzte, während seine mit dem Ersetzen von Selbstbe-obachtung durch Fremdbeobachtung einhergehende starke Form, wiesie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Oberhand gewinnt,in diesem Jahrhundert die Gegenbewegung des Kognitivismus provo-ziert hat.4

Offensichtlich ist wiederum nichts gewonnen. In beiden Fällenbleibt die Differenz von Gegenstand und Zeichen für Gegenstand un-überbrückt, entweder in Gestalt von ›Welt und Sprache‹ oder in derGestalt von ›Natur und Geist‹, zweier Weisen, die Korrelation vonGegenstand und Mittel – Substanz und Funktion in der Sprache ErnstCassirers – als Gegenüberstellung zweier Gegenstandsbereiche, unterUmständen auch unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen logi-schen Stufe, mißzuverstehen. Was bleibt, ist die Frage nach einer Stelle,an der Gegenstände zugleich mit Zeichen für sie auftreten, so daß weder›real‹ erzeugte und damit (empirisch) gegebene Gegenstände noch ›ideal‹eingesetzte und damit vergegenständlicht als (rational) erzeugte Mittelauftretende Gegenstände und erst recht nicht beide unabhängig von-einander in ihrem anschließend thematisierbaren Zusammenwirken denAnfang bilden.

Eine positive Antwort findet sich in der auf Peirce und Wittgensteinzurückgehenden Idee, mit dem Erwerb von Gegenständen zu beginnen,und zwar in Gestalt einer systematisch-genetischen Rekonstruktion desbereits verfügbaren Handelns und Handelnkönnens mithilfe phäno-menologischer Reduktion und dialogischer Konstruktion. Erst durchKombination beider Programme, einer Fortsetzung von Willard V. O.Quines naturalisierter Erkenntnistheorie in konsequenter Naturalisie-rung der Sprache und einer Erweiterung von Cassirers Theorie der

4 Cf. Dascal 1995.

Dialogischer Konstruktivismus74

Page 81: Dialogischer Konstr uktivismus

symbolischen Formen in konsequenter Symbolisierung der Welt läßtsich deutlich machen, daß Handlungen im Prozeß ihres Erwerbs einedoppelte Rolle spielen: eine gegenständliche in distanzierender Be-trachtung und eine funktionale in aneignendem Vollzug, und es ist ihregegenständliche Rolle, die ›vermittelt‹ auftritt, im Unterschied zu ihremunvermittelten Vollzug. Um nämlich eine bereits gegebene Kompetenz,ein Können, zu verstehen, bedarf es einer Folge von Eingriffen inGestalt von Handlungsvollzügen, um durch sukzessiv aneignendesHervorheben einfacher Gliederungen die (gegenständlich) vorliegendekomplexe Gliederung zugunsten ihrer schrittweisen Rekonstruktionabzublenden. Die ›phänomenologische Reduktion von Komplexität‹ –bei Peirce für Zeichenhandlungen in Gestalt erklärender Sequenzen vonInterpretanten5 – belegt, daß in praktischer Hinsicht eine Kompetenzihrer Rekonstruktion voraufgeht. Um auf der anderen Seite wiederumüber eine gewünschte komplexe Kompetenz verfügen zu können, ist eserforderlich, für sie durch einen Aufbau aus einfachen Kompetenzen ein(gegenständliches) Modell zu bilden. Die ›dialogische Konstruktion vonKomplexität‹ – bei Wittgenstein für Sprachhandlungen in Gestalt vonBeschreibungen komplexer werdender Sprachspiele6 – belegt, daß intheoretischer Hinsicht eine Kompetenz ihrer Konstruktion nachfolgt.Bei der phänomenologischen Reduktion werden genau diejenigenKompetenzen ausgeübt (Mittel!), die im Zuge der dialogischen Kon-struktion gewonnen werden (Gegenstände!); Reduktion und Kon-struktion können begrifflich (und damit gegenständlich erfaßt) nurkorrelativ zueinander auftreten, auch wenn sie faktisch (und damitdarstellend realisiert) in unterschiedlichem Grade explizit gemacht sind.

Das Modell des Kompetenzerwerbs bedient sich einer dialogischenElementarsituation, in der zwei Akteure ein Können durch Vor- undNachmachen, also repetierend und imitierend, ausbilden. Die empiri-sche Entsprechung von Repetition und Imitation, und das heißt wegender dann fehlenden Unterscheidung von Modellieren und Modellier-tem zugleich, daß die beiden Akteure durch einen Akteur und seineUmwelt (zu ihr gehört der andere Akteur) ersetzt sind, tritt in J. PiagetsTheorie kognitiver Entwicklung in Gestalt von Assimilation und Ak-komodation auf.7

5 Cf. CP, 2.230.6 Cf. PU, §124.7 Cf. Ros 1983.

Rede zwischen Aktion und Kognition 75

Page 82: Dialogischer Konstr uktivismus

Dabei ist es wichtig, sich klarzumachen, daß mit der gewähltenBeschreibung des Modells einerseits ein Verfahren, das wie eine Folieauf die gegebene Erfahrung schon vorliegenden Könnens gelegt wird,um einen ersten Ausschnitt von ihr zu verstehen, und andererseits einVerfahren zur Erzeugung einer elementaren Erfahrung, wiederum nurdargestellt sind, daher ohne Eintritt in eine solche dialogische Ele-mentarsituation ihre gerade beschriebene Aufgabe unerfüllt bleibt.Insbesondere wird nur so auch deutlich, daß die zwei Personen in derBeschreibung der dialogischen Elementarsituation in ihr selbst nur alszwei dialogische Rollen, gebunden in einer ›Ich-Du-Dyade‹, vor-kommen, aktiv beim ›Tun‹ und passiv beim ›Erleiden‹, zwei Rollen, dieauch durch Aktualisierung, auf der Seite des gerade Tätigen oderAusführenden, und Schematisierung, auf der Seite der gerade Nicht-Tätigen oder Anführenden, bezeichnet werden können, und im erstenFall den Wollensaspekt, d.h. die interaktive Funktion, und im zweitenFall den Wissensaspekt, d.h. den kognitiven Gehalt, einer Handlung imErwerb ihrer Kompetenz modellieren.

Die dialogische Elementarsituation ist der an einem Wittgenstein-schen Sprachspiel in stilisierter Form herauspräparierte Handlungsanteil,ein ›Handlungsspiel‹, werden doch von Wittgenstein nichtsprachlicheHandlungskompetenzen nur zusammen mit Sprachhandlungskompe-tenzen mithilfe von Sprachspielen ›gemessen‹. Aber nicht nur die Per-sonen, auch alle weiteren, in der Beschreibung einer dialogischenElementarsituation nicht ausdrücklich auftretenden Situationsbestand-teile, etwa Handlungsobjekte oder Orte einer Handlung, gehören nichtzu ihr, sondern zu den ihr unterliegenden, von den Akteuren mitge-brachten Situationen, deren Gliederungen bis auf die von der dialogi-schen Elementarsituation hervorgehobenen Züge abgeblendet sind.Eine dialogische Elementarsituation liefert einen erleuchteten ›Vorder-grund‹ vor einem noch dunklen ›Hintergrund‹. Der durch eine dialo-gische Elementarsituation im ständigen Rollenwechsel von aktivemTun und passivem Erleiden modellierte Erwerb eines geteilten Könnenskann sowohl als Ausbilden einer Handlungskompetenz bezeichnetwerden – man muß sich nur klar vor Augen halten, daß es hier offiziell,nämlich rekonstruiert, noch niemanden gibt, dem eine solche Hand-lungkompetenz zugesprochen werden kann, auch Personen müssen erstnoch ›gebildet‹ werden – als auch als das Gewinnen einer Handlungs-situation: Handlungen sind von ihrem Kontext und damit von Hand-lungssituationen, dem Ensemble aus einer Handlung und ihrem Kon-text, noch ununterscheidbar. Aus diesem Grund soll das durch dialo-

Dialogischer Konstruktivismus76

Page 83: Dialogischer Konstr uktivismus

gische Elementarsituationen systematisch-genetisch rekonstruierteKönnen als Gewinnen beziehungsweise Ausbilden von Pr�handlungenund nicht schon von Handlungen bezeichnet werden.

In einer Aktualisierung liegt die Prähandlung singular vor, in einerSchematisierung hingegen universal, und unter beiden ›rationalen‹Gesichtspunkten kann eine ›empirische‹, also in den Hintergrund derdialogischen Elementarsituation bereits mitgebrachte partikulareHandlung auch ›gesehen‹ werden; Aktualisierungen und Schemata sindnicht ihrerseits Gegenstände sondern Prähandlungen als Verfahren, tätigim Handlungsvollzug und dabei das Handlungsbild schauend. BeideGesichtspunkte lassen sich nicht voneinander trennen: Aktualisierungensind nur im Blick auf ihr Schema (epistemologisch) ›verstanden‹ und einSchema ist nur in seinen Aktualisierungen (praxeologisch) ›vorhanden‹.Die Zusammengehörigkeit von pragmatischer und semiotischer Seiteeiner Prähandlung im Modell ihres Erwerbs dokumentiert die Korre-lativität der Unterscheidung ›praxeologisch-epistemologisch‹ als Basisder Ontologie. Die pragmatisch-semiotische Polarität eines Verfahrenswird zur Grundlage für die, Gegenstände und den Zugang zu ihnenbetreffende, Unterscheidung ›ontologisch-epistemologisch‹, wie sie imZusammenhang der Problemskizze zu Beginn eingefordert worden war.

II

Diese Janusköpfigkeit der Prähandlungen, ohne die es ›geteiltes‹ Kön-nen überhaupt nicht gäbe, ist zugleich der Ansatzpunkt für eine Wie-derholung des Verfahrens dialogischer Elementarsituationen durchSelbstanwendung, was als Befolgen eines Prinzips der Selbst�hnlichkeitangesehen werden kann.

Die Rekonstruktion wird fortgesetzt, indem mit dialogischen Ele-mentarsituationen die beiden Seiten einer Prähandlung, die pragmati-sche und die semiotische, als Situationen für den Erwerb eigenständigersekund�rer Pr�handlungen modelliert werden. Mit diesem Schritt, bei demin dialogischen Elementarsituationen 2. Ordnung die Ausführrolle inviele mögliche Ausführungsprähandlungen und in einer dialogischenElementarsituation 2. Stufe die Anführrolle in viele mögliche Anfüh-rungsprähandlungen zerfallen, ergeben sich Gliederungen einer Prä-handlung, die pragmatisch als Phasengliederung durch Ausführung-sprähandlungen oder ›Ich‹-Perspektiven und semiotisch als Aspekteglie-derung durch Anführungsprähandlungen oder ›Du‹-Perspektiven auf-

Rede zwischen Aktion und Kognition 77

Page 84: Dialogischer Konstr uktivismus

treten. Der Schritt macht es möglich, das Verfügen über Prähandlungenals Verfahren unabhängig vom Eintreten in ihren Erwerb mithilfe derprimären dialogischen Elementarsituationen zu machen, wobei Prä-handlungen in Pr�objekte überführt werden und sich dabei zugleichPr�subjekte ausbilden.

Die sekundären Modellierungen ergeben sich dadurch, daß diedialogische Elementarsituation schematisiert, also unter einer Er/Sie-Perspektive die Ich-Du-Situation als Aktualisierung eines Schemas so-wohl verstanden als auch vollzogen wird. Dazu muß Er/Sie gegenüberIch eine (sekundäre) Du-Perspektive und gegenüber Du eine (sekun-däre) Ich-Perspektive einnehmen. Einerseits wird so die dialogischeRolle der Anführung, die Du-Rolle, schematisiert und das heißt, mit-hilfe einer dialogischen Elementarsituationen 2. Stufe die Modellierungvon Aspekte-Handlungen gewonnen – Er/Sie hat betrachtende Distanzzu der in ein Präobjekt verwandelten Prähandlung, indem er/sie übereine Aspekte-Handlung, eine ›Außensicht der Sache‹, verfügt – , wäh-rend andererseits die dialogische Rolle der Ausführung, die Ich-Rolle,in Gestalt von dialogischen Elementarsituationen 2. Ordnung für dieModellierungen von Phasen-Handlungen aktualisiert wird – Er/Sie hatan der in ein Präobjekt verwandelten Prähandlung tätigen Anteil, indemer/sie über eine Phasen-Handlung, eine ›Binnensicht der Sache‹, verfügt.Die Aspekte-Handlungen sind in – objektiver, durch die Ich-Du-In-varianz der Er/Sie-Rolle charakterisierter – aktiver Perspektive Zei-chenhandlungen oder Artikulationen, die Phasen-Handlungen hingegen in– ebenfalls objektiver, durch Ich-Du-Invarianz charakterisierter – pas-siver Perspektive Teilhandlungen oder Vermittlungen. Dabei konstituierenAspekte-Handlungen in subjektiver (Du-Rolle!) passiver Perspektive,den Wahrnehmungen, zusammen mit Phasen-Handlungen in subjektiver(Ich-Rolle!) aktiver Perspektive, den Hervorbringungen, ein Präobjektdurch Identifizierung der Wahrnehmungen miteinander und Summierungder Hervorbringungen, so daß ein Präobjekt aktiv durch eine Zei-chenhandlung bezeichnet und an ihm passiv durch eine Teilhandlungpartizipiert wird. In Bezug auf die Präsubjekte findet im Bezeichnen einFixierungsprozeß und im Partizipieren ein Differenzierungsprozeß statt,zwei aneinander gekoppelte Prozesse, in deren Verlauf die Präsubjekteausgebildet werden und zugleich sich ausbilden.

Die Identifizierung macht Präobjekte zu semiotischen Invarianten,die Summierung macht sie zu pragmatischen Ganzheiten; beide be-finden sich unter Bezug auf die sekundären dialogischen Elementarsi-tuationen in einer, das Präobjekt zu einem Objekt individuierenden

Dialogischer Konstruktivismus78

Page 85: Dialogischer Konstr uktivismus

Situation derart, daß die Invarianten als Kerne der Aspekte-Handlungs-schemata, der ›Universalia‹, und die Ganzheiten als H�llen der Aktua-lisierungen der Phasen-Handlungen, der ›Singularia‹, bezeichnet wer-den können. Ein Objekt als Vordergrund vor einer Umgebung alsHintergrund ist semiotisch ein konstanter Vordergrund vor einem va-riablen Hintergrund und pragmatisch ein variabler Vordergrund voreinem konstanten Hintergrund. Kern und Hülle zusammen, ›Form‹ und›Stoff‹ in traditioneller Terminologie, machen ein Objekt in einer Situa-tion aus: die Partikularia als mixta composita aus Schematisierungen undAktualisierungen, den schematischen (Anteilen von) Aspekten und densingularen (Anteilen von) Phasen sind in Gestalt von ›halb Denken‹ und›halb Tun‹ rekonstruiert.

Allerdings fehlt noch die ausdrückliche Modellierung des Erwerbsvon Identifikation und Summierung. Erst dann läßt sich sowohl für dieexterne (semiotische) Struktur, charakterisiert durch dasselbe Partikularein verschiedenen Umgebungen, als auch für die interne (pragmatische)Struktur, charakterisiert durch verschiedene Partikularia in derselben Um-gebung, Unabhängigkeit des Vordergrunds vom Hintergrund unddamit einerseits die semiotische Bestimmung eines Partikulare in einer›angeführten‹ Situation und andererseits seine pragmatische Bestimmungin einer ›ausgeführten‹ Situation durchsetzen.

Zu diesem Zweck übernimmt eine ausgewählte Artikulation dieFunktion der Vertretung beliebiger Aspekte-Handlungen unter Bezugjeweils auf eine Teilhandlung, also der semiotischen Seite einer Phasen-Handlung – die Vertretungsfunktion der ausgewählten Artikulation istdurch Übersetzungsregeln zwischen Aspekten artikulierbar – , indem ineiner dialogischen Elementarsituation 3. Stufe die Variation der durchElementarsituationen 2. Stufe modellierten Aspekte unter Bezug aufeine Teilhandlung zu einer Trennung von konstantem Vordergrundund variablem Hintergrund einer Situation – zu ihr als einer Situation 2.Stufe gehören jetzt die Akteure auch als Glieder der Situation und damitals Subjekte und nicht mehr nur als Präsubjekte in situationsgliederndenIch-Du-Dyaden – herangezogen wird: das Präobjekt zerfällt kraft derjeweils verschiedenen Situationen, zu denen es gehört, in situations-spezifische Einheiten, eben die Objekte in ihrem semiotischen Anteil.Die ausgewählte Artikulation wird zu einer symbolischen Artikulation.

Ganz entsprechend werden die Phasen-Handlungen als Ergebniseiner Schematisierung dialogischer Elementarsituationen 3. Ordnungunter Bezug jeweils auf eine Zeichenhandlung, also der pragmatischenSeite einer Aspekte-Handlung, verstanden, so daß die Variation der

Rede zwischen Aktion und Kognition 79

Page 86: Dialogischer Konstr uktivismus

Phasen-Handlungen die verschieden strukturierten Objekte vor kon-stantem Hintergrund in einer Situation 2. Ordnung liefert, und jedePhase in ihrer passiven Rolle, also als eine Vermittlung, übernimmt dieFunktion einer Erweiterung durch beliebige Phasen-Handlungen unterBezug jeweils auf eine Zeichenhandlung – die Erweiterungsfunktioneiner Vermittlung ist durch Aufbauregeln für Phasen artikulierbar – mitdem Ergebnis, daß die Objekte als situationsspezifische Einheiten inihrem pragmatischen Anteil gewonnen sind: eine Vermittlung tritt alskomprehensive Vermittlung auf.

Gegenständlicher Vordergrund und situativer Hintergrund, einObjekt und seine Umgebung, machen eine Situationseinheit aus; dabeiist die (semiotische) Aspektegliederung der Objekte eine Außenglie-derung, ihre (pragmatische) Phasengliederung eine Binnengliederung,und beide zusammen erst bestimmen, aufgrund des Bezugs jeweils aufeine Teilhandlung bei der Aspektegliederung und des Bezugs jeweils aufeine Zeichenhandlung bei der Phasengliederung invariant gegenübereiner Vertauschung von Ich und Du, ein Objekt in einer Situation.

Damit ist auch klar, wie Subjekte aus den Ich-Du-Dyaden als denbeiden dialogischen Rollen in einer dialogischen Elementarsituationund deren Iterierung durch zwei Prozesse, den der Individuation undden der Sozialisation, schrittweise und unabgeschlossen herausgebildetwerden.

So wie die Objekte sich aus dem Umgehen mit ihnen, dieses inZeichen für sie verwandelnd, gewonnen werden – der Kern der se-miotischen Seite von Aspekte-Handlungen wird symbolisch bezeichnet(durch die semiotische Seite einer symbolischen Artikulation, also miteiner Handlung der nächst höheren Stufe) und an der Hülle der prag-matischen Seite von Phasen-Handlungen wird komprehensiv partizi-piert (durch die pragmatische Seite einer komprehensiven Vermittlung,also mit einer Handlung der nächst höheren Ordnung), oder kurz: dasObjekt wird symbolisch bezeichnet und es ist symptomatisch anwesend– , so werden die Subjekte von der pragmatischen Seite einer Artiku-lation ausgedrückt, wobei dieser Ausdruck im Falle symbolischer Arti-kulation sozial fixiert, in einer Sprache nämlich, auftritt, während siedurch die semiotische Seite einer Vermittlung gegenwärtig sind, undzwar im Falle komprehensiver Vermittlung in Gestalt eines individuelldifferenzierten Teilhandlungsschemas, dem Stil des Subjekts: die An-eignung von Zeichen, sie als Resultat einer Handlung begreifend,macht Subjekte aus.

Dialogischer Konstruktivismus80

Page 87: Dialogischer Konstr uktivismus

Dabei ist es nützlich, sich klarzumachen, daß ohne die situations-bezogenen Abgrenzungen der Ich-Du-Dyade die voll entwickelte Ich-Rolle von der Du-Rolle her im Ganzen als ›objektiver Geist‹ – als Fülleder Phasen-Handlungsschemata – und die voll entwickelte Du-Rollevon der Ich-Rolle her im Ganzen als ›transzendentales Ich‹ – als Ei-nerleiheit der Aspekte-Handlungsaktualisierungen – erscheint.

Im Handlungscharakter der Teilhandlungen (›was man tut‹) zu-sammen mit dem Handlungscharakter der Zeichenhandlungen (›wieman spricht‹) haben wir die Lebensweisen von Subjekten im Umgangmit Objekten, ihren Stil und ihre Sprache, im Zeichencharakter derZeichenhandlungen (›was man sagt‹) zusammen mit dem Zeichencha-rakter der Teilhandlungen (›wie man handelt‹) haben wir ihre Welt-ansichten in Gestalt des Bezeichnens und der Teilhabe bezüglich derObjekte vor uns.

Wird im dialogischen Spielraum der Handlungs- und Redezusam-menhänge zunächst einmal der Handlungsanteil als verbindend und derRedeanteil als trennend erfahren, und bleibt man bei einer derartigenGegenüberstellung von ›objektiver Außenansicht‹ und ›subjektiver In-nenansicht‹ stehen, so wird der Handlungsanteil auf Verhalten (beha-vior) und der Redeanteil auf Ausdruck (expression) eingeschränktverstanden. Geht man indessen weiter, so treten, insofern auch jedesHandeln sich verstehen läßt und daher ›beredt‹ ist, ebenso wie jedesReden als ein Handeln von Absichten geleitet und mit Wirkungenausgestattet verläuft, im Redeanteil auch die verbindenden und imHandlungsanteil auch die trennenden Momente hervor – die ›objektiveBedeutung‹ einer Rede und der ›subjektive Sinn‹ einer Handlung – ,und es wird deutlich, daß es Abgrenzung und Verbundenheit zwischenden Subjekten einer Ich-Du-Dyade nur jeweils auf der Folie vonÜbereinstimmung und Unterschiedenheit zwischen ihnen geben kann.Subjekte sind zunächst nicht als besondere Objekte zu begreifen, viel-mehr haben sie als Funktionen auf Objekten zu gelten, nämlich inGestalt der (rationalen) Verfahren Aktualisierung und Schematisierunggegenüber den (empirisch) mitgebrachten Gegenständen des Wollensund Wissens auf den verschiedenen Ebenen der vorgeschlagenen Mo-dellierung.

Rede zwischen Aktion und Kognition 81

Page 88: Dialogischer Konstr uktivismus

III

Insofern das Modell des Kompetenzerwerbs mithilfe dialogischer Ele-mentarsituationen und ihrer Iterierung gemäß einem Prinzip derSelbstähnlichkeit die (empirisch) mitgebrachten Gegenstände als semi-otische Einheiten aus aktiver Form und passivem Stoff, die Präobjekte,und die (rationalen) Verfahren als Prozesse einer pragmatischen Fixie-rung und Differenzierung von Präsubjekten rekonstruiert, erlauben dieeinander gegenläufigen Schritte der Aneignung (von Objekten in Ge-stalt von Handlungsvollzügen mit ihnen) und der Distanzierung (vonVerfahren durch ihre Vergegenständlichung) sowohl eine ›subjektive‹Behandlung der Objekte als auch eine ›objektive‹ Behandlung derSubjekte. Dabei geht der erste Schritt der Subjektivierung, die Aneig-nung einer (primären) Handlung durch Aktualisierung – das ›objektive‹Handeln besteht geradezu im ›subjektiven‹ Vollzug eines Schemas – ,dem zweiten epistemologischen Schritt einer subjektbezogenen Be-handlung der Objekte – hier ist die primäre Handlung zu einem Objektder gliedernden Phasen-Handlungen und Aspekte-Handlungen ge-worden – in der dialogischen Konstruktion voraus. Ganz entsprechendgeht der erste Schritt der Objektivierung, die Distanzierung einer(primären) Handlung durch Schematisierung – das ›subjektive‹ Handelngerinnt gleichsam zum ›objektiven‹ Schema eines Vollzugs – , demzweiten ontologischen Schritt einer objektbezogenen Behandlung derSubjekte – hier ist die Ich-Du-Dyade des primären Handlungserwerbsin getrennte Ich-Du-Dyaden sekundärer Handlungen für Ich-Rolleund Du-Rolle aufgelöst – in der dialogischen Konstruktion voraus. Inder phänomenologischen Reduktion hingegen wird in beiden Hin-sichten von der Gegenüberstellung der einem Subjekt zugeschriebenen›Erkenntniskräfte‹ zu den sowohl inneren als auch äußeren Gliederun-gen eines Objekts, nämlich in Teile und Eigenschaften, ausgegangen,um die Gegenüberstellung entweder primär ontologisch – nach demaristotelischen Modell der Wirklichkeit als Zusammenspiel von 1m´qceia

(Akt) und d¼malir (Potenz) – oder primär epistemologisch – nach demkantischen Modell der Erfahrung als Zusammenspiel von (begriffli-chem) Denken und (sinnlicher) Anschauung – aufzulösen.

Etwas genauer betrachtet läßt sich folgendes festhalten: Die sub-jektbezogene Behandlung der Objekte besteht in der Thematisierung(Vergegenständlichung!) sowohl der individuellen Perspektiven oderIch-Rolle, wie sie in der Verselbständigung eines differenzierendenTeilhandlungsschemas durch eine komprehensive – Handlungen der

Dialogischer Konstruktivismus82

Page 89: Dialogischer Konstr uktivismus

inneren Wahrnehmung, ein Ergebnis der Artikulation sich selbst ge-genüber, einschließende – Handlungskompetenz und ihre Performanzmit einem Objekt greifbar ist, als auch der sozialen Perspektiven oderDu-Rolle, wie sie in der Verselbständigung einer fixierenden Zei-chenhandlungsaktualisierung durch eine symbolische – Handlungen dervirtuellen Hervorbringung, ein Ergebnis der Vermittlung sich selbst ge-genüber, einschließende – Zeichenrezeption und ihre Produktion ge-genüber einem Objekt auftritt.

Entsprechend dokumentiert sich die objektbezogene Behandlungder Subjekte in der Thematisierung sowohl der universalen Perspektivenoder Du-Rolle, wie sie in der Verselbständigung eines symbolischenZeichenhandlungsschemas – durch einen Artikulator markiert – mithilfevon Kommunikation (Satzrolle des Artikulators) und Signifikation(Wortrolle des Artikulators) unter Mitwirkung von �ußerer Wahrneh-mung erscheint, als auch der individuellen Perspektiven oder Ich-Rolle,wie sie in der Verselbständigung einer symptomatischen Teilhand-lungsaktualisierung mithilfe von Lehren und Lernen unter Mitwirkungvon reeller Hervorbringung greifbar ist.

Beide Rollen, Ich-Rolle und Du-Rolle, treten in doppelter Hin-sicht auf, je nachdem ob die Lebensweisen oder die Weltansichten einesSubjekts, also die Polarität ›individuell-sozial‹ oder die Polarität ›uni-versal-individuell‹ betroffen sind. Darüber hinaus ist es gerade für dashier behandelte Problem des Zusammenhangs von Zeichen- und Ge-genstandsebene von größter Bedeutung, sich sowohl beim Übergangvon Artikulation zu symbolischer Artikulation als auch beim Übergangvon Vermittlung zu komprehensiver Vermittlung die mit der Trennungvon Bezeichnen und Bezeichnetem beziehungsweise von Partizipierenund Partizipiertem – wiedergegeben mit der semiotischen Qualifikation›symbolisch‹ bezüglich Bezeichnen und ›symptomatisch‹ bezüglichPartizipieren – einhergehende Beteiligung von Hervorbringung, deraktiven Seite von Phasen-Handlungen, und Wahrnehmung, der passi-ven Seite von Aspekte-Handlungen, an der subjektbezogenen Be-handlung der Objekte und an der objektbezogenen Behandlung derSubjekte klarzumachen.

Erst durch die Berücksichtigung dieser beiden Handlungsperspek-tiven, Hervorbringung und Wahrnehmung, läßt sich, für Differenzie-rung und Fixierung einerseits wie für Identifizierung und Summierungandererseits, der verlorengegangene Zusammenhang des Bezeichnensund des Partizipierens mit ihrem jeweiligen Objekt wiedergewinnen,indem gleichsam spiegelbildlich von einer zu eigenständigen Hand-

Rede zwischen Aktion und Kognition 83

Page 90: Dialogischer Konstr uktivismus

lungssubjekten führenden Ausgliederung der Akteure des Bezeichnensund Partizipierens aus diesen beiden Handlungen Gebrauch gemachtwird.

Um nämlich die semiotische Rolle einer symbolischen Artikulation,deren Funktion in der Vertretung beliebiger Aspekte-Handlungen unterBezug jeweils auf eine Teilhandlung besteht (also derjenigen einereinfachen Artikulation logisch übergeordnet ist), und damit das sym-bolische Bezeichnen als eine auf ein Objekt bezogene Handlung einesSubjekts charakterisieren zu können, müssen die von einer symboli-schen Artikulation in einer Redesituation vertretenen Aspekte-Hand-lungen – ihre Schemata gehören zum invarianten Kern des Objekts,seiner ›Form‹ – ohne ihren pragmatischen, in der Redesituation in derRegel gerade nicht aktualisierten Anteil, wie er in einfachen Artikula-tionen vorliegt, verstanden werden: sie sind subjektive, bloße äußereWahrnehmungshandlungen. Und auch für diese gilt, daß sie nicht, inWahrnehmungs-Akten, vollzogen zu sein brauchen; allein ihre Sche-mata, die Wahrnehmungs-Inhalte, auf der aktiven Seite verselbständigtin Gestalt von Vorstellungen oder Imaginationen, und zwar unter Ein-schluß der ›Sensationen‹ oder Empfindungen auf der passiven Seite,lassen sich zur Bildung einer (Teil-)Invariante Vorgestelltes Objekt her-anziehen. In kantischer Terminologie müßte ›Vorstellung‹ durch ›Formeiner Vorstellung‹ oder ›reine Vorstellung‹ ersetzt werden, die ihrerseitsin ›reine Anschauung‹ und ›reinen Begriff‹ zerfällt. Alles Empirische istbei Kant aus der Behandlung der Formen, seien sie aktiv, als Formge-bung, oder passiv, als gewonnene Form, bestimmt, ausgeschieden, einemethodologische Folge seines empirische Subjekte von vornherein nurals Verkörperungen des transzendentalen Subjekts zulassenden Ansatzes.

Liegt gleichwohl auch ein pragmatischer Anteil der von der sym-bolischen Artikulation vertretenen Aspekte-Handlung vor, z.B. eineZeichnung, so spricht man von einem Repr�sentierten Objekt, das dabeibloß vorgestellt oder auch darüber hinaus empfunden sein mag. Vor-stellungen sollen als Bestandteile eines Subjekts verständlich machen,wie es sich mit einer Handlung des symbolischen Bezeichnens auf eindurch Vorstellungen zugängliches Objekt beziehen kann. Dabei ist deraktive (bzw. pragmatische) Anteil wiederum der Vorstellungen, auch imKontext von Empfindungen oder von Artikulationen, unter dem Titel›empirische Vorstellung‹ oder ›mentale Repräsentation‹, Gegenstandmittlerweile ausgedehnter empirischer Untersuchungen der Kogniti-onswissenschaft (ihrer psychologischen Komponente, wenn Artikula-tionen, z.B. sprachliche Äußerungen, beteiligt sind, ihrer [neuro-]bio-

Dialogischer Konstruktivismus84

Page 91: Dialogischer Konstr uktivismus

logischen Komponente, wenn Empfindungen beteiligt sind), währendihr passiver (bzw. semiotischer) Anteil unter dem Titel ›rationale Vor-stellung‹ oder ›Kognition‹ zur Domäne rationaler Erforschung gehört,wie sie ebenfalls von der Kognitionswissenschaft in Gestalt der ›philo-sophy of mind‹ betrieben wird. Dabei verwandeln sich Kognitionen inpropositionales Wissen (›Erkenntnis‹ oder ›Metakompetenz‹) erst durch dasHinzutreten symbolischer Artikulation, wie sie in Gestalt von Kom-munikation und Signifikation mithilfe von Zeichenproduktion undZeichenrezeption auftritt.

Hinzukommt, daß bei der subjektbezogenen Behandlung der Ob-jekte an die Stelle der, zur Erklärung des symbolischen Bezeichnens unddes symptomatischen Partizipierens, für die objektbezogene Behandlungder Subjekte erforderlichen Ersetzung des Objekts durch VorgestelltesObjekt bzw. Hergestelltes Objekt (s.u.) eine Ersetzung des Subjektsdurch ein (individuelle) Ich-Rolle und (soziale) Du-Rolle zugleichverkörperndes Subjekt, G. H. Meads ›verallgemeinerten Anderen‹, tritt,damit sowohl – in differenzierenden Teilhandlungsschemata – Indivi-dualität präsentiert als auch – in fixierenden Zeichenhandlungsaktuali-sierungen – Sozialität ausgedrückt werden können. Genau darin bestehtdie Rolle des Bezugs zum einen auf eine Zeichenhandlung bei derErweiterung durch beliebige Phasen-Handlungen in der komprehen-siven Vermittlung, und zum anderen auf eine Teilhandlung bei derVertretung durch beliebige Aspekte-Handlungen in der symbolischenArtikulation. Denn weder braucht die Zeichenhandlung aktualisiertnoch die Teilhandlung schematisiert zu sein. Es genügt, eine Zei-chenhandlung als Artikulation sich selbst gegenüber (das Subjekt in Ich-Rolle und in Du-Rolle, eine ›Selbstrepräsentation‹ durch Verinnerli-chung der zuvor aufgespaltenen Ich-Du-Dyade) und damit als ›innereWahrnehmung‹ aufzufassen, ebenso wie es genügt, eine Teilhandlungals Vermittlung sich selbst gegenüber, eine ›Selbstexemplifikation‹, unddamit als ›virtuelle Hervorbringung‹ aufzufassen, um der Redeweise,daß im Handelnkönnen Individualität präsentierbar und im Reden-können Sozialität ausdrückbar ist, einen intersubjektiven Sinn zu geben.

Mit diesen Vorbereitungen läßt sich jetzt der auf die aristotelischeTradition zurückgehende Topos vom Denken, das sich auf Allgemeinesrichtet, und vom Wahrnehmen, das auf Partikulares geht, sinnvoll re-konstruieren und darüber hinaus auch die von Platon bis heute ver-tretene Auffassung, daß Denken ein Reden mit sich selbst sei, verstehen.Allerdings bedarf es dazu zuvor noch einer ausdrücklichen Klärung auchder pragmatischen Rolle komprehensiver Vermittlung, deren Funktion

Rede zwischen Aktion und Kognition 85

Page 92: Dialogischer Konstr uktivismus

in der Erweiterung durch beliebige Phasen-Handlungen unter Bezugjeweils auf eine Zeichenhandlung besteht (also derjenigen einer einfa-chen Vermittlung logisch übergeordnet ist). Erst dann wird deutlich,wie ein Objekt, an dem komprehensiv partizipiert wird, für ein Subjektsymptomatisch anwesend sein kann. Auch hier nämlich ist eine er-weiternde Phasen-Handlung – ihre Aktualisierungen gehören zu der einGanzes bildenden Hülle des Objekts, seiner ›Substanz‹ – in der Hand-lungssituation einer komprehensiven Vermittlung in Gestalt einer sub-jektiven Differenzierung zwar hervorgebracht, aber nicht selbst injedem Falle vermittelt : sie ist eine bloße reelle Hervorbringung. Undauch hier wieder ist es nur erforderlich, daß sie, als Hervorbringungs-Versuch, vollzogen wird, nicht aber unbedingt auch ein Hervorbrin-gungs-Erfolg vorzuliegen hat. (Es erscheint systematisch angemessener,nicht Versuche in nichtgelungene und gelungene, also Fehlschläge undErfolge, einzuteilen, weil sonst der passive Anteil an Hervorbringungen,eben das Widerfahrnis des Erfolgs, zu einer Eigenschaft des aktivenAnteils gemacht und damit von der Konstitutionsebene auf die Be-schreibungsebene verlagert wird.)

Die verselbständigten passiven Seiten von Versuchen lassen sich inGestalt von Herstellungen, und zwar unter Einschluß der motorischenTätigkeit auf der aktiven Seite, zur Bildung eines (Teil-)Ganzen Her-gestelltes Objekt heranziehen. Behandelt man jetzt die Herstellungen odercorporalen Exemplifikationen als Bestandteile eines Subjekts, so ist es, ge-treu der kantischen Einsicht, „daß die Vernunft nur das einsieht, was sieselbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“,8 verständlich, wie ein Sub-jekt an einem durch Herstellungen realisierbaren Objekt symptomatischpartizipieren kann.

Es wäre die Aufgabe einer gegenwärtig nur in Bruchstücken – etwainnerhalb von Produktionstheorien der Kunstwissenschaft, in der Kul-turtheorie oder in Theorien des Experimentierens in den Naturwis-senschaften – sichtbaren ›Aktionswissenschaft‹, sowohl die empirisch-pragmatische Seite von Herstellungen als auch ihre rational-semiotischeSeite, wie sie sich durch die mit Herstellungen verbundenen ›Ideen‹oder ›Intentionen‹ fassen läßt, genauer zu untersuchen. Dabei verwan-deln sich die Ideen in operationales Wissen (›Kenntnis‹ oder ›Objekt-kompetenz‹) erst durch das Hinzutreten sowohl von komprehensiverVermittlung, wie sie in Gestalt einer lehr- und lernbaren Handlungs-

8 KrV, B XII.

Dialogischer Konstruktivismus86

Page 93: Dialogischer Konstr uktivismus

kompetenz und Handlungsperformanz auftritt, als auch von deren Ar-tikulation.

IV

Die in der Modellierung gewonnene objektbezogene Behandlung derSubjekte hat dazu geführt, die Subjekte und damit die auf den Objektenoperierenden Verfahren, die in der subjektbezogenen Behandlung derObjekte durch komprehensive Handlungs-Kompetenz samt Handlung-Performanz unter Beteiligung innerer Wahrnehmung und durch sym-bolische Zeichen-Rezeption samt Zeichen-Produktion unter Beteili-gung virtueller Hervorbringung charakterisiert sind, zu einem Ensembleaus Einheiten zu objektivieren, die einerseits Vorgestellte Objekte undandererseits Hergestellte Objekte sind, die Welt des (individuellen)›Bewußtseins‹ (›Seele‹) und die Welt der (sozialen) ›Kultur‹.

Diese Einheiten sind aus Anteilen der Rekonstruktionshandlungengewonnen, bei einem Vorgestellten Objekt nur aus der passiven Seiteder Wahrnehmung, bei einem Hergestellten Objekt aus der aktivenSeite der Hervorbringung, so daß der ausgeschlossene Rest, alsoWahrnehmungs-Akt und Hervorbringungs-Erfolg, den Schluß auf eineden Subjekten gegenüberstehende Welt zu erlauben scheint. Vergessenwird dann, daß eben diese Welt der Partikularia von vornherein als einBereich von mixta composita aus Stoff und Form, dem Hervorbrin-gungsanteil von Phasen und dem Wahrnehmungsanteil von Aspekten,konstituiert waren, an denen in einer komprehensiven Vermittlungsymptomatisch partizipiert wird und die durch eine symbolische Arti-kulation symbolisch bezeichnet werden. Die Abtrennung des subjekti-ven und zugleich passiven Anteils, des Vorgestellten Objekts, auf dersemiotischen Seite verweist auf eine noch fehlende Vermittlung ebenso,wie die Abtrennung des subjektiven und zugleich aktiven Anteils, desHergestellten Objekts, auf der pragmatischen Seite auf eine noch feh-lende Artikulation verweist. Anders wäre operationales Wissen, alsoKenntnis oder Objektkompetenz, und propositionales Wissen, alsoErkenntnis oder Metakompetenz, die im übrigen unabhängig vonein-ander nicht zu haben sind, unmöglich, wie man sich sofort anhand einerdialogischen Situation klarmachen kann: Ohne Vermittlung und Arti-kulation kann ein Subjekt in Du-Rolle nicht wissen, ob ein Subjekt inIch-Rolle wahrnimmt oder hervorbringt, also etwas erlebt oder etwaserschafft, weil andernfalls eine Wahrnehmung nur als ein natürliches

Rede zwischen Aktion und Kognition 87

Page 94: Dialogischer Konstr uktivismus

(sensorisches) Ereignis und eine Hervorbringung nur als ein natürliches(motorisches) Ereignis bestimmt werden können. Nur indem einSubjekt zugleich Ich-Rolle und Du-Rolle verkörpert, kann es sich einErlebnis und sich ein Werk zusprechen. Es sind die semiotischen Anteilevon Kenntnis, die für den Inhalt angeeigneter Erlebnisse gehaltenwerden, ebenso wie es die pragmatischen Anteile von Erkenntnis sind,die als Form distanzierter Werke gelten.

Es ist daher verständlich, daß häufig sowohl innere Wahrnehmungmit Vorstellung als auch virtuelle Hervorbringung, nämlich als bloß›gedachte‹ Erfolge, mit Herstellung verwechselt werden können. Aberbei innerer Wahrnehmung handelt es sich um einen Fall von Artiku-lation, die Selbstrepräsentation (›ich erlebe mich‹), wie sie als subjektivartikulierter Anteil auf der semiotischen Seite des Kennens – inHandlungskompetenz und Handlungsperformanz – auftritt, während inder Vorstellung nur einfache Repräsentation vorliegt, die bei hinzu-getretener Empfindung durch ›ich erlebe etwas‹ artikuliert werdenkann. Ganz entsprechend handelt es sich bei virtueller Hervorbringungum einen Fall von Vermittlung, die Selbstexemplifikation (›ich erschaffemich‹), wie sie als subjektiv vermittelter Anteil auf der pragmatischenSeite des Erkennens – in Zeichenrezeption und Zeichenproduktion –auftritt, während in der Herstellung nur einfache Exemplifikation ge-schieht, die bei hinzutretender motorischer Tätigkeit durch ›ich er-schaffe etwas‹ artikulierbar ist.

Dies alles ist eine Folge des aufgetretenen Subjekt-Objekt-Dualis-mus. Er ist unvermeidlich, wenn die nur funktional, durch den Prozeßder Umwandlung von Gegenständen in Zeichen(-Gegenstände) cha-rakterisierten Subjekte – aktualisierend erzeugen sie (auf der nächstenEbene) Symptome, schematisierend hingegen (auf der nächsten Ebene)Symbole – ihrerseits zu in (symptomatischen) Zeichen (für HergestellteObjekte) präsentierten und zu durch (symbolische) Zeichen (für Vor-gestellte Objekte) ausgedrückten Gegenständen objektiviert werden.Der Dualismus ist aber kein ontologischer, wie bei Descartes, sondernwegen der Ebenendifferenz von Subjekt und Objekt ein Bild der Dif-ferenz ›epistemologisch-ontologisch‹ selbst, und er entspricht daher derschon von Gottfried Wilhelm Leibniz gegen René Descartes entwi-ckelten Unterscheidung zwischen Monaden (›Reich der Gnade[=Zweck-Mittel-Zusammenhänge]‹) und Körper von Monaden(›Reich der Natur [=Ursache-Wirkung-Zusammenhänge]‹). Allerdingsbehandelt Leibniz noch keine Übergänge zwischen den beiden Rei-chen. Es besteht zwischen ihnen allein eine strukturelle Übereinstim-

Dialogischer Konstruktivismus88

Page 95: Dialogischer Konstr uktivismus

mung: Es gibt eine Isomorphie der ›Körpersprache‹, also der Physik alsder durch Wirkursachen geordneten Theorie von den Bewegungen derKörper, und der ›Seelensprache‹, also der Ethik in Gestalt einer Te-leologie als der durch Zweckursachen geordneten Theorie von denHandlungen der Seelen, von Leibniz durch das Lehrstück von der›prästabilierten Harmonie‹ ausgedrückt.9

Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß bei den Objekten die Ver-knüpfung des Denkanteils mit dem Handlungsanteil so geschieht, daßder Denkanteil in Gestalt bloßer Schemata (von Aspekten) und derHandlungsanteil in Gestalt allein von Aktualisierungen (von Phasen)auftreten, während bei den Subjekten ihr Denkanteil in Gestalt vonVorstellungen (empirisch und rational) und ihr Handlungsanteil inGestalt von Herstellungen (empirisch und rational) erscheinen, die treuder funktionalen Herkunft der Subjekte als Verfahren gegenüber Ob-jekten auf Erfüllung angewiesen bleiben: die Vorstellungen auf Erfül-lung durch innere Wahrnehmungen in Vermittlungen (›das meine ich[mit der Vorstellung]‹) und die Herstellungen auf Erfüllung durch vir-tuelle Hervorbringungen in Artikulationen (›das intendiere ich [mit derHerstellung]‹).

Es gehört nun zu den Eigentümlichkeiten der empirisch als Zei-chenhandlungen, also als verbale oder nichtverbale Sprachhandlungen,angesehenen Handlungen – man erinnere sich, daß in der Modellierungjede Handlung einen pragmatischen und einen semiotischen Anteilhat – , seien es Reden, Zeichnen, Tanzen oder andere, daß sie sowohlals gewöhnliche Artikulationen, also ohne den Anspruch, andere As-pekte-Handlungen zu vertreten, als auch als symbolische Artikulationenund damit unter Einschluß eines Vertretungsanspruchs rekonstruierbarsind. In der Rolle als gewöhnliche Artikulationen hat dies zur Folge,daß sie sich unter Handlungsperspektive auch als Teilhandlungen auf-fassen lassen – Wörter als Bestandteile der Gegenstände, die sie be-zeichnen, im Falle magischen Sprachgebrauchs sind typische Beispiele –und damit einer in Bezug auf die Objekte symptomatischen Sprach-verwendung zur Verfügung stehen. Natürlich kann auch umgekehrteine Teilhandlung, solange sie nicht komprehensiver Vermittlung dient,als eine Zeichenhandlung angesehen werden und in symbolischeSprachverwendung Eingang finden. Diese Zusammenhänge sind füreine innerhalb der vorgeschlagenen Modellierung mögliche Rekon-

9 Cf. Leibniz 1714, §§ 78–81.

Rede zwischen Aktion und Kognition 89

Page 96: Dialogischer Konstr uktivismus

struktion der Unterscheidung von Kunst und Wissenschaft wichtig undkönnen hier nicht weiter verfolgt werden.10

In der folgenden abschließenden Überlegung soll Reden paradig-matisch für symbolisches und einfaches Artikulieren eintreten, allerdingsohne auf die nach demselben Verfahren, also unter Anwendung desPrinzips der Selbstähnlichkeit, rekonstruierbare Außen- und Binnen-gliederung des Artikulierens einzugehen.11

Im einfachsten Fall, und nur dieser soll noch erörtert werden, istReden die Äußerung eines Artikulators, der sowohl eine einfache unddaraufhin als Teilhandlung eine symptomatische als auch eine symbo-lische Funktion haben kann. In symptomatischer Funktion ist Redenvom Denken in Gestalt innerer Wahrnehmung begleitet, bei dersymbolischen Funktion von Reden hingegen tritt Denken wegen dermit der Äußerung des Artikulators verbundenen Vertretung andererAspekte-Handlungen in zwei Gestalten auf, als zur vertretenen Aspekte-Handlung gehörige Vorstellung und als virtuelle Hervorbringung imZusammenhang der Äußerung des Artikulators (redend ein [gedankli-ches] Werk hervorbringen).

Im Denken als innerer Wahrnehmung liegt eine besondere As-pekte-Handlung vor, die zusammen mit dem Reden als Teilhandlungeben das Reden als Teilhandlung zu verstehen erlaubt und deshalb auchals innerer Sinn den äußeren Sinnen an die Seite gestellt werden kann,vorausgesetzt, man beachtet, daß in diesem Fall neben einer Wahr-nehmung noch eine Artikulation sich selbst gegenüber vorliegt. Manbeschränkt dann Denken als inneren Sinn gern auf eine ›stille‹ Artiku-lation, nämlich die für sich selbst vorgenommene Aktualisierung desSchemas einer Aspekte-Handlung, eben einer zum Reden als Teil-handlung gehörenden Wahrnehmung; und man verlangt darüber hinausgelegentlich Intersensualität. Die stille Artikulation kann dann durch›stilles Reden‹ ebenso realisiert werden wie durch ›stilles Zeichnen‹,›stilles Singen‹ oder anders. Wird Denken als innerer Sinn jedoch derartintersensual verstanden, so muß man beachten, daß zwar ein Nur-sehen-können, und entsprechend bei den anderen äußeren Sinnen,möglich ist – wer etwas sieht, braucht es nicht zu denken, wohl abermuß, wer etwas zeichnet oder äußert, dies auch denken – , nicht jedochein Nur-denken-können. Vielmehr bekommt Denken als innerer Sinndann die Funktion intersensualer Koordination.

10 Cf. Lorenz 1996.11 Cf. für Einzelheiten dazu: Lorenz 1995 [in diesem Band pp 24–71].

Dialogischer Konstruktivismus90

Page 97: Dialogischer Konstr uktivismus

Der Fall des Denkens als Vorstellung liegt anders. Hier wird aus-drücklich Invarianz gegenüber spezifischen sensualen Vorstellungen,eben den empirischen Vorstellungen, verlangt, um von Denken ineinem durch die philosophische Tradition vertrauten Sinne sprechen zukönnen. Erst das Schema empirischer Vorstellungen, das nach demVollzug des Übergangs von einer Vorstellung von Partikularem zurrationalen Vorstellung von etwas Allgemeinem vorliegt, ist in seinenVollzügen Denken und war deshalb schon früher ›Gedanke‹ genanntworden. Von Begriffsbildung sollte aber an dieser Stelle im Unterschiedzu einer weit verbreiteten Tradition gleichwohl erst dann gesprochenwerden, wenn die symbolische Artikulation hinzugezogen ist. Einpropositionales Wissen, die Metakompetenz, läßt sich dann auch alsbegriffliche Erkenntnis dem durch Denken als innerem Sinn vermitteltenoperationalen Wissen, der Objektkompetenz, als sinnliche Erkenntnisgegenüberstellen.

Aktionen dürfen nicht nur ›von außen‹ oder ›objektiv‹ gesehenwerden, sie wären bloßes Verhalten, ebensowenig wie Kognitionen nur›von innen‹ oder ›subjektiv‹ gesehen werden dürfen, Reden wäre nurihr Ausdruck. Vielmehr haben Aktionen auch ihre Innenseite, wenn dasobjektive Verhalten in eine sinnstiftende Vermittlung der Hervorbrin-gungen als Erfüllung von Vorstellungen durch innere Wahrnehmungen(›schauendes Denken‹) verwandelt wird, und Kognitionen haben ihreAußenseite, wenn das Reden als bloßer subjektiver Ausdruck sich inSprachgebrauch im Sinne einer sozial geteilten Artikulation derWahrnehmungen als Erfüllung von Herstellungen durch virtuelleHervorbringungen (›tätiges Denken‹) verwandelt.

Literaturverzeichnis

CP, = Collected Papers of Charles Sanders Peirce I-VI, ed. by CharlesHartshorne and Paul Weiss, Cambridge, Mass. 1931–1935.

Dascal, Marcelo, 1995: The dispute on the primacy of thinking or speaking, in:HSP 2, pp 1024–1041.

HSP, = Sprachphilosophie/Philosophy of Language/La philosophie du lan-gage. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung/An In-ternational Handbook of Contemporary Research/Manuel internationaldes recherches contemporaines, hg. v. Marcelo Dascal, Dietfried Gerhar-dus, Kuno Lorenz, Georg Meggle, Berlin/New York Bd.1 1992, Bd.21995.

Rede zwischen Aktion und Kognition 91

Page 98: Dialogischer Konstr uktivismus

KrV, = Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Raymund Schmidt,Hamburg 1956 [Riga 1781 (= A), 21787 (= B)].

Leibniz, Gottfried Wilhelm, 1714: Principes de la philosophie ou Monadolo-gie, in: Gottfried Wilhelm Leibniz. Kleine Schriften zur Metaphysik, lat./frz.-dt. Ausgabe, hg. u. übers. v. Hans Heinz Holz, Darmstadt 1965, pp438–483.

Lorenz, Kuno, 1995: Artikulation und Prädikation, in: HSP 2, pp 1098–1122.Lorenz, Kuno, 1996: Sinnliche Erkenntnis als Kunst und begriffliche Er-

kenntnis als Wissenschaft, in: Philosophie in Literatur, hg. v. ChristianeSchildknecht/Dieter Teichert, Frankfurt am Main, pp 55–68.

PU, = Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, dt./engl. ,Oxford 1953.

Ros, Arno, 1983: Die Genetische Epistemologie Jean Piagets. Resultate undoffene Probleme [Philosophische Rundschau, Beiheft 9], Tübingen.

T, = Wittgenstein, Ludwig: Tractatus Logico-Philosophicus, dt./engl., ed. byDavid F. Pears and Brian F. McGuinness, London 21971 [1922].

Dialogischer Konstruktivismus92

Page 99: Dialogischer Konstr uktivismus

Rede zwischen Aktion und Kognition 93

Page 100: Dialogischer Konstr uktivismus

Grammatik zwischen Psychologie und Logik

I

Ursprünglich wurde unter Grammatik ganz allgemein ein Wissen vonder Sprache verstanden, wobei dieses Wissen in einer Fertigkeit bestand– zunächst das Lesenkönnen – , die nicht ihrerseits noch einer sprach-lichen Artikulation bedurfte: Das als Grammatik tradierbare Sprach-wissen war operational und nicht propositional. Damit gehörte sie zuden poietischen Disziplinen, die in der Einteilung von Aristoteles ge-genüber den theoretischen und den praktischen Disziplinen von min-derem Rang war. Sie war weder eine auf Wahrheitsermittlung ge-richtete Lehre – theoretische ›Philosophie‹ oder Wissenschaft im en-geren Sinn – noch eine mit dem Gut-Lebenkönnen befaßte Lehre –praktische ›Philosophie‹ oder Wissenschaft im weiteren Sinn – mit derFolge, daß Sprache als Gegenstand einer theoretischen oder auch einerpraktischen Wissenschaft im Sinne von Aristoteles nicht so ohne wei-teres in Frage kam. Die Grammatik hatte nicht, wie eine theoretischeDisziplin, die Aufgabe, nach Gründen (für die Geltung von Sätzen) zusuchen, und genau so wenig hatte sie die den praktischen Disziplinengestellte Aufgabe zu lösen, (die für die Güte von Handlungen maßge-benden) Ziele zu bestimmen.

Als eine sprachliche Fertigkeit teilte sie diesen Status mit den beidenanderen sprachlichen Fertigkeiten, der Dialektik bzw. Logik und derRhetorik, die seit dem 4. Jahrhundert die ersten drei, das ›Trivium‹, dersieben artes liberales in der Erziehung eines ›Freien‹ bildeten. Sie unter-schied sich jedoch von diesen beiden dadurch, daß ausdrücklich zwardie logischen Fertigkeiten im Rahmen der Geltungssicherung von dentheoretischen Wissenschaften in Anspruch genommen und die rheto-rischen Fertigkeiten von den praktischen Wissenschaften für die An-erkennung der Ziele benötigt werden, aber für die grammatischenFertigkeiten keine besondere Rolle in den Wissenschaften vorgesehenwar. Diese besondere Rolle erhielt die Grammatik stattdessen nach demVorbild der Poetik des Aristoteles in den (sprachlichen) Künsten.

In allen drei Fällen sind es durch Übung zu Fertigkeiten ausgebildetesprachliche Fähigkeiten, die in den Wissenschaften und Künsten injeweils besonderer Weise zur Geltung kommen. Unter Verwendung

Page 101: Dialogischer Konstr uktivismus

einer gegenwärtig üblichen Terminologie kann man davon sprechen,daß bei den logischen Fertigkeiten die semantische Kompetenz, bei denrhetorischen Fertigkeiten die pragmatische Kompetenz, bei den gram-matischen Fertigkeiten hingegen die syntaktische Kompetenz eingesetztwird; alle drei Kompetenzen zusammen erst machen die Sprachkom-petenz aus.

Wenn daher von Grammatik als Sprachwissen die Rede ist, so ist aufeine Zweideutigkeit zu achten. Sprachwissen bezieht sich als gramma-tische Fertigkeit weder auf ein Wissen über die beabsichtigte odereintretende (praktische) Wirkung von Sprachhandlungen noch auf einWissen über die erwartete oder bestehende (theoretische) Zuverlässig-keit von Sprachzeichen, auch wenn für diese beiden Wissensformen, aufdie man sich unter anderem beim Erwerb von Weltwissen stützt,grammatische Fertigkeiten ebenfalls in Anspruch genommen werden:im ersten Fall beim Aufbau einer Kommunikationstheorie, im zweitenFall beim Aufbau einer Beweistheorie, zweier Hilfsdisziplinen, die demErwerb von (praktischem und theoretischem) Weltwissen dienen. Wirdhingegen Sprachwissen als ein (sprachlich artikuliertes) Wissen über die(allgemeine) Sprachkompetenz beziehungsweise ihre (besondere) Rea-lisierung in einer Sprachperformanz angesehen, so sind sämtlichesprachliche Fertigkeiten der Gegenstand dieses (propositionalen) Wis-sens; die sprachlichen Fertigkeiten treten in diesem Fall nicht selbstschon als (operationales) Wissen auf.

Die genannte Zweideutigkeit läßt sich terminologisch mit derUnterscheidung von Grammatik und Linguistik leicht beheben. Es istdann auch verständlich, inwiefern Grammatiktheorie nur als Bestandteilder Linguistik erscheint, als ein Wissen allein über die grammatischen,nicht aber die übrigen sprachlichen Fertigkeiten. Schwieriger ist es, dermit dem Übergang vom operationalen Wissen der Grammatik zumpropositionalen Wissen der Linguistik einhergehenden Bedeutungs-verschiebung des Ausdrucks ‘Sprache’ in ‘Sprachwissen’ gerecht zuwerden. In welchem Sinne sind die von der grammatischen Fertigkeitund damit der syntaktischen Kompetenz unterschiedenen sprachlichenFertigkeiten, traditionell also die rhetorischen und die logischen Fer-tigkeiten als Ausdruck pragmatischer und semantischer Kompetenz,überhaupt sprachspezifisch, setzen also die Sprache nicht nur als einbloßes Hilfsmittel ein – für ein Wissen über die Wirkungen vonSprachhandlungen beziehungsweise ein Wissen über die Zuverlässigkeitvon Sprachzeichen?

Grammatik zwischen Psychologie und Logik 95

Page 102: Dialogischer Konstr uktivismus

An dieser Stelle ist es unerläßlich, auf eine eigentümliche Doppel-rolle der Sprache einzugehen, was helfen wird, auch die titelgebendeZwischenstellung der Grammatik zwischen Psychologie und Logikaufzuklären. Auf der einen Seite nämlich gehört Sprache als ein Zei-chensystem, wird es verwendet, zu den Hilfsmitteln, die Welt der(äußeren) Gegenstände, der Partikularia, zugänglich zu machen, wäh-rend sie auf der anderen Seite selbst einen Bereich (erzeugter) Gegen-stände oder Artefakte bildet, die sich ihrerseits untersuchen lassen. Aberdamit nicht genug! Die Zeichenfunktion der Sprache wird auf dieAusübung besonderer ›mentaler Handlungen‹ zurückgeführt, die als›Denken‹ gegenwärtig sowohl in (empirisch) psychologischer Hinsichtzum Gegenstand der Kognitionswissenschaft als auch in (rational) lo-gischer Hinsicht zum Gegenstand der Philosophie des Geistes gemachtwerden, aber selbstverständlich die philosophische Tradition schon seitlangem begleiten. Die Sprache als Gegenstand wiederum wird ebenfallsseit langem als Verkörperung des Geistes angesehen, also besonderer›mentaler Gegenstände‹, die in traditioneller Redeweise rational als›sinnliche Gestalt‹ eines ›begrifflichen Gehalts‹ und empirisch als Aus-druck psychischer Phänomene gelten; diese aber werden von der Logikbeziehungsweise von der Psychologie untersucht.

Es sieht daher so aus, als stehe die Sprache als Gegenstand zwischender ›inneren‹ Welt des Geistes oder der Seele und der ›äußeren‹ Welt derPartikularia, indem sie die innere Welt versinnlicht und die äußere Weltversprachlicht, während die Sprache in ihrer Verwendung, zum Beispielin der Rede, sich zwischen Kognition und Aktion befindet: Als Zei-chenhandlung repräsentiert sie eine innere Welt, als Zeichenhandlunggreift sie in die äußere Welt ein.1 Zeichenhandlungen gehören zu denHandlungen, Zeichenhandlungen gehören zu den Zeichen. Es bedarfeiner diese mittlere Stellung zwischen Gegenständen auf der einen Seiteund Zeichen für Gegenstände auf der anderen Seite zur Geltung brin-genden Rekonstruktion des Begriffs einer Zeichenhandlung, spezielleiner verbalen Zeichenhandlung oder Sprachhandlung, um unter densprachlichen Fertigkeiten die grammatischen Fertigkeiten als im engerenSinne sprachspezifisch begreifen zu können.

Erst dann wird sich auch einsehen lassen, daß unter dem üblichenVerständnis der semantischen Kompetenz, die hauptsächlich von denbeiden großen Theoriesorten thematisiert wird, einer Theorie desVerstehens oder Bedeutungstheorie und einer Theorie des Anerkennens

1 Vgl. Lorenz 1997 [in diesem Band pp 72–93].

Dialogischer Konstruktivismus96

Page 103: Dialogischer Konstr uktivismus

oder Wahrheitstheorie – ihre Verallgemeinerungen in Theorien derBedeutsamkeit einerseits und Theorien der Geltung andererseits könnenhier nicht mit einbezogen werden – , das operationale Sprachwissen derGrammatik und damit die syntaktische Kompetenz lediglich Hilfs-funktion hat. Denn in einer (von Aussagen handelnden) Wahrheits-theorie ist mit der Ausnahme des Falles formaler Wahrheit, die tat-sächlich ein Fall bloß ›grammatischer Geltung‹ zu sein scheint, allein dergegenständliche Bezug maßgebend, wie es sich an Verfahren des Be-weisenkönnens von Aussagen (über Gegenstände) ablesen läßt.

Die für den gegenständlichen Bezug wiederum erforderlichenHilfsmittel werden in einer Bedeutungstheorie (von prädikativen Aus-drücken) behandelt, und zwar in der Regel in Gestalt einer Untersu-chung der Beziehung zwischen Zeichen und Gegenständen entwederals Beziehung zwischen zwei Sorten von ›Sachen‹ oder als Beziehungzwischen zwei Sorten von ›Namen‹ mit den jeweiligen Konsequenzenfür den Typ der entstehenden Bedeutungstheorie. Dazu gehört dannauch die Bestimmung des Status der selbst gegenständlich aufgefaßtenHilfsmittel, etwa der Vorstellungen (und Begriffe) als psychologischerMittel oder der Klassen (und Begriffe) als logischer Mittel. Der eigen-ständige Beitrag der (speziell verbalen) Zeichen selbst, den sie für dieBestimmung der bezeichneten Gegenstände spielen, ihr ›grammatischerSinn‹, bleibt regelmäßig außerhalb der Fragestellung. Grundsätzlichwird von der Grammatik bei der Untersuchung semantischer Kompe-tenz nur hilfsweise Gebrauch gemacht. Nicht viel anders liegen dieVerhältnisse bei der pragmatischen Kompetenz, wie sie etwa in derSprechakttheorie zum Gegenstand wird.

Es ist diese reine Hilfsfunktion der Grammatik, also der syntakti-schen Kompetenz, für Untersuchungen anscheinend rein außersprach-licher Problemfelder, seien diese theoretisch mit Zeicheninhalten undGegenstandsformen oder praktisch mit deren kausalen und intentionalenWirkungen befaßt, die es so schwer macht, das Sprachwissen oder auchdas Wissen um andere Zeichensysteme in seiner eigenständigen Rollegegenüber einem sprachlich oder semiotisch nur vermittelten Wissenüber eine innere oder eine äußere Welt – Geist und Natur – zu be-stimmen.

Grammatik zwischen Psychologie und Logik 97

Page 104: Dialogischer Konstr uktivismus

II

Im Kosmos der Wissenschaften, wie ihn Charles Sanders Peirce kon-zipiert hat, ist die ›Wissenschaft von den allgemeinen Zeichengesetzen‹als Verallgemeinerung der bei John Locke auch schon als ‘Semiotik(sgleiytijµ [t´wmg])’ bezeichneten Logik2 eine der drei normativenDisziplinen – neben Ethik und Ästhetik – und ihrerseits in drei Teilegegliedert: eine ›spekulative Grammatik‹, die für eine allgemeineTheorie von der Natur und der Bedeutung der Zeichen zu sorgen hat,eine ›Kritik‹, die sich um die Klassifikation und die Gültigkeitsfestle-gungen von Argumenten kümmert, und eine ›Methodeutik‹, in der esum eine Untersuchung der Methoden für Forschung, Darstellung undAnwendung der Wahrheit geht.3

Es ist dabei wesentlich, daß die Semiotik in ihrem doppelten Statusernstgenommen wird, als eine Erfahrungswissenschaft und als eine Er-kenntnistheorie. Wird empirisch verfahren, so gelten Zeichenprozesse,die ›Semiosen‹, als natürlich ablaufende Prozesse in Natur und Gesell-schaft; sie werden im speziellen Fall von Prozessen des ›Informations-transfers‹ von der Teildisziplin Informationswissenschaft behandelt. Imreflexiven Verständnis der Semiotik hingegen werden die Semiosennicht beobachtet und beschrieben, eventuell auch noch erklärt, sondernmit dem Ziel der Wissensgewinnung und der Wissensvermittlungmethodisch erzeugt; sofern es dabei um wissenschaftliche Erzeugungs-verfahren oder rationale Rekonstruktion geht, soll begriffliches Wissengewonnen und vermittelt werden, im Falle künstlerischer Erzeu-gungsverfahren ist sinnliches Wissen und dessen Vermittlung das Ziel.

Dieses reflexive Verständnis von Zeichenprozessen findet sich be-reits explizit in der Stoa formuliert. Überliefert ist bei Sextus Empiricusdie mittlerweile klassische Erklärung, nach der ein Zeichen (sgle ?om)etwas sinnlich Gegenwärtiges ist, das dazu dient, etwas nicht Gegen-wärtiges zu offenbaren (dgkoOm).4 Eine Erläuterung dazu findet sichbeim selben Autor: „die offenkundigen Sachen (pqºdgka) bedürfenkeines Zeichens, sie können nämlich aus sich selbst heraus erkanntwerden. Aber auch die schlechthin verborgenen Sachen (%dgka) be-dürfen keines Zeichens, weil sie natürlich prinzipiell nicht erkanntwerden. Doch die temporär verborgenen und die natürlicherweise

2 Locke 1961, bk. IV, ch. 21, §4.3 Peirce 1903, p 257.4 Vgl. Adv. math. VIII.

Dialogischer Konstruktivismus98

Page 105: Dialogischer Konstr uktivismus

verborgenen Sachen werden durch Zeichen erkannt“.5 Die zugehörige›semiotische Kunst‹ (sgleiytijµ t´wmg) ist eine Lehre von den Sym-ptomen: Man erinnert sich anhand eines Zeichens daran, was bei an-derer Gelegenheit mit ihm (kausal oder intentional) verknüpft auftrat.

Da es bei den Sprachzeichen offensichtlich keine solche sympto-matische Verknüpfung mit den Gegenständen, auf die sie sich beziehen,gibt, muß es andere Gegenstände geben, deren Symptom sie sind –andernfalls ließe sich der Zeichencharakter der Sprachzeichen bezwei-feln. Damit haben die mentalen Gegenstände, als ›Ideen‹ (Platon,Locke), ›Begriffe‹ (Aristoteles, de Saussure) oder ›Vorstellungen‹ (Hegel,Wundt) Eingang in unsere Tradition gefunden, und schon die ›Ein-drücke in der Seele‹ (pah¶lata t/r xuw/r) des Aristoteles6 wurdenrückblickend derart gegenständlich aufgefaßt. Wieder war es die Stoa,die daraufhin ein Sprachzeichen (sgla ?mom) terminologisch von einemgewöhnlichen Zeichen unterschied: Mit einem Sprachzeichen ist stetsauch das von ihm implizierte ›Bedeutete‹, ein unkörperliches ›Lekton‹ –lateinisch ›dictum‹ – verfügbar, mit dessen Hilfe der Bezug zum äußeren(körperlichen) Gegenstand (tucw²mom) hergestellt wird. Seither habenSprachzeichen eine doppelte Bedeutung: ihren Sinn und ihre über denSinn vermittelte Referenz.

Nachdem diese Lehre von Gottlob Frege auf grundsätzlich alleSorten von Sprachzeichen verallgemeinert und bis in die jüngste Zeitfaktisch kanonisiert worden war, bedurfte es großer Anstrengungen,den kritischen Einwänden, die insbesondere Ludwig Wittgenstein andieser Stelle gegen Frege erhob – benennende Ausdrücke oder ›No-minatoren‹ haben nur eine Referenz, keinen Sinn, Aussagen hingegenhaben nur einen Sinn, keine Referenz7 – , unter Bezug auf entspre-chende Überlegungen auch schon in der philosophischen TraditionGehör zu verschaffen. Bereits Peirce hatte auf einschneidende Weise dieim semiotischen Dreieck veranschaulichte Dreidimensionalität derSprachzeichen – Zeichen, ausgedrückter Sinn und bedeuteter Gegen-stand – umgebildet. Diese Umbildung beruht auf der Verankerung derzweipolig, empirisch und reflexiv, organisierten Semiotik in einerentsprechend zweipolig organisierten Pragmatik. Auch Handlungennämlich sind dadurch ausgezeichnet, daß sie einerseits als bereits gege-bener Gegenstand einer Disziplin, zugleich aber auch als eines ihrer erst

5 Pyrrh. hypot. II.6 Vgl. De int. 16a3–8.7 Vgl. T 3.143 und 3.3.

Grammatik zwischen Psychologie und Logik 99

Page 106: Dialogischer Konstr uktivismus

zu beschaffenden Hilfsmittel auftreten. Natürlich verschärft sich da-durch das Abgrenzungsproblem, weil die Semiotik sowohl mit ihrerSpezialisierung, der Linguistik, als auch mit ihrer Generalisierung, derPragmatik, in reflexiver Einstellung – wir sprechen dann zur Verdeut-lichung von Zeichenphilosophie, Sprachphilosophie und Handlungs-philosophie – das Phänomen möglichen unmittelbaren Selbstbezugsteilt. Hinzukommt, daß auf der einen Seite Linguistik bei Einschlußnicht-wortsprachlicher Zeichensysteme grundsätzlich gleichwertig mitSemiotik ausfällt, und daß auf der anderen Seite auch Pragmatik ange-sichts der Tatsache, grundsätzlich jede Handlung auch als Zeichen-handlung auffassen zu können, von Semiotik nicht mehr unterscheidbarzu sein scheint. Aber natürlich sollte der richtige Satz ›Jeder Gegenstandkann zum Zeichen [gemacht] werden‹ nicht unversehens in den falschenSatz ›Jeder Gegenstand ist [auch] ein Zeichen‹ umgewandelt werden,auch wenn ehrwürdige Topoi, wie zum Beispiel der vom ›Buch derNatur‹, solche Schritte zu erlauben scheinen.

Noch eine weitere Unterscheidung ist allerdings zu berücksichtigen,will man die fraglichen Disziplinen im reflexiven Fall trennscharfvoneinander unterscheiden, damit sich die Verankerung der Semiotik inder Pragmatik, wie sie Peirce vorgenommen hat, nicht als ein Re-duktionsverfahren mißverstehen läßt. Es handelt sich um die für Kunstund Wissenschaft in gleicher Weise konstitutive Unterscheidung desWissens in Kennen und Erkennen,8 die sich als Objektkompetenz(knowledge by acquaintance) und Metakompetenz (knowledge by de-scription) wiedergeben läßt.9 Denn im ersten Fall geht es um dieKonstitution der Objekte, ihr Kennenlernen mit dem Ergebnis einesWissens um etwas oder ›Kennerschaft‹ – ein typischer Fall : das Erzäh-lenkönnen. Im zweiten Fall hingegen geht es um das Beschreiben-können schon bekannter Objekte oder Situationen mit dem Ergebniseines Wissens �ber etwas.

Natürlich sind dabei Kennen und Erkennen derart voneinanderabhängig, daß Beschreibungen ›rationaler‹ Anlaß zu einer Neubestim-mung der Objekte werden und Konstitutionen sich an ›empirisch‹vorausgehenden Beschreibungen orientieren. Solange allerdings Zei-chen und Gegenstand nicht als unterschieden begriffen sind, das Wissennur vollzogen und nicht seinerseits ›gewußt‹ ist, kann auch von der

8 Vgl. Schlick 1918.9 Russell 1912, chap. 5.

Dialogischer Konstruktivismus100

Page 107: Dialogischer Konstr uktivismus

Unterscheidung zwischen Objekt- und Metakompetenz noch keinGebrauch gemacht werden. Wir beziehen uns in diesem Fall mit Hilfeder Zeichen auf Gegenstände, ohne die Zeichen zu bemerken, wie beieiner Brille, die wir nur benutzen und dabei selbst nicht sehen. Wirhaben es mit vorwissenschaftlichem und vorkünstlerischem Wissen,dem natürlichen bzw. mythischen Weltverständnis zu tun. Von Kunstund Wissenschaft kann daher erst die Rede sein, wenn die Unter-scheidung zwischen Kennen und Erkennen ihrerseits thematisiert wird.

Die künstlerische Tätigkeit ist Ausbildung reflektierten Kennensganz entsprechend zur wissenschaftlichen Tätigkeit, die in der Ausbil-dung reflektierter Erkenntnis besteht. Reflektiertes Kennen oder Ob-jektkompetenz zweiter Stufe zeigt sich im Kennen des Kennens undErkennens: Im Kennen des Kennens führt man vor, daß man Gegen-stände kennt. Es zählt das Zeigen dessen, was man an und mit Zei-chengegenständen, den Elementen von Bildern, Musikstücken, Texten,usw., tut, und es geht nicht darum zu zeigen, was die Zeichengegen-stände bezeichnen. In diesem Aspekt ist künstlerische Tätigkeit Poiesis.Führt man hingegen vor, daß man Gegenstände erkennt, also überKenntnis des Erkennens verfügt, so handelt es sich, einen Terminus derantiken Tradition nutzend, um Mimesis. In diesem Fall geht es darum,zeigen zu können, was Zeichengegenstände bezeichnen, man denkeetwa an ein Portrait.

Im engeren Sinne allerdings sprechen wir von künstlerischer Tä-tigkeit nur insoweit, als Mimesis allein durch Poiesis erreicht wird.Dann nämlich wird mit Mitteln der Syntax des Zeichensystems, dasdabei selbst erst in einem gewissen Maß bereitzustellen ist und nur imGrenzfall der Tradition einfach entnommen wird, das Bezeichnetebestimmt. Dazu mehr im nächsten Abschnitt. An dieser Stelle nur soviel, daß es bei künstlerischer Tätigkeit um operationales Zeichenwis-sen, eine nicht auf das verbale Medium beschränkte ›grammatische‹Kompetenz geht, deren Ergebnisse, die künstlerisch gewonnenen Ori-entierungsleistungen, ein durch Poiesis erzeugtes symptomatisches Weltwissenbilden.

Betrachtet man den anderen Fall der Metakompetenz zweiter Stufeoder reflektierter Erkenntnis, so kann man die beiden Aspekte einesErkennens des Kennens und eines Erkennens des Erkennens ebenfallsbereits in einer Unterscheidung der Tradition wiederfinden. Es handeltsich um die beiden im Anschluß an eine bis in die Antike zurückrei-chende Tradition von Gottfried Wilhelm Leibniz erörterten ›artes‹, die›ars inveniendi‹ und die ›ars iudicandi‹, die wir heute als Wissenschaft im

Grammatik zwischen Psychologie und Logik 101

Page 108: Dialogischer Konstr uktivismus

Aspekt der Forschung und als Wissenschaft im Aspekt der Darstellungauseinanderhalten.10 Das Kennen erkennen und damit beschreibenkönnen, ist offensichtlich nichts anderes, als in der Lage sein, das Wissenvom Kennenlernen der Gegenstände auszuarbeiten: Es geht um dieVerfahren, Zeichen für Bezeichnetes in ihren Zusammenhängen zuentwickeln, im Fall verbalsprachlicher Ausdrücke also um die Bestim-mung von deren referentieller Funktion. Soll hingegen das Beschrei-benkönnen erkannt, also beschrieben werden können, so geht es um dieDarstellung der Aussagezusammenhänge, weil es die prädikativenAusdrücke sind, die als Beschreibungsmittel (auf beiden Stufen) auf-treten.

Auch hier ist es ein engeres Verständnis vom wissenschaftlichenCharakter der zu reflektierter Erkenntnis führenden Tätigkeit, das sichdurch eine den Zusammenhang von Mimesis und Poiesis im Fallekünstlerischer Tätigkeit spiegelnde Bedingung an den Zusammenhangvon Forschung und Darstellung bei wissenschaftlicher Tätigkeit cha-rakterisieren läßt: Darstellung darf nur auf Forschung beruhen. Etwasgenauer können wir sagen: Wir nennen das handelnd und zeichen-handelnd erworbene Wissen nur insoweit wissenschaftlich, als dieDarstellung der Aussagezusammenhänge über Gegenstände, d.i. dieTheoriebildung, allein von der Forschung abhängt, also von den Ver-fahren, Bezeichnungen für die Gegenstände zu entwickeln, über dieetwas ausgesagt wird. In der wissenschaftlichen Tätigkeit geht es umpropositionales Zeichenwissen, das auf eine Referenzsemantik ange-wiesen ist und daher nicht allein auf eine grammatische Kompetenzgegründet werden kann. Der künstlerische Weg ist ein Weg vomZeichen (= bezeichnenden Gegenstand) zum Gegenstand (= bezeich-neten Gegenstand), während der wissenschaftliche Weg ein Weg vombezeichneten Gegenstand zum bezeichnenden Gegenstand ist: Diewissenschaftlich gewonnenen Orientierungsleistungen sind durch For-schung fundiertes symbolisches Weltwissen.

Die innerhalb der Wissenschaft vorgenommene Unterscheidungvon ontologisch orientierter Forschung und epistemologisch orientier-ter Darstellung erlaubt es nun, die reflexiv vorgehenden WissenschaftenSprachphilosophie, Zeichenphilosophie und Handlungsphilosophie auffolgende Weise voneinander zu sondern: In der Sprachphilosophie sindZeichen zugleich Mittel und Gegenstand der Darstellung – über sie alsGegenstände werden Sätze bewiesen. In sprachphilosophischer For-

10 Vgl. dazu Lorenz 1979.

Dialogischer Konstruktivismus102

Page 109: Dialogischer Konstr uktivismus

schung hingegen treten sie nur als Gegenstand auf und nicht als Mittel.Genau umgekehrt sind in der Handlungsphilosophie Handlungen zu-gleich Gegenstand und Mittel der Forschung – sie werden als Gegen-stände beschafft – , hingegen spielen sie in der Darstellung nur als Ge-genstand, nicht jedoch als Mittel eine Rolle. Allein in der Zeichen-philosophie, also einer reflexiv vorgehenden Semiotik, sind Zeichenund Zeichenprozesse stets zugleich Gegenstand und Mittel sowohl derForschung als auch der Darstellung.

Mit dieser Vorbereitung läßt sich die Umbildung des semiotischenDreiecks bei Peirce, die auf der Verankerung der Semiotik in einerPragmatik beruht und in gewisser Weise die beiden gegenläufigenAntworten auf Lockes Sprach- und Zeichenlehre im Essay ConcerningHuman Understanding bei Leibniz (Nouveaux Essais sur l’EntendementHumain) und bei Étienne B. de Condillac (Essai sur l’Origine des Con-noissances Humaines) miteinander zu vereinigen vermag, angemessenwürdigen. Als erstes erweitert Peirce das semiotische Dreieck – statt‘Zeichen’ steht meist ‘representamen’, statt ‘ausgedrückter Sinn’ imallgemeinen ‘interpretant’ und statt ‘bedeuteter Gegenstand’ steht ‘ob-ject’ – um Sprecher und Hörer: „signs require at least two quasi-minds,a quasi-utterer and a quasi-interpreter; and although these two are atone (i. e. are one mind [d.i. das allgemeine, dialogisch und nicht mo-nologisch konstituierte Subjekt, K. L.]) in the sign itself, they mustnevertheless be distinct. In the sign they are, so to say, welded“;11 dazuergänzend: „a sign is a representamen of which some interpretant is acognition of a mind“.12 Noch weiter ergänzend sollte hinzugefügtwerden, daß in einer differenzierteren Ausdrucksweise von Peirce dasRepresentamen den Interpretanten repr�sentiert und so auf das Objektreferiert, nämlich in einer Hinsicht (respect), also einem schematischenAspekt des Objekts, das Objekt als etwas, z.B. einen Menschen. Hier istalso bereits klar zum Ausdruck gebracht, daß Zeichen und Gegenstandderart miteinander verbunden sind, daß ein Zeichen, also etwa ein(Allgemein-) Name (nomen appellativum), als schematischer Zug, einZeichenschema also, an einem individuellen Gegenstand, diesen sche-matisierend, behandelt wird: Die Beziehung zwischen Sprache undWelt ist eine interne und keine externe zwischen zwei vorab bereitlie-genden individuellen Gegenständen wie bei gewöhnlichen Relationen.

11 CP 4.551.12 CP 2.242.

Grammatik zwischen Psychologie und Logik 103

Page 110: Dialogischer Konstr uktivismus

Als zweites bettet Peirce das semiotische Dreieck derart in einenoffenen Zeichenprozeß ein, daß der Interpretant jeweils selbst wiederein Zeichen mit einem weiteren Interpretanten in Bezug auf dasselbeObjekt wird: „a sign or representamen […] stands in such a genuinetriadic relation to […] its object, as to be capable of determining […] itsinterpretant to assume the same triadic relation to its object in which itstands itself to the same object“.13 Die so generierte Interpretantense-quenz kann als wachsendes Verständnis des Objekts kraft immer diffe-renzierter Bestimmungen gelesen werden. Dabei darf man nicht ver-gessen, daß wegen des dialogisch konstituierten Subjekts der Durchgangdurch immer wieder (begrifflich, nicht empirisch) neue Zeichenver-wender vorgesehen ist. Das immer differenzierter bezeichnete Objektwird auf diesem Wege erst konstituiert.

Endgültige Klarheit über die Verankerung eines Zeichens in einemHandlungszusammenhang, die, umgekehrt gelesen, die Darstellung desLoslösungsprozesses eines Zeichens von seinem Gegenstand ist, gewinntman aus dem späten Aufsatz Meaning von 1910. In ihm findet sich dieBeschreibung einer erklärenden Sequenz von Interpretanten, die inumgekehrter Richtung eine genetische Sequenz bildet:

If a Sign is other than its Object there must exist, either in thought or inexpression some explication or argument or other context, showing how– upon what system or for what reason the Sign represents the Object orset of Objects that it does. Now the Sign and the Explanation togethermake up another Sign and since the Explanation will be a Sign it will prob-ably require an additional Explanation which taken together with the al-ready enlarged Sign will make up a still larger Sign; and proceeding inthe same way, we shall, or should, ultimately reach a Sign of itself, contain-ing its own Explanation and those of all its significant parts ; and accordingto this Explanation each such part has some other part as its Object. Ac-cording to this every Sign has, actually or virtually, what we may call a pre-cept of Explanation, according to which it is to be understood as a sort ofemanation, so to speak, of its Object.14

Die absteigende Interpretantensequenz endet bei Peirce ausdrücklichbei einem letzten Interpretanten (ultimate logical interpretant),15 derkein mentales Zeichen mehr ist. Er wird als ›habit-change‹ bestimmt,worunter der Erwerb einer zuvor nicht verfügbaren Handlungskom-petenz zu verstehen ist, die daher zugleich eine Gegenstandsrolle und

13 CP 2.274.14 CP 2.230.15 CP 5.476.

Dialogischer Konstruktivismus104

Page 111: Dialogischer Konstr uktivismus

eine Zeichenrolle spielt. In ihr sind alle Umgangsweisen mit dem Ge-genstand in der Hinsicht, in der ihn das Zeichen bezeichnet, zusam-mengefaßt.

Damit wird die Pragmatische Maxime eingelöst, nach der die Be-deutungsbestimmung eines sprachlichen Ausdrucks mit handlungs-theoretischen Mitteln vorzunehmen ist. Und das ist auch möglich, weiljede Handlung unter Bezug auf das dialogisch konstituierte Subjekt imaneignenden Ausführen (Ich-Rolle) über einen pragmatischen Anteilund im distanzierenden Anführen, z.B. sie beobachtend (Du-Rolle),über einen semiotischen Anteil verfügt. Man kann sagen, daß die Be-deutung eines Sprachzeichens letztlich in einem Bereich von Hand-lungsmöglichkeiten mit dem bezeichneten Gegenstand besteht. Um dasberühmte Beispiel von Peirce aus seinem frühen Aufsatz How to MakeOur Ideas Clear zu nehmen:16 Das Sprachzeichen ‘hart’ referiert aufeinen Diamanten in der Hinsicht Härte und bezeichnet als letzten In-terpretanten das Schema der härterelevanten Handlungsmöglichkeitenmit einem Diamanten.

III

Das Programm von Peirce zeigt den Weg vom Gegenstand zum Zei-chen, wie ihn die Wissenschaften beschreiten. Ihm lassen sich auchwichtige Gesichtspunkte für den umgekehrten Weg der Künste vomZeichen zum Gegenstand entnehmen. Beginnt man wie Peirce mit demErwerb von Handlungskompetenzen unter Bezug auf ein dialogischkonstituiertes Subjekt, so läßt sich daraus das Modell einer dialogischenElementarsituation ableiten, das als Darstellung dafür auftritt, wieHandlungen sich zugleich als (einfache) Gegenstände und als (einfache)Zeichen zur Verfügung stellen lassen: Handlungen werden in Ich-Rolleausgeführt und in Du-Rolle angeführt. In Ausführungsperspektive liegtdie Handlung pragmatisch (angeeignet) vor, in Anführungsperspektivesemiotisch (distanziert). Gegenständlich ist in diesem elementarenVerständnis nur der Vollzug: Die Handlung ist in Gestalt einer Ak-tualisierung ›vorhanden‹, allerdings noch nicht als etwas ›Gegenüber-stehendes‹; in Gestalt ihres Schemas wiederum ist sie ›verstanden‹, aberauch hier heißt dies noch nicht, daß es ein Zeichen von etwas Be-zeichnetem gibt. Erst dadurch, daß in einem Iterationsprozeß durch

16 CP 5.388–5.410.

Grammatik zwischen Psychologie und Logik 105

Page 112: Dialogischer Konstr uktivismus

Selbstanwendung, was als Befolgen eines Prinzips der ›Selbstähnlichkeit‹verstanden werden kann, die beiden dialogischen Perspektiven in ei-genständige Handlungen überführt werden, die dann ihrerseits beidenPerspektiven unterworfen sind, lassen sich nacheinander die für denWeg zur Sprache erforderlichen Verfeinerungen in die Modellbildungeinbringen.

Es ist hier nicht der Ort, die Einzelheiten dieses Verfahrens darzu-stellen.17 Stattdessen sollen Grundzüge der Anwendung dieses Modellsauseinandergesetzt werden. Es geht dann um die Überführung desdargestellten Erwerbs einer Handlungskompetenz in ein (rationales)Hilfsmittel der Forschung und damit des Kennenlernens der (empirisch)bereitliegenden individuellen Gegenstände, der Partikularia. Nur soauch lassen sich die Schritte der Modellentwicklung motivieren, diedann ihrerseits Neues für die Anwendung des Modells liefern. Dialo-gische Konstruktion und phänomenologische Reduktion bleiben auf-einander angewiesen.

Die beiden dialogischen Perspektiven einer Handlung lassen sich aufder Seite der Ausführung als ihr pragmatischer Zweig und auf der Seiteder Anführung als ihr semiotischer Zweig entwickeln. Singulares Ak-tualisieren in der Ausführung und universales Schematisieren in derAnführung sind nicht Gegenstände sondern Verfahren, mit deren HilfeGegenstände einerseits angeeignet und andererseits distanziert, also ganzwörtlich ›vergegenständlicht‹ werden. Dabei führt die Aneignung in derphänomenologischen Reduktion zu einer ›Auflösung‹ des für ›sinnlichgegeben‹ gehalte nen Partikulare auf dem Wege von Ausführungen desUmgehens mit ihm, deren Schematisierungen als Formen hergestellterTeile des Partikulare auftreten; in der dialogischen Konstruktion wirddabei das aus ›allen seinen Teilen‹ als ein Ganzes, die ›Vereinigung‹seiner Teile, für erzeugt gehaltene Partikulare durch aktive Teilhabe,seine ›Pragmatisierung‹, wiedergewonnen: Das Partikulare als einGanzes ist ausschließlich in Gestalt von Aktualisierungen, also einAusführen der pragmatischen Seite des Umgehens mit ihm, ›sympto-matisch vorhanden‹. Auf der anderen Seite führt die Distanzierung inder dialogischen Konstruktion zu einer ›Einwicklung‹ des für ›gedank-lich erfaßt‹ gehaltenen Partikulare in die Gestalt von Anführungen desUmgehens mit ihm, deren Aktualisierungen als Instanzen wahrge-

17 Vgl. dazu andere Aufsätze in diesem Band, neben der Frühfassung Artikulationund Pr�dikation insbes. Rede zwischen Aktion und Kognition sowie Sinnbestimmungund Geltungssicherung.

Dialogischer Konstruktivismus106

Page 113: Dialogischer Konstr uktivismus

nommener Eigenschaften des Partikulare auftreten; in der phäno-menologischen Reduktion wiederum wird dabei das durch ›alle seineEigenschaften‹ für bestimmt gehaltene Partikulare in passivem Gegen-überstehen wegen seiner ›Semiotisierung‹ als eine Invariante, der›Durchschnitt‹ seiner Eigenschaften, begriffen: Das Partikulare als eineInvariante ist ausschließlich in Gestalt von Schematisierungen, also einAnführen der semiotischen Seite des Umgehens mit ihm, ›symbolischverstanden‹.

Die für sinnlich gegeben und gedanklich erfaßt gehaltenen Parti-kularia, die Gegenstände der Erfahrung also im Sinne einer seit Kantvertrauten philosophischen Tradition, treten in dieser pragmatisch-se-miotischen Rekonstruktion am Leitfaden vor allem der Ideen vonPeirce zum einen als Gegenstände auf, die aus einem Ganzen ihrer Teileund einer Invariante ihrer Eigenschaften, ›Stoff‹ und ›Form‹ in aristo-telischer Terminologie, bestehen. Zum anderen aber sind sie im Teil-haben und Gegenüberstehen kraft Aneignung und Distanzierung auchin Verfahren verwandelt: Sie sind sowohl symptomatisch als auchsymbolisch zugänglich. Dabei wird der symbolische Zugang traditionellals ein zugleich auch symptomatischer Zugang zu eigenständigenmentalen Gegenständen aufgefaßt, die den Partikularia, als deren›Vorstellungen‹ oder ›Ideen‹ etwa, entsprechen. Der symptomatischeZugang wiederum wird auch als ein symbolischer verstanden, aber indiesem Fall zu eigenständigen mentalen Gegenständen, die nicht ko-gnitiver sondern volitiver Art sind, den ›Intentionen‹ oder ›Wünschen‹.

Zur genaueren Bestimmung der Unterscheidung zwischen sym-ptomatischer und symbolischer Zugänglichkeit und damit dann auchsymptomatischen und symbolischen Wissens in seinen verfahrensbezo-genen Hochstilisierungen in Kunst und Wissenschaft, wobei wissen-schaftliche Darstellung von Kunst und künstlerische Poiesis von Wis-senschaft durchaus dazugehören, bedarf es noch der Aufmerksamkeit aufeinige weitere Schritte in der Entwicklung der beiden dialogischenPerspektiven von Handlungen.

Die Vergegenständlichung des Ausführens und damit seine Verselb-ständigung in eigenständigen Handlungen, deren Vielfalt zur pragma-tischen Binnengliederung eines Partikulare in Phasen führt undgleichgültig, ob das Partikulare dabei als eine Dingeinheit, eine Ereig-niseinheit oder auch eine Handlungseinheit bestimmt ist, verlangt er-neut die Unterscheidung in eine aneignend pragmatische und einedistanzierend semiotische Seite dieser (inneren) Gliederungshandlun-

Grammatik zwischen Psychologie und Logik 107

Page 114: Dialogischer Konstr uktivismus

gen. Sie lassen sich auf der Ausführungsseite, wiederum vergegen-ständlicht, als Hervorbringungen und auf der Anführungsseite, ebenfallsvergegenständlicht, als Teilhandlungen (oder praktische Vermittlungen)auffassen. Ganz entsprechend führt die Vergegenständlichung des An-führens in eigenständigen Handlungen zu einer Vielfalt semiotischerAußengliederung eines Partikulare in Aspekte. Jede zur (äußeren)Gliederung des Partikulare gehörige Aspektehandlung erscheint dabeiauf der aneignend pragmatischen Seite, wird sie ihrerseits vergegen-ständlicht, als eine Zeichenhandlung (oder, der theoretischen Vermittlungdienende, Artikulation) und auf der distanzierend semiotischen Seite,wiederum vergegenständlicht, als eine Wahrnehmung. Entscheidend aberist auf dieser Stufe, daß Teilhandlungen als Semiotisierung einer Prag-matisierung und Zeichenhandlungen als Pragmatisierung einer Semio-tisierung ihre Rolle tauschen können, so daß in einem weiteren Sinn zuden Zeichenhandlungen auch die Teilhandlungen und in einem wei-teren Sinn zu den Teilhandlungen auch die Zeichenhandlungen zuzählen sind. In der Darstellung dieses Verfahrens nämlich läßt sichnachweisen, daß jede Teilbestimmung eines Partikulare in eine Ei-genschaftsbestimmung desselben Partikulare überführbar ist und um-gekehrt; zum Beispiel gehört zum Kopf als einem Teil eines Menschenseine Eigenschaft Kopfhaben und zur Eigenschaft Blondsein des Haarsdas Ganze aus den Blondinstanzen dieses Haars als ein (Farb-)Teil desHaars.18

Es ist dieser weitere, Teilhandlungen und Zeichenhandlungen imengeren Sinne einschließende Bereich, über den in einem gewissenUmfang zu verfügen (einfache) Objektkompetenz ausmacht. Die Zei-chenhandlungen oder Teilhandlungen in Bezug auf die derart in As-pekte und Phasen gegliederten Partikularia übernehmen im Unterschiedzu gewöhnlichen Handlungen, die nicht in größere Zusammenhängeeingebettet sind, was sie ersichtlich auch als Aspektierung des größerenZusammenhangs aufzufassen erlauben würde, eine Kommunikations-funktion. Sie haben noch keine Signifikationsfunktion, weder einesymbolische wie bei der sprachlichen Verkörperung begrifflichenDenkens noch eine symptomatische wie bei der sprachlichen Verkör-perung sinnlichen Denkens. Natürlich ist hier auch mit sprachlichenVerkörperungen in Zeichensystemen zu rechnen, die in einem anderenals dem verbalen Medium realisiert sind. Jedoch ist es keineswegs so, daßverbalsprachliche Zeichenhandlungen grundsätzlich als Verkörperungen

18 Vgl. dazu Lorenz 1977.

Dialogischer Konstruktivismus108

Page 115: Dialogischer Konstr uktivismus

begrifflichen Denkens zu gelten hätten, Poesie etwa als eine Gestalt›sinnlichen‹ Denkens genauso wie Malerei, Musik oder Tanz wärenausgeschlossen. Ausübung von Objektkompetenz dient deshalb alleinder Kommunikation und noch nicht der Signifikation, weil es auf dieserEbene erst um das Kennenlernen der Objekte mit Hilfe ihrer Bestim-mungsstücke, der Teile und der Eigenschaften, geht; sie sind noch nichtunabhängig von Ausführung und Anführung der beteiligten Teilhand-lungen und Zeichenhandlungen derart fixiert, daß auf ›dieselben‹ Ob-jekte bei anderer Gelegenheit, etwa um sie genauer zu beschreiben,zurückgegriffen werden könnte. Und genau deshalb, weil dieses Ken-nenlernen in einer dialogischen Situation des Anführens und Ausführensder Teil- und Zeichenhandlungen stattfindet, befinden wir uns in einerKommunikationssituation. Da unter Bezug auf Teilhandlungen dieseKommunikation ›praktisch‹ ist, haben wir auch von praktischen Ver-mittlungen gesprochen, deren Ausführung ein (praktisches) Lehren undLernen (der Formen) der Teile ist. Unter Bezug auf Zeichenhandlun-gen ist diese Kommunikation ›theoretisch‹, so daß es angemessen ist, dieZeichenhandlungen Artikulationen oder theoretische Vermittlungen zunennen; sie sind in ihrer Anführung ein (theoretisches) Lehren undLernen (der Inhalte) der Zeichen.

Einfache Artikulationen im weiteren Sinn, also unter Einschluß dereinfachen praktischen Vermittlungen, als Verselbständigung der prag-matischen Seite der (verselbständigten) Schematisierung im Verbundmit der verselbständigten semiotischen Seite der (verselbständigten)Aktualisierung können also verbal, piktoral, gestisch oder anders auf-treten und sind auf der pragmatischen Seite begleitet von (aktiven)Hervorbringungen, auf der semiotischen Seite von (passiven) Wahr-nehmungen. Im Wechselspiel von Teilhabe am Gegenstand und einemihm Gegenüberstehen im Prozeß des Konstituiertwerdens und Sich-konstituierens (des Gegenstands) durch einfache Artikulationen imweiteren Sinn in Begleitung von Hervorbringungen und Wahrneh-mungen wird auch magischer Zeichengebrauch begreifbar: Die Ablö-sung des Gegenstands vom Handlungskontext der einfachen Artikula-tionen ist noch nicht geschehen.

Dazu bedarf es des entscheidenden weiteren Schritts von der einfachenArtikulation oder theoretischen Vermittlung zur symbolischen Artikula-tion, dem ›knowing-that‹ oder begrifflich organisierten, d.h. allgemeinverfügbaren Wissen, und der einfachen praktischen Vermittlung zurkomprehensiven Vermittlung, dem ›knowing-how‹ oder methodisch aufge-

Grammatik zwischen Psychologie und Logik 109

Page 116: Dialogischer Konstr uktivismus

bauten, d.h. lehr- und lernbaren Können. Dabei wird die symbolischeArtikulation ihrerseits in sprachlich-symbolischem Können angeeignetund die komprehensive Vermittlung in sinnlich-symptomatischemWissen distanziert.

Der Übergang von der einfachen Artikulation zur symbolischenArtikulation kommt dadurch zustande, daß eine besondere einfacheArtikulation mit der begleitenden Wahrnehmung, in der Regel dasverbale Zeichenhandeln, als Aspekt die Funktion übernimmt, beliebigeandere Aspekte zu vertreten, die in Wahrnehmungen erfahren werden.Auf diese Weise erst werden die artikulierten Objekte zu Invariantender semiotischen Seite ihrer Aspekte, d.h. zu Objekten der Wahrneh-mung als gemeinsamer ›Kern‹ aller (schematischen) Eigenschaften. MitÜbersetzungsregeln zwischen den verschiedenen einfachen, vonWahrnehmungen begleiteten Artikulationen, also sprachlichen Aus-drücken oder ›Artikulatoren‹, Gesten, Bildern usw., läßt sich die nor-malerweise von (verbalen) Artikulatoren übernommene Vertretungs-funktion ihrerseits artikulieren und für die (logische) Begriffsbildungnutzen. Mit der symbolischen Artikulation ist die Ebene der Meta-kompetenz erreicht: Die Artikulatoren haben einen gegenstandsbe-schreibenden Charakter und verkörpern symbolisches Weltwissen. Wer sieverwendet, unterstellt die Verfügbarkeit (im Sinne der Übersetzungs-regeln) ›gleichwertiger‹ Aspekte, etwa Anführungen mit den Augen –pragmatisch zum Beispiel als Zeichnung und semiotisch als (etwas)Sehen – oder mit anderen Artikulatoren im Verbund mit derselben (Art)Wahrnehmung oder einer verschiedenartigen Wahrnehmung, odernoch anders.

Die symbolischen Artikulationen sind es auch, die häufig denAusgangspunkt der Überlegungen in (empirischer) Linguistik und (re-flexiver) Sprachphilosophie bilden, obgleich für das Verständnis geradeder Umgangssprache, aber auch ihrer Fortsetzungen in Fachsprachen,speziell den Wissenschaftssprachen, der ständig auftretende Wechselzwischen einfacher und symbolischer Artikulation eine wichtige Rollespielt. Dieser Wechsel wird zum Beispiel in dem von der hermeneu-tischen Methode bestimmten Nachdenken über Sprache dazu benutzt,19

unter dem Titel der ›welterschließenden Kraft der Sprache‹ die her-meneutische Sprachanalyse häufig gegen die von der logischenSprachanalyse beherrschten Sprachtheorien auszuspielen.

19 Paradigmatisch in Gadamer 1960.

Dialogischer Konstruktivismus110

Page 117: Dialogischer Konstr uktivismus

Der Übergang von einfacher praktischer Vermittlung zu kompre-hensiver Vermittlung nun beruht auf der Übernahme nicht einer de-skriptiven Funktion, sondern einer normativen: Mit einer beliebigenPhase, deren semiotische Seite in der einfachen praktischen Vermittlungbesteht, wird der Anspruch verbunden, beliebige andere Phasen, die inHervorbringungen zustandegebracht werden, sukzessive zu integrieren.Auf diese Weise werden die vermittelten Objekte zu Ganzheiten derpragmatischen Seite der Phasen, d.h. zu hervorgebrachten Objekten als›Hülle‹ aller Aktualisierungen von Phasen, die zu Schematisierungen derPhasen in Gestalt der (Formen der) Teile gehören. Mit Aufbauregeln fürdie verschiedenen, von Hervorbringungen begleiteten einfachen Teil-handlungen oder Vermittlungen läßt sich diese Erzeugung einer immerdifferenzierteren Binnengliederung des vermittelten Objekts ihrerseitsvermitteln. Mit der komprehensiven Vermittlung ist die Ebene einesmethodisch aufgebauten Könnens erreicht, die zur Unterscheidung vonder Metakompetenz symbolischer Artikulation, auf der es möglich ist,Gegenstände zu beschreiben, die Ebene der ›Parakompetenz‹ heißensoll. Die Parakompetenz macht es möglich, Gegenstände aus Gegen-ständen, diese in dessen Teile verwandelnd, aufzubauen. Dabei darf abernicht vergessen werden, daß die einzelnen Gegenstände, die Partiku-laria, stets vom Kern der semiotischen Seite der Aspekte zusammen mitder Hülle der pragmatischen Seite der Phasen gebildet sind: Form alseine Invariante und Stoff als ein Ganzes. Die Metakompetenz symbo-lischer Artikulation ist ausschließlich formbezogen, die Parakompetenzkomprehensiver Vermittlung hingegen ausschließlich stoffbezogen.Durch Darstellung der Parakompetenz schließlich, ihre Artikulation ineinem geeigneten Zeichensystem, zum Beispiel verbalsprachlich, ge-winnen wir eine Verkörperung symptomatischen Weltwissens.

Wenn in der üblichen Behandlung (verbaler) symbolischer Artikula-tionen als einfachstem Fall (verbaler) Sprachhandlungen die Unter-scheidung zwischen ›type‹ und ›token‹ gemacht wird, so handelt es sichnicht um einen Fall der ‘universal-singular’-Unterscheidung. Vielmehrhandelt es sich bei den Äußerungen, den ›tokens‹, jeweils um indivi-duelle Einheiten, die als Partikularia auf der Zeichenebene zu den Er-eignissen gehören und als Artefakte produziert werden. Sie werdenjedoch ihrerseits unter einem zweifach schematischen Gesichtspunktvon Sprecher und Hörer ›verstanden‹, also im Modell des Sprach-handlungskompetenzerwerbs angeführt: als Instanz eines Sprachhand-lungstyps zur Artikulation eines schematischen Zugs, d.i. eines Aspekts,

Grammatik zwischen Psychologie und Logik 111

Page 118: Dialogischer Konstr uktivismus

eines Partikulare. Nur mit der Übernahme dieser Rolle wird ein Par-tikulare der Zeichenebene tatsächlich zu einem Zeichen, also zu einemausschließlich schematisch fungierenden Gegenstand, der zur Artikula-tion schematischer Züge beliebiger Gegenstände dienen kann.

Dadurch, daß sich die semiotische Seite des Umgangs mit Gegen-ständen ihrerseits aktiv-pragmatisch in einer verbalen, piktoralen, ges-tischen oder anders realisierten Artikulation und passiv-semiotisch ineiner mentalen, optischen, kinetischen oder anders den Gegenstandauffassenden Wahrnehmung ausdifferenziert, verschwindet auch das seitden Anfängen des Nachdenkens über Sprache wie ein Vexierbild auf-tretende Problem, den Zusammenhang von Sprache und Welt oderaber von Denken und Sprechen angemessen zu artikulieren. Einerseitsscheint Sprache mit der ihr durch das Denken zukommenden Kraft derErfindung die Welt zu verhüllen, andererseits jedoch scheint ohneSprache die durch sie erst zugänglich gemachte Welt zu einer bloßenChimäre des Gedankens zu verblassen.

Die ontologische Frage nach den Gegenständen und die episte-mologische Frage nach dem Zugang zu ihnen sind spätestens seitWillard V. O. Quine mit dem von ihm skizzierten Programm einer›Naturalisierung der Sprache‹ und dem von Ernst Cassirer komple-mentär dazu entwickelten Programm einer ›Symbolisierung der Welt‹als korrelativ und dadurch nur gleichzeitig lösbar begriffen. Die beidenHauptfragen einer das Verhältnis von Sprache und Welt thematisie-renden philosophischen Semantik, die ontologische ›Was sind Bedeu-tungen?‹ und die epistemologische ›Wie bedeuten Zeichen [etwas]?’,müssen daher ebenfalls im Verbund behandelt werden. Das geschieht imRahmen einer Frage nach der Relation zwischen ›Namen‹ und ›Sa-chen‹, für deren Beantwortung es im wesentlichen drei Optionen gibt:(1) Namen werden wie Sachen behandelt, die Zeichen also mit denpartikularen Zeichenträgern identifiziert, so daß in derart ›realistischen‹Semantiken die Bedeutungsrelation eine externe Relation zwischenIndividuen zweier Gegenstandssorten ist (gegebenenfalls wird nur diedavon induzierte Relation zwischen den jeweiligen Zeichentypen undGegenstandstypen – letztere intensional als Schema oder extensional alsKlasse – für relevant erachtet); (2) Sachen werden wie Namen behan-delt, treten also in Gestalt ihrer mentalen Repräsentationen auf, wasebenfalls eine externe Bedeutungsrelation zur Folge hat, aber in diesemFall ›mentalistischer‹ Semantiken zwischen Individuen zweier Zei-chensorten oder gleich zwischen deren Typen. Die Probleme beiderAnsätze und auch von deren Verknüpfung in der kanonischen Fassung

Dialogischer Konstruktivismus112

Page 119: Dialogischer Konstr uktivismus

von der doppelten Bedeutung sprachlicher Ausdrücke sind bekannt.Was bleibt ist die Option: (3) Namen werden von vornherein als(universale) Züge an individuellen Gegenständen, wie sie durch sche-matisierenden Umgang mit ihnen gewonnen werden, und Sachen alszugänglich in (singular) aneignenden Aktualisierungen eines Umgangsmit ihnen behandelt. Bei dieser Option, die dem skizzierten Modelldialogischen Handlungskompetenzerwerbs zugrundeliegt, geht es be-reits auf beiden Seiten, der Namenseite und der Sachenseite, um denZusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem: auf der Namenseitein der Bewegung vom bloß unterstellten Zeichen zum gegenstandsbe-zogenen Zeichen und auf der Sachenseite vom bloß unterstellten Ge-genstand zum bezeichneten Gegenstand. Die Bedeutungsrelation isteine interne, weil jeweils eines der Relata vom anderen durch dieRelation erst aufgebaut wird.

Die beiden Bewegungen, vom Zeichen zum Gegenstand (desZeichens) und vom Gegenstand zum Zeichen (für den Gegenstand),liegen in der Artikulation verknüpft vor, wenn man sich ihre beidenSeiten klar vor Augen führt. Die pragmatische Seite einer (verbalen)Artikulation findet sich in ihrem ihrerseits pragmatischen Zweig alsSprechen oder Schreiben wieder, in ihrem semiotischen Zweig hin-gegen als Hören oder Lesen. Die semiotische Seite einer (verbalen)Artikulation wiederum ist pragmatisch Kommunikation – etwas[aus]sagen – und semiotisch Signifikation – etwas [be]nennen – , wobeidie Kommunikation als Prädikation in einem Modus, d.h. als Satz, unddie Signifikation als Ostension in einer Gegebenheitsweise, d.h. alsWort, auftritt.

Solange allerdings keine grammatisch realisierte Trennung derSatzrolle und der Wortrolle vorliegt und damit in der Artikulation das,wovon etwas gesagt wird, und das, womit etwas gesagt wird, stets zugleichauftreten, läßt sich allein grammatisch bestimmtes Sprachwissen aus demsymptomatischen oder symbolischen Weltwissen nicht herauslösen. Einin vielen Sprachen verwendetes grammatischen Hilfsmittel, Wort-undSatzrolle eines Artikulators zu unterscheiden, ist die Aufspaltung dersemiotischen Seite eines Artikulators in einen ›Nominator‹ mit reinbenennender Funktion und einen ›Prädikator‹ mit rein aussagenderFunktion unter Verwendung der beiden jeweils eine der beidenFunktionen löschenden Operatoren ›Demonstrator‹ (‘dies’) und ›Ko-pula‹, z.B. ‘dies Haus’ versus ‘dies ist ein Haus’.

Grammatik zwischen Psychologie und Logik 113

Page 120: Dialogischer Konstr uktivismus

In der kanonischen, mit einer doppelten Bedeutung, Sinn und Refe-renz, für alle sprachlichen Ausdrücke arbeitenden Semantik, ergibt sichdie Konsequenz, daß für Nominatoren ein in ihnen explizit oder im-plizit vorkommender prädikativer Ausdruck für die Bestimmung desSinnes und damit für das sprachbezogene Verstehen eines Nominatorsverantwortlich ist – man weiß, ›womit‹ benannt wird. Das weltbezo-gene Verstehen allerdings – ›wovon‹ die Rede ist – hängt davon ab, obman auch den Gegenstand kennt, dem der prädikative Ausdruck zu-kommt. Dabei bezieht sich das sprachbezogene Verstehen stets auf denNominatorentyp, während sich das weltbezogene Verstehen von Äu-ßerung zu Äußerung desselben Nominators ändern kann, z.B. bei In-dikatoren wie ‘hier’ oder deiktischen Kennzeichnungen wie ‘dies Haus’.Auch Aussagen sind in der kanonischen Semantik Nominatoren, derenSinn bei Frege als Gedanke bezeichnet wird und das sprachbezogeneVerstehen der Aussage regiert. Der Gedanke wird benötigt, um dieweltbezogene Geltung oder Nicht-Geltung der Aussage und damit ihreReferenz, nämlich ihren Wahrheitswert, in Gestalt einer Beurteilungdes Gedankens feststellen zu können. Prädikatoren werden als Aus-drücke für Aussagefunktionen aufgefaßt, deren Werte Sinn oder Re-ferenz einer Aussage sein sollen. Zu diesem Zweck müssen die Aussa-gefunktionen einerseits sinnbezogen oder ›intensional‹ und andererseitsreferenzbezogen oder ›extensional‹ bestimmt werden. Diese Forderungläßt sich durch Abstraktion in Bezug auf zwei verschiedene Äquiva-lenzrelationen zwischen prädikativen Ausdrücken erfüllen: die wederrational-logische noch empirisch-psychologische sondern grammatischeRelation der Synonymie im intensionalen Fall und die empirischeRelation der generellen (materialen) Äquivalenz im extensionalen Fall.Als Sinn der Prädikatoren erhält man die Begriffe und als ihre Referenzdie Klassen. Läßt sich die Geltungsfrage für eine Aussage begrifflichbeantworten, weil nur vom sprachbezogenen Verstehen des Nomina-tors Gebrauch gemacht wird (z.B. ›Pegasus ist ein geflügeltes Pferd‹), soliegt ein Fall reinen Sprachwissens vor, wird auch das weltbezogeneVerstehen des Nominators benötigt (z.B. ›dieses Pferd ist ein Schim-mel‹), so erhalten wir Weltwissen.

Symbolisches und symptomatisches Weltwissen wiederum läßt sichdaran unterscheiden, daß wir es im symbolischen Fall mit einer Aussagezu tun haben, bei der (im einstelligen Fall) ein Partikulare als ein Ganzesder Träger einer Eigenschaft ist, z.B. ‘dies ist braun’ zu lesen etwa als‘dieser [Zweig-Stoff, den ich, ihn durch Aktualisierung eines Umgehensmit ihm aneignend, hervorbringe] ist ein (stofflicher) Träger der Ei-

Dialogischer Konstruktivismus114

Page 121: Dialogischer Konstr uktivismus

genschaft Braunsein’; im symptomatischen Fall hingegen beruht die-selbe Aussage auf dem Anzeigen von Braun als einem Ganzen – also der›Substanz‹ Braun in traditioneller Terminologie – an einem Partikulareals einer Invariante, wiederum etwa einem Zweig, also: ‘diese [Zweig-Form, die ich, mich durch Schematisierung eines Umgehens mit ihmdistanzierend, wahrnehme] ist eine Erscheinung der Substanz Braun’.Die Möglichkeit von Prädikation und Ostension beruht darauf, daß sichdie (inneren) Phasen eines Partikulare durch Attribution einer Eigen-schaft und seine (äußeren) Aspekte durch Ausstattung mit einem Teilwiedergeben lassen.

IV

Wendet man diese Überlegungen abschließend auf den besonderen Fallkünstlerischer und wissenschaftlicher Tätigkeit an, so ergibt sich dasfolgende Bild. In der dritten behandelten Option der Bedeutungsrela-tion sind Sachen in singular aneignenden Aktualisierungen eines Um-gangs mit ihnen zugänglich. Da es bei künstlerischer Tätigkeit jedochum reflektierte Kenntnis geht, handelt es sich bei den Sachen bereits umZeichen. Sie derart zugänglich zu machen, daß Mimesis durch Poiesiserreicht wird, bedeutet daher, sowohl die partikularen Zeichenträger alsauch die für sie maßgebende symptomatische Zeichenfunktion herzu-stellen, um so die Bezeichneten als Ganzheiten über die Formen ihrerTeile kennenzulernen. Dabei ist die Herstellung der Zeichenfunktion inGestalt der komprehensiven Vermittlung eine Aufgabe, die nur übereine pragmatisch fundierte Syntax, also die als Aufbauregeln auftreten-den Verwendungsregeln für die Zeichenträger, im verbalen Fall dieArtikulatoren, und deren Komposition gelöst werden kann. Werdennur die Zeichenträger, nicht aber die Zeichenfunktionen hergestellt,letztere vielmehr als gegeben angesehen, so liegt Mimesis der Be-zeichneten als Invarianten ohne Vermittlung durch Poiesis vor.

Aus der umgekehrten Bestimmung der Bedeutungsrelation, bei derNamen als universale Züge an individuellen Gegenständen auftreten,folgt für den Fall wissenschaftlicher Tätigkeit, der es um reflektierteErkenntnis geht, daß die Namengebung selbst bereits der Gegenstandist, dessen universale Züge zu artikulieren sind. In der Erforschung derfür die Namengebung verantwortlichen Termzusammenhänge geht esum die Bestimmung der Gegenstände als Träger ihrer Eigenschaftenund damit um den Aufbau einer referentiellen Semantik. Soll diese

Grammatik zwischen Psychologie und Logik 115

Page 122: Dialogischer Konstr uktivismus

Forschung Grundlage für die Darstellung sein, so werden im Aussage-zusammenhang die Bezeichneten als Invarianten ihrer Eigenschaftennur über den Termzusammenhang erkannt. Geschieht hingegen Dar-stellung unabhängig von Forschung, so ist die referentielle Semantiklediglich unterstellt, wie zum Beispiel bei formalsprachlicher Darstellungwissenschaftlicher Theorien. Grammatische Kompetenz als operatio-nales Wissen vom Bau und der Verwendung der Syntax von Zei-chensystemen spielt in der Wissenschaft wegen des durch Forschungfundierten symbolischen Charakters wissenschaftlichen Wissensgrundsätzlich nur die Rolle einer Hilfsdisziplin, während sie für dieKünste, ganz im Einklang mit einer klassischen Tradition, wegen desdurch Poiesis erzeugten symptomatischen Charakters künstlerischenWissens das wesentliche Instrument darstellt. Das erklärt, warum sich inwissenschaftlicher Perspektive die Grammatik zwischen Logik undPsychologie nur so schwer behaupten kann, sie jedoch in künstlerischerPerspektive eine so zentrale Rolle spielt.

Literaturverzeichnis

Aristoteles, 1998: Kategorien. Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck(de interpretatione), griech.-dt. , hg., übers., mit Einl. u. Anm. versehen v.Hans Günter Zekl, Hamburg.

CP, = Collected Papers of Charles Sanders Peirce I-VI, ed. by CharlesHartshorne and Paul Weiss, Cambridge, Mass. 1931–1935.

Gadamer, Hans-Georg, 1960: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer phi-losophischen Hermeneutik. Tübingen.

Locke, John, 1961: An Essay Concerning Human Understanding, in two vo-lumes, ed. with an introduction by John W. Yolton, London/New York.

Lorenz, Kuno, 1977: On the relation between the partition of a whole intoparts and the attribution of properties to an object, in: Studia Logica 36, pp351–362.

Lorenz, Kuno, 1979: The Concept of Science. Some Remarks on the Me-thodological Issue ›Construction‹ versus ›Description‹ in the Philosophy ofScience, in: Transcendental Arguments and Science. Essays in Epistemo-logy, ed. by Peter Bieri, Rolf-P. Horstmann, Lorenz Krüger, Dordrecht/Boston/London, pp 177–190.

Lorenz, Kuno, 1995: Artikulation und Prädikation, in: Sprachphilosophie […].Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung […], hg. v.Marcelo Dascal, Dietfried Gerhardus, Kuno Lorenz, Georg Meggle, 2.Halbband, Berlin/New York, pp 1098–1122.

Dialogischer Konstruktivismus116

Page 123: Dialogischer Konstr uktivismus

Lorenz, Kuno, 1997: Rede zwischen Aktion und Kognition, in: Sprache undDenken. Language and Thought, hg. v. Alex Burri, Berlin/New York, pp139–156.

Peirce, Charles Sanders, 1903: What Makes a Reasoning Sound?, in: TheEssential Peirce. Selected Philosophical Writings, vol. 2 (1893–1913), ed.by the Peirce Edition Project, Bloomington/Indianapolis 1998, pp 242–257.

Russell, Bertrand, 1912: The Problems of Philosophy. London.Schlick, Moritz, 1918: Allgemeine Erkenntnislehre. Berlin.Sextus Empiricus I-IV (griech./engl.), 1933–1949, ed. by R. G. Bury, London.T, = Wittgenstein, Ludwig: Tractatus Logico-Philosophicus, dt./engl., ed. by

David F. Pears and Brian F. McGuinness, London 21971 [1922].

Grammatik zwischen Psychologie und Logik 117

Page 124: Dialogischer Konstr uktivismus

Sinnbestimmung und Geltungssicherung

I

Im Titel wird von einer Unterscheidung Gebrauch gemacht, derenepistemologisches Gegenstück traditionell in Gestalt einer Entgegen-setzung zweier Arten von Erkenntnis auftritt, einer ›rechtmäßigen‹ ›ausGründen‹ und einer ›tatsächlichen‹ ›aus Erfahrung‹. Im übrigen gehörtdie Unterscheidung von Sinn und Geltung zu einer ganzen Familieverwandter Unterscheidungen, die seit jeher Kopfzerbrechen bereiten.In der Grammatik ist es die problematische Unterscheidung zwischenWort und Satz, in der Psychologie die zwischen Verstehen und Aner-kennen. Aber auch die noch grundsätzlichere Differenz zwischenTheorie und Praxis ist dabei im Spiel. Es handelt sich nämlich beimVerstehen von Sinn um eine primär kognitive Leistung, die auch inihrer individuellen Besonderheit eine Rolle spielt, während die primärin einem pragmatischen Kontext auftretende Anerkennung von Gel-tung nur sozial ihre Funktion vollständig erfüllen kann.

Will man an dieser Stelle eine weiterführende begriffliche Klärungerreichen, so empfiehlt es sich, die Quelle dieser auf Gegenstände mitZeichenfunktion bezogenen Unterscheidung aufzusuchen. Man findetdiese Quelle dort, wo Zeichenfunktionen erst eingeführt und nichtschon verwendet werden; schließlich kommen Zeichen nicht schlichtvor, vielmehr muß Gegenständen ausdrücklich eine Zeichenfunktionund das heißt, ein ›Sinn‹, verliehen werden. Der Einfachheit halber undweil für Untersuchungen, die zur Philosophie der Logik gehören, derBezug auf verbalsprachliche Zeichen ausreicht, soll hier mit verbalenArtikulatoren als kanonischen Repräsentanten beliebiger anderer Pro-dukte der Artikulationen von Umgangsweisen mit Partikularia, wiezum Beispiel Gesten oder Zeichnungen, begonnen werden.

Ein verbaler Artikulator, zum Beispiel ‘rauchen’, also ein Sprach-handlungsschema zur Artikulation des rauchenden Umgangs mit Zi-garetten oder anderen Rauchwaren, aber auch mit den aktiv oder passivam Rauchen beteiligten Personen und anderen Objekten, liegtgrundsätzlich nur in Gestalt einer Aktualisierung vor, etwa einer Äu-ßerung von ‘rauchen’. Dabei ist an dieser Stelle noch davon abgesehen,daß Aktualisierungen als streng einmalig zu behandeln sind, so daß auf

Page 125: Dialogischer Konstr uktivismus

›dieselbe‹ nicht wiederholt zugegriffen werden kann – ‘identisch’ istkein auf (singulare) Aktualisierungen, wohl aber auf (individuelle) Äu-ßerungen anwendbarer prädikativer Ausdruck. Gleichwohl kann manüber einen Artikulator nur verfügen, wenn man ihn als Handlungs-schema oder Typ beherrscht, also auch weitere Aktualisierungen zuproduzieren vermag. Dieses Können nun ist von zweifacher Art:Pragmatisch hat es die Gestalt einer einfachen Handlungskompetenz, esbesteht im Sprechen- und Hörenkönnen, aber semiotisch liegt einedarüber hinausgehende Sprachhandlungskompetenz vor, man vermagsprechend etwas zu sagen und hörend etwas zu verstehen, man verfügtüber den ›Sinn‹ von ‘rauchen’.

In dieser Beschreibung schon wird ansatzweise deutlich, daß eineHandlungskompetenz auf der einen Seite, will man die mit ihr möglicheErfahrung auch real machen (und nicht nur sich vorstellen), zur Ori-entierung einer dialogischen Konstruktion des Erwerbs der Hand-lungskompetenz bedarf; zugleich ist man auf der anderen Seite, willman die bei Ausübung der Handlungskompetenz wirkliche Erfahrungauch recht verstehen (und nicht nur hinnehmen), darauf angewiesen,eine phänomenologische Reduktion der in Ausübung der Kompetenzvorgenommenen vielfältigen Gliederungen vorzunehmen, um die ge-rade betroffene Kompetenz zu isolieren.

Mit der dialogischen Konstruktion wird der Aufbau unserer Er-fahrung theoretisch modelliert, in der phänomenologischen Reduktionwird der Abbau derselben Erfahrung praktisch erlebt. Wer eine Erfah-rung macht und nicht nur erleidet, beschreibt nicht eine ihm gegebeneErfahrung, sondern ist mit der theoretischen Handlung der Artikulationeiner dialogischen Konstruktion befaßt, und zwar derjenigen, die für diephänomenologische Reduktion als Mittel eingesetzt wird; entsprechendbefindet sich jemand, der eine Erfahrung versteht und nicht nur um sieweiß, nicht im mentalen Zustand, eine Erfahrung erzeugt zu haben,sondern übt die praktische Handlung der Vermittlung einer phäno-menologischen Reduktion aus, und zwar diejenige, die bei der dialo-gischen Konstruktion als Gegenstand gewonnen wird. TheoretischeDistanzierung durch Artikulation und praktische Aneignung durchVermittlung sind dabei natürlich ihrerseits die dialogischen Modi vonKompetenzen logisch höherer Stufe.

In der an anderer Stelle im einzelnen auseinandergesetzten Kon-struktion des Erwerbs von Handlungskompetenzen mithilfe dialogischer

Sinnbestimmung und Geltungssicherung 119

Page 126: Dialogischer Konstr uktivismus

Elementarsituationen1 sind die beiden Agenten des dialogischen Er-werbsprozesses nichts anderes als die ›subjektiven‹ Rollen zur Darstel-lung der beiden ›objektiven‹ Seiten einer Handlung, ihrer pragmati-schen in der Ausführung oder dem Vollzug und ihrer semiotischen inder Anführung oder dem Auffassen. In pragmatischer Hinsicht, nämlichpraktisch angeeignet, ist die Handlung in der Ausführung aktiv und inder Anführung passiv; in semiotischer Hinsicht jedoch, also theoretischdistanziert, liegt die Handlung in der Ausführung singular und in derAnführung universal vor. Handlungsvollzüge und Handlungsbilder,gleichgültig ob angeeignet (im Fall von Vollzügen) oder distanziert (imFall von Bildern), sind nur in semiotischer Hinsicht, nämlich von ihnenredend, voneinander gesondert, in pragmatischer Hinsicht und damit alsGegenstände der Rede, bleiben sie untrennbar aufeinander bezogen.

Die weiteren Schritte der dialogischen Konstruktion folgen einemPrinzip der Selbst�hnlichkeit. Jede der beiden Seiten einer Handlung unddamit auch jede der beiden Rollen, des ›Agenten‹ (Ich-Rolle) und des›Patienten‹ (Du-Rolle), wird ihrerseits ausdrücklich einer Konstruktiondes Erwerbs einer Handlungskompetenz mithilfe dialogischer Elemen-tarsituationen unterworfen, und dieses Verfahren einer Überführung derbeiden Rollen bzw. Seiten einer Handlung in ihrerseits eigenständigeHandlungen mit zwei Rollen bzw. Seiten wird fortgesetzt. Auf dieseWeise läßt sich die pragmatische Seite einer Handlung zu einem Zweigweiterentwickeln, bei dem Teilhandlungen, die der Vermittlung derursprünglichen Handlung dienen, schließlich für die grundsätzlicheTradierbarkeit der mit der Handlung vorgenommenen Gliederungunserer Erfahrung und so für deren Stabilit�t verantwortlich sind. Diesemiotische Seite einer Handlung wiederum wird zu einem Zweigfortentwickelt, bei dem Zeichenhandlungen, die der Artikulation derursprünglichen Handlung dienen, schließlich für die grundsätzlicheZugänglichkeit der mit der Handlung vorgenommenen Gliederungunserer Erfahrung und so für deren Objektivit�t sorgen. Binnengliede-rung und Außengliederung einer Handlung im Verbund erst sichernStabilität und Objektivität der in ihr verkörperten Erfahrung.

Zunächst jedoch spielen Handlungen kraft der dialogischen Kon-struktion ihres Erwerbs selbst eine zugleich pragmatische und semioti-sche Rolle. Erst die Verselbständigung sowohl ihrer semiotischen Seitein eigenständigen Handlungen des Auffassens, nämlich den verschie-denen Aspekten oder ›Sichtweisen‹, unter denen sie zugänglich sein

1 Vgl. Lorenz 1995 und 1997 [in diesem Band pp 24–71 und pp 72–93].

Dialogischer Konstruktivismus120

Page 127: Dialogischer Konstr uktivismus

kann – ihrer Außengliederung – , als auch ihrer pragmatischen Seite ineigenständigen Handlungen des Vollziehens, nämlich den verschiede-nen Phasen oder ›Gliederungsweisen‹, mit denen sie sich ›im Tun‹realisieren läßt – ihrer Binnengliederung – , macht den Weg frei, ineinem weiteren Schritt neben den (ausführenden) Hervorbringungenauch die (anführenden) Teilhandlungen auf der pragmatischen Seite unddazu noch auf der semiotischen Seite neben den (anführenden) Wahr-nehmungen auch die (ausführenden) Zeichenhandlungen zu gewinnen.Die semiotisch universale und zugleich pragmatisch aktive Seite einesAspekts zusammen mit der universalen Seite einer Phase führt ver-selbständigt zu einer eigenständigen Zeichenhandlung, während sich diesemiotisch singulare und zugleich pragmatisch passive Seite einer Phasezusammen mit der singularen Seite eines Aspekts zu einer eigenstän-digen Teilhandlung entwickeln läßt. Eine mimische Darstellung desRauchens etwa ist als Zeichenhandlung sowohl auf der gegenständli-chen Ebene die Schematisierung einer Phase des Rauchens – etwa desAnzündens ›pars pro toto‹ – als auch auf der Zeichenebene der Vollzugeines Aspekts des Rauchens (›ich schematisiere dir mit dem Anzündendas Rauchen‹) und das dadurch vollzogene Auffassen des Rauchens (›duverstehst das Anzünden als Zeichen für Rauchen‹); zugleich gilt ›die-selbe‹ Mimik als Teilhandlung, und zwar auf der Zeichenebene alsAktualisierung eines Aspekts des Rauchens – des Anzündens als Zeichenfür Rauchen – sowie auf der Gegenstandsebene als Erleiden einer Phasedes Rauchens (›mir widerfährt deine Aktualisierung des Rauchens in

Abbildung A

Sinnbestimmung und Geltungssicherung 121

Page 128: Dialogischer Konstr uktivismus

Gestalt des Anzündens‹) und des dadurch begriffenen Tätigseins (›duaktualisierst mir gegenüber Rauchen mithilfe von Anzünden‹).

Eine Trennung der beiden möglichen Lesarten einer Handlung alsZeichenhandlung und als Teilhandlung kommt erst dadurch zustande,daß von den der Artikulation dienenden Zeichenhandlungen – sieverfahren produzierend und rezipierend – zu symbolischen Artikulationenund von den der Vermittlung dienenden Teilhandlungen – diese ver-fahren lehrend und lernend – zu komprehensiven Vermittlungen überge-gangen wird. Nur so auch können Zeichenhandlungen tatsächlich eineHandlung ›bezeichnen‹ und Teilhandlungen ›als Teil‹ einer Handlungauftreten, weil erst mit diesem Übergang sich die ursprünglicheHandlung wirklich ›objektiv‹ als Invariante ihrer subjektiven Aspekteund wirklich ›stabil‹ als Ganzes aus ihren wechselnden Phasen bestim-men läßt.

Eine Artikulation wird zu einer symbolischen Artikulation, wennder zugehörige Aspekt beliebige andere Aspekte der artikuliertenHandlung, die in Wahrnehmungen erfahren werden, vertritt, also wennanstelle etwa des verbalen Artikulators ‘rauchen’ eine mimische Dar-stellung des Rauchens ebenso wie eine seiner zeichnerischen Darstel-lungen oder solche in anderen Medien verwendet werden darf. Ganzentsprechend wird eine Vermittlung zu einer komprehensiven Ver-mittlung, wenn die zugehörige Phase mit dem einlösbaren Anspruchauftritt, beliebige andere Phasen, die in Hervorbringungen zustande-gebracht werden, sukzessiv integrieren zu können. Die Vertretungsrolleeiner Artikulation, durch die sie zu einer symbolischen wird, läßt sichmithilfe eines offenen Systems von Übersetzungsregeln zwischen Zei-chenhandlungen ihrerseits artikulieren. Ganz entsprechend kann manauch die Integrationsrolle einer Vermittlung, durch die sie zu einerkomprehensiven wird, mithilfe von Aufbauregeln für den offenen Be-reich von Teilhandlungen ausdrücklich artikulieren. Mit der symboli-schen Artikulation steht ›begrifflich‹ organisiertes Wissen zur Verfü-gung, mit der komprehensiven Vermittlung hingegen ›methodisch‹produziertes Können, das sich natürlich seinerseits artikulieren läßt.2

Wird etwa der Artikulator ‘rauchen’ nicht nur ›theoretisch‹ zurArtikulation der Handlung des Rauchens verwendet – Ich weiß [‘rau-chen’ angesichts eines Du-Vollzugs von Rauchen äußernd], daß Du

2 Zu weiteren Einzelheiten sowie den Folgen für den Zusammenhang von Kunstund Wissenschaft, vgl. Lorenz 1999 [in diesem Bd. pp 94–117] sowie Lorenz1997, pp 143–151 [in diesem Bd. pp 77–86].

Dialogischer Konstruktivismus122

Page 129: Dialogischer Konstr uktivismus

raucht – , sondern anstelle des präziseren Artikulators ‘rauchenkönnen’auch ›praktisch‹ zur Artikulation der methodisch aufgebauten ›Rauch-kompetenz‹ – Ich weiß [‘rauchen’ im Vorgriff auf den kommenden Du-Vollzug von Rauchen äußernd], wie Rauchen geht, d.h. daß Du rau-chen kann – , so wird eine Zweideutigkeit sichtbar, die sich als Grundfür die immer wieder aufs Neue gemachte Beobachtung identifizierenläßt, daß prädikative Ausdrücke einer natürlichen Sprache in der Regelnicht rein deskriptiv verwendet werden.

Unberücksichtigt ist dabei, daß sich auf der Stufe der in der dialo-gischen Rekonstruktion bisher nur situationsabhängig verfügbaren›Einwortsätze‹ zwar, wie im Beispiel angegeben, theoretisches Wissenvon praktischem Wissen, der Artikulation eines Könnens, unterscheidenläßt, aber weder theoretisches Wissen mit propositionalem und indiesem Sinne deskriptivem Wissen gleichgesetzt werden darf – dieObjekte der Rede sind nämlich noch nicht unabhängig von dem, wasman sagt, bestimmt, so daß mit dem Reden auch noch keine Ansprücheverbunden werden können – , noch praktisches und daher operationalesWissen als ein besonders einfacher Fall normativen Wissens gelten kann,weil die Subjekte der Rede ihrerseits noch nicht unabhängig von denHandlungs- und Sprachhandlungsrollen bestimmt sind und deshalbAnsprüche weder erheben noch beurteilen können.

Was symbolische Artikulatoren auf dieser Entwicklungsstufe be-zeichnen, sind die Handlungen und, unter Umständen unmarkiert, dieHandlungskompetenzen, die sie artikulieren. Ein Dingtyp ist dabei mitder Handlung beliebigen Umgehens mit Dingen dieses Typs zu iden-tifizieren. Bisher ist es weder möglich, in der vertrauten Weise zwischenSinn und Referenz eines Artikulators zu unterscheiden – er artikulierteine Handlung bzw. eine Handlungskompetenz, und in diesem Sinneliegt eine ›Sinnbestimmung‹ für ihn vor – noch läßt sich der Rede vonder Wahrheit oder Falschheit des unter Verwendung des Artikulatorsgeäußerten Einwortsatzes irgendein Sinn geben – er ist ›nach Kon-struktion‹ wahr. Erst, wenn sich die Sprechsituation von der bespro-chenen Situation unterscheiden läßt, die besprochene Situation alsounabhängig von der Sprechsituation bestimmbar ist – genau darin be-steht die von der Sprechsituation unabhängige Bestimmtheit der Ob-jekte, über die geredet wird – , lassen sich redend Ansprüche (imSprechen etwas sagend) erheben und (im Hören etwas verstehend)befragen, nämlich auf ein ›Zusammenstimmen‹ von Sprechsituation undbesprochener Situation. Es handelt sich in diesen Fällen um theoretischeAnsprüche.

Sinnbestimmung und Geltungssicherung 123

Page 130: Dialogischer Konstr uktivismus

Die Möglichkeit praktischer Ansprüche, die allein handelnd erho-ben werden, ist natürlich unabhängig von der Unterscheidbarkeit dieserbeiden Situationen, sie muß jedoch gegeben sein, damit sich auchtheoretische Ansprüche erheben lassen. Die Möglichkeit praktischerAnsprüche beruht nämlich darauf, daß sich die Subjekte unabhängigvon den Handlungsrollen bestimmen lassen, sie also ›als Personen‹auftreten können, die individuell schon über beide Rollen verfügen;und Sprachhandlungsrollen sind natürlich stets auch Handlungsrollen.Ein bloß handelnd erhobener Anspruch, nämlich auf das Verfügen übereine Handlungskompetenz, macht nur Sinn und läßt sich damit infra-gestellen, wenn sich individuelle Kompetenzen vergleichen und dasheißt, an einer immer wieder aufs Neue sozial eigens ausgezeichnetenkomprehensiven Vermittlung der Handlung im Prozeß des Erwerbseiner Handlungskompetenz, also an einer (sozialen) ›Handlungsnorm‹,messen lassen. Ein solcher Vergleich wird sich – das müßte anhand desModells dialogischer Rekonstruktion noch im einzelnen nachgewiesenwerden – ohne eine ausdrückliche Artikulation der Handlungskompe-tenzen vermutlich nicht vornehmen lassen.

Zur Vorbereitung der Trennung von Sprechsituation und bespro-chener Situation ist es erforderlich, daß auch die beiden Seiten einer –nunmehr stets symbolisch zu verstehenden – Artikulationshandlung,ihre pragmatische und ihre semiotische, in eigenständige Handlungenüberführt werden. Dabei soll die pragmatische Seite einer Artikulationals bloßes Sprechen und Hören im Sinne einer Zeichenproduktion undZeichenrezeption hier nicht weiter behandelt werden, wohl aber ihresemiotische, die in eben der Funktion der Artikulation besteht, Objektezu bezeichnen. Wird nun dieses Bezeichnen von Objekten seinerseits ineigenständigen Handlungen verselbständigt, so erhalten wir auf derpragmatischen Seite – in Verselbständigung der Ausführungsperspektivevon Artikulationen in semiotischer Rolle – Kommunikationshandlungen,mit deren Hilfe man etwas (sprechend) ›sagt‹. Auf der semiotischen Seitehingegen, in Verselbständigung der Anführungsperspektive des Be-zeichnens, des ›Sich-zeigens‹, sind Artikulationen in semiotischer RolleSignifikationshandlungen. Mit ihnen ist das ›passive‹ Sich-zeigen in dieeigenständige Handlung ›Zeigen‹ verwandelt worden.3 Als eigenstän-

3 Diesen Schritt hatte Wittgenstein beim Übergang vom Tractatus zu den Philo-sophischen Untersuchungen gemacht, insofern die Sprachspiele der PhilosophischenUntersuchungen der rationalen Rekonstruktion dessen dienen, was im Tractatus

Dialogischer Konstruktivismus124

Page 131: Dialogischer Konstr uktivismus

dige Handlung hat natürlich auch ›Zeigen‹ seine beiden Seiten, eineaktive oder den ›Versuch-zu-zeigen‹ und eine passive, das ›Gelingen-des-Zeigens‹. Schon Platon hatte, wenngleich unter Vernachlässigungder systematisch bedeutsamen Unterscheidung zwischen Zeigen undNennen, weil er Nennen für einen Sonderfall von Sagen hielt, aneinfachen Sprachhandlungen die beiden Funktionen der Kommunika-tion und der Signifikation unterschieden. Er sprach davon, daß ›Namen‹einerseits dazu dienen, ›einander etwas beizubringen‹, d.h. ›auszusagen‹,und andererseits dazu, ›die Sachen zu unterscheiden‹, d.h. ›zu benen-nen‹.4 Eine Kommunikationshandlung wiederum ist semiotisch einePr�dikation, die pragmatisch in einem als Sprechakt geläufigen Modusausgeführt wird, während auf der anderen Seite eine Signifikations-handlung semiotisch in einer auf Wahrnehmung angewiesenen Gege-benheitsweise vorliegt, die pragmatisch als Ostension vollzogen wird.Bezug eines Sprechakts, sein ›Inhalt‹, ist eine Prädikation; Träger einerOstension, ihr ›Mittel‹, ist eine Gegebenheitsweise.Es liegen vertraute sprachliche Hilfsmittel bereit, an einem Artikulator,dem Produkt einer Artikulationshandlung, seine beiden (semiotischen)Funktionen, die kommunikative und die signifikative, theoretischvoneinander zu sondern. Auf der einen Seite hat die Kopula ‘e’ dieFunktion eines Operators, der, angewendet auf einen Artikulator,dessen signifikative Funktion abblendet und allein die kommunikativeFunktion aufrecht erhält. Die Kopula überführt einen Artikulator ‘P’ ineinen Ausdruck mit rein kommunikativer Funktion, einen Pr�dikator‘eP’, und damit in einen Ausdruck, der in der ausgebildeten Sprache inprädikativer Position auftritt. Mit ‘eP’ wird P ›ausgesagt‹, ‘eP’ stellt alsoin üblicher Terminologie eine Aussageform und damit einen ungesät-tigten Ausdruck im Sinne Freges dar: noch ist nicht durch Benennung(= Nomination) angezeigt, wovon [etwas] ausgesagt wird. Auf der an-deren Seite dient der Demonstrator ‘d’ umgekehrt dazu, aus einem Ar-tikulator ‘P’ einen Ausdruck ‘dP’ mit rein signifikativer Funktion zumachen. In semiotischer Terminologie ist der Ausdruck ‘dP’, mit dem P›angezeigt‹ wird, ein Index für eine in der Sprechsituation vollzogeneAktualisierung der durch ‘P’ artikulierten Handlung und noch keinNominator im Sinne der vertrauten logischen Grammatik; es geht nochum ›zeigen‹ im Unterschied zu ›sagen‹ und nicht um ›nennen‹, ‘dP’ ist

›sich zeigt‹ und nicht gesagt werden kann, nämlich die interne Beziehungzwischen Sprache und Welt; vgl. Lorenz 1990.

4 Vgl. Crat 387 b/c – 388b.

Sinnbestimmung und Geltungssicherung 125

Page 132: Dialogischer Konstr uktivismus

eine Anzeigeform: noch ist die Teilhabe (= Partizipation) an dem, woran[etwas] angezeigt wird, nicht ausgesagt. Das Gezeigte, im Sinne einerAktualisierung hingegen, läßt sich nur vollziehen oder tun, nicht nen-nen – es ist ein Handlungsvollzug. Ganz entsprechend übrigens läßt sichdas Gesagte, ein Schema, nur auffassen oder denken, an ihm aber nichtteilhaben – es ist ein Handlungsbild.

Mit den Sprachhandlungen des Aussagens und des Anzeigens, mitPrädikation und Ostension, wird eine eigenständige sprachliche Welterzeugt, in der sich die Subjekte ebenso wie die Objekte allein in ihrensemiotischen Anteilen wiederfinden, und zwar aufgrund einer objek-tiven Behandlung der Subjekte und einer subjektiven Behandlung der

Abbildung B

Dialogischer Konstruktivismus126

Page 133: Dialogischer Konstr uktivismus

Objekte.5 Die objektiv behandelten Subjekte treten in Gestalt derAussageformen ‘eP’ auf, die als zeitgenössische Fassung der traditionellen›Denkformen‹ zu gelten haben; die subjektiv behandelten Objektewiederum liegen vor in Gestalt der Anzeigeformen ‘dP’, die an dieStelle der traditionellen ›Anschauungsformen‹ treten. Die so charakte-risierte sprachliche Welt bleibt auf die immer wieder zu erneuerndeAnstrengung angewiesen, die eigentümliche Zwischenstellung dersprachlichen Welt zwischen ›Innenwelt‹ und ›Außenwelt‹ eigens zureflektieren.

Macht man sich nun klar, daß in der Sprechsituation die artikulierteHandlung bzw. der artikulierte Objekttyp durch die jeweilige Hand-lungs- und Sprechsituation – beide stimmen wegen der noch fehlendenTrennung von Sprechsituation und besprochener Situation überein –auf natürliche Weise in situationsspezifische Einheiten gegliedert ist –auch Sprechersituation (›Ich‹ befindet sich in der besprochenen Situa-tion) und Hörersituation (›Du‹ befindet sich in der Sprechsituation)unterscheiden sich noch nicht – so haben diese Einheiten Ich-Du-in-variant einerseits als ›Zwischenschemata‹ des artikulierten Objekt(typ)sund andererseits als ›Teilganzheiten‹ aus den jeweils in der Situationvollzogenen Aktualisierungen des Zwischenschemas zu gelten. Jedesolche Einzelhandlung oder jedes solche Einzelding kommt durch›Identifizierung‹ der Schemata aller seiner Aspekte(handlungen) unddurch ›Summierung‹ der Aktualisierungen aller seiner Phasen(hand-lungen) zustande. Wegen der Indefinitheit des ›alle‹ in beiden Fällen istein Partikulare niemals ›fertig‹, es bleibt in Übereinstimmung mit demüberlieferten Dictum individuum est ineffabile ›unausschöpfbar‹. Jeder hat›seine‹ Sicht auf ›denselben‹ Gegenstand und bedient sich ihrer, um denGegenstand Ich-Du-invariant symbolisch zu artikulieren, und genausoträgt jeder durch ›seinen‹ Handlungsanteil zu ›demselben‹ Gegenstandbei und kann diesen Beitrag Ich-Du-invariant komprehensiv vermitteln.

Die Einzelhandlungen oder Einzeldinge bzw. Einzelereignisse inihrer dialogischen Bestimmtheit durch situationsbezogene und damitraumzeitlich eingegrenzte Aktualisierung und Schematisierung, also als›Hülle‹ von Hervorbringungshandlungen auf der Aktualisierungs-Seiteder Phasen und als ›Kern‹ von Wahrnehmungshandlungen auf derSchema-Seite der Aspekte, sind die vertrauten, seit alters aus ›Stoff‹ und

5 Vgl. dazu Lorenz 1997, pp 147–151 [in diesem Band pp 82–86].

Sinnbestimmung und Geltungssicherung 127

Page 134: Dialogischer Konstr uktivismus

›Form‹ zusammengesetzten Partikularia unserer Erfahrungswelt.6 Sieerst, weil Ganzheiten und Invarianten und daher weder singular nochuniversal und auch nicht aktiv oder passiv, lassen sich als Ganzheitennennen und an ihnen als Invarianten läßt sich teilhaben. Man kann daherein Partikulare, insofern es sich als Ganzes seiner Teile benennen läßt,unter Verwendung einer Phase aktualisieren, also aneignen, und mankann es auch, insofern sich an ihm als Invariante seiner Eigenschaftenteilhaben läßt, unter Verwendung eines Aspekts schematisieren, alsodistanzieren. In der neuzeitlichen Tradition wird die ontologische Re-deweise vom Stoff- und Formanteil der Partikularia in eine epistemo-logische verwandelt: Sie gelten von da an als sinnlich gegeben undgedanklich erfaßt. Beide Auffassungen sind hier konsequent in Ver-fahren verwandelt, schrittweise die Partikularia als Ganzheiten und alsInvarianten zu gewinnen und Ganzheiten nicht nur zu nennen bzw. anInvarianten nicht nur teilzuhaben.

In der phänomenologischen Reduktion wird ein für sinnlich ge-geben gehaltenes Partikulare in (Handlungs-)Vollzüge des Umgehensmit ihm derart ›aufgelöst‹, daß die Schemata des Umgehens als Formenhervorgebrachter Teile des Partikulare auftreten. In der parallel ver-laufenden dialogischen Konstruktion wird dabei das als eine Ganzheitdurch Vereinigung aller seiner Teile für erzeugt gehaltene Partikulare inden (Handlungs-)Vollzügen des Umgehens mit ihm pragmatisch wie-dergewonnen: Das Partikulare ist pragmatisch stabilisiert, also sympto-matisch vorhanden. Auf der anderen Seite wird ein für gedanklich erfaßtgehaltenes Partikulare in der dialogischen Konstruktion in (Handlungs-)Bilder des Umgehens mit ihm derart ›eingewickelt‹, daß die Aktuali-sierungen des Umgehens als Instanzen wahrgenommener Eigenschaftendes Partikulare auftreten. In der parallel verlaufenden phänomenologi-schen Reduktion wiederum wird dabei das durch alle seine Eigen-schaften für bestimmt gehaltene Partikulare in den (Handlungs-)Bilderndes Umgehens mit ihm als eine Invariante, den ›Durchschnitt‹ seinerEigenschaften, semiotisch wiedergewonnen: Das Partikulare ist semi-otisch zugänglich, also symbolisch verstanden. In diesem Sinne schließlichmag man von Partikularia sagen, daß sie ›halb Tun, halb Denken‹ sind.

6 Vgl. zu Einzelheiten der dialogischen Rekonstruktion: Lorenz 1997, pp 143–147 [in diesem Band pp 77–81], sowie Lorenz 1995, pp 1112–1115 [in diesemBand pp 51–56].

Dialogischer Konstruktivismus128

Page 135: Dialogischer Konstr uktivismus

II

Benennung und Teilhabe nun lassen sich auf kanonische Weise unterVerwendung der auf die jeweilige Sprechsituation bezogenen Indivi-duatoren ‘iP’ sprachlich wiedergeben, und zwar auf der einen Seite imZuge der uneigentlichen Eigenaussage ‘iPeP’ (= dieses P-Objekt ist[ein] P; beschrieben durch: ›von diesem P-Objekt wird P ausgesagt‹)und auf der anderen Seite im Zuge der ebenso uneigentlichen Eigen-anzeige ‘dPiP’ (= dies P gehörend zu diesem P-Objekt; beschriebendurch: ›an diesem P-Objekt P anzeigend‹). Der Individuator ‘iP’ dienteinerseits dazu, die Benennung des Partikulare, also der von derSprechsituation bestimmten Teilganzheit von P in Gestalt der ›kon-kreten‹ Ganzheit j(iP), im Zuge des Aussagens anzuzeigen, und er dientandererseits auch dazu, im Zuge des Anzeigens die Teilhabe am Parti-kulare, also an dem von der Sprechsituation bestimmten invariantenZwischenschema von P in Gestalt der ›abstrakten‹ Invariante s(iP),auszusagen. Nur im Zusammenhang des Aussagens macht Benennungeiner konkreten Ganzheit (von der ausgesagt wird) mithilfe der Indivi-duatoren – sie heißen in dieser Funktion Nominatoren – Sinn; ganzentsprechend können Individuatoren nur im Zusammenhang des An-zeigens Teilhabe an einer abstrakten Invariante (an der angezeigt wird)wiedergeben.

Beide, Invariante und Ganzheit, sind als Grenzbestimmungenzweier grundsätzlich offener Prozesse nur in der gewählten Notationund damit allein von der Sprachebene aus verfügbar; auf der Ebene derihrerseits noch nicht zu (partikularen) Gegenständen geronnenenHandlungen bleibt es bei den aufeinander bezogenen Handlungsvoll-zügen und Handlungsbildern. Die Schritte im Prozeß der Invarian-tenbildung s(iP) lassen sich daher ihrerseits durch ‘iP schematisieren’artikulieren, was auf nichts anderes hinausläuft, als iP jeweils untereinem Aspekt zu distanzieren, nämlich die allein semiotisch – im An-zeigen der Benennung von j(iP) mithilfe von ‘iP’ – bereits vorge-nommene (unterstellte) Distanzierung, auch pragmatisch zu vollziehen.Ganz entsprechend artikuliert ‘iP aktualisieren’ die Schritte im Prozeßder Bildung der Ganzheit j(iP), und das heißt, iP jeweils mittels einerPhase anzueignen, mithin auch in diesem Fall die nur semiotisch, imAussagen der Teilhabe an s(iP), schon vorgenommene (fingierte) An-eignung auch pragmatisch zu vollziehen. Wir verständigen uns, auchjeder mit sich selbst, schematisierend, also mithilfe von Handlungsbil-dern, und wir zeigen, was wir verstanden haben, jeder auf seine Weise,

Sinnbestimmung und Geltungssicherung 129

Page 136: Dialogischer Konstr uktivismus

aktualisierend, also mithilfe von Handlungsvollzügen. Aber man mußsich dabei klar vor Augen halten, daß Kommunizieren und SignifizierenSprachhandlungen und nicht etwa gewöhnliche Handlungen sind.

Im Aussagen, also ‘P’ in kommunikativer Funktion (= ‘eP’) äu-ßernd, sage ich etwas; dieses ›Etwas‹, der ›Inhalt‹ der Prädikation (=content of predication), die pragmatisch in einem Modus geschieht, ist,wie stets auf der semiotischen Seite einer Handlung, schematisch. Manhält das Sagen gern für den ›Ausdruck‹ des Denkens und unterstellt›hinter‹ der Sprachhandlung des Kommunizierens überflüssigerweisenoch eine mentale Handlung, statt sich darüber klar zu sein, daß beieiner symbolischen Artikulation natürlich noch die Vertretungsrolle fürbeliebige andere Aspekte der artikulierten Handlung hinzukommt, diementale Leistung in diesem Falle also darin besteht, ›dieselbe‹ Handlungunter beliebigen Aspekten zu ›identifizieren‹. Denken ist kein Vorgangoder Ereignis ›im Inneren‹ eines Ich, es sei denn, ‘Denken’ wird äquivokauch für bestimmte Phänomene der empirischen Psychologie verwen-det, vielmehr ist es ein Mittel der ›Entäußerung‹, nämlich zur Herstel-lung von Ich-Du-Invarianz.

Nur unter dieser Einschränkung ist es vertretbar, im Modell dialo-gischer Konstruktion unserer Erfahrung das treffende überlieferte Ka-tegorienpaar ›passio-actio‹ zur Charakterisierung der (schematisierendenund deshalb distanzierenden) Du-Rolle und der (aktualisierenden unddeshalb aneignenden) Ich-Rolle im Erwerbsprozeß einer Handlungs-kompetenz auch durch das Paar ›Denken-Tun‹ zu ersetzen.

Dem Aussagen korrespondierend wird im Anzeigen, also ‘P’ in si-gnifikativer Funktion (= ‘dP’) äußernd und damit das Verstehen von ‘P’artikulierend, von mir etwas gezeigt. Und dieses pragmatische Zeigen –oder auch, weil bei Singularia zwischen Vollzug und Ergebnis nichtunterschieden werden kann, das ›Etwas‹ oder das ›Gemeinte‹ der Os-tension dP (= intent of ostension) – funktioniert nur kraft der semi-otischen Seite der Signifikation, der in der Wahl von ‘P’ unter Inan-spruchnahme der Vertretungsrolle des symbolischen Artikulators ‘P’ fürandere Aspekte von P sich niederschlagenden Gegebenheitsweise derOstension dP. In der Gegebenheitsweise findet sich der schematische(Wahrnehmungs)-Anteil mindestens eines Aspekts von P wieder. Esgibt keine eigenständige Bezugnahme auf Aktualisierungen; jede Arti-kulation einer Handlung realisiert sich auf der semiotischen Seite,nämlich als ›Bezeichnen‹, ihrerseits stets polar, semiotisch im Signifi-zieren und pragmatisch im Kommunizieren.

Dialogischer Konstruktivismus130

Page 137: Dialogischer Konstr uktivismus

Zugleich wird deutlich, wie Benennung und Teilhabe es erlauben,die Partikularia von den Situationen zu trennen, in denen sie sich be-finden. Zunächst nämlich läßt sich innerhalb des Modells für den Er-werb von Können und Wissen mithilfe dialogischer Elementarsitua-tionen keinerlei Abgrenzung zwischen dem Erwerb einer Handlungs-kompetenz und dem Erwerb einer Situationskompetenz vornehmen;die Umstände der Handlungsvollzüge und Handlungsbilder sind anfangsvon der Handlung selbst nicht ablösbar. P-Objekte als Vordergrund undihr Kontext als Hintergrund einer P-Situation lassen sich erst mit derVerwendung der Individuatoren ‘iP’ auszeichnen. P-Aussagen mit ‘eP’und P-Anzeigen mit ‘dP’, beide Handlungen ohne Angabe des P-Ob-jekts, von dem P ausgesagt oder an dem P angezeigt wird, sind Aussagenbeziehungsweise Anzeigen in Bezug auf die Situation, in der sichSprecher und Hörer befinden, also eine P-Situation. Im Sagen liegt dieP-Situation distanziert vor, im Verstehen hingegen ist sie angeeignet,und in der Artikulation des Verstehens wiederum ist die Aneignungdistanziert. Im Deutschen läßt sich der Unterschied zwischen objekt-bezogener und situationsbezogener Eigenprädikation, etwa im Falle‘donnern’, ausdrücken durch ‘dies[es Donnern] ist Donnern’ und ‘esdonnert’.

Die für das Entstehen von Geltungsansprüchen entscheidendeTrennung der Sprechsituation, in der man spricht, und damit der Si-tuation des Sprechers in Du-Rolle und des Hörers in Ich-Rolle, von derbesprochenen Situation, �ber die man spricht, also der Situation desSprechers in Ich-Rolle – dadurch, daß er etwas sagt – und des Hörers inDu-Rolle – dadurch, daß dieser dabei etwas versteht – , tritt als Folgeder Verknüpfung von Artikulatoren zu komplexen Artikulatoren auf.Mit dieser Verknüpfung lassen sich nämlich die von den Phasen – undzwar ihren Aktualisierungen – gebildete Binnengliederung (durchTeile) und die von den Aspekten – und zwar ihren Schemata – gebildeteAußengliederung (durch Eigenschaften) der artikulierten Objekteschrittweise explizit machen.

Dadurch wird es möglich, ebenfalls schrittweise die Benennung derPartikularia von der Sprechsituation zu lösen, an die der Gebrauch derIndividuatoren in ihrer benennenden Funktion gebunden ist. Erst dannlassen sich auch Sprachwissen, wie es in Gestalt einer (Ich-Du-invarian-ten) Antwort auf die Frage ›was meinst du mit dem, was du sagst?‹auftritt, und Weltwissen, das aus den (Ich-Du-invarianten) Antwortenauf die Frage ›gibt es das, was du nennst?‹ besteht, gesondert vonein-ander erwerben. Die sprachlogische Aufgabe, den Sinn komplexer

Sinnbestimmung und Geltungssicherung 131

Page 138: Dialogischer Konstr uktivismus

Artikulatoren zu definieren, und die Aufgabe der einzelnen Wissen-schaften, die Existenz den Artikulatoren entsprechender Partikularianachzuweisen, sind verschiedene Aufgaben, die gleichwohl nur ab-hängig voneinander gelöst werden können.

Mit Sprachspielen für Artikulatoren – die Funktionen des Sagensund Zeigens in der Verwendung der sprachlichen Ausdrücke sindgrundsätzlich beide betroffen – hatte Wittgenstein ursprünglich Maß-stäbe für die Sprachkompetenz ungeschieden von der zugehörigenHandlungskompetenz entworfen, so daß ›der Witz‹ seines Verfahrens,mit ihm eine Sinnbestimmung von Artikulatoren im Rahmen bloß›möglicher Geltung‹ vornehmen zu können,7 nicht ungestört zumTragen kam. Gleichwohl läßt sich das hier skizzierte Verfahren dialo-gischer Konstruktion unter anderem als eine verallgemeinerte Weiter-entwicklung des Wittgensteinschen Sprachspielverfahrens ansehen.8

Die Aufgabe, komplexe Artikulatoren einzuführen, muß spätestensdann gelöst werden, wenn die für die Schematisierung eines Ob-jekt(typ)s eingesetzten Aspekthandlungen ebenso wie die für seineAktualisierung eingesetzten Phasenhandlungen als eigenständigeHandlungen auftreten, die ihrerseits unter Aspekten zugänglich undmittels Phasen tradierbar sind. Ist etwa die durch ‘P’ artikulierteHandlung (z.B. Rauchen) bereits ein Aspekt oder eine Phase eines auchunter anderen Aspekten zugänglichen bzw. mittels anderer Phasentradierbaren Objekt(typ)s Q (z.B. Mensch) und befindet sich derSprecher in einer Q-Situation, also der besprochenen Situation, soschematisiert die P-Handlung als Aspekthandlung das durch die Q-Situation bestimmte Partikulare iQ (= dieser Mensch), und das wirddadurch wiedergegeben, daß der Schematisierende (d.i. der Sprecher inIch-Rolle) von iQ, unter Verwendung von ‘eP’, P aussagt (= dieserMensch raucht): Eine Schematisierung von iQ verwandelt die Prädi-kation eQ (= ist [ein] Mensch) dadurch, daß ein Aspekt P von Qherangezogen wird, in die Aussage iQeP; der fragliche Mensch wird ›alsRauchender‹ zugänglich. Durch die P-Handlung als Phasenhandlungwiederum wird iQ aktualisiert, was der Aktualisierende (d.i. der Spre-cher in Du-Rolle) seinerseits so wiedergeben kann, daß an iQ, unterVerwendung von ‘dP’, P angezeigt ist (= dies Rauchen gehörend zu

7 Vgl. PU, §§ 353, 520–531.8 Zur gründlichen Darstellung von Wittgensteins Sprachspielverfahren und einer

systematischen Auseinandersetzung mit diesem sowie mit dem Verfahren dia-logischer Konstruktion, vgl. Buchholz 1998, Kap. 5 und 6.

Dialogischer Konstruktivismus132

Page 139: Dialogischer Konstr uktivismus

diesem Menschen). In diesem Fall wird durch die Aktualisierung voniQ, wegen der dadurch herangezogenen Phase P von Q, die OstensiondQ (= dies [Umgehen mit] Mensch) in die Anzeige dPiQ verwandelt ;der fragliche Mensch ist durch ›sein Rauchen‹ charakterisierbar.

Wenngleich angesichts der dingbasierten indoeuropäischen Spra-chen in der Wiedergabe bei dem gewählten deutschen Beispielpaaretwas schwerfällig, ließe sich natürlich auch die umgekehrte Verbin-dung von P und Q erörtern: Ist der durch ‘Q’ artikulierte Objekttypbereits ein Aspekt oder eine Phase des Objekttyps P, so schematisiert Qals Aspekt das der besprochenen P-Situation angehörende Partikulare iP(= dieses Rauchen); es ergibt sich für den Schematisierenden dieAussage iPeQ (= dieses Rauchen ist zu [Umgehen mit] Mensch ge-hörend). Q als Phase hingegen aktualisiert iP, und der Aktualisierendemacht die Anzeige dQiP (= dies [Umgehen mit] Mensch gehörend zudiesem Rauchen).

Wer mit der Prädikation eP vom Partikulare iQ P aussagt (auch: die[situativ uneingeschränkte] Invariante oder Eigenschaft sP von iQ aus-sagt), weiß, daß ein Aspekt eines von der Sprechsituation bestimmten P-Objekts mit einer Phase des der besprochenen Situation angehörendeniQ übereinstimmt, und wer mit der Ostension dP an iQ P anzeigt(auch: die [situativ uneingeschränkte] Ganzheit oder Substanz jP an iQanzeigt), der weiß, daß eine Phase des P-Objekts mit einem Aspekt voniQ übereinstimmt, er also mit P-Aktualisierungen einen P-Teil vons(iQ) bilden kann.

Eine eigenständige Handlung P, also etwa ›Rauchen‹, in ihrer Rolleals Aspekthandlung von Q, also etwa von ›Mensch‹, und damit alsBestandteil der Außengliederung von Q, zieht die Analyse von ‘eP’ alseine Spezialisierung nach sich, und zwar in Gestalt der Relativierung ‘ePQ’(= ist [ein] Rauchen von [einem] Mensch[en]). Da in diesem Fall einAspekt von P, z.B. Rauchen-[einer-Zigarette-von-einem-Menschen]-Beobachten, mit einer Phase von Q übereinstimmt, nämlich [einen-]Mensch[en-beim-Zigarette-Rauchen]-Beobachten, kann auch umge-kehrt die eigenständige Handlung Q – im Beispiel ›Umgehen mitMensch[en]‹ – als Phasenhandlung von P angesehen werden: Q istBestandteil der Binnengliederung von P. Für die Analyse von ‘dQ’ergibt sich wieder die Konsequenz einer Spezialisierung, jetzt aber inGestalt der Modifizierung ‘d(PQ)’ (= dies Umgehen mit rauchendemMensch).

Die Verhältnisse mit vertauschten Rollen von P und Q, also beiÜbereinstimmung einer Phase von P mit einem Aspekt von Q, lassen

Sinnbestimmung und Geltungssicherung 133

Page 140: Dialogischer Konstr uktivismus

sich ganz entsprechend formulieren. Allerdings sollte man sich über denUnterschied beider Darstellungen, die man auch durch eine Vorder-grund-Hintergrund-Spiegelung ausdrücken kann, im Klaren sein. ImFalle des P-Aussagens in einer Q-Situation (und des Q-Anzeigens ineiner P-Situation als ›Antwort‹) geht es um eine Artikulation derKonstruktion von Identität eines Q-Objekts unter verschiedenen P-Aspekten und damit in wechselnden P-Situationen – derselbe Menschin Situationen des Rauchens, des Essens, des Grüßens, usw. – , imumgekehrten Fall des P-Anzeigens in einer Q-Situation (als ›Antwort‹auf ein Q-Aussagen in einer P-Situation) jedoch liegt eine Artikulationdes in Gestalt von Handlungsbildern auftretenden Erlebens jeweilsdurch P-Phasen unterschiedener Q-Objekte in derselben Q-Situationvor – im Beispiel eines sich durch Rauchen, Essen, Grüßen, oder andereAnteile wandelnden Menschen, nämlich in derselben Situation einesUmgehens mit Menschen.

Die Weiterentwicklung der Unterscheidung von Situation undObjekt, wobei die jeweiligen Kompetenzen immer nur relativ zu einemEinzelfall bestimmt sind – Situationskompetenz bezüglich einzelnerSituationen und Handlungskompetenz gegenüber einem partikularenObjekt in einer Situation – , hat zu einer Gegenüberstellung von ob-jektbezogenem Vordergrund und situativem Hintergrund geführt, sodaß sowohl Selbigkeit eines Partikulare vor wechselndem Hintergrundals auch Variabilität eines Partikulare bei gleichbleibendem Hintergrundartikulierbar werden. Dies ist der entscheidende Schritt zu einer un-abhängigen Bestimmung von besprochener Situation und Sprechsitua-tion, die es auch möglich macht, das Verhältnis beider Situationen nocheiner Beurteilung zu unterwerfen. Solange nur einfache oder unanaly-sierte Artikulatoren zur Verfügung stehen, sind die Sprechsituationenstets auch die besprochenen Situationen. Mit der Sprechsituation ver-bundener Sinn und mit der besprochenen Situation verbundene Gel-tung fallen dann zusammen beziehungsweise lassen sich nicht ausein-anderhalten, wie man es bereits dem ›tautologischen‹ Charakter derEigenaussagen und Eigenanzeigen entnehmen konnte.

Die von der Sprechsituation und damit von den Mitteln, mit denenman redet, unabhängige Bestimmtheit der Partikularia, von denen manredet, macht es nunmehr möglich, die Sinnbestimmung von Artikula-toren, die auf ihrem Sachbezug beruht, von der in einer Ostension alsreiner Sprachhandlung vollzogenen bloßen Unterstellung des Sachbezugsabzugrenzen. Und in entsprechender Weise läßt sich der in einer Prä-dikation als reiner Sprachhandlung ausgedrückte bloße Anspruch auf

Dialogischer Konstruktivismus134

Page 141: Dialogischer Konstr uktivismus

Geltung unter Ausnutzung des Personbezugs der Artikulatoren einemausdrücklichen Verfahren ihrer Geltungssicherung gegenüberstellen.

Es darf dabei natürlich nicht übersehen werden, daß der Sinn einesArtikulators in einer Ostension dP, also das, was er dabei an einemPartikulare anzeigt und wie er das tut, stets die Verwendung einerGegebenheitsweise einschließt. Damit daher in einer Ostension dPwirklich der Sinn von ‘P’ getroffen, also die Unterstellung des Sach-bezugs von ‘P’ einlösbar wird, muß ausdrücklich Invarianz gegenüberder in Anspruch genommenen Gegebenheitsweise gesichert werden.Der Sinn von ‘rauchen’ in einer Menschsituation etwa muß unabhängigsein von den durch die einschlägigen Aspekte von Rauchen, z.B.Rauchen-[eines-Menschen]-Sehen, Rauchen-[einer-Zigarette]-Rie-chen, Umgehen-mit-Menschen-beim-Rauchen u. a., induzierten Ge-gebenheitsweisen der Ostension ›dies Rauchen‹, damit sich die mitdieser Ostension unterstellte Anzeige der Substanz jP (= das Ganze›aller‹ Rauchvollzüge) an einem Menschen auch einlösen läßt. Dasschließt ebenso die Unabhängigkeit von den Phasen von Rauchen ein.Die Sinnbestimmung eines Artikulators ‘P’ läuft daher, wie sich imeinzelnen zeigen läßt,9 auf nichts anderes hinaus, als eine Begriffsbe-stimmung des Universale (= Eigenschaft) sP vorzunehmen, um nebender Substanz jP als der extensionalen Bedeutung von ‘P’ (= das ›Was‹ derAnzeige oder die ›Referenz‹) auch über den Begriff ¢P als der intensio-nalen Bedeutung von ‘P’ (= das ›Wie‹ der Anzeige oder der ›Sinn‹ imengeren Sinn) zu verfügen. Bei der Begriffsbestimmung geht es darum,das durch ‘¢P’ bezeichnete Abstraktum in Bezug auf die Äquivalenz-relation zu bilden, die durch die Übersetzungsregeln zwischen den vondem symbolischen Artikulator ‘P’ vertretenen alternativen Artikulatio-nen desselben Gegenstand(typ)s P bestimmt ist.

Des weiteren ist es unerläßlich, sich darüber im Klaren zu sein, daßdie als Erfülltsein oder Verwirklichung seiner Bedeutung bestimmteGeltung eines Artikulators in einer Prädikation, also bezogen darauf,was und in welcher Stückelung von Einheiten dabei von einem Parti-kulare ausgesagt wird – das Was ist die Eigenschaft als Realisierung desBegriffs, und die Stückelung ist eine vom Partikulare induzierte (evtl.nur partielle) Klasseneinteilung der Substanz in Teilganzheiten als ihrenElementen – , noch vom Modus der Prädikation abhängt. Geltung unddamit auch das Erheben eines Anspruchs auf Geltung seitens desSprechers lassen sich nur unter Bezug auf einen Modus erklären. Der

9 Vgl. Lorenz 1995, p 1120 f [in diesem Band pp 64 f].

Sinnbestimmung und Geltungssicherung 135

Page 142: Dialogischer Konstr uktivismus

Modus entscheidet demzufolge auch über die Art der Einlösung desAnspruchs auf Geltung. Dabei besteht dieser Anspruch, der besagt, die›bloß mögliche‹ Geltung in eine ›wirkliche‹ überführen zu können,gerade darin, die für den Sprecher bereits wirkliche Übereinstimmungvon Sprechsituation und besprochener Situation auch dem Hörer zu-gänglich zu machen, um so Anerkennung für das Gesagte zu erwirken.

Der Sprecher erhebt, indem er von einem Q-Objekt iQ die AussageeP macht – und das ist gleichwertig damit, in einer Q-Situation, also derbesprochenen Situation mit iQ im Vordergrund, ePQ auszusagen – ,gegenüber dem Hörer von ‘eP’, der sich in der Sprechsituation mit ‘eP’(und dem Nominator ‘iQ’) im Vordergrund befindet, in einem Modusden Anspruch auf (vom Modus abhängige) Übereinstimmung vonSprechsituation und besprochener Situation. Dieser so, mit der P-Prä-dikation von iQ, erhobene Anspruch läßt sich pragmatisch durch eineP-Wahrnehmung an iQ und semiotisch durch eine P-Ostension an iQ,dem ›Nachweis‹ der P-Wahrnehmung, einlösen; dabei ist zu berück-sichtigen, daß die P-Ostension an iQ ihrerseits solange eine Unterstel-lung bleibt, bis pragmatisch eine P-Hervorbringung an iQ (d.h.einVollzug der Handlung des Umgehens mit P in Q-Situationen) undsemiotisch eine das P-an-Q-Hervorbringen-Können ›nachweisende‹ P-Vermittlung in Q-Situationen gelingt. Mit der gesonderten Beherr-schung von Sinn und Geltung bei komplexen (symbolischen) Artiku-latoren wird das mit ihnen verfügbare begrifflich organisierte Wissenvon einem methodisch aufgebauten Können abhängig, das sich sei-nerseits des Wissens bedient, über das man mit den beteiligten einfachenArtikulatoren verfügt.

Der in der Prädikation ePQ enthaltene Anspruch des Sprechers läßtsich im Modus des Behauptens, der für den Geltungsanspruch alsWahrheitsanspruch maßgebend ist, auch so formulieren: Der Sprecherbehauptet, es lasse sich ein PQ-Objekt iPQ erfinden, also die Existenzeines speziellen Partikulare iP (= eine Rauchen-Einheit an einemMenschen) nachweisen, dessen Stoff aus dem Stoff von iQ gebildet ist.Der Sprecher verfügt über ein solches iP, weil er über iQ unter dem P-Aspekt verfügt, der Hörer hingegen nicht ohne weiteres, weil er imallgemeinen über iQ unter einem anderen Aspekt verfügen wird.Hingegen versteht der Hörer ‘ePQ’, wenn er in der Lage ist, dieseÄußerung, also das Erheben des Anspruchs, selbst schon als inhaltlicheErfüllung anzusehen und damit die sprachliche Form zu einem beson-deren Inhalt, dem semiotischen Inhalt, zu machen. Das Verstehen von‘ePQ’ oder auch der (relative) Sinn von ‘PQ’, also Substanz und Begriff

Dialogischer Konstruktivismus136

Page 143: Dialogischer Konstr uktivismus

des komplexen Artikulators relativ zu Substanz und Begriff der einfa-chen Bestandteile, sind als semiotische Geltung ein besonderer Fall derVerwirklichung von Bedeutung, nämlich im von jedem möglichenModus implizierten Modus des bloßen (sinnvollen) Redens. DiesesVerstehen kann der Hörer seinerseits artikulieren durch die mit derÄußerung der Ostension d(PQ) allein schon für eingelöst erklärtenUnterstellung, ein (PQ)-Objekt i(PQ) gefunden zu haben, nämlich einspezielles Partikulare iQ (= eine Rauchender-Mensch-Einheit), dessenForm eine Invariante von P-Eigenschaften ist. Es handelt sich um einenFall rein semiotischer Existenz.

Das Verstehen eines komplexen Artikulators ist daher unabhängigvon der Handlungskompetenz, mit dem artikulierten Objekt(typ) auchumgehen zu können, zumal es möglich ist, daß ein entsprechendeskomplexes Partikulare, abgesehen von seiner semiotischen Existenz, garnicht existiert oder existieren kann. Von dem in komplexen Artikula-toren verfügbaren begrifflich organisierten Wissen läßt sich jetzt das fürihr bloßes Verstehen maßgebende Wissen als Sprachwissen abtrennen.Es steht damit dem übrigen Weltwissen gegenüber, das auf denNachweis einer nicht bloß semiotischen Existenz entsprechenderkomplexer Partikularia angewiesen ist, der durch Beurteilungshandlungen,speziell also Begründungshandlungen, wenn es um Geltungsansprücheals Wahrheitsansprüche geht, erbracht wird. Beurteilungshandlungenaber, die Paradigmata für reflexive Sprachhandlungen, weil es in ihnenum die Wiederherstellung einer nicht mehr bloß semiotischen Einheitvon Gegenstand und Darstellung bzw. von besprochener Situation undSprechsituation geht, gehören nicht mehr nur dem Bereich der Sprachean. Zu ihren Hilfsmitteln zählen nämlich methodisch aufgebautesKönnen im Umgang mit den sprachlichen Gegenständen, darunter dieArgumentationen, ebenso, wie methodisch aufgebautes Können imUmgang mit den besprochenen Gegenständen, zum Beispiel Experimente.Es lassen sich daher die reinen, für die Syntax einer Sprache maßgeb-lichen Sprachhandlungskompetenzen von den Handlungskompetenzenauf der Gegenstandsebene einerseits und auf der Beurteilungsebene,insbesondere der Begründungsebene, andererseits unterscheiden: Mitder Einführung komplexer Artikulatoren wird die Eigenständigkeit derSprachebene zwischen Gegenstandsebene und Beurteilungs- bzw. Be-gründungsebene konstituiert.

Diese Einführung, etwa des aus den Artikulatoren ‘Q’ und ‘P’aufgrund der Aussage iQeP und der Anzeige dQiP zusammengesetztenkomplexen Artikulators ‘Q*P’, bei dem eine Phase von iQ und ein

Sinnbestimmung und Geltungssicherung 137

Page 144: Dialogischer Konstr uktivismus

Aspekt von iP übereinstimmen, läßt sich wie folgt zusammenfassendnotieren:

(iQeP)* = (dQiP)* = Q*P und e(Q*P) = ePQ

d(Q*P) = d(PQ)

Der komplexe Artikulator ‘Q*P’ erlaubt, wie sich hat zeigen lassen, dasAussagen und Anzeigen auch als reine Sprachhandlungen, vorausgesetzt,die einfachen Bestandteile stehen Ich-Du-invariant bereits zur Verfü-gung. Das Aussagen einer Schematisierung eines iQ durch P läßt sichverstehen und dies Verstehen seinerseits durch das Anzeigen einerAktualisierung eines iP durch Q artikulieren, ohne dabei mehr als nurdie semiotische Existenz eines iPQ, d.i. eines speziellen iP durch Rela-tivierung, oder eines mit ihm gleichwertigen i(PQ), d.i. eines spezielleniQ durch Modifizierung, in Anspruch zu nehmen. Das komplexePartikulare i(Q*P) ist in einstelliger Projektion als relativiertes iP und alsmodifiziertes iQ darstellbar: i(Q*P)ePQ und d(PQ)i(Q*P), wegen iPQePund dPiPQ sowie i(PQ)eQ und dQi(PQ). Mit den Beispielen ‘Stuhl’ für‘Q’ und ‘Holz’ für ‘P’ hätte man i(Q*P), i(P*Q), iPQ , iQP , i(PQ),i(QP) nacheinander wiederzugeben durch: dieses Stuhlholz, dieserHolzstuhl, dieses Holz eines Stuhls, dieser Stuhl von Holz, dieser höl-zerne Stuhl, dieses stuhlförmige Holz.

Leider werden in den gegenwärtig üblichen sprachphilosophischenDarstellungen Sprachhandlungen unter ihren pragmatischen Aspektenund damit in ihrer kommunikativen Funktion häufig gleich auf dieBeurteilungsebene bezogen – die Sprachpragmatik als Disziplin istgleichsam ›zu hoch‹ angesiedelt – , während Sprachhandlungen unterihren semiotischen Aspekten, also in ihrer signifikativen Funktion,umstandslos auf die Gegenstandsebene bezogen werden – die Sprach-semantik ist als Disziplin entsprechend ›zu tief‹ plaziert.10 So bleibt fürdie Sprachsyntaktik – und die Logik hat als eine syntaktische Disziplin,nämlich von der sprachlichen Rolle der logischen Partikeln, genaudieses Schicksal seit Frege erlitten – nur noch eine Theorie vom Aufbauder Sprachzeichen, wobei diese bloß als Gegenstände behandelt werdenund nicht mehr als ausdrücklich sprachliche Gegenstände, deren gegen-

10 Eine repräsentative Auswahl von Bearbeitungen sprachphilosophischer The-men mit dem mittlerweile klassisch gewordenen Verständnis von Syntax, Se-mantik und Pragmatik im Hintergrund findet sich in den beiden Teilbändendes HSP.

Dialogischer Konstruktivismus138

Page 145: Dialogischer Konstr uktivismus

ständlicher Aufbau natürlich von ihren pragmatischen, i. e. kommuni-kativen, und semantischen, i. e. signifikativen, Funktionen regiert wird.Läßt man dies wie üblich außer acht, wird Sprachsyntaktik zu einembloßen Teilgebiet der Theorie der Kalküle. Recht verstanden jedoch –und das wurde am Beispiel der Verknüpfung Q*P vorgeführt – kannSprachsyntaktik und damit die Grammatik bei der Untersuchung derAufbauregeln für Zeichengegenstände ohne den Bezug auf deren Zei-chencharakter nicht auskommen: Syntax unter Ausschluß von Prag-matik und Semantik ist ein Unding.

Mit der hier skizzierten Synthese komplexer Artikulatoren auseinfachen bzw. der Analyse einfacher Artikulatoren als komplexe sindeinstellige Elementaraussagen vom Typ ‘iQeP’ derart jeweils einemkomplexen Artikulator zugeordnet, daß der Sinn einer Aussage A durchden Sinn des zugeordneten Artikulators A* erklärt wird, während diemodusbezogene Geltung von A, also die Wahrheit von A im Be-hauptungsmodus, mit der in ihrer Art vom Modus bestimmten Existenzeines A* erfüllenden Partikulare (im Modus des Erzählens etwa seinefiktive Existenz) gleichwertig ist, im Fall von A ÐiQeP also mit derExistenz eines iPQ , d.i. eines besonderen, auf Relativierung beruhen-den P-Objekts, oder alternativ eines i(PQ), d.i. eines besonderen, aufModifizierung beruhenden Q-Objekts.

Die in der dialogischen Logik vorgenommene Sinnbestimmung derlogischen Partikeln durch Spielregeln für Dialoge um logisch zusam-mengesetzte Aussagen kann nun als ein weiterer Fall komplexer Arti-kulation und der Festlegung ihres (relativen) Sinnes im Rahmen dia-logischer Konstruktion und phänomenologischer Reduktion verstandenwerden. Die ursprüngliche Deutung der Spielregeln als Regeln derArgumentation um Aussagen und damit geltungsbezogen statt sinnbe-zogen war schon bald von der Kritik als in mehrfacher Hinsicht inad-äquat erkannt worden und hat bis heute die Auseinandersetzung um dieStärken und Schwächen des dialogischen Ansatzes in der Logik be-hindert.11

Die lokale Spielregel etwa für die Subjunktion A!B, die den sieÄußernden zur Verteidigung von A!B mit B auf den Angriff A gegenA!B verpflichtet, wobei globale Spielregeln die Bedingungen für dasAktuellwerden der Verpflichtung festlegen, ist nichts anderes als eineSinnbestimmung für den Artikulator (A!B)*; mit ihm wird dieHandlung bzw. Handlungskompetenz einer Dialogführung nach der

11 Vgl. etwa den Sammelband Gethmann 1982.

Sinnbestimmung und Geltungssicherung 139

Page 146: Dialogischer Konstr uktivismus

genannten Regel artikuliert, also ein besonderer Interaktionstyp bzw.eine Interaktionskompetenz. Der Sinn der sprachlichen Wenn-dann-Verknüpfung ist auf der Sprachebene und damit eigenständig gramma-tisch bestimmt, also weder ›technisch‹ durch Rückbezug auf die Ge-genstandsebene, etwa auf den Zusammenhang von Handlungen durchihr Nacheinander, wie im Fall der operativen Deutung des ‘wenn-dann’, noch ›argumentativ‹ unter Inanspruchnahme der Begründungs-ebene, etwa in Gestalt der Kompetenz, Beweise (für die Wahrheit) vonB aus Beweisen (für die Wahrheit) von A bilden zu können, wie im Fallder beweistheoretischen Deutung des ‘wenn-dann’.

Die operative Deutung ist ersichtlich deshalb unbefriedigend, weilnicht alle Aussagen Ableitbarkeitsaussagen sind, man auf einen Gegen-standszusammenhang durch schematisches Operieren bei beliebigenAussagen aber wohl kaum wird zurückgreifen können. Die beweis-theoretische Deutung ist ebenfalls nicht generell brauchbar, weil nichtalle Aussagen auf Kerne von Behauptungen zurückgeführt werdenkönnen, Aussagen sich also in solchen Fällen, obwohl sinnvoll, keinerBeurteilung auf Wahrheit unterwerfen lassen. Aus dem letztgenanntenGrund scheitert auch das spezielle gegenstandsorientierte Vorgehen, denSinn logischer Verknüpfungen in allen Fällen durch Wahrheitsbedin-gungen festzulegen. Eine weitere Alternative, den Sinn logischer Ver-knüpfungen doch noch mithilfe argumentativer Handlungen zu erklä-ren und so die ursprüngliche Idee der dialogischen Logik, ihre Spiel-regeln als Argumentationsregeln zu konzipieren, in veränderter Gestalt,nämlich als Argumentationslogik, wieder in ihr Recht einzusetzen,scheitert daran, daß logisch verknüpfte Aussagen auch außerhalb jederargumentativen Praxis, zum Beispiel beim Erzählen, eine sinnvolleRolle spielen. All das mindert selbstverständlich nicht die Eignungdieser Alternativen für spezielle Zwecke, die operative Deutung etwafür die Theorie von Kalkülen.

Hat man sich klar gemacht, daß in der dialogischen Logik auf derPartieebene Sinnzusammenhnge und erst auf der Strategieebene, etwarelativ zum Modus des Behauptens für alle während einer Dialogpartieauftretenden Aussagen, Geltungsprobleme, ganz wörtlich, ›zur Sprache‹kommen, so lassen sich Argumentationen als Hilfsmittel identifizieren,die Überzeugung, über eine Gewinnstrategie zu verfügen, z.B. für dieWahrheit einer Aussage, zu sichern oder zu erschüttern. Argumenta-tionen haben nichts damit zu tun, primär zu solchen Überzeugungen zukommen; sie dienen vielmehr ihrer kritischen Überprüfung, indem sie›Beweise‹ oder ›Widerlegungen‹ für die Existenz von Gewinnstrategien

Dialogischer Konstruktivismus140

Page 147: Dialogischer Konstr uktivismus

erzeugen. Und derselbe Charakter eines Hilfsmittels kommt auch denHochstilisierungen der Argumentationspraxis zu Regeln des logischenSchließens zu. Der Begriff der Geltung, insbesondere der Begriff derWahrheit, ist durchaus unabhängig von der ihrem Nachweis dienendenArgumentationspraxis. Damit läßt sich auch die verbreitete Forderung,Wahrheit und Beweisbarkeit begrifflich auseinanderzuhalten, als be-rechtigt einsehen. Aber das hat angesichts der hier vorgetragenen Zu-sammenhänge ersichtlich nichts mit einem Votum für eine sogenannte›realistische‹ Bedeutungstheorie zu tun.

Literaturverzeichnis

Buchholz, Kai, 1998: Sprachspiel und Semantik, München.Gethmann, Carl Friedrich, (Hg.), 1982: Logik und Pragmatik. Zum Recht-

fertigungsproblem logischer Sprachregeln, Frankfurt am Main.HSP, = Sprachphilosophie/Philosophy of Language/La philosophie du lan-

gage. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung/An In-ternational Handbook of Contemporary Research/Manuel internationaldes recherches contemporaines, hg.v. Marcelo Dascal/Dietfried Gerhar-dus/Kuno Lorenz/Georg Meggle, Berlin/New York Bd.1 1992, Bd.21995.

Lorenz, Kuno, 1990: ›Sehen‹ – Wittgensteins Umgang mit der Bildmetapher,Grazer Philosophische Studien 38, pp 35–45.

Lorenz, Kuno, 1995: Artikulation und Prädikation, in: HSP 2, pp 1098–1122.Lorenz, Kuno, 1997: Rede zwischen Aktion und Kognition, in: Sprache und

Denken. Language and Thought, hg. v. Alex Burri, Berlin/New York, pp139–156.

Lorenz, Kuno, 1999: Grammatik zwischen Psychologie und Logik, in: Spracheund Sprachen in den Wissenschaften. Geschichte und Gegenwart, hg. v.Herbert Ernst Wiegand, Berlin/New York, pp 27–47.

PU, = Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, dt./engl. ,Oxford 1953.

Sinnbestimmung und Geltungssicherung 141

Page 148: Dialogischer Konstr uktivismus

Die Wiedervereinigung von theoretischerund praktischer Rationalität

in einer dialogischen Philosophie

Es gehörte zu den Grundüberzeugungen Platons, daß es sich bei derPhilosophie nicht um ein besonderes Wissen sondern um eine beson-dere Umgangsform mit Wissen und natürlich auch Nichtwissen handelt,und es blieb seither eine der Aufgaben der Philosophie, dieser Selbst-reflexion immer wieder eine überzeugende zeitgenössische Gestalt zugeben. Damit dies auch in der gegenwärtigen Situation gelingen kann,bedarf es unter anderem eines wesentlich radikaleren Verständnisses vonRationalität, als es in der Nachfolge von Platons Begriff des kºcom

didºmai, nämlich des ›Rechenschaft ablegen‹, in unserer westlichenTradition bis heute vorherrscht.

In einem ersten Schritt versuche ich zu zeigen, daß man es haupt-sächlich der auf die Antike zurückgehenden Verkürzung von Ratio-nalität auf theoretische Rationalität verdankt, daß wir dem wachsendenIrrationalismus in der Gegenwart derart ausgeliefert erscheinen, wie esständig beobachtet wird. Der zweite Schritt skizziert anschließendEntwicklungen der Philosophie der letzten hundert Jahre, die sich alsFolgen der Ausgliederung der Praxis aus dem Bereich der Gegenstände,die der Vernunft zugänglich sind, verstehen lassen. Damit ist dann zu-gleich der dritte und letzte Schritt vorbereitet, der eine dialogischePhilosophie in ihren Umrissen vorstellt, die sich in ihren Verfahren undin ihren Gegenständen nicht mehr auf nur sprachliche Auseinander-setzungen zwischen Menschen stützt. Dergleichen verallgemeinerte›Dialoge‹ bilden das Medium einer Bestimmung von ›eigenem‹ Ich und›fremdem‹ Du, die wegen der Unabgeschlossenheit der in ihr ›praktisch‹vollzogenen und ›theoretisch‹ dargestellten Selbstreflexion ihrerseitsniemals beendet ist. Dialogische Philosophie als dargestellte Selbstre-flexion aber bleibt unablösbar von vollzogener, bei der die dialogischenAuseinandersetzungen sich als ein Voneinander-Lernen erweisen. Ausdiesem Grunde sind verallgemeinerte Dialoge sowohl der Gegenstandals auch das Verfahren einer Selbstbesinnung, in der Selbstbestimmung

Page 149: Dialogischer Konstr uktivismus

nur zusammen mit dem Gewahrwerden eines Bestimmtwerdens auf-treten kann.

Jeder, der mit unserer Kulturgeschichte auch nur in Grundzügenvertraut ist, kennt die überlieferten beiden antiken Definitionen desMenschen: Der Mensch ist ein animal rationale (f`om kºcom 5wom), under ist ein animal sociale (f`om pokitijºm). Geht es dann aber darum,einigermaßen präzise anzugeben, was diese Bestimmungen besagen undwelchem Zweck sie dienten, so entsteht in der Regel Verlegenheit.Denn an dieser Stelle wird es unausweichlich, in einem Dickicht vonAuseinandersetzungen, die darüber bereits geführt wurden, selbst einePosition zu beziehen und zu versuchen, sie zu verteidigen. Es ist hiernicht der Ort, solches auch nur ansatzweise zu tun. Ich beziehe michstattdessen ohne weitere Begründung unmittelbar auf eine schon vor fasteinem halben Jahrhundert von Hannah Arendt vorgetragene Analyseder historischen Folgen, die durch die Übersetzung des griechischen‘pokitijºm’ durch das lateinische ‘sociale’ in der zweiten der beidengenannten Definitionen ausgelöst worden sind. Hannah Arendt konnteüberzeugend belegen,1 daß mit dieser Übersetzung eine Bedeutungs-verschiebung einherging, die den im aristotelischen Verständnis wich-tigen Unterschied zwischen dem öffentlichen Raum der politischenPraxis und dem privaten Raum gesellschaftlichen, z.B. wirtschaftlichen,Handelns einebnete. Fortan wurde – und das gilt grundsätzlich bis heute– der Bereich des Politischen als zugehörig dem nach Analogie des›Haushalts‹ (oWjor) aufgefaßten Gesellschaftlichen bzw. Sozialen aufge-faßt. Man konnte sich dabei sogar noch auf Platon stützen, der, andersals Aristoteles, in Bezug auf das Regieren ein Hauswesen und einStaatswesen als gleichartig ansah.2 Das allerdings lag daran, daß dieRegierenden und die Regierten bei Platon in einem Staatswesenebensowenig gleichberechtigt waren wie in einem Hauswesen: DieRegierenden setzen die Ziele, weil sie über Einsicht (cm_sir) in dieBestimmung des Menschen verfügen, die Regierten aber handeln le-diglich nach diesen Zielen. Und dieser Unterschied zwischen Ziele-Setzen und Zielgerichtet-Handeln, der überall in der griechischenPhilosophie, nicht nur bei Platon, wichtig ist, geht nach den AnalysenHannah Arendts bei der Übersetzung von ‘pokitijºm’ in ‘sociale’ ver-loren. Es kann dann die nach griechischer Überzeugung den Menschenausmachende Fähigkeit, sich Ziele für sein Handeln zu setzen, nicht

1 Cf. Arendt 1958, chap. II.2 Politikos 259b.

Die Wiedervereinigung von theoretischer und praktischer Rationalität 143

Page 150: Dialogischer Konstr uktivismus

mehr unterschieden werden von der auch anderen Lebewesen eigenenFähigkeit, sich angesichts bereits vorgegebener Ziele ›zweckmäßig‹ zuverhalten.

Die heute mehrheitlich als Prototyp für Rationalität geltende›Zweckrationalität‹, also das Vermögen, zu einem gegebenen Ziel eineninnerhalb gewisser empirischer Grenzen optimalen Weg zu wählen, giltim berühmten Kulturentstehungsmythos des Protagoras, von dem unsPlaton im gleichnamigen Dialog berichtet,3 als noch vorrational unddeshalb nicht spezifisch menschlich. In diesem Mythos stehen auf derersten Stufe Fähigkeiten zur Ausbildung ›technischer‹ Fertigkeiten alsKompensation für natürliche Mängel zur Verfügung. Diese dem Zielder Kompensation und damit dem kollektiven Überleben dienendenFähigkeiten kommen jedem Individuum der ganzen Spezies zu und sinddaher Eigenschaften der Spezies. Werden sie ausgebildet, so führen siezu Fertigkeiten, einem Können, das von Platon ›praktisches Wissen‹genannt wird – operationales Wissen würden wir heute sagen – und daserst von Aristoteles umbenannt wird: Das Können macht den Bereichder Poiesis aus – man tut etwas, um etwas anderes zu erreichen – undgehört nicht zur Praxis, wo das Tun um seiner selbst willen geschieht.Der Bereich der Poiesis aber bleibt in der Antike wegen seines angeblichbloß vorrationalen Charakters durchweg minderen Ranges.

Im Mythos des Protagoras kommt erst auf der zweiten Stufe dieFähigkeit zur Rationalität hinzu. Sie ist das Vermögen, einen Logosanzugeben (kºcom didºmai), den man braucht, um sich selbst ›regieren‹zu können – heute würden wir dafür lieber von der Fähigkeit zur›Selbsterziehung‹ sprechen. Bei Platon umfaßt das Vermögen des kºcom

didºmai oder ›einsehenden Wissens‹ (1pist¶lg cmystij¶), wie er sichauch ausdrückt, sowohl das Gründegeben-Können für das, was man sagt– man hat (theoretisches) Urteilsvermögen – , als auch das Zielesetzen-Können für das, was man tut – man hat (praktisches) Urteilsvermögenund vermag zu gebieten. In diesem logosbezogenen Wissen ist daher dieTrennung von Theorie und Praxis in der neuen aristotelischen Be-deutung durchaus angelegt. Die Logosbezogenheit wird aber von Ari-stoteles gleich so ausgelegt, daß bis heute der Logos ein Urteil ist :Theoretische Urteile sind Urteile übers Reden, nämlich ob eine Redebegründet und damit ›wahr‹ ist, und praktische Urteile sind Urteileübers Handeln, nämlich ob eine Handlung als ihr eigenes Ziel auftretendarf und damit ›gut‹ ist. Das logosbezogene Wissen Platons, das im

3 Protagoras 320c8–323c2.

Dialogischer Konstruktivismus144

Page 151: Dialogischer Konstr uktivismus

Mythos von Protagoras zum operationalen Wissen hinzutritt, ist in derLesart des Aristoteles propositionales Wissen. Die Bestimmungen desMenschen als animal rationale und als animal sociale betreffen beide dassprachliche Urteilsvermögen, dessen Ausbildung zur Fertigkeit dersprachlichen Auseinandersetzung führt. Der Dialog als das Verfahren derPhilosophie ist seither etabliert und trotz aller Verzerrungen nie mehrpreisgegeben worden. Allerdings herrschte fast durchgehend – und auchin diesem Fall bis heute – ein eingeschränktes Verständnis von Dialog.Einen Dialog zu führen hieß und heißt zu argumentieren. Dabei hateine Argumentation das Ziel, Ansprüche auf die Geltung von Seins-Aussagen und von Sollens-Aussagen einzulösen; heute sprechen wirvon deskriptiven und von normativen Aussagen, deren Geltungsan-sprüche es einzulösen gilt. Weder werden die als Voraussetzung für eineGeltungssicherung von Aussagen notwendigen Sinnbestimmungen dersprachlichen Teile von Aussagen dialogisch ermittelt, noch sind Dialogedurchgehend zum Gegenstand der Philosophie geworden.

Das ebenfalls von Platon zum kºcom didºmai gehörende ›dialekti-sche‹ Verfahren einer begrifflichen Bestimmung der Bedeutung prädi-kativer Ausdrücke mit Hilfe von Dihairesen wurde von Aristoteles ausdialogischen Verfahrenszusammenhängen gänzlich herausgelöst. Erverwandelte es in die künftig in der philosophischen Tradition herr-schende Definitionslehre: Ein Gegenstandstyp, z.B. Mensch (homo),wird definiert durch Angabe von genus proximum, z.B. Lebewesen(animal), und differentia specifica, z.B. vernünftig (rationale).

Gleichwohl ist die Selbstbestimmung des Menschen im Unterschiedzur Definition anderer Gegenstandstypen gerade von Aristoteles als einSonderfall verstanden worden, der mit der Auszeichnung des Menschendurch sein Sprachvermögen verbunden ist. Kein anderes Lebewesen,geschweige denn Nicht-Lebendiges, verfügt über Selbstbestimmung.Die Entdeckung des Logos als eine Anlage und zugleich Aufgabe istgleichwertig mit der Selbstentdeckung und Selbsterfindung des Men-schen. In den Worten Ernst Cassirers kann man die Entdeckung desLogos auch auffassen als die Entdeckung, Zeichen sowohl erzeugen alsauch erfassen zu können.4 Wer sich etwas vor Augen stellt und damitvergegenständlicht, kann dies nur tun, indem er von einer Zugangs-weise zu diesem Gegenstand Gebrauch macht, und das heißt, indem eretwas als Zeichen für diesen Gegenstand verwendet.

4 Cf. Cassirer 1944, chap. II (A clue to the nature of man: the symbol) und chap.VI (The definition of man in terms of human culture).

Die Wiedervereinigung von theoretischer und praktischer Rationalität 145

Page 152: Dialogischer Konstr uktivismus

In unserer eigenen Tradition war es Platon, der diese Entdeckung –›Die Entdeckung der Vernunft in der Antike‹ nennen wir es heute –zugleich als eine Erfindung begriff, die sich durch ein eigenes lehr- undlernbares Verfahren, eben das diak´ceshai oder ›dialogische Philoso-phieren‹, wiederholbar und daher auch tradierbar machen läßt. Nur sokann man von ihr auch wissen. Rationalität ist nicht einfach da, sie mußausdrücklich erworben werden, was man als Selbstanwendung derRationalität begreifen kann. Diese Selbstanwendung der Rationalitätkann dann als Vernunft auch noch von Rationalität oder Verstandterminologisch unterschieden werden.

Derart Denken zu lernen heißt, sich das Verfahren der Distanzierung(= Objektivierung) ausdrücklich anzueignen: Man muß lernen, Er-fahrungen, die schon gemacht sind, auch zu artikulieren, gleichgültig obdas verbal, pictoral oder anders geschieht. Das aber gelingt nur dann,wenn man sich zugleich vom bloßen Vollzug der Aneignung seinerseitszu distanzieren vermag. Nur so gewinnt man auch ein Verfahren derAneignung: Man muß ebenfalls lernen, Erfahrungen, die schon artiku-liert sind, auch zu machen, wiederum gleichgültig, welche der fünfäußeren Sinne und des einen inneren Sinns in der üblichen Zählungman dabei einsetzt. Der ›Semiotisierung‹ im Zuge der Distanzierungkorrespondiert eine ›Pragmatisierung‹ im Zuge der Aneignung. Keinesder beiden Verfahren ist ohne das andere zu haben: Denken lernenschließt Leben lernen ein. Wir sagen dafür heutzutage meistens, daß esdarum gehe, bewußt leben zu lernen, und haben vergessen, daß damitkein das Leben begleitender innerer Vorgang gemeint ist, sondern einLeben, das man auch mit den Augen seines Gegenübers zu sehen lernt.

Ohne diese Selbstanwendung ist Rationalität nicht verfügbar, al-lenfalls ein Ereignis, von dem man dann aber nichts wissen kann. Der indieser Selbstanwendung von Rationalität zum Ausdruck kommendedialogische Charakter der Vernunft ist vor allem dank des Einflusses vonAristoteles leider nur für die Geltungsfrage sichtbar gemacht worden.Zeichenbildung jenseits der Aussagen, oder, noch radikaler, jenseitsverbaler Sprache, geriet aus dem Blickfeld oder hatte allenfalls propä-deutischen Charakter. Vernünftigsein und Vernünftigreden besagtengrundsätzlich dasselbe. Daher gab es auch vor der Übersetzung ins La-teinische keinen wesentlichen Unterschied zwischen den Selbstbe-stimmungen des Menschen als animal sociale und als animal rationale.Angesichts der ›Dialektik‹ von Distanzierung und Aneignung, dieDenkenlernen und Lebenlernen unauflöslich zusammenbindet, läßt sichjetzt genauer sagen, daß mit der Sozialität oder praktischen Rationalit�t die

Dialogischer Konstruktivismus146

Page 153: Dialogischer Konstr uktivismus

Verfügung über das Verfahren der Aneignung, mit der Rationalität imengeren Sinn oder theoretischen Rationalit�t die Verfügung über dasVerfahren der Distanzierung artikuliert wird. Nur das Vermögentheoretischer Rationalität – das Denkenkönnen – ist mit dem Sprach-vermögen gleichwertig.

Gleichgültig jedoch, ob für die Unterscheidung zwischen prakti-scher und theoretischer Rationalität in der hier vorgeschlagenen Ra-dikalität die Unterscheidung zwischen operationalem Wissen undpropositionalem, d.h. in Aussagen verkörpertem, Wissen paradigma-tisch sein soll, oder ob man, wie in der Antike und meistens auch in derTradition, diese Unterscheidung allein auf der Sprachebene durch dieUnterscheidung zwischen normativem Wissen und deskriptivem Wis-sen für paradigmatisch realisiert hält, in beiden Fällen handelt es sich umSelbstzuschreibungen und nicht um gewöhnliche Eigenschaften desMenschen. Zu gewöhnlichen Eigenschaften oder ›positiven‹ Bestim-mungen werden diese Selbstzuschreibungen – man nennt sie traditionellauch Reflexionsbestimmungen – ebenfalls erst durch Distanzierung.Genau das ist bei der Übersetzung ins Lateinische geschehen, und zwarnicht nur bei der Übersetzung des griechischen ‘pokitijºm’ ins lateini-sche ‘sociale’ in der Weise, wie es Hannah Arendt auseinandergesetzt hat,sondern auch bei der Übersetzung des griechischen ‘kºcom 5wom’ inslateinische ‘rationale’. Nur so konnte es dazu kommen, daß man darüberdebattierte und noch immer debattiert, ob praktische und/oder theo-retische Rationalität vielleicht empirische, auf Beobachtungen fußende,Bestimmungen sind, die dem Menschen, etwa im Zuge der Evolution,zukommen; entsprechend hatte man früher darüber diskutiert, obdieselben Rationalitäten vielleicht das ›Wesen‹ des Menschen ausma-chen, was man mit reinem Denken zu ermitteln hätte. Unterschlagenwar dann, daß ohne eine vorangegangene Selbstzuschreibung derglei-chen Debatten sinnlos bleiben müssen.

Praktische Rationalität oder Sozialität im reflexiven Verständnisartikuliert Verbundenheit, also ein Sich-im-anderen-Erkennen, wie eswirklich wird, wenn die eigenen Handlungsvollzüge als dem Typ nachmit fremden Handlungsvollzügen übereinstimmend begriffen sind.Entsprechend artikuliert theoretische Rationalität im reflexiven Ver-ständnis die in einzelnen Lebensvollzügen wirklich werdende Selbst-bestimmung, in der gegenseitige Abgrenzung durch Ausbildung vonIndividualität erfahren wird. Erst auf der Grundlage einer solchenSelbstzuschreibung, die zugleich ›Ich‹ und ›Du‹ hinsichtlich Überein-stimmung und Differenz betreffen, lassen sich dieselben Bestimmungen

Die Wiedervereinigung von theoretischer und praktischer Rationalität 147

Page 154: Dialogischer Konstr uktivismus

auch in der gewöhnlichen positiven Lesart, nämlich vergegenständlicht,verstehen. Positiv beschreibt praktische Rationalität die ›empirische‹Eingebundenheit der einzelnen Menschen sowohl in kausale Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge als auch in intentionale Mittel-Zweck-Zusammenhänge, wie sie jeweils von naturwissenschaftlichen bezie-hungsweise kulturwissenschaftlichen anthropologischen Disziplinenuntersucht werden. Theoretische Rationalität wiederum beschreibt impositiven Verständnis das ›rationale‹ Vermögen der einzelnen Men-schen, im Handeln und Reden Unabhängigkeit von der jeweils indi-viduellen Perspektive des eigenen Standorts ausbilden zu können. DieseFähigkeit, als allgemeines Ich oder transsubjektiv aufzutreten, war vonMax Scheler als das Vermögen zu „vollendeter Sachlichkeit“ bezeichnetworden.5 Empiristen und Rationalisten in Bezug auf den Menschen alswissenschaftlichen Gegenstand haben beide recht.

Ohne die Fundierung des Zusammenhangs von praktischer undtheoretischer Rationalität in der Dialektik von Aneignung und Dis-tanzierung läßt sich dieses Ergebnis schwerlich gewinnen. Faktisch hatsich das platonische Ideal einer von der heyq¸a geleiteten Lebensfüh-rung in der philosophischen Tradition durchgesetzt, und das geschahtrotz der von Aristoteles, wenn auch nur auf der Ebene von Gel-tungsfragen, vertretenen salomonischen Lösung im Streit um denVorrang von Denken und Leben, als er die platonische heyq¸a intheoretische und praktische Philosophie schied: Dem Ziel nach hat dasLeben Vorrang vor dem Denken im Sinne eines Nachdenkens über dasLeben – es geht nämlich um Gut-Leben ; dem Grund nach aber hat dasDenken Vorrang vor dem Leben im Sinne eines Lebens, das sich nachdem Denken richtet – in diesem Fall geht es um Wahres-Denken.

In der alternativen Formulierung, daß praktisch die Erfahrung ihrerArtikulation vorausgeht – Ich versuche, eine von Du schon gemachteErfahrung meinerseits zu verstehen – , während theoretisch die Erfah-rung der Artikulation nachfolgt – Ich versuche, eine von Du schonartikulierte Erfahrung selbst zu machen – in dieser Formulierung er-kennt man ohne Mühe das Wechselspiel von Distanzierung und An-eignung, von dem nun schon mehrfach die Rede war und das auf dendialogischen Charakter der Vernunft verweist. Dabei ist in dieser neuenFormulierung der dialogische Charakter nicht mehr, wie bei Aristotelesund der ihm folgenden Tradition, auf die Ebene der Geltungsfragenbeschränkt.

5 Scheler 1928, p 39.

Dialogischer Konstruktivismus148

Page 155: Dialogischer Konstr uktivismus

Nur solange man sich nicht darüber klar ist, daß der dialogischeCharakter der Vernunft Reden und Handeln und damit Denken undLeben durchdringt, bleibt man bei der unsere Tradition beherrschendenGewohnheit, der Philosophie die folgenden Aufgaben zuzuweisen: MitRücksicht auf eine Beurteilung von etwas als ›wahr‹ soll sie der Fragenach dem ›Sein‹ und mit Rücksicht auf eine Beurteilung von etwas als›gut‹ soll sie der Frage nach dem ›Sollen‹ nachgehen. Und damit hätte esdann sein Bewenden.Tatsächlich hat bis heute poietische Philosophie alsFrage nach dem ›Können‹ und seinem Erwerb neben theoretischerPhilosophie und praktischer Philosophie eine untergeordnete Stellung.Das bloß Besondere, das sich keiner allgemeinen Regel zu fügenscheint, bleibt schutzlos der Usurpation durch Wortführer vieler Artenvon Irrationalismus ausgeliefert. Ja, so ein Ausdruck wie ‘sinnlichesWissen’ hört sich für jemanden, der an Hegel geschult ist und erstzufrieden sein kann, wenn er etwas auf den Begriff gebracht hat, alseine, philosophisch jedenfalls, unzulässige Begriffsbildung an. Sie istallenfalls verständlich als Ausdruck der Schutzsuche vor den Überfällendes Irrationalismus. Dabei ist sinnliches Wissen nichts anderes als einSonderfall operationalen Wissens, wie es zum Beispiel auftritt, wenn einMaler beim Ausüben seines ›Handwerks‹ von seinen visuellen Fertig-keiten Gebrauch macht. Und dem operationalen Wissen neben dempropositionalen Wissen wieder einen gleichberechtigten Platz zu gebenist, ganz unabhängig von einer dialogischen Fundierung des Umgangsmit Wissen und der zentralen Rolle operationalen Wissens in denmathematischen und technischen Disziplinen, von vielen Schulen ge-genwärtiger Philosophie als eine überfällige Aufgabe erkannt worden.6

Mit diesen Vorbereitungen lassen sich jetzt besser die Folgen derunsere philosophische Tradition beherrschenden Verkürzung von Ra-tionalität auf theoretische Rationalität sichtbar machen, auf die imnächsten Schritt in gebotener Kürze eingegangen werden soll. Ich be-schränke mich darauf, gerade soviel auseinanderzusetzen, daß die Mo-tive für meine eigenen, dem philosophischen Konstruktivismus ver-pflichteten Vorschläge zu einer dialogischen Philosophie deutlich

6 Diese Einsicht findet sich bereits im philosophischen Pragmatismus, und zwarin besonders prägnanter Form bei John Dewey in vielen seiner Werke, z.B.unter dem Titel eines Kampfes gegen „the depreciation of action, of doing andmaking“ in seinen Gifford Lectures 1929: Dewey 1930, p 8.

Die Wiedervereinigung von theoretischer und praktischer Rationalität 149

Page 156: Dialogischer Konstr uktivismus

werden, von denen im letzten Schritt noch die Rede sein soll.7 DieseVorschläge bestehen aus dem Entwurf einer konsequenten dialogischenKonstruktion der Erfahrung im Verbund mit einer phänomenologi-schen Reduktion derselben Erfahrung. Dabei hat dialogische Kon-struktion Distanzierung als Verfahren zu entwickeln, um Aneignung zuermöglichen, während phänomenologische Reduktion wiederum An-eignung als Verfahren auszubilden hat, um auch Distanzierung zu er-möglichen. Beides zusammen geschieht mit der jede philosophischeArbeit leitenden Absicht, eine Orientierung im Reden und im Handelnzu gewinnen.

Die Situation der Philosophie um den Beginn des 20. Jahrhundertsläßt sich unter dem hier gewählten Aspekt der Dissoziation von Praxisund Theorie durch das Aufkommen zweier methodologisch orientierterProtestbewegungen gegen diesen Zustand charakterisieren. Auf dereinen Seite steht die beginnende Analytische Philosophie, meist mit denNamen Bertrand Russell und George Edward Moore verknüpft, die derTradition vorwirft, versäumt zu haben, das Hilfsmittel für die Be-handlung von Sachproblemen auch auf seine Eignung für diese Aufgabezu überprüfen. Dieses Hilfsmittel wissenschaftlicher und philosophi-scher Darstellung ist natürlich die Sprache; daher die Aufforderung zurlogischen Analyse sprachlicher Ausdr�cke. Den Maßstab für die Sprachana-lyse bilden die Sachen selbst. Wir begegnen einem auf die Gegen-standsebene bezogenen Realismus, der sich in traditioneller Redeweiseauch als ein ›Realismus der Natur‹ bezeichnen läßt.

Auf der anderen Seite steht die Phänomenologie, von EdmundHusserl begonnen, die der Tradition, spiegelbildlich zum Vorgehen derAnalytischen Philosophie, vorwirft, die Sachen selbst und die sie be-treffenden Probleme aus den Augen verloren zu haben. So kommt es zudem berühmten Aufruf: Zur�ck zu den Sachen selbst! In diesem Fall fehltjeder Zweifel an der Tauglichkeit des Hilfsmittels Sprache, die Sachenauch identifizieren zu können. Wir sind mit einem auf die Zeichen-ebene bezogenen Realismus konfrontiert. In traditioneller Redeweise,bei der die Zeichenebene durch ihre ›geistige Funktion‹ charakterisiertwird, kann man den Realismus der Hilfsmittel auch einen ›Funktio-nalismus des Geistes‹ nennen.

7 Cf. zum historischen Kontext das Vorwort zu: Lorenz 1990; zum ›dialogischenPrinzip‹ im Zusammenhang des philosophischen Konstruktivismus: Lorenz1992.

Dialogischer Konstruktivismus150

Page 157: Dialogischer Konstr uktivismus

Es lag nahe, diese beiden einflußreichsten ›Richtungen‹ des mitt-lerweile verflossenen Jahrhunderts derart miteinander zu verbinden, daßihre Einseitigkeiten aufgehoben werden. Es muß als fahrlässig gelten,weiterhin entweder den Sachen oder den Mitteln, die uns die Sachenzugänglich machen, irgendeinen Vorrang in dem Sinne einzuräumen,daß sie fraglos zur Verfügung ständen. Beide, Welt und Sprache, habenals gleichursprünglich zu gelten.

Wo aber gab es schon Ansätze zu einem solchen Vorgehen? Wirfinden sie bei zwei weiteren, sich ebenfalls methodologisch verstehen-den, philosophischen Richtungen, die am Beginn von AnalytischerPhilosophie und Phänomenologie bereits auf ihrem Höhepunkt waren,ihren Protest gegen die philosophische Tradition jedoch weniger pu-blikumswirksam formulierten und erst viel später für die Weiterent-wicklung von Analytischer Philosophie und Phänomenologie einfluß-reich wurden. Es sind der Pragmatismus von Charles Sanders Peirce undder Historismus von Wilhelm Dilthey.

Die Methode des Pragmatismus kristallisierte sich in einer prag-matischen Maxime, nach der die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke,auch wissenschaftlicher und gerade dieser, letztlich in Handlungszu-sammenhängen zu suchen ist, während die Methode des Historismusihre Gestalt im Durchlaufen des hermeneutischen Zirkels fand, derdarauf beruht, daß jedes sprachlich artikulierte Verstehen seinerseitsbereits ein sinnvoller Lebensvollzug ist, weil das Denken nicht hinter dasLeben zurück kann.

Beide Richtungen versuchen die Gleichursprünglichkeit vonSprache und Welt, deren gegenseitige Abhängigkeit bereits genau be-griffen ist, dadurch zu sichern, daß eine der beiden Seiten in der anderenaufgeht, allerdings nicht ganz konsequent. Es werden nämlich Spracheund andere Zeichensysteme zwar auf Zeichenhandlungen zurückgeführt,nicht aber die Gegenstandswelt auf die Welt gewöhnlicher Handlungen.Die Differenz von Welt und Sprache ist dann durch die Differenz vonHandlungswelt und Welt der Zeichenhandlungen ersetzt, sofern mandavon absieht, daß im Hintergrund eine Welt der Gegenstände bestehenbleibt, gleichsam eine ›Welt an sich‹, die für unabhängig vom han-delnden Umgang mit den Gegenständen gehalten wird.

Mit der Differenz von Handlungswelt und Welt der Zeichen-handlungen gehen Pragmatismus und Historismus nun verschieden um:Im Pragmatismus wird alles Zeichenhandeln als ein Handeln und nichtssonst verstanden, im Historismus hingegen umgekehrt alles Handeln alsein Zeichenhandeln. Die Differenz zwischen Handeln und Zeichen-

Die Wiedervereinigung von theoretischer und praktischer Rationalität 151

Page 158: Dialogischer Konstr uktivismus

handeln ist damit verschwunden. Hinzukommt, daß dabei das Handelnim Pragmatismus von der Ich-Rolle her, dem ›aktiven‹ Tun, gesehenwird, während das Zeichenhandeln im Historismus von der Du-Rolleher gesehen wird, dem ›passiven‹ Verstehen, also dem sinnerfassendenHören im Fall der Sprachhandlungen. Das läßt sich daran ablesen, daßbei Peirce, dem modernen Schöpfer des Pragmatismus, das Tätigsein imZentrum steht – selbst das Denken versteht er als ein Experimentieren –;bei Dilthey hingegen, der den Historismus zum Höhepunkt geführt hat,steht das Erlebnis im Mittelpunkt, also ein ›Sinngeschehen‹, das mannicht herbeigeführt hat, sondern das einem widerfährt.

Es bedurfte einer Reihe weiterer Schritte, um dem dialogischenCharakter der Vernunft auf beiden Ebenen, der Gegenstandsebene undder Zeichenebene, wirklich zum Durchbruch zu verhelfen. Zum einengalt es, analog zu der Zurückführung der Zeichen auf Zeichenhand-lungen, auch die Gegenstände auf Handlungen zurückzuführen, näm-lich jeden partikularen Gegenstand, sei es ein Ding, ein Ereignis oderein Partikulare einer anderen Kategorie, auf den offenen Bereich allerHandlungen des Umgangs mit ihm. Genau das ist, wenn auch nicht soexplizit wie eben, bei den beiden bedeutendsten geistigen Erben jeweilsvon Peirce und Dilthey geschehen.

Es sind der späte Ludwig Wittgenstein, also der Verfasser dernachgelassenen Philosophischen Untersuchungen, als Erbe von Peirce undMartin Buber als der Erbe von Dilthey – de facto war Buber sogar einSchüler Diltheys. Beide sind auch noch einen Schritt weiter gegangen:Sie haben die bei Peirce und Dilthey jeweils mangelhaft behandelteDialogrolle in ihr methodisches Recht eingesetzt. Wittgenstein be-rücksichtigt über die Ich-Rolle des Tuns hinaus auch die Du-Rolle imHandeln, das ›passive‹ Erleiden, wie es vom Gegenüber des geradeTätigen verkörpert wird. Buber wiederum erörtert mit gleichem Ge-wicht neben der Du-Rolle des Verstehens auch die Ich-Rolle imZeichenhandeln, das ›aktive‹ Meinen, also das sinnerfüllte Sprechen imFall der Sprachhandlungen. Beiden Autoren ist die Zusammengehö-rigkeit beider Dialogrollen jeweils auf der Handlungsebene bezie-hungsweise auf der Zeichenhandlungsebene voll bewußt. Das konkre-tisiert sich bei Wittgenstein im Verfahren der Sprachspiele, die als dia-logische Modelle für den Erwerb von Handlungskompetenzen auftre-ten. Allerdings sind sie dabei ungeschieden von Sprachhandlungskom-petenzen, beide bilden eine nicht mehr gegliederte Einheit: „[…] eine

Dialogischer Konstruktivismus152

Page 159: Dialogischer Konstr uktivismus

Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen“, erklärtWittgenstein.8

Bei Buber wird die Zusammengehörigkeit der beiden Dialogrollenexplizit im ›dialogischen Prinzip‹ formuliert, durch das im Kern dieForderung nach gegenseitiger Anerkennung von Ich und Du im sinn-erfüllten Sprechen und sinnerfassenden Hören artikuliert wird; so ex-plizit im Nachwort von 1957 zum Sammelband Das dialogische Prinzip.9

Allerdings haben weder Wittgenstein noch Buber den von Peirce undDilthey vollzogenen Schritt einer Aufhebung der Differenz zwischenHandlungen und Zeichenhandlungen wieder zurückgenommen. Auchbei Wittgenstein ist jedes Zeichenhandeln grundsätzlich nur ein Han-deln und bei Buber jedes Handeln grundsätzlich schon ein Zeichen-handeln. So kann es zu keiner völligen Klarheit über den Unterschieddes dialogischen Charakters der Vernunft auf der Handlungsebene ei-nerseits und auf der Sprachhandlungsebene andererseits kommen.

Die Ich-Rolle und Du-Rolle im Handeln, wie sie vom aristoteli-schen Kategorienpaar Tun (poie?m – actio) und Leiden (p²sweim –passio) erfaßt sind,10 Kategorien, die erst wieder im Pragmatismus (beiJohn Dewey) mit den Ausdrücken ‘doing’ und ‘suffering’ zu neuemphilosophischen Leben erweckt wurden, ist verschieden von Ich-Rolleund Du-Rolle im sprachlichen Handeln, dem sinnvollen Reden,nämlich wenn Reden nicht bloß als Handeln sondern in seiner Zei-chenfunktion thematisiert wird. Auf der Ebene der Sprachhandlungentreten die dialogischen Rollen zweifach auf: handelnd als Tun undLeiden, also sprechend und hörend bloß im akustischen Sinn, sinnvollredend hingegen als sinnerfülltes Sprechen und sinnerfassendes Hören.

Die mangelnde Klarheit über die Natur des Unterschieds zwischenHandeln und Zeichenhandeln führt bei beiden Autoren zu Vereinfa-chungen, die für den beabsichtigten Wiedergewinn der Einsicht in diebei aller Verschiedenheit sachlich unaufhebbare Zusammengehörigkeitvon Denken und Leben, von Reden und Handeln, also allgemein vonTheorie und Praxis, nicht förderlich sind. Bei einer Reduktion desZeichenhandelns auf bloßes Handeln, wie z.B. bei Wittgenstein, wirddie Vergegenständlichung des eigenen Tätigseins durch Distanzierunggleich als Versprachlichung aufgefaßt, obgleich doch nur der Übergangvon der Ich-Rolle zur Du-Rolle im Handeln vorliegt. Im andern Fall

8 Wittgenstein 1953, § 19.9 Buber 1979, pp 122–136.

10 Cf. dazu: Lorenz 2001, p 351 f.

Die Wiedervereinigung von theoretischer und praktischer Rationalität 153

Page 160: Dialogischer Konstr uktivismus

einer Höherstufung schon des Handelns in Zeichenhandeln, wie z.B.bei Buber, geht die Eigenständigkeit von Tun und Leiden gegenüberSprechen und Hören ganz verloren. Die Verlebendigung der aus derSicht von Ich vergegenständlichten Tätigkeit von Du mit Hilfe vonAneignung ist nur noch ein Verstehen dessen, was Du ›damit sagenwollte‹: Eine bloß als Sprachhandlung aufgefaßte Handlung von Duwird in eine bloß mentale Handlung von Ich überführt.

Bei Wittgenstein haben wir es mit einer Reduktion der Theorie aufPraxis zu tun, bei Buber mit einer Theoretisierung der Praxis. Aberweder ein der Sprache oder dem Geist geltendes ›Naturalisierungspro-gramm‹ noch ein der Welt oder der Natur geltendes ›Spiritualisie-rungsprogramm‹ sind hilfreich. Sie täuschen beide eine Einheitlichkeitnur vor, nämlich die Einheitlichkeit der Welt und unseres handelndenund redenden Umgangs mit ihr, der stets eingebettet ist in unserenUmgang miteinander.

Damit ist der letzte, für diesen Beitrag geplante Schritt vorbereitet,der darin besteht, die Strategien Wittgensteins und Bubers in eine beideStrategien vereinigende Strategie zu verwandeln. Es sollte gelingen, dieNaturalisierung der Sprache ›zugleich‹ mit einer Spiritualisierung derWelt zustande zu bringen, also an Zeichen auf ihren Handlungscha-rakter zu achten – das wurde durch Einbettung der Sprache in das Reichder Sprachhandlungen bereits getan – und zugleich an Handlungenauch auf ihren Zeichencharakter. Man kann jede Handlung nämlichauch als ein Zeichen verwenden, zum Beispiel als ein Zeichen für sichselbst, wie es im Theater oder ganz pointiert in der Pantomime ständiggeschieht.

Dann aber ist das anfangs bereits skizzierte Wechselspiel von Dis-tanzierung und Aneignung als Formen der theoretischen und derpraktischen Rationalität eine Antwort auf die Frage, wie sowohl Na-turalisierung als auch Spiritualisierung verbunden miteinander durch-gesetzt werden können: Naturalisierung der Sprache in Gestalt derPragmatisierung beim Verfahren der Aneignung und Spiritualisierungder Welt in Gestalt der Semiotisierung beim Verfahren der Distanzie-rung. Der Gefahr einer unzulässigen Vereinfachung entgeht man jetztdurch sorgfältige Beachtung der beiden Dialogrollen im Handeln und imZeichenhandeln. Dieser Gefahr waren sowohl Wittgenstein als auchBuber erlegen, weil sie jeweils nur eine Strategie verfolgt hatten und siesich daher mit Hilfe der gegenläufigen Strategie nicht korrigierenkonnten.

Dialogischer Konstruktivismus154

Page 161: Dialogischer Konstr uktivismus

Im Verfahren der Aneignung geschieht etwas genauer Bestimmbaresals nur eine Überführung der Sprache in Sprachhandlungen, wie es dasNaturalisierungsprogramm verlangt. Aneignen heißt Einnahme der Ich-Rolle, geschieht bei Sprachhandlungen also zweifach, im bloßenSprechen und im sinnerfüllten Sprechen, dem Zu-verstehen-Geben;bei gewöhnlichen Handlungen tritt Aneignung einfach auf, im Tun.Und ganz entsprechend ist auch das Verfahren der Distanzierung ge-nauer bestimmbar als bloß durch Überführung der Welt der partiku-laren Gegenstände in sinnvolle Handlungen des Umgangs mit ihnen, beidenen es nur darauf ankommt, etwas zu ›verstehen‹ oder ›verstehen zugeben‹. Distanzieren heißt Einnahme der Du-Rolle. Das geschieht beigewöhnlichen Handlungen im Erleiden, bei Sprachhandlungen hinge-gen ebenfalls zweifach, im bloßen Hören und im sinnerfassendenHören, dem Verstehen.

Das in der dialogischen Philosophie, wie ich sie als eine weiterge-führte Synthese von Pragmatismus und Historismus vorschlage, wie-derum nur dargestellte Wechselspiel von Aneignung und Distanzierung,also von praktischer und theoretischer Rationalität, ist im Detail vonhoher Komplexität, die an anderer Stelle genauer auseinandergesetztist.11 Es hängt alles davon ab, im Reden und Antworten ebenso wie imAgieren und Reagieren auf die beiden dialogischen Rollen zu achten,die an jeder dieser vier Handlungsarten beteiligt sind: die Ich-Rolle unddie Du-Rolle. Reaktion auf eine Aktion wäre nämlich nicht möglich,würde man zuvor nicht wissen, was der Agierende tut; ganz entspre-chend würde eine Antwort nicht als Antwort gelten, ginge nicht ir-gendein Wissen davon voraus, was der Redende gesagt hat. Bei jedemHandeln, sei es gewöhnliches Handeln oder Zeichenhandeln, z.B.Reden, erscheint die Ich-Rolle in Gestalt einer Aktualisierung derHandlung, ihrem pragmatischen Anteil, und die Du-Rolle in Gestaltder zugehörigen Schematisierung derselben Handlung, ihrem semioti-schen Anteil. Jeder Handelnde verfügt im Vollzug auch über ein ›Bild‹seiner Handlung ebenso wie jeder Redende beim Reden auch darüberverfügt, was er damit ›meint‹. Dann nämlich ist die Konfrontation mitdem regelmäßig davon verschiedenen Verstehen des Handelns undRedens seitens der handelnd und redend darauf Reagierenden über-haupt erst artikulierbar. Das aber ermöglicht einen Prozeß des Von-einander-Lernens, in dem die Konfrontation in eine Folge immer

11 Zuletzt in den beiden Aufsätzen Lorenz 1997 [in diesem Band pp 72–93] undLorenz 2000 [in diesem Band pp 118–141].

Die Wiedervereinigung von theoretischer und praktischer Rationalität 155

Page 162: Dialogischer Konstr uktivismus

wieder neuer Auseinandersetzungen im Sinne verallgemeinerter Dia-loge, auf der Sprach- und auf der Handlungsebene, verwandelt wird.

Aktualisierungen als sowohl aktive als auch singulare Handlungs-vollzüge, und Schematisierungen als sowohl passive als auch universaleHandlungsbilder im Sinne eines ›wissen, was man tut‹ sind nicht selbstGegenstände sondern Verfahren, mit deren Hilfe partikulare Gegen-stände, z.B. Dinge oder Ereignisse, zugänglich werden. Sie werdenunmittelbar zugänglich im aneignenden Umgang, der Pragmatisierungdurch einen Handlungsvollzug, z.B. indem man das fragliche Dinganfaßt, und sie werden mittelbar zugänglich im distanzierenden Auf-fassen, der Semiotisierung durch ein Handlungsbild, z.B. indem maneine Zeichnung des fraglichen Dings anfertigt. Aktualisierungen sindnur im Blick auf ihr Schema, und das heißt als etwas, verstanden; ent-sprechend ist ein Schema nur in seinen Aktualisierungen vorhanden,und das heißt, es wird durch etwas realisiert.

Wenn sowohl in Aktion und Reaktion als auch in Rede undAntwort jeder der Beteiligten in seinen beiden dialogischen Rollenbeachtet wird, die man zusammengefaßt als eine Ich-Du-Dyade be-zeichnen kann, bleibt der dialogische Charakter der menschlichenExistenz, das Vermögen zu praktischer und theoretischer Rationalität,nicht mehr verborgen. Der Agierende ebenso wie der Reagierende istin seiner Ich-Rolle jemand, der etwas tut, und in seiner Du-Rollejemand, der dabei weiß, was er tut. Die Realisierung des Vermögens zurRationalität im Prozeß des Voneinander-Lernens, der als Bildungs-prozeß für die dialogische Dyade Ich-Du begriffen werden kann, istnichts anderes als die Überführung des von der dialogischen Philosophienur dargestellten komplexen Wechselspiels von Aneignung und Dis-tanzierung in Lebenszusammenhänge, also eine Aneignung logischhöherer Stufe. In ihr findet ›gegenseitige‹ Selbsterziehung statt, währendder beide Seiten der dialogischen Dyade durch Übernahme der Rolledes Gegenübers im Zuge der Ausbildung einer weiteren Stufe vonIndividuation und Sozialisation ihre Lebensweisen und Weltbilder neubestimmen.

Mit der Übernahme der Rolle des Gegenübers erwerben beideSeiten der dialogischen Dyade ein ›Selbstverhältnis‹, lernen also – unddas ist die Pointe der Selbsterziehung – , mit der Ich-Du-Dyade selbstumzugehen. Die Übernahme selbst ist nichts anderes als die aneignendeGestalt des Selbstverhältnisses, wie es aus der Ich-Perspektive erscheint:Ich wird durch Aneignung von Ich-Du zu einem ›Subjekt‹. Ein Subjektoder – in älterer Terminologie – eine Person zeichnet sich dadurch aus,

Dialogischer Konstruktivismus156

Page 163: Dialogischer Konstr uktivismus

daß ihm beide dialogische Rollen zur Verfügung stehen. Es vermagdaher sowohl als individuelles Subjekt als auch als soziales Subjekt ge-genwärtig zu sein. Zugleich aber findet das Selbstverhältnis auch aus derDu-Perspektive statt. In diesem Fall ist seine Gestalt distanzierend: Duwird durch Distanzierung von Ich-Du zur ›dritten Person‹. Im so zueinem ›Objekt‹ gewordenen Gegenüber treten auch die beiden dialo-gischen Rollen vergegenständlicht auf, die Ich-Rolle als Präferenzenoder Lebensweisen und die Du-Rolle als Überzeugungen (engl. beliefs)oder Weltansichten. In der Selbsterziehung werden daher die Lebens-weisen und Weltansichten nicht schlicht gebildet, sondern in einer re-flexiven Wendung zugleich einem Prozeß ständiger Wandlung unter-worfen.

Abschließend mag es nützlich sein, noch darauf aufmerksam zumachen, daß das Voneinander-Lernen bloß ›objektiv‹ beobachtendnicht von der Selbstaufgabe beziehungsweise der Selbstdurchsetzungeines der beiden Subjekte unterschieden werden kann. In der Beob-achtung, also distanziert, sind nämlich auch die Subjekte nur Objekte,wenn auch besondere, nämlich die von den Humanwissenschaftenuntersuchten. Um seitens eines Dritten vom Voneinander-Lernen etwaszu wissen, bedarf es des Durchgangs durch subjektive Aneignung auchauf seiten des Dritten, gleichgültig ob er ›nur‹ beobachtet oder auchteilnimmt, und damit muß er sich eingestehen, ebenfalls in einen Prozeßdes Voneinander-Lernens eingetreten zu sein. Die Entdeckung vonetwas Fremdem im anderen ist nur im Finden von etwas Fremdem insich selbst immun gegen voreiliges Verstehen oder eilfertiges Sich-ihm-Hingeben. Die lernend vollzogene Aneignung von etwas Fremdem hatstets ihr Gegenbild in der dabei durch Distanzierung vollzogenenVerfremdung von etwas Eigenem. Man kann dies auch so ausdrücken,daß im Wechselspiel von Aneignung im Vollzug und von Distanzierungbeim Sich-ein-Bild-Machen das Voneinander-Lernen seinerseits be-greifbar wird; in einfachen Worten: Wir können lernen, ›aufmerksam‹zu leben. Dann wissen wir wieder, daß bewußt zu leben heißt, denProzeß unabschließbarer Auseinandersetzung, in dem wir uns befinden,nicht zu verleugnen.

Die Wiedervereinigung von theoretischer und praktischer Rationalität 157

Page 164: Dialogischer Konstr uktivismus

Literaturverzeichnis

Arendt, Hannah, 1958: The Human Condition, Chicago.Buber, Martin, 41979: Das dialogische Pinzip, Heidelberg.Cassirer, Ernst, 1944: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of

Human Culture, New Haven.Dewey, John, 1930: The Quest for Certainty. A Study of the Relation of

Knowledge and Action, London.Lorenz, Kuno, 1990: Einführung in die philosophische Anthropologie,

Darmstadt.Lorenz, Kuno, 1992: Das dialogische Prinzip in der Philosophie. Ein Beitrag

zur Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung, in: Entwicklungen dermethodischen Philosophie, hg. v. Peter Janich, Frankfurt am Main, pp 47–53.

Lorenz, Kuno, 1997: Rede zwischen Aktion und Kognition, in: Sprache undDenken/Language and Thought, hg. v. Alex Burri, Berlin/New York, pp139–156.

Lorenz, Kuno, 2000: Sinnbestimmung und Geltungssicherung. Ein Beitrag zurSprachlogik, in: Formen der Argumentation, hg. v. Geert-Lueke Lueken,Leipzig, pp 87–106.

Lorenz, Kuno, 2001: Dynamis und Energeia. Zur Aktualität eines begrifflichenWerkzeugs von Aristoteles, in: Potentialität und Possibilität. Modalaussa-gen in der Geschichte der Metaphysik, hg. v. Thomas Buchheim/CorneilleH. Kneepkens/Kuno Lorenz, Stuttgart-Bad Cannstatt.

PU, = Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, dt./engl. ,Oxford 1953.

Scheler, Max, 1928: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt.

Dialogischer Konstruktivismus158

Page 165: Dialogischer Konstr uktivismus

Das Vorgefundene und das Hervorgebrachte

Mit den beiden Schlüsselbegriffen des Titels, ›hervorgebracht‹ und›vorgefunden‹, möchte ich auf zwei leitende Interessen schon der beidenBegründer der Erlanger Schule des Konstruktivismus aufmerksam ma-chen. Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen haben sie, genauso wiederen erste Schüler, Jürgen Mittelstraß und ich selbst, mit unter-schiedlichem Gewicht verfolgt, ohne daß in den ersten Jahren, undwohl weithin auch heute noch, deren dualer Charakter klar begriffenworden wäre.

Zwar war und ist allen Beteiligten einsichtig, daß man auf der einenSeite zum Verstehen von Vorgefundenem, etwa wissenschaftlichemWissen, unentrinnbar auf eigene Anstrengungen, ein erneutes Her-vorbringen, angewiesen ist, und daß es auf der anderen Seite gleichwohlanmaßend wäre zu glauben, man könnte etwas grundsätzlich besserverstehen als diejenigen, die sich vor uns – und neben uns – denselbenAnstrengungen unterzogen haben. Aber daß in dieser Einsicht, geradeaufgrund ihres scheinbar widersprüchlichen Charakters, selbst eintheoretisches Problem verborgen ist, dessen Bearbeitung, selbst dann,wenn man sich dessen nicht bewußt ist, die maßgebliche Triebfederjeder Art Entwicklung bildet, auch die der Erlanger Schule, das möchteich mit den folgenden Überlegungen deutlicher zu machen versuchen.

Wenn wir beginnen, unseren eigenen Weg zu bahnen, zum Wissenund von dort weiter zum wissenschaftlichen, also begründeten Wissen,so bemerken wir zugleich, daß schon längst Wege da sind und offen-sichtlich mehr oder weniger erfolgreich begangen werden. Unversehenswird dem Theoretiker der eigene Weg zu einem Weg logisch zweiterOrdnung, zum ›kritischen‹ Weg, auf dem mit eigens hervorgebrachtenund als zuverlässig erkannten Instrumenten untersucht wird, welche derbereits vorgefundenen Wege in Sackgassen enden und welche nicht,beziehungsweise welche Strategien einzuschlagen sind, um an mögli-chen Abzweigungen Kriterien für die ›richtige‹ Wahl zu haben. DenkenSie nur an die Anstrengungen Kants, den Aporien zu entgehen, in diedogmatischer Rationalismus und skeptischer Empirismus in der Er-kenntnistheorie führen. Der Weg des Theoretikers wird zu einem Weghin zum Wissen des bereits Vorgefundenen, und auch der vermeintliche

Page 166: Dialogischer Konstr uktivismus

Befreiungsschlag, nicht dem vorgefundenen Wissen gegenüber sichkritisch zu verhalten, sondern die vorgefundene Welt der unbearbei-teten Natur oder die der bereits bearbeiteten, in Kultur überführtenNatur, zum Gegenstand des eigenen Wegs zu machen, entpuppt sich beigenauerem Hinsehen als Don-Quijoterie, ist doch die Welt, in der wirleben, längst eine bereits vielfältig erschlossene, in Kategorien unsererAltvorderen erfaßte, derer auch wir uns unvermeidlich bedienen, wennwir beginnen. Der bloß theoretische Weg bleibt vorgefundenem Wis-sen ausgeliefert, gleichgültig, wie ›kritisch‹ man dabei verfährt.

In der Logischen Prop�deutik, der von Wilhelm Kamlah und PaulLorenzen verfaßten Programmschrift der Erlanger Schule, war auf dieseDiagnose so reagiert worden, daß selbstverständlich nur wissenschaft-liches Wissen noch einmal ab ovo hervorzubringen, nämlich zu ›kon-struieren‹, sei, was für das vorgefundene wissenschaftliche Wissen be-deutet, es zu rekonstruieren, und zwar durchaus in dem von RudolfCarnap einst in seinem Der logische Aufbau der Welt erläuterten Sinn einer„rationalen Nachkonstruktion“,1 nur eben ausdrücklich beschränkt aufdas wissenschaftliche Wissen. Die Verwurzelung wissenschaftlichenWissens in einer längst sprachlich erschlossenen Welt – und übrigensauch handelnd erschlossenen, obwohl anfangs das in Erlangen nochnicht deutlich unterschieden wurde, man ähnlich wie auch Wittgen-stein Handlungen und Sprachhandlungen als ein begrifflich nichtvoneinander zu trennendes Geflecht angesehen hatte – ist unhinter-gehbar: Die Konstruktivisten der Erlanger Schule treten in den WortenKamlahs nicht als ›Anfänger‹ sondern als ›enttäuschte Kenner‹ auf; siebeginnen „inmitten und mit Hilfe unserer Umgangssprache“.2 Lorenzenhatte für dieselbe Einsicht den berühmten Vergleich von Otto Neuratham Ende von dessen Aufsatz Foundations of the social sciences, daß dieArbeit an wissenschaftlichem Wissen dem Umbau eines Schiffes aufhoher See gleiche,3 radikalisiert und erklärt, daß sogar das ursprünglicheSchiff gänzlich auf hoher See gebaut worden sein müsse, schwimmendTreibholz und damit unsere lebensweltlichen Fertigkeiten nutzend, daes ein Trockendock offensichtlich nirgends gebe. Die Arbeit an einer fürdie Hochstilisierung zu Wissenschaftssprachen tauglichen elementarenSprache sei es, mit der sich das zur Alltagswelt gehörige Können auchjenseits seiner Ausübung und damit situationsunabhängig artikulieren

1 Carnap 1928, p IX.2 Kamlah/Lorenzen 1973, p 27.3 Cf. Neurath 1944, p 47.

Dialogischer Konstruktivismus160

Page 167: Dialogischer Konstr uktivismus

lasse, und mit dieser Arbeit an einer als Normierung – bei Willard V. O.Quine in Word and Object „regimentation“4 – der Umgangssprachedeutbaren ›Orthosprache‹ habe die Konstruktion wissenschaftlichenWissens zu beginnen.

Hier wird eine Differenz in der Sichtweise Kamlahs und Lorenzensgegenüber ihrer als ein philosophischer Dialog begriffenen Zusam-menarbeit deutlich, die nach meiner Überzeugung zugleich die Quellesowohl für die Fruchtbarkeit als auch für die Grenzen dieser Zusam-menarbeit gewesen ist. Ich spiele natürlich an auf die eher verschleierndals erhellend in das Vorwort zur 2. Auflage der Logischen Prop�deutikeingefügten Sätze über die Schritte zu einer ›praktischen Hauptschule‹,die nach der ›logischen Vorschule‹ gegangen wurden, von Kamlah inseiner sprachkritische Grundlegung und Ethik umfassenden Philosophi-schen Anthropologie und von Lorenzen in der zusammen mit OswaldSchwemmer verfaßten Konstruktiven Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie.Kamlah läßt einer normativen Pflichtethik, wie sie Lorenzen allein fürbegründbar und damit vernünftig hält, noch eine eudämonistischeGüterethik als ars vitae folgen, die Lorenzen wiederum für nicht mehrim strengen Sinn begründbar hielt, was offenbar auch den Dialogzwischen Kamlah und Lorenzen zunehmend behindert hat. So erklärtLorenzen, daß nach seinem Verständnis des Konstruktivismus nur das ander Geschichte der Beantwortung einer Frage als vernünftig geltenkann, was sich einer logischen Genese der Antwort auf die betreffendeFrage erschließt, also einer systematisch einsichtigen Schrittfolge unab-hängig von eventuellen historischen Um- und Irrwegen. Kamlah wie-derum würde darauf insistieren, daß schon zum Verständnis einer his-torisch überlieferten Fragestellung die Kenntnis der faktischen Schritteeines Versuchs ihrer Beantwortung zumeist unerläßlich ist. Selbst ver-meintlich neue Fragen haben einen in diesem Fall noch verborgengebliebenen geschichtlichen Hintergrund, den es aufzudecken gelte,wäre es doch eine unzulässige Vereinfachung, die Lebenswelt als einezeitlich ungegliederte bloße Gegenwart aufzufassen.

Kamlah ist primär am Rekonstruktionscharakter einer Konstruktionwissenschaftlichen Wissens interessiert, also wie sich die Traditionverstehen läßt, in der wir mit unserem Wissen stehen, wie es die Na-turwissenschaften und die Kulturwissenschaften in historischer Per-spektive quasi organisch – also mit den unvermeidlichen Abänderungenoder gar Brüchen – hervorgebracht haben, und er sieht dieses so ge-

4 Quine 1960, chap. V.

Das Vorgefundene und das Hervorgebrachte 161

Page 168: Dialogischer Konstr uktivismus

wonnene Verständnis, das den Inhalt des b¸or heyqgtijºr ausmacht,ganz aristotelisch im Dienst praktischer Lebensführung, der ars vitae, wieer es nennt. Für Lorenzen hingegen ist die Rekonstruktionsleistung eherein willkommenes und auch nützliches super additum, das Konstruierenwissenschaftlichen Wissens selbst steht für ihn im Mittelpunkt, und zwaridealiter im vernünftigen Gespräch und auf der Grundlage einer alsgemeinsam unterstellten Lebenswelt des Sprechens und Tuns mit demZiel, für beide Bereiche wissenschaftliche Hochstilisierungen zu ge-winnen, die eben diese Lebenswelt allgemein lebenswerter machen. Eswäre Lorenzen nicht in den Sinn gekommen, in der Unterstellung einergemeinsamen Lebenswelt selbst ein begründbarer Auflösung zugängli-ches Problem zu sehen.

In beiden Fällen aber, und das ist charakteristisch für die ErlangerSchule, ist der b¸or heyqgtijºr um einen b¸or pqajtijºr ergänzt wor-den, jedoch auf verschiedene Weise: bei Kamlah soll wissenschaftlichesWissen primär dem je individuellen Lebenkönnen dienen, bei Lorenzenprimär dem sozialen Zusammenlebenkönnen. Darüber hinaus baut daswissenschaftliche Wissen bei Lorenzen auf einer Praxis auf der Dar-stellungsebene auf – es sind ja nicht die Konstruktionen selbst, die zumGegenstand des Wissens werden, sondern die Konstruktionsverfahrenbeziehungsweise Konstruktionsmçglichkeiten, wie sie etwa in Regelnnotiert werden, z.B. bei der Konstruktion der Grundzahlen. Erst kraftDarstellung kommt es zu einer schematischen Allgemeinheit des Dar-gestellten, partikulare Konstruktionsschritte wären uninteressant. BeiKamlah wiederum hat das wissenschaftliche Wissen vorgefundenesWissen zum Gegenstand, das man mit dem Mittel von Rekonstruk-tionen versteht. Die Vernunft wird bei Lorenzen als eine primär tätigeVernunft verstanden, bei Kamlah hingegen als eine primär verneh-mende Vernunft.

Es ist auffällig, wie sich in der Geschichte der Erlanger Schule einePolarität ihrer Gründer wiederholt, die ganz ähnlich bereits in derAnalytischen Philosophie in der Polarität von Bertrand Russell undGeorge Edward Moore bestand und auch dort die Triebfeder für dieweitere Entwicklung bildete. Auch Russell ging es primär um dieKonstruktion einer für die Einzelwissenschaften – zunächst Mathematikund Physik – tauglichen Wissenschaftssprache aus der Umgangssprache,während sich Moore ganz auf die Sprache der philosophischen Tradi-tion konzentrierte und deren Bedeutung mit den Mitteln der Um-gangssprache zu explizieren suchte. Das Mittel einer logischen Analyseder Sprache, entwickelt in der Analytischen Philosophie nach dem

Dialogischer Konstruktivismus162

Page 169: Dialogischer Konstr uktivismus

Vorbild Gottlob Freges, bleibt das entscheidende Instrument auch in derErlanger Schule.

Der Unterschied zwischen dem Konstruktivismus in der Analyti-schen Philosophie und dem Konstruktivismus in der Erlanger Schulewird erst sichtbar, wenn man die leitenden philosophischen Prämissenaufsucht, die im Falle der Analytischen Philosophie vor ihrem Rückzugauf formalistische Positionen von einem erkenntnistheoretischen Rea-lismus gespeist werden – es gilt, die nicht-sprachliche Welt der über-lieferten natural philosophy und moral philosophy zuverlässig, nämlichmit dem Mittel einer logisch gereinigten Sprache, zu beschreiben – ,während die Erlanger Schule mit Kant davon überzeugt ist, daß „dieVernunft nur das ein[sieht], was sie selbst nach ihrem Entwurfe her-vorbringt“.5 Das aber kann als ein erkenntnistheoretischer Pragmatismusbezeichnet werden, dem in der Zeit zwischen Kant und der ErlangerSchule am Konsequentesten Charles Sanders Peirce gefolgt ist, und zwarnicht nur auf der Darstellungsebene, sondern auch auf der Objektebeneund damit ohne die für den Anfang der Erlanger Schule charakteristi-sche Beschränkung des Wissens auf wissenschaftliches Wissen, das mitkeiner Infragestellung des Alltagswissens verbunden ist. Natürlich kanndann das Alltagswissen auch mit keinerlei Geltungsansprüchen ver-bunden werden.

Die Polaritäten sind gleichwohl in beiden Fällen von der gleichenArt. Wenn Lorenzen die Vernunft als eine tätige versteht, so bringt sieetwas in Gestalt von Konstruktionen hervor; bei Kamlah hingegen istsie eine Vorgefundenes vernehmende. Bei Russell sollte man davonsprechen, daß die Vernunft (sprachliche) Formen hervorbringt, wäh-rend sie bei Moore damit befaßt ist, (sprachliche) Inhalte vorzufinden.Es ist dann nur noch ein kurzer Schritt hin zu der Einsicht, daß wir esbei beiden Polaritäten mit der dialogischen Polarität von ›Agent‹ und›Patient‹ zu tun haben, eine Polarität, die auch der Differenz von Praxisund Theorie, ebenso wie der von Können und Erkennen (und nicht dervon Anschauung und Begriff, die beide nur der Erkenntnis, also theo-retischen Erfahrung, und nicht dem Können oder der praktischen Er-fahrung dienen), zugrundeliegt.

Die technischen Ausdrücke ›Agent‹ und ›Patient‹ habe ich gewählt,zum einen um klar zu machen, daß es nicht nur um verbale Dialogegeht, die sich in Frage und Antwort, Reden und Verstehen, Behauptenund Bestreiten usw. abspielen, sondern auch um non-verbale Dialoge,

5 KrV, B XIII.

Das Vorgefundene und das Hervorgebrachte 163

Page 170: Dialogischer Konstr uktivismus

etwa des Agierens und Reagierens, des Lehrens und Lernens, des An-greifens und Verteidigens usw., zum anderen aber, um ebenfalls klar zumachen, daß es dabei um zwei dialogische Rollen im Handeln undnicht um zwei Personen geht. Es läßt sich sogar relativ leicht klar ma-chen, daß es, um eine Person zu sein, entscheidend ist, über beideRollen verfügen zu können.

Die Rolle des Agenten ist aktiv, ich nenne sie die Ich-Rolle – hierhat das Hervorbringen seinen Ursprung: die Handlung wird vollzogen– , während die Rolle des Patienten passiv ist, ich nenne sie deshalb dieDu-Rolle – hier wiederum hat das Vorfinden seinen Ursprung: dieselbeHandlung wird erlebt – , und es entspricht durchaus meiner Absicht,wenn man bei dem Ausdruck ›erleben‹ einen terminologischen Bezugherstellt sowohl zu Wilhelm Dilthey als auch zu Moritz Schlick, der sichbei seiner Gegenüberstellung von Erleben und Erkennen auf Diltheyberufen hat. Man darf aber die Unterscheidung zwischen Vollziehenund Erleben, die sich mit dem Unterschied von ›singular‹ und ›universal‹erfassen läßt, nicht mit der Gegenüberstellung von Instanz (token) undSchema (type) verwechseln, die ein empirisches Partikulare von einemrationalen Partikulare sondern. Diese beiden Sorten von Partikulariagehen durch die Operationen der Abstraktion bzw. Konkretion aus-einander hervor.

Wir haben damit den systematischen Ort für das dialogische Prinzipgefunden, das relativ spät erst neben dem methodischen Prinzip alsCharakteristikum für das Vorgehen der Erlanger Schule des Konstruk-tivismus formuliert worden ist, wobei gerade das relative Gewicht derbeiden Prinzipien in der konkreten philosophischen Arbeit über diebesondere Ausprägung des vertretenen Konstruktivismus entscheidet.Die derzeit noch immer kanonische Formulierung des Dialogprinzipsim Artikel Konstruktivismus des 2. Bandes der Enzyklop�die Philosophieund Wissenschaftstheorie lautet:

Im Falle des Primats des dialogischen Prinzips soll das Auseinandertretenvon Handeln und Sprechen [d.h. Zeichenhandeln] in Gestalt einer logi-schen (also weder faktisch historischen noch normativen, vielmehr allein(Handlungs-)Möglichkeiten aufzeigenden) Genese aus dialogischen Ele-mentarsituationen […] so vorgeführt werden, daß der menschlicheHandlungsspielraum zunehmend differenzierter bestimmbar wird […].6

Es hat noch Jahre gedauert, bis das systematische Gewicht des dialogi-schen Prinzips erkennbar wurde. Schließlich war zunächst einmal die

6 Thiel 1984, p 451.

Dialogischer Konstruktivismus164

Page 171: Dialogischer Konstr uktivismus

Zurückführung des theoretischen Geltungsproblems – im Zusammen-hang der Fragen nach dem Sein und nach dem Sollen – auf technischesKönnen und praktisches Wollen für die Behandlung wissenschafts-theoretischer Fragestellungen im Erlanger Konstruktivismus charakte-ristisch und hat eine Fülle von zu bewältigenden Aufgaben beschert, diesich unter dem Primat des methodischen Prinzips auch gut bearbeitenließen. So kommt es, daß zum Beispiel noch immer unterschätzt wird,welche Einschränkung es darstellt, die Unterscheidung theoretischerund praktischer Vernunft in grundsätzlicher Übereinstimmung mit denGründern der Erlanger Schule allein auf der Sprachebene anzusiedeln,nämlich anhand der Unterscheidung deskriptiver von normativen Sät-zen; sie wird dann nur für die Unterscheidung der Naturwissenschaftenvon den Kulturwissenschaften relevant, nicht aber für die UnterscheidungNatur-Kultur. Um auch dafür die Mittel an die Hand zu bekommen, istes notwendig, über die Unterscheidung zwischen [bezeichnetem] Ge-genstand und Zeichen [für einen Gegenstand] zu verfügen, und zwarausgehend von der besonderen Unterscheidung zwischen Handlungenund Zeichenhandlungen. Gerade an Zeichenhandlungen, aber sogar angewöhnlichen Handlungen, läßt sich klar machen, daß sie als Zeicheneinen theoretischen Status, als Handlungen hingegen einen praktischenStatus haben: als Handlungen nämlich greifen sie in ein Geschehen ein,als Zeichen hingegen tun sie das nicht, sondern spielen eine kommu-nikative Rolle. Wer Kommunikation ebenfalls als eingreifendes Han-deln versteht – auf der kognitiven Ebene und nicht auf der behavi-oralen, sagt man dann, und weiß vermutlich nicht, was man eigentlichgesagt hat – , hat strategisches Handeln mit kommunikativem Handelnverwechselt. Leider ist das heutzutage an der Tagesordnung.

Um auch dieses Problem im Geiste des Erlanger Konstruktivismuszu behandeln, jetzt aber unter Ausnutzung der gesamten Kraft desdialogischen Prinzips, darf die Verläßlichkeit der Lebenswelt nicht wiezu Beginn der Erlanger Schule einfach hingenommen werden. Dieallgemeine Ich-Du-Invarianz, unter der gewöhnlich von Handlungenund Zeichenhandlungen und natürlich erst recht von Gegenständen imallgemeinen die Rede ist, sollte infragegestellt werden. Es ist philoso-phischer Leichtsinn, die Annahme für unhintergehbar zu halten, Ge-genstände – und mit ihnen die Handlungen und Zeichenhandlungen –seien unabhängig von der Zugangsweise zu ihnen wohlbestimmt. Wennjemand über etwas spricht oder etwas tut, so wird zwar unterstellt, daßdas, worüber er spricht und was er tut, sich von jedem anderen alsdasselbe identifizieren läßt, aber jedes Mißverständnis belegt, daß diese

Das Vorgefundene und das Hervorgebrachte 165

Page 172: Dialogischer Konstr uktivismus

Unterstellung nichts anderes als eine Unterstellung ist, die ausdrückli-cher Maßnahmen bedarf, um sie als berechtigt nachweisen zu können.

Weder läßt sich ohne weiteres vertreten, die Gegenstände seienjedem Menschen als ›dieselben‹ gegeben, noch dürfen die Handlungs-mittel, die wir jeweils einsetzen, um mit ihrer Hilfe Erfahrungen zusammeln, ohne weiteres für von jedem als ›dieselben‹ erzeugt gehaltenwerden. Die Erfahrungen, die ich im Umgang mit Gegenständen undüber sie sprechend mache, sind zunächst ›meine‹ Erfahrungen, es seidenn, es gelingt, sie derart in ›deine‹ Erfahrungen zu überführen, daß inbeiden Fällen es ›gleichartige‹ Erfahrungen mit ›denselben‹ Gegenstän-den sind. Und dazu bedarf es wiederum geeigneter Handlungsmittel, diesich auf das Erfahrungen-Machen selbst richten, und zwar so, daß Ich-Du-Invarianz von vornherein gesichert ist. Es ist dieses reflektierendeHandeln, das es aus seiner mentalen Gefangenschaft zu befreien unddialogisch zu verankern gilt, um es schließlich allgemein verfügbarmachen zu können. Ganz nebenher wird sich so auch das methodo-logische Problem des Selbstbezugs auflösen lassen.

Die Aufgabe lautet, einen Aufbauprozeß so zu entwerfen, daß ersich als Modell dafür eignet, wie schrittweise zunehmend komplexereHandlungen und Sprachhandlungen gewonnen werden, mit denen manzeigen kann, was es heißt, Erfahrungen einerseits zu machen und an-dererseits zu teilen. Das schließt praktische Erfahrungen, die sich ineinem Können niederschlagen und sowohl Ich-Erfahrungen (z.B.Fahrradfahren) als auch Wir-Erfahrungen (z.B. Chorsingen) betreffen,ebenso ein wie grundsätzlich nur als Ich-Erfahrungen auftretendetheoretische Erfahrungen, die zu einem Wissen führen. Der Aufbau-prozeß ist deshalb von vornherein als ein rationales Modell dialogischerKonstruktion von Handlungen und Sprachhandlungen in Gestalt eigen-ständiger Gegenstände konzipiert, und zwar so, daß sie als Mittel dafürtaugen, die grundsätzlich nicht nur individuell sondern auch sozial be-reits verfügbare und dabei sich in einem Prozeß ständiger Erweiterungbefindende Erfahrung von einer ihrerseits durch Erfahrung, also ›em-pirisch‹, für gegeben gehaltenen Gegenstandswelt nachschaffend inihren Grundzügen noch einmal zu machen.

Ein solches, dem ursprünglichen Erlanger Konstruktivismusgrundsätzlich folgendes Unternehmen auf der Darstellungsebene –darum handelt es sich jetzt bei dem Modell dialogischer Konstruktion,auch wenn dies wegen Vernachlässigung des dialogischen Charaktersder vorgeschlagenen Konstruktionen anfangs selten begrifflich sorgfältigartikuliert worden ist – hat erst dann Aussicht auf Erfolg, wenn man

Dialogischer Konstruktivismus166

Page 173: Dialogischer Konstr uktivismus

jeweils beurteilen kann, in welchem Maß die mögliche Wiederholungbereits gemachter Erfahrung mit dieser übereinstimmt oder von ihrabweicht, die dialogische Konstruktion daher als ein Maßstab für dasErfahrungen-Machen taugt. Das aber setzt wiederum voraus, über einausdrückliches Verständnis von den Schritten zu verfügen, mit denendas längst von jedem im Alltag und nicht nur dort vollzogene Erfah-rungen-Machen vonstatten geht, was wiederum ohne eine Rekon-struktion auch des Erfahrungen-Teilens unmöglich ist. Es müßte an-dernfalls offenbleiben, ob überhaupt Erfahrungen vorliegen und nichtetwa bloß für Erfahrung Gehaltenes.

Es bedarf als Komplement des Aufbauprozesses auf der Darstel-lungsebene eines Abbauprozesses auf der Gegenstandsebene mittelsHandlungen und Zeichenhandlungen, insbesondere den verbalenSprachhandlungen, deren Ausübung die Fülle der bereits vorliegendenund als allgemein Ich-Du-invariant unterstellten Gliederungen derGegenstandswelt schrittweise aufhebt. Mit jedem dieser Schritte inGestalt zunächst einfacher Handlungen als Mittel – anschließend tretenmit komplexeren Handlungsmitteln auch die Sprachhandlungen hinzu– wird jeweils eine in den Vordergrund gebrachte Gliederung in einenErfahrungsschritt verwandelt, um so diese Schritte je für sich und dannin ihrem Zusammenwirken für Ich und für Du und schließlich für jedenverständlich werden zu lassen. Der Abbauprozeß tritt als ein rationalesVerfahren ph�nomenologischer Reduktion auf, der sich genau derjenigenHandlungen und Sprachhandlungen als Mittel bedienen muß, die in derdialogischen Konstruktion als Gegenstände dargestellt sind, soll dasModell dialogischer Konstruktion zu einer Rekonstruktion der Erfah-rung von Objekten für Subjekte führen.

Die im Aufbauprozeß möglicher Erfahrung auftretenden elemen-taren Bausteine müssen, verwandelt in Verfahrensschritte, im Abbau-prozeß derselben Erfahrung als einer bereits wirklichen wiederkehren.Es ist daher entscheidend, auf den eigentümlichen Statuswechsel zuachten, dem die Bausteine unterworfen sind: Handlungen als Gegen-stände im Aufbauprozeß und Handlungen als Mittel und damit funk-tional im Abbauprozeß. Begrifflich wird Erfahrung erst durch ihreKonstruktion möglich, sachlich aber geht Erfahrung ihrer Rekon-struktion voraus: Lorenzen besteht darauf, daß etwas erst dann alswissenschaftliches Wissen identifizierbar ist, wenn sich dafür eineKonstruktion angeben läßt, während Kamlah es wünscht, für bereitsgemachte (wissenschaftsfähige, nämlich als allgemein nachweisbare)

Das Vorgefundene und das Hervorgebrachte 167

Page 174: Dialogischer Konstr uktivismus

Erfahrungen eine wissenschaftlich zuverlässige Rekonstruktion zu ge-winnen.

Vor allem Peirce ist es zu verdanken, daß anstelle der die neuzeit-liche Philosophie beherrschenden Subjekt-Objekt-Differenz, die eineFolge des Übergangs von primär ontologischen Fragestellungen zuprimär epistemologischen gewesen ist, die weder allein Subjekten nochallein Objekten zuzurechnenden Handlungen ins Zentrum der Bemü-hungen um eine Rekonstruktion der Erfahrung gerückt sind. Hand-lungen gänzlich Subjekten zuzuschreiben, würde ihre Ausübung derVerfügbarkeit des Handelnden überantworten und die Bedingungenunterschlagen, unter denen allein sich Handlungen in einer Situationausüben lassen. Will man gleichwohl eine Handlung allein Subjektenzuschreiben, so haben wir es nicht mit einer Handlung zu tun, sondernmit einer ›Handlungskompetenz‹, und man spricht vom Ausüben-Kçnnen. Realisierungen eines Könnens aber stehen unter Bedingungen,über die ein Subjekt regelmäßig nicht mehr verfügt. Ganz entsprechendwürde eine umstandslose Eingliederung der Handlungen in den Bereichder Objekte von der Beteiligung der Subjekte an ihrem Entstehen ab-sehen. In diesem Fall wäre von einer ›Handlungsausübung‹ oder einemAkt ausschließlich im Sinne des gegenständlichen Resultats einerHandlung und nicht in statu agendi die Rede. Die ›Ausübung einerHandlungskompetenz‹ hat einen Objekt- und einen Subjektanteil je-weils in Gestalt eines Aktes und der Kompetenz, weitere gleichartigeAkte erzeugen zu können.

So fraglos man Handlungen daher als Gegenstände ansehen kann,denen man sich zuwendet, wie anderen Gegenständen auch – Aktelassen sich wahrnehmen, photographieren, klassifizieren oder anderswissenschaftlich untersuchen – , so unerläßlich ist es dann, sie als Ge-genstände eigenständiger sprachlicher und nichtsprachlicher Handlun-gen an Objekten zu begreifen. Diese Handlungen an Objekten tretenjedoch im Zuge ihrer Verwendung keineswegs gegenständlich auf, siesind vielmehr Mittel, um etwas über Gegenstände in Erfahrung zubringen beziehungsweise mit Gegenständen Erfahrungen zu machen.Jeder tut dies von seiner Seite und auf seine Weise, und nur so sindGegenstände verfügbar. Als Handlungen an Objekten treten Handlun-gen funktional auf und haben eine epistemische Rolle, sie treten hin-gegen als Handlungen mit Objekten auf und spielen eine eingreifendeRolle, wenn sie ihrerseits gegenständlich verstanden sind. Jeder Menschist auf beide Rollen von Handlungen angewiesen, will er Erfahrungenmit Gegenständen sowohl machen und teilen als auch sich daraufhin

Dialogischer Konstruktivismus168

Page 175: Dialogischer Konstr uktivismus

ihrer als Mittel für einen Zweck bedienen. Als Mittel für einen Zweckund damit eingreifend treten Handlungsmittel gegenständlich auf; siedürfen daher keinesfalls mit Handlungen als ›Erkenntnismitteln‹ ver-wechselt werden, was Handlungen in epistemischer Rolle voraussetzt,mithin ihren funktionalen Charakter hervorzukehren verlangt.

Gegenstand und Funktion beziehungsweise Mittel – das Mittel imEinsatz und nicht als Gegenstand – sind korrelative Begriffe, mit denensich das Zusammenspiel charakterisieren läßt, das zwischen dem Modelldialogischer Konstruktion, dem Aufbauprozeß, und dem Verfahrenphänomenologischer Reduktion, dem Abbauprozeß, besteht. Innerhalbder Mathematik ist auf diese Korrelation von Gegenstand und Funktionals Dualität von objet und op�ration bereits von Gilles Granger im An-schluß an Jean Cavaillès ausführlich hingewiesen worden7. Man mußsich nur davor hüten, von vornherein Funktionen ihrerseits als Ge-genstände, nämlich Gegenstände logisch zweiter Stufe, einzuführen, wiees in einem streng theoretischen Aufbau der Mathematik geschieht, fürden die mathematische Praxis extern bleibt.

Nun sind Aufbau- und Abbauprozeß, also dialogische Konstruktionund phänomenologische Reduktion, aufs Engste voneinander abhängigund gehören zusammen. Es gibt nicht die Alternative, mit Handlungenentweder gegenständlich oder funktional zu beginnen, und so ist auchdie Wahl gegenstandslos, entweder mit Handlungen logisch grundstufigals (partikularen) Akten oder mit Handlungen logisch metastufig als(partikularen) Kompetenzen den Prozeß einer Rekonstruktion derErfahrung, und zwar nicht mehr beschränkt auf wissenschaftliche Er-fahrung, anfangen zu lassen. Beiden Reduktionsstrategien im gegen-ständlichen Fall, der behavioristischen und der mentalistischen, ist diemethodische Grundlage entzogen; im funktionalen Fall bliebe zudemder Zirkel unauflösbar, einerseits mit den beiden Handlungsrollen zwarfunktional beginnen zu wollen, andererseits jedoch darauf angewiesenzu bleiben, mangels eines Gegenstandes, dem gegenüber die Funktionaufzutreten hätte, das Funktionsein irreduzibel mittels (sprachlicher)Darstellung seinerseits zu vergegenständlichen.

Was übrig bleibt, ist ein Versuch, uns der Herkunft von Hand-lungen zuzuwenden. Sie stehen weder in Gestalt von Akten ›objektiv‹und ›aktuell‹ noch in Gestalt von Kompetenzen ›subjektiv‹ und ›po-tentiell‹ bereits zur Verfügung, sie werden vielmehr gelernt. Und mit dersystematischen Rekonstruktion des Lernens einer Handlung mithilfe

7 Cf. z.B. Granger 1983, Postface (pp 181–193).

Das Vorgefundene und das Hervorgebrachte 169

Page 176: Dialogischer Konstr uktivismus

einer dialogischen Elementarsituation wird, methodologisch verwandt demSprachspielverfahren Wittgensteins, ein Maßstab bereitgestellt, der es zubeurteilen erlaubt, wann und wo tatsächlich Lernprozesse stattfinden –und nicht etwa nur behavioristische, also ›externe‹, Dressur oder men-talistischer, also ›interner‹, Wissenstransfer. Eine dialogische Elemen-tarsituation zum Ausbilden einer Handlungskompetenz, wobei zugleicheine Handlungssituation gewonnen wird, erlaubt es, eine Handlungsowohl gegenständlich als auch funktional auftreten zu lassen. Der ge-genständliche oder ›ontische‹ Charakter einer Handlung, gleichgültig obdabei noch zwischen corporal-externem Gegenstand, dem ›individualact‹ abzüglich seiner Bestimmung als Instanz eines Handlungsschemas,und mental-internem Gegenstand, der mit dem ›generic act‹ gleich-wertigen Handlungskompetenz, unterschieden wird, oder ob beide,(partikulare) Instanz und (generelles) Schema, als zusammengehörigbegriffen werden, ist dabei mit der dialogischen Polarität ihres funk-tionalen Charakters, also der pragmatischen Seite einer Handlung imVollzug und ihrer semiotischen Seite im Erleben – ich nenne das dialo-gische Gegenüber eines Handlungsvollzugs auch gern das Handlungsbild– , allein durch den Wechsel der Blickrichtung verbunden: vom Auf-bauprozeß (einer Handlung als ›idealem‹ Maßstab) zum Abbauprozeß(einer Handlung als ›realem‹ Akt bzw. ›realer‹ Kompetenz) oder um-gekehrt.

Es läßt sich dann zeigen, wie Ontologie, selbst dann, wenn sie in derNeuzeit seit Descartes in physikalisch-naturalistischer oder psycholo-gisch-mentalistischer Einschränkung auftritt, auch in historischer Per-spektive als ein Zusammenspiel von Praxeologie und Epistemologiebzw. Pragmatik und Semiotik begriffen werden kann, und zwar sowohlauf der Ebene der Handlungen als auch auf der Ebene der Sprach-handlungen, die sich als ein eigenständiger Gegenstandsbereich dem-selben Zusammenspiel von Pragmatik und Semiotik auf logisch höhererStufe verdanken.

Aber erst wenn die reale dialogische Elementarsituation und mit ihrdas ausgebildete situationsgebundene Können, die Kompetenz ebensowie die Akte, dem Abbauprozeß phänomenologischer Reduktion un-terworfen werden, läßt sich der ideale Maßstabcharakter der in einemersten Schritt dialogischer Konstruktion gewonnenen Handlung sicht-bar machen. Dies wird erreicht, wenn man sowohl die Akteure als auchdie Situationsbedingungen nicht mehr als bereits vorliegende Gliede-rungen der dialogischen Elementarsituation gelten läßt, man sie viel-mehr als noch vollständig verschmolzen mit der in der Elementarsi-

Dialogischer Konstruktivismus170

Page 177: Dialogischer Konstr uktivismus

tuation und dabei mit deren Hilfe gewonnenen Handlung ›sieht‹, bessereben: nicht mehr sieht. Eine Handlung wird ausgeübt und nichts sonst.Dann aber kann die Ausübung der Handlung auch nicht mehr als einErzeugen von Akten verstanden werden, wären Akte doch partikulareGegenstände, die sowohl von den Akteuren als auch von ihrem situa-tiven Kontext abgetrennt aufträten; ebenso wenig läßt sich in Anbe-tracht der nach der Reduktion von der Elementarsituation nicht mehrunterschiedenen Akteure noch von zwei übereinstimmenden (parti-kularen) Handlungskompetenzen reden. In der phänomenologischenReduktion werden nicht nur den Bezug des Bewußtseins zur Außen-welt betreffende ›Geltungen‹ eingeklammert wie bei Husserl, vielmehrwerden auch alle in der realen Lernsituation als bereits vollzogen auf-tretenden Gliederungsleistungen des Bewußtseins selbst suspendiert, sodaß nur diejenige ausgenommen bleibt, die mit dem Lernen einerHandlung gerade erworben wird.

In der phänomenologisch reduzierten Elementarsituation erscheintdie dialogisch konstruierte Handlung in Gestalt des Vollziehens aufSeiten des jeweils gerade Tätigen, des ›Agenten‹, wie er bereits genanntwurde, und des Erlebens des dabei jeweils gerade Nicht-Tätigen, des›Patienten‹, und damit in ihrer Funktion, die reale Situation zu redu-zieren, und nicht als ein gewöhnlicher partikularer Gegenstand, wederlogisch erster Stufe als ein partikularer Akt noch logisch zweiter Stufe alseine partikulare Kompetenz. Handeln in seiner dialogischen Polaritätvon Vollziehen und Erleben findet unvermittelt statt und bedarf keinerweiteren Handlungen, um verfügbar zu sein. Es ist deshalb auch nichtmöglich, beides, das Vollziehen und das Erleben, näher zu bestimmen,insbesondere auch nicht raumzeitlich: singulares Vollziehen und univer-sales Erleben bleiben ortlos und zeitlos. An die Stelle des Erzeugen-könnens eines Aktes in der realen Elementarsituation tritt in der redu-zierten Elementarsituation das Ausführen einer Handlung im Hand-lungsvollzug, und entsprechend an die Stelle des Wiederholenkönnenseines Aktes das Anführen einer Handlung, was sich im Erleben desHandlungsbildes zeigt. Dabei dürfen die sprachlichen Wendungen›Ausführen einer Handlung‹ anstelle ›Vollziehen‹, und ›Anführen einerHandlung‹ anstelle ›Erleben‹, nicht dazu verführen, Handlungen dochfür (erzeugte/erzeugbare) Gegenstände für jedermann zu halten, die sich(insbesondere) zum Zweck des Ausführens oder Anführens als Mitteleinsetzen ließen. Der Doppelcharakter von Handlungen als Gegenstandund als Funktion wäre dann zugunsten des Primats des partikularenGegenstandes erster oder zweiter Stufe vor der Funktion in der dialo-

Das Vorgefundene und das Hervorgebrachte 171

Page 178: Dialogischer Konstr uktivismus

gischen Gestalt von singularem Handlungsvollzug und universalemHandlungsbild gerade unterschlagen worden.

Vielmehr zieht die Dualität von Gegenstand und Funktion denpolaren Charakter von Vorgefunden und Hervorgebracht auf der Ge-genstandsseite nach sich, während sie auf der Funktionsseite in derdialogischen Gestalt von Erleben und Vollziehen einer Handlung ver-ankert ist. Die gegenständliche, in der cartesischen Zweireichelehre vonres extensa und res cogitans schließlich kulminierende Potenz-Akt-Pola-rität der realen dialogischen Elementarsituation – die ›Wirklichkeit‹ derPotenzen macht geradezu die Wirklichkeit des Mentalen aus, wobeideren logisch höherstufiger Charakter traditionell regelmäßig unerkanntbleibt – hat ihr Gegenbild in der funktionalen Dialektik einer im Vollzugeiner Reduktion als ideale Konstruktion erlebten dialogischen Elemen-tarsituation und damit des rekonstruierenden Handelns.

Das Werkzeug rekonstruierenden Handelns in Gestalt dialogischerElementarsituationen, wie es seit seinem ersten, wenngleich noch un-entwickelten systematischen Einsatz in der Logischen Prop�deutik vertrautist, darf kraft seines selbst sowohl gegenständlichen als auch funktionalenCharakters angesichts der mit ihrer Hilfe gelernten und dabei demselbenDoppelcharakter unterworfenen Handlungen als der Prototyp reflexivenHandelns jenseits jeder Unterscheidung zwischen sprachlichem undnichtsprachlichem Handeln gelten.

Die wissenschaftliche Erfahrung rekonstruierenden Konstruktionender Erlanger Schule unter dem Primat des methodischen Prinzips lassensich um das Erfahrung im allgemeinen rekonstruierende Ineinander-greifen dialogischer Konstruktion und phänomenologischer Reduktionunter dem Primat des dialogischen Prinzips erweitern. Dann erst wirddurchsichtig, wie Denken und Tun in einer ihrerseits theoretisch undpraktisch wirklichen Reflexion auf jeder (gegenständlichen) Ebene, derdes gewöhnlichen Handelns mit dem Denken als Mittel im Einsatzebenso wie der des Zeichenhandelns mit dem Denken auch als Ge-genstand, einem für den Einsatz lediglich bereitstehenden Mittel, auf-einander angewiesen bleiben.

Dialogischer Konstruktivismus172

Page 179: Dialogischer Konstr uktivismus

Literaturverzeichnis

Carnap, Rudolf, 1961: Der logische Aufbau der Welt, Hamburg [Berlin 1928].EPW, = Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg.v. Jürgen

Mittelstraß, 4 Bände, Mannheim 1980–1984. Neubearbeitete u. wesentl.ergänzte Auflage in 8 Bänden, Stuttgart 2005 ff.

Granger, Gilles, 1983: Formal Thought and the Sciences of Man, Dordrecht[engl. Übers. v. Pensée formelle et science de l’homme, Paris 1968].

Kamlah, Wilhelm, 21973: Philosophische Anthropologie. Sprachliche Grund-legung und Ethik, Mannheim [1972].

Kamlah, Wilhelm/Lorenzen, Paul, 21973: Logische Propädeutik. Vorschule desvernünftigen Redens, Mannheim [1967].

KrV, = Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Raymund Schmidt,Hamburg 1956 [Riga 1781, 21787].

Lorenzen, Paul/Schwemmer, Oswald, 21975: Konstruktive Logik, Ethik undWissenschaftstheorie, Mannheim [1973].

Neurath, Otto, 1944: Foundations of the Social Sciences (= InternationalEncyclopedia of Unified Science II,1), in: Foundations of the Unity ofScience. Toward an International Encyclopedia of Unified Science, hg. v.Otto Neurath/Rudolf Carnap/Charles Morris, Volume 2, Chicago 1970,pp 1–51.

Quine, Willard Van Orman, 1960: Word and Object, New York.Thiel, Christian, 1984: Konstruktivismus, in: EPW, Band 2, pp 449–453.

Das Vorgefundene und das Hervorgebrachte 173

Page 180: Dialogischer Konstr uktivismus

Nachweise

1. Dialogischer Konstruktivismus. Erstveröffentlichung in: Kurt Salamun (Hg.),Was ist Philosophie? [UTB 1000], Tübingen 42001, pp 335–352; Wie-derabdruck mit freundlicher Erlaubnis der Mohr Siebeck GmbH & Co. KG,Tübingen.

2. Artikulation und Pr�dikation. Erstveröffentlichung in: M. Dascal/D. Gerhar-dus/K. Lorenz/G. Meggle (Hg.), Sprachphilosophie. Ein internationalesHandbuch zeitgenössischer Forschung, 2. Halbband [HSK 7.2], VerlagWalter de Gruyter, Berlin 1996, pp 1098–1122.

3. Rede zwischen Aktion und Kognition. Erstveröffentlichung in: Alex Burri (Hg.),Sprache und Denken, Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1997, pp 139–156.

4. Grammatik zwischen Psychologie und Logik. Erstveröffentlichung mit demUntertitel ›Überlegungen zur Genese der Sprachkompetenz‹ in: H.E.Wiegand (Hg.), Sprache und Sprachen in den Wissenschaften. Geschichteund Gegenwart, Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1999, pp 27–47.

5. Sinnbestimmung und Geltungssicherung. Erstveröffentlichung mit dem Unter-titel ›Ein Beitrag zur Sprachlogik‹ in: G.-L. Lueken (Hg.), Formen derArgumentation, Leipzig 2000, pp 87–106; Wiederabdruck mit freundlicherErlaubnis der Leipziger Universitätsverlag GmbH – Akademische Verlags-anstalt AVA, Leipzig.

6. Die Wiedervereinigung von theoretischer und praktischer Rationalit�t in einer dia-logischen Philosophie. Erstveröffentlichung in: M. Gutmann/D. Hartmann/M. Weingarten/W. Zitterbarth (Hg.), Kultur-Handlung-Wissenschaft. FürPeter Janich, Weilerswist 2002, pp 201–215; Wiederabdruck mit freund-licher Erlaubnis des Verlags Velbrück Wissenschaft, Frankfurt am Main.

7. Das Vorgefundene und das Hervorgebrachte. Erstveröffentlichung mit demUntertitel ›Zum Hintergrund der ,Erlanger Schule‘ des Konstruktivismus‹in: J. Mittelstraß (Hg.), Der Konstruktivismus in der Philosophie im Aus-gang von Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen, Paderborn 2008, pp 19–31;Wiederabdruck mit freundlicher Erlaubnis der mentis Verlag GmbH,Paderborn.

Page 181: Dialogischer Konstr uktivismus

Personenregister

Apel, K.-O. 25, 30, 68Aphrodisias, A. v. 52Arendt, H. 143, 147, 158Aristoteles, 31, 52, 57, 68, 94, 99,

116, 143-146, 148, 158

Brandom, R. 3Buber, M. 152–154, 158Buchholz, K. 132, 141

Carnap, R. 8, 11, 22, 16, 160, 173Cassirer, E. 26, 69, 74, 112, 145,

158Cavaillès, J. 169Chomsky, N. 25, 69Condillac, É. B. de 103

Dascal, M. 74, 91, 116, 141Descartes, R. 88, 170Dewey, J. 31, 69, 149, 153, 158Dilthey, W. 3, 151–153, 164Diogenes Laërtius 24

Frege, G. 24, 56, 60, 64, 68f. , 73,99, 114, 125, 138, 163

Gadamer, H.-G. 30, 69, 110, 116Geach, P. T. 69Gethmann, C. F. 19, 22, 139, 141Goodman, N. 21, 24, 67, 69Granger, G. 169, 173

Habermas, J. 30, 69Hegel, G. W. F. 99, 149Hegselmann, R. 69Heinzmann, G. 14, 22Henry, P. D. 54, 69Humboldt, W. v. 24, 69Husserl, E. 150, 171

Kambartel, F. 3Kamlah, W. 11, 66, 69, 159–163,

167, 173Kant, I. 24, 69, 84, 91, 107, 159,

163, 173Kasher, A. 29, 69Körner, S. 69

Leibniz, G. W. 56f., 69, 88f. , 92,101, 103

Lenneberg, E. H. 30, 69Leonard, H. 67, 69Locke, J. 98f. , 103, 116Lorenz, K. 11, 13, 15, 19, 22, 35,

55, 60, 63, 67, 69f. , 90-92, 96,102, 108, 116f., 120, 122, 125,127f., 135, 141, 150, 153, 155,158

Lorenzen, P. 11, 13, 15, 19, 22, 66,69, 159-163, 167, 173

Martinet, A. 43, 70Mead, G. H. 30, 46, 85, 70Meggle, G. 30, 70, 91, 116, 141Mittelstraß, J. 4, 11, 22, 159, 173Moody, E. A. 55, 70Moore, G. E. 6, 8–10, 150, 162f.Morris, C. W. 70, 72, 173

Neurath, O. 160, 173

Peirce, C. S. 3, 12, 23, 26f. , 30,32f. , 48, 69, 73–75, 91, 98–100,103–105, 107, 116f., 151–153,163, 168

Piaget, J. 30f. , 70, 75, 92Pinborg, J. 55, 70Platon 20, 38, 44, 68, 73f. , 85, 99,

125, 142-146Protagoras 144f.

Page 182: Dialogischer Konstr uktivismus

Quine, W. V. O. 26, 30, 63, 70, 74,112, 161

Reichenbach, H. 19, 22, 56, 70Rescher, N. 58, 70Ros, A. 31, 70, 75, 92Russell, B. 6–11, 14f. , 22, 58, 70,

100, 117, 150, 162f.Ryle, G. 10, 22

Salisbury, J. v. 49, 69Saussure, F. de 43, 99Scheler, M. 148, 158Scherer, B. M. 4, 12, 23, 48f. , 70Schlick, M. 12, 23, 17, 100, 117,

164Schneider, H. J. 70Schwemmer, O. 161, 173Searle, J. R. 46, 70

Sextus Empiricus, 98, 117Spinoza, B. de 57Stekeler-Weithofer, P. 3Strawson, P. F. 66, 70

Tarski, A. 29Thiel, Ch. 164, 173Tomasello, M. 30, 71

Whitehead, A. N. 7, 22Wittgenstein, L. 5, 10–12, 16f. ,

22f. , 26f. , 30f. , 50, 52, 58,73–76, 92, 99, 117, 124, 132,141, 152–154, 158, 160, 170

Wohlrapp, H. 29, 71Wright, G. H. v. 30, 71Wundt, W. 99

Ziehen, Th. 54, 71

Personenregister176

Page 183: Dialogischer Konstr uktivismus

Sachregister

Abstraktum 41, 64, 67, 135Aktualisierung/aktualisieren 17, 30,

32, 40f. , 51, 76-79, 88, 105f.,109, 111, 119, 126f., 128f., 155f.

Aneignung/aneignen 2f., 34f. , 45f. ,59, 80, 82, 105-108, 113, 119,128-130, 146–148, 150, 154–157

Anerkennung/anerkennen 60, 96,118,136, 153

Anführung/anführen 17f., 32-38,44, 78, 105f., 108, 120, 124, 171

Anzeige/anzeigen 48, 50–52, 55,64, 68, 126, 129f., 133-135,137f.

Anzeigeform/Anschauungsform 63-65, 126f.

Artikulation 24f., 33, 36–39, 41-46,49–51, 57f. , 60, 65, 67f. , 78-80,83–85, 87–91, 94, 108–113,122–125, 131, 134f., 139, 148

– symbolische ~ 41–43, 45f. , 51,61, 79f. , 83–85, 87, 89, 91,109–111, 122, 130

Artikulator 18f. , 43, 45–51, 53,55–59, 63–67, 83, 90, 110, 113,115, 118f., 123, 125, 130–132,134f., 139

– Bedeutung eines ~s 65– gegenstandsbeschreibender ~ 18,

110– gegenstandskonstituierender ~ 18– Geltung eines ~s 135– komplexer ~ 50, 53, 56f. , 131f.,

136-139– Satzrolle eines ~s 113– verbaler ~ 110, 115, 118– Verwirklichung eines ~s 65– Wortrolle eines ~s 113Aspekt 1f. , 17, 22, 34f. , 37–39, 45,

51, 53, 55f. ,59, 62f. , 79, 87, 89,103, 108, 110f., 115, 120–122,127–135, 138

Aspektegliederung 33, 37, 39–41,45, 59f. , 77, 80

Aspektehandlung siehe HandlungAtomismus, logischer 58Attribution 55, 57, 63f. , 67, 115Attributor 48, 68Ausführung/ausführen 13f., 17f. ,

32-38, 44, 77f. , 105–109, 120,124, 171

Aussage/aussagen 12–15, 19f. , 24,48f. , 50f. , 56, 58, 60f. , 68, 73,99, 113f. 126, 129f., 138–140,145–147

Aussageform/Denkform 15, 64f.,127

Äußerung 28f., 46, 51, 53, 59f. , 90,111, 114, 119

Ausüben/Ausübung 25, 72, 96,109, 119, 149, 160, 167f., 171

Bedeutung, 19, 24, 29, 56, 60, 65, 72,74, 81, 99, 105, 112–114, 135,137, 141, 151, 162

– extensionale ~ 135– intensionale ~ 135Begriff 24f. , 56, 61, 64f. , 67, 84, 91,

114, 135–137, 163Benennung/benennen 50, 64, 66,

99, 113, 125, 128f., 131Bezeichnung/bezeichnen 17, 25f. ,

34, 36, 41f. , 44, 64, 78, 81,83–85, 89, 102, 122, 124, 130

Bildungssprache 7f., 11

Darstellung 26, 48–50, 52,, 61, 73,98, 102f., 107f., 111, 116, 137,150, 162f., 166f.

Demonstrator 48, 50, 53, 65, 113,125

Denken 2, 51f. , 74, 79, 82, 85,90f. , 96, 108f., 112, 128, 130,146–149, 151–153, 172

Page 184: Dialogischer Konstr uktivismus

– begriffliches ~ 82, 108f.– sinnliches ~ 108f.dialogische Elementarsituation 16f.,

22, 30–34, 36, 39-41, 43, 75–80,82, 105, 120, 131, 164, 170-172

– reale ~ 170-172– reduzierte ~ 171Dialogrollen/dialogische Rollen

31–34, 36, 39, 48, 50f. , 75f. , 78,80, 152–154, 164

– Ich-Rolle/Du-Rolle 2f. , 78,81–83, 85, 87f. , 105, 120,130–132, 152f., 155–157, 164

– ~invarianz/Ich-Du-Invarianz37f., 46, 51-53, 78, 127, 130f.,138, 165-167

Distanzierung/distanzieren 2f., 20,34f. , 45f. , 59, 67,82, 105-108,119, 128-130, 146–148, 150,153–157

Dreieck, semiotisches 25, 99, 103f.Du-Rolle siehe Dialogrollen

Eigenanzeige 129, 134Eigenaussage 129, 134Eigenschaft 14, 24, 28f. , 54f. , 57,

61–67, 82, 107, 109f., 114–116,128, 131, 133, 135, 137

– Invariante von ~en siehe Kern– wesentliche ~ 62, 64Elementaraussage 13, 50, 54, 56, 58,

61, 65, 139Erkenntnis/erkennen 12, 17, 35, 38,

74, 85, 87f. , 100–102, 115, 118,163f., 169

– begriffliche ~ 91f.– sinnliche ~ 91f.Erleben/Erlebnis 2, 12, 52f. , 88,

134, 152, 164, 170–172Exemplifikation, 64, 67, 85f. ,– Selbst~ 88Exemplifikator 50, 53, 65Existenz 19, 132, 136, 139f.– fiktive ~ 139– semiotische ~ 137f.

Formalsprache/formale Sprache7–10, 29

Form eines Partikulare 52, 63, 79, 82,84, 87, 107, 111, 128

Forschung 26, 98, 102f., 106, 116Funktion 1f., 30, 39, 44–49, 57, 68,

74, 76, 79–81, 84f. , 90, 102,110f., 113, 124f., 150, 169, 171f.

– kommunikative ~ 46, 48–51, 57,59, 65, 68, 73, 108, 125, 130, 138

– signifikative ~ 46, 48-51, 56f. ,65, 68, 108, 125, 130, 138

Ganzes/Ganzheit 24, 35, 41, 51, 54,56, 63, 67f. , 78f. , 86, 106, 111,114f., 122, 127-129, 133, 135

– ~ aus Teilen siehe HülleGebrauchssprache 6, 8–11Gegenstand 2f., 6, 12f. , 26f. , 32f. ,

44f. , 57, 73f. , 99f. , 102f. , 105,113, 152, 169, 171f.

Gegebenheitsweise 18, 44, 46, 48,59, 63, 113, 125, 130, 135

Gegenstandsbeschreibung 13, 16, 19Gegenstandskonstitution 14, 16, 19Geltung 19, 94, 114, 118, 132,

134–136, 139, 141, 145, 165, 171– Anspruch auf ~ 20, 60, 131, 135-

137, 145, 163– semiotische ~ 137– grammatische ~ 97Grammatik 25, 28, 94f. , 97, 116– empirische ~ 58– logische ~ 58, 125– spekulative ~ 98

Handeln 2, 6, 17, 21, 26, 30, 51, 74,81f. , 143f., 148–155, 164, 166,171f.

– eingreifendes ~ 165– kommunikatives ~ 28, 69, 165– reflektierendes/reflexives ~ 137,

166, 172– rekonstruierendes ~ 172– sprachliches ~ 28, 59, 153– strategisches ~ 165Handlung 2, 5, 12, 16–18, 20,

24–30, 43, 45f. , 48, 51f. , 58, 68,72f. , 75–77, 82, 87, 89f. , 94, 96,103, 105–108, 119, 122, 124,

Sachregister178

Page 185: Dialogischer Konstr uktivismus

127–133, 136, 139f., 144,151–155, 160, 164–172

– ~ als Mittel 44– ~ als Gegenstand 1, 27, 44, 171– ~ an Objekten 168– Aspekte~ 78-80, 82-85, 89f. ,

132f.– Beurteilungs~ 137– mentale ~ 72, 96, 130, 154– ~ mit Objekten 168– Phasen~ 78-80, 82f. , 85f. , 132f.– ~sbild 77, 120, 126, 128f., 131,

155f., 170-172– Sprach~ 17f., 25–27, 30, 42, 44,

48, 50, 57, 68, 73, 75, 89, 95f. ,111, 118, 125f., 130, 134, 137f.,152–155, 160, 166f., 170

– ~sspielraum 17, 164– ~svollzug 77, 126, 128, 130f.,

156, 170–172– Teil~ 1, 35–41, 45f. , 51, 53–55,

59, 61, 78–81, 84f. , 89f. , 108f.,111, 120–122

– Wahrnehmungs~ 15, 18, 84, 127– Zeichen~ 1, 18, 24f. , 28, 35–43,

45f. , 51, 53–55, 59–61, 73, 75,78–81, 83, 85f. , 89, 96, 100, 108-110, 120–122, 151–155, 165, 167

Handlungsschema 79f., 82f. , 85,118f., 170

Herstellung 86, 88f. , 91, 115, 130Hervorbringung 36, 38, 60, 78, 83,

86–88, 91, 108f., 111, 121f.,127, 136

– reelle ~ 83, 86– virtuelle ~ 83, 85, 87–91Hintergrund 31f., 36, 39f. , 50-53,

55, 76f. , 79f. , 131, 134Historismus 3, 151f., 155Hülle 41, 45, 51, 55, 79f. , 86, 111,

127

Ich und Du 41, 46, 51, 80, 153Ich-Du-Dyade 31, 36f. , 42, 76,

79–82, 85, 156f.Ich-Rolle siehe DialogrollenIdealsprache 7–9

Identifizierung/identifizieren 34,38, 55, 61, 78, 83, 123, 127, 130

Identität/identisch 17, 65, 119, 134Identitätstheorie der Prädikation 55Ikon 53Index 48, 53, 125Individuation 17, 63, 80, 156Individuator 51, 56f. , 61, 129, 131Individuum 18, 24Inhärenztheorie der Prädikation 54Instanz 29, 54, 57, 61, 64, 66f. , 106,

111, 128, 164, 170Intention/intentional 86, 97, 99,

107, 148Interpretant 27, 75, 103–105Interpretantensequenz 27, 104Invariante 18, 35, 41, 51, 54, 56, 63,

78f. , 84, 107, 110f., 115f., 122,128f., 131, 133, 137

Involution 41, 55, 61, 67

Kalkül/kalkülisieren 7, 12–15, 18,139f.

Kenntnis/kennen 35, 38, 86–88,100–102, 106, 115f.,

Kern 41, 44f. , 51, 55, 79f. , 84,110f., 127

Klasse 61, 63–68, 97, 112, 114, 136Klassifikation 57, 66f.Klassifikator 66f.knowledge by acquaintance/Objekt-

kompetenz 11-14, 16, 18, 67,86f. , 91, 100, 108f.

knowledge by description/Metakom-petenz 8, 11f. , 14, 16, 18, 67,85, 91, 100f., 110f.

Kommunikation 5f., 28, 44, 46, 48,59, 83, 85, 108f., 113, 124f.,130, 165

Kompetenz/Handlungskompetenz27f., 31–34, 42, 46, 48f. , 63,75f. , 82f. , 87f. , 95-97, 101f.,104–106, 111, 113, 116, 119f.,123f., 130–132, 134, 137, 139f.,152, 168–171

Konkretum 41, 64, 67

Sachregister 179

Page 186: Dialogischer Konstr uktivismus

Können 30-32,67,74-77, 85, 100,119, 131, 147, 149, 160, 163,166, 168

– methodisch aufgebautes ~ 3, 109,111, 122, 136f.

– sprachlich-symbolisches ~ 3, 110Konstruktion 7f., 10, 14f. , 18, 27,

33, 43,75, 77, 160–163, 167, 172– dialogische ~ 27, 48, 74f. , 82,

106, 119f., 123f., 130, 139, 150,166f., 169f., 172

Kopula 48, 53, 68, 113, 125

Lebensweisen 21f., 42, 81, 83,156f.

Lehr- und Lernsituation 16–18, 21,49, 109f.

Leiden/Erleiden 31, 76, 152-155Logik, dialogische 19, 139f.

Mereologie 67f.Metakompetenz/Objektkompetenz

12, 14, 16, 18, 67, 85-87, 91,100f., 108-111

Metasprache 8, 12, 19Mimesis 101f., 115Mittel 6, 25-27, 32f. , 44f. , 73-75,

102f., 167-169, 172Modifikator 66f.Modifizierung 133, 138f.Modus 43f., 46, 48f. , 59f. , 66, 113,

125, 130, 135–137, 139f.Monade 56, 88

Nominator 61, 65f. , 99, 113f., 125,129, 136

Objekt 17–19, 35f. , 39–45, 50f. ,53, 55, 57, 59f. , 65–67, 78–89,100, 103, 109–111, 118, 124,126f., 129, 131–134, 136f., 139,157, 167f.

– hergestelltes ~ 85-88– repräsentiertes ~ 84– vorgestelltes ~ 84f., 87.Objektform 68objektiver Geist 81

Objektivität/objektivieren 3, 61,87, 120

Ostension 43–46, 48-52, 59, 65, 68,113, 115, 125f., 130, 133–137

Parakompetenz 111partikular 53–56, 67, 77, 79, 85, 91,

112, 115, 129, 133f., 152, 155f.,169–171

Partikulare/Partikularia 1, 41,51–56, 61–64, 79, 87, 96,106–108, 111f., 115, 118, 127f.,131-134, 137, 152, 164

– ~ als Ganzheiten 56, 106, 114,128

– ~ als Invarianten 56, 107, 115– empirische ~ 164– rationale ~ 164Partition 54f., 64, 67Partitor 50, 68Partizipation/partizipieren 41, 45,

50, 64, 78, 83–86, 126Performator 59Perzeption 59Phänomenologie 150f.Phase 1f. , 33, 35, 37f. , 40, 45, 51,

53–55, 59, 62f. , 78–83, 85–87,89, 107f., 111, 115, 121f.,127–129, 131–134, 137

Phasengliederung 33, 37, 39–41,59f. , 77, 80

Phasenhandlung siehe HandlungPhilosophie 5f. , 20, 142f., 148f.– analytische ~ 6, 11, 14, 16f. , 19,

150f., 162f.– dialogische ~ 1–4, 142, 149, 155f.– konstruktive ~ 2, 11, 15f. , 19Poiesis 101f., 107, 115f., 144Prädikation/prädizieren 18, 21, 24f. ,

44f. , 48-52, 55, 57, 59, 65-68,106, 113, 115, 125f., 130,132–136

Prädikator 66f. , 113f., 125– apprädikative Verwendung eines

~s 57, 67– eigenprädikative Verwendung eines

~s 57, 67

Sachregister180

Page 187: Dialogischer Konstr uktivismus

Pragmatisierung 28, 106, 108, 146,154, 156

Pragmatismus 3, 12, 73, 149,151–153, 155, 163

Prähandlung 17f., 32–36, 38, 77f.Präobjekt 18, 33–40, 78f. , 82Präsentator 49Präsubjekt 33, 35f. , 42, 78f. , 82Prinzip– begriffliches ~ 3– ~ der Selbstähnlichkeit 77, 82, 90,

106, 120– dialogisches ~ 2–4, 16, 18f. , 153,

164f., 172– ~ Freiheit 21f.– ~ Gerechtigkeit 21f.– methodisches ~ 2f., 15f. , 18,

164f., 172– Vernunft~ 4

Rationalität 142, 144, 146, 149, 156– praktische ~ 2f., 146–148, 154-

156– theoretische ~ 3, 142, 147–149,

154-156– Zweck~ 144Reduktion 6, 15, 25, 27, 73, 100,

153f.– behavioristische ~ 73, 169– mentalistische ~ 74, 169– phänomenologische ~ 26f., 48,

74f. , 82, 106f., 119, 128, 139,150, 167, 169–172

Referenz 55f., 64f. , 99, 102, 114,123, 135

– extensionale ~ 55f., 65– intensionale ~ 55f., 65Reflexionsbestimmungen 147Rekonstruktion/rekonstruieren 5f.,

8, 16f. , 26f. , 33, 35, 38, 41, 43,48f. , 52, 57, 61, 74f. , 77, 85, 87,96, 98, 107, 123f., 161f.,167–169, 172

Relativierung 57f., 133, 138f.Repräsentation 15, 18f. , 67f. , 88– mentale ~ 25, 74, 84, 112– Selbst~ 85, 88– symbolische ~ 18

Schema 17-19, 32, 35, 37, 41, 45,49, 51, 54f. , 59, 77f. , 80-82, 84,89-91, 105, 112, 126f., 156, 164,170

– Handlungs~ siehe Handlungssche-ma

– Universal~ 57– Zeichen~ siehe ZeichenschemaSchematisieren/Schematisierung 30,

32, 34, 38f. , 51, 76-79, 81f. ,106f., 109, 111, 113, 115, 121,127–129, 132, 138, 155f.

Seinsaussage 145Selbstbestimmung 142, 145–147Selbsterziehung 144, 156f.Selbstreflexion 5f., 142Selbstverhältnis 156f.Semantik 14, 28f. , 56, 102, 112,

114–116, 138f.Semiotik 26, 98–100, 103, 170Semiotisierung 107f., 146, 154, 156Signifikation 44, 46, 48, 68, 83, 85,

109, 113, 125, 130singular 17, 32f. , 36–38, 40, 48–50,

63, 77, 79, 106, 111, 113, 115,119–121, 128, 156, 164, 171f.

Singulare/Singularia 32, 41, 49, 79,130

Sinn 56, 64f. , 81, 99, 103, 114,118f., 131, 135f., 139f., 151-153

– äußerer ~ 90, 146– extensionaler ~ 64f.– grammatischer ~ 97– innerer ~ 90f., 146– intensionaler ~ 64f.Situation 29, 31f. , 36, 39, 41, 44,

51–53, 55, 57–61, 65, 76–80, 87,100, 109, 131, 134, 170f.

– besprochene ~ 45f., 49–51, 53,58–61, 123f., 127, 131–134,136f.

– Hörer~ 127– Sprech~ 12, 43, 45, 48, 50f. , 53,

59–61, 123–125, 127, 129, 131,133f., 136f.

– Sprecher~ 127– ~ und Objekt 41, 54, 79, 134Sollensaussage 145

Sachregister 181

Page 188: Dialogischer Konstr uktivismus

Sozialisation 17, 80, 156Spezialisierung 58, 63, 65f. , 100, 133Sprache 2, 8, 11-13, 16f. , 25f. ,

28–30, 35f. , 39, 56-58, 63,72–74, 80f. , 94–96, 103, 112,125, 133, 146, 150f., 162f.

– Bildungs~ siehe Bildungssprache– Formal~ siehe Formalsprache– Gebrauchs~ siehe Gebrauchsspra-

che– ~handlung siehe Handlung– Meta~ siehe Metasprache– Umgangs~ siehe Umgangssprache– Wissenschafts~ siehe Wissenschafts-

spracheSprachspiel 16, 26f. , 26f. , 31, 48,

75f. , 124, 132, 152, 170Stabilität/stabilisieren 3, 61, 120Stoff eines Partikulare 52, 79, 82, 107,

111, 127f.Subjekt 16f. , 35f. , 42, 44, 46,

79–89, 103–105, 124, 126f.,156f., 167f.

Subjekt-Objekt-Differenz/Subjekt-Objekt-Spaltung 158, 168

Subjekt-Objekt-Dualismus 88Substanz 54–58, 61–66, 86, 115,

133, 135–137– primäre ~ 52– sekundäre ~ 52Summierung 34–36, 39, 41, 78f. ,

83, 127Symbolisierung 26, 34f. , 75, 112Syntax 28, 101, 115f., 137-139– grammatische ~ 8– logische ~ 8

Teil 18, 24, 41, 50, 54f. , 57, 62, 67,82, 84, 107, 109, 115, 128

– Ganzes aus ~en siehe Hülle– ~handlung siehe HandlungTeilganzheit 127, 129, 135Teilhabe/teilhaben 42, 81, 106f.,

126, 128f., 131token 17, 29, 111, 164Totalisator 50, 53transzendentales Ich 81

Tun 2, 31, 76, 79, 128, 130, 152-154,172

type 17, 29, 43, 61, 111f., 145, 164

Umgangssprache 6–11, 63, 110,161f.

universal 17, 32f. , 36–38, 40–42,48–50, 77, 83, 106, 111, 113,115, 120f., 128, 156, 164, 171f.

Universale/Universalia 1, 32, 41, 49,52, 54, 79, 135

– characterizing universal 66– feature universal 66– sortal universal 66Universalisator 49

Vermittlung 1, 16, 27, 36–39, 49,60, 78, 80, 83, 85–89, 91, 108f.,111, 119f., 122

– komprehensive ~ 41f., 61, 80,83, 85–87, 89, 109–111, 115,122, 124

– praktische ~ 108f., 111– theoretische ~ 108f.Vollzug/vollziehen 2, 48, 50, 53, 65,

75, 77, 82, 121, 126, 129-131,146, 164, 170-172

Vordergrund 31, 36, 39, 49-53, 55,58, 76, 79f. , 131, 134, 136, 167

Vorführen 13, 15, 18, 38Vorstellung 84, 88–91, 97, 107– empirische ~ 84, 91– rationale ~ 85, 91

Wahrheitsanspruch 61, 136Wahrheitsbegriff– pragmatischer ~ 19, 60– semantischer ~ 19, 60Wahrnehmung 15, 18, 36, 38, 40,

45, 60, 78, 83f. , 87, 90f. ,108–110, 112, 121f., 125, 130,136

– äußere ~ 83– innere ~ 83, 85, 87–91Wahrnehmungsurteil 59Weltansichten 21f., 42, 81, 83, 157Wissen 3, 8, 10–12, 17, 22, 29, 33,

51, 81, 87, 91, 94f. , 97f. ,

Sachregister182

Page 189: Dialogischer Konstr uktivismus

100–102, 107, 109f., 116, 122f.,131, 136f., 142, 166

– Alltags~ 9f., 163– begriffliches/begrifflich organisier-

tes ~ 3, 98, 109, 122, 136f.– deskriptives ~ 123, 147– normatives ~ 123, 144f., 147– operationales ~ 86f., 91, 95, 101,

116, 123, 144f., 147, 149– praktisches ~ 123, 144– propositionales ~ 85, 87, 91, 95,

123, 145– sinnliches ~ 98, 110, 149– Sprach~ 94f., 97, 113, 131, 137– symbolisches ~ 107– symptomatisches ~ 3, 107, 110– theoretisches ~ 123– Welt~ 95, 114, 131, 137

– symbolisches ~ 102, 110, 113

– symptomatisches ~ 101, 111,113f.

– wissenschaftliches ~ 102, 159-163, 167

Wissenschaftssprache 6–8, 110, 160,162

Wissenschaftstheorie 2, 8, 11– analytische ~ 12, 14– konstruktive ~ 14f., 19

Zeichen 1-3, 13, 24f. , 28, 30,35–38, 43–46, 56, 64f. , 72–74,80, 83, 87f. , 96–105, 109, 112f.,115, 118, 145, 151f., 154, 165

– ~schema 83, 103– Sprach~ 25, 35, 42, 73, 95, 99,

105, 138Zeigen 1, 11f. , 26, 50, 101, 124f.,

129f., 132Zwischenschema 51, 127, 129

Sachregister 183