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Plenarprotokoll 16/73 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 73. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag der Vizepräsi- dentin Dr. h. c. Susanne Kastner, des Abge- ordneten Erich G. Fritz und des Bundes- ministers Michael Glos . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Florian Toncar zum Schriftführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Dr. Hakki Keskin in die Parlamentarische Versammlung des Euro- parates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Streichung der Aktuellen Stunde auf Verlan- gen der Fraktion Die Linke zur Armutsstatis- tik und der Aktuellen Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zum Nichtraucherschutz . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Tagesordnungspunkt 4: a) Abgabe einer Erklärung durch die Bun- deskanzlerin: zum Europäischen Rat in Brüssel am 14./15. Dezember 2006 und den bevorstehenden deutschen Präsi- dentschaften im Rat der Europäischen Union und in der G 8 . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Michael Stübgen, Gunther Krichbaum, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- ordneten Axel Schäfer, Dr. Lale Akgün, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die deutsche Prä- sidentschaft der Europäischen Union zum Erfolg führen (Drucksache 16/3808) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Präsidentschaftsprogramm 1. Januar bis 30. Juni 2007 – Europa gelingt ge- meinsam (Drucksache 16/3680) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Markus Löning, Christian Ahrendt, Michael Link (Heil- bronn), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Mehr Ehrgeiz für die deut- sche Ratspräsidentschaft – eine EU der Erfolge für die Bürger (Drucksache 16/3832) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . . Hans Eichel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lale Akgün (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7207 A 7207 B 7207 B 7207 B 7208 C 7208 D 7209 A 7209 B 7209 C 7209 C 7210 A 7214 A 7216 A 7218 C 7220 A 7223 A 7223 C 7225 B 7226 D 7227 C 7230 A 7230 D

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Plenarprotokoll 16/73

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

73. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

I n h a l t :

Glückwünsche zum Geburtstag der Vizepräsi-dentin Dr. h. c. Susanne Kastner, des Abge-ordneten Erich G. Fritz und des Bundes-ministers Michael Glos . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wahl des Abgeordneten Florian Toncar zumSchriftführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wahl des Abgeordneten Dr. Hakki Keskin indie Parlamentarische Versammlung des Euro-parates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Streichung der Aktuellen Stunde auf Verlan-gen der Fraktion Die Linke zur Armutsstatis-tik und der Aktuellen Stunde auf Verlangender Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN zum Nichtraucherschutz . . . . . . . .

Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . .

Tagesordnungspunkt 4:

a) Abgabe einer Erklärung durch die Bun-deskanzlerin: zum Europäischen Rat inBrüssel am 14./15. Dezember 2006 undden bevorstehenden deutschen Präsi-dentschaften im Rat der EuropäischenUnion und in der G 8 . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten MichaelStübgen, Gunther Krichbaum, ThomasBareiß, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU sowie der Abge-ordneten Axel Schäfer, Dr. Lale Akgün,Doris Barnett, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD: Die deutsche Prä-sidentschaft der Europäischen Unionzum Erfolg führen(Drucksache 16/3808) . . . . . . . . . . . . . . . .

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c) Unterrichtung durch die Bundesregierung:Präsidentschaftsprogramm 1. Januarbis 30. Juni 2007 – Europa gelingt ge-meinsam(Drucksache 16/3680) . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 3:

Antrag der Abgeordneten Markus Löning,Christian Ahrendt, Michael Link (Heil-bronn), weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDP: Mehr Ehrgeiz für die deut-sche Ratspräsidentschaft – eine EU derErfolge für die Bürger(Drucksache 16/3832) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . .

Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . .

Hans Eichel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . .

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . .

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Lale Akgün (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Tagesordnungspunkt 5:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und der SPD eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Verbesse-rung der Beschäftigungschancen ältererMenschen(Drucksache 16/3793) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und der SPD eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Anpassungder Regelaltersgrenze an die demografi-sche Entwicklung und zur Stärkung derFinanzierungsgrundlagen der gesetzli-chen Rentenversicherung (RV-Alters-grenzenanpassungsgesetz)(Drucksache 16/3794) . . . . . . . . . . . . . . . .

c) Antrag der Abgeordneten KorneliaMöller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder LINKEN: Beschäftigungspolitik fürÄltere – für ein wirtschafts- und ar-beitsmarktpolitisches Gesamtkonzept(Drucksache 16/3027) . . . . . . . . . . . . . . . .

d) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L.Kolb, Christian Ahrendt, Daniel Bahr(Münster), weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Den Rentenversiche-rungsbericht im Interesse der Versi-cherten realistischer gestalten(Drucksache 16/3676) . . . . . . . . . . . . . . . .

e) Antrag der Abgeordneten VolkerSchneider (Saarbrücken), Klaus Ernst,Karin Binder, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der LINKEN: Stichtagsrege-lung für die Altersteilzeit im RV-Alters-grenzenanpassungsgesetz (Rente mit67) verlängern(Drucksache 16/3815) . . . . . . . . . . . . . . . .

f) Antrag der Abgeordneten IrmingardSchewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, MarkusKurth, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN: Neue Kultur der Alters-arbeit – Anpassung der gesetzlichenRentenversicherung an längere Renten-laufzeiten (Drucksache 16/3812) . . . . . . . . . . . . . . . .

g) Unterrichtung durch die Bundesregierung:Bericht der Bundesregierung über diegesetzliche Rentenversicherung, insbe-sondere über die Entwicklung derEinnahmen und Ausgaben, der Nach-haltigkeitsrücklage sowie des jeweilserforderlichen Beitragssatzes in denkünftigen 15 Kalenderjahren (Renten-versicherungsbericht 2006)und Gutachten des Sozialbeirats zum Ren-tenversicherungsbericht 2006(Drucksache 16/3700) . . . . . . . . . . . . . . . .

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h) Unterrichtung durch die Bundesregierung:Lagebericht der Bundesregierung überdie Alterssicherung der Landwirte 2005(Drucksache 16/907) . . . . . . . . . . . . . . . .

Franz Müntefering, Bundesminister BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) .

Wolfgang Grotthaus (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . .

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . .

Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 29:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes über die Umweltverträglichkeit vonWasch- und Reinigungsmitteln (Wasch-und Reinigungsmittelgesetz – WRMG)(Drucksache 16/3654) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines …Strafrechtsänderungsgesetzes zur Be-kämpfung der Computerkriminalität(… StrÄndG)(Drucksache 16/3656) . . . . . . . . . . . . . . .

c) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei-ten Gesetzes über die Bereinigung vonBundesrecht im Zuständigkeitsbereichdes Bundesministeriums für Wirtschaftund Technologie und des Bundesminis-teriums für Arbeit und Soziales(Drucksache 16/3657) . . . . . . . . . . . . . . .

d) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes über die elektromagnetischeVerträglichkeit von Betriebsmitteln(EMVG)(Drucksache 16/3658) . . . . . . . . . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 III

e) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Internationalen Überein-kommen vom 19. Oktober 2005 gegenDoping im Sport(Drucksache 16/3712) . . . . . . . . . . . . . . . .

f) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Protokoll vom 21. Mai 2003über Schadstofffreisetzungs- und -ver-bringungsregister(Drucksache 16/3755) . . . . . . . . . . . . . . . .

g) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Ausführung des Protokolls überSchadstofffreisetzungs- und -verbrin-gungsregister vom 21. Mai 2003 sowiezur Durchführung der Verordnung(EG) Nr. 166/2006(Drucksache 16/3756) . . . . . . . . . . . . . . . .

h) Antrag der Abgeordneten BirgitHomburger, Michael Kauch, AngelikaBrunkhorst, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDP: EU-Abfallrah-menrichtlinie ökologisch wirksam,unbürokratisch und marktwirtschaft-lich gestalten(Drucksache 16/3318) . . . . . . . . . . . . . . . .

i) Antrag der Abgeordneten Dr. JürgenGehb, Norbert Geis, Ute Granold, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Fritz RudolfKörper, Joachim Stünker, Dr. Carl-Christian Dressel, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD: Ächtung desGesetzes zur Verhütung des erbkran-ken Nachwuchses vom 14. Juli 1933(Drucksache 16/3811) . . . . . . . . . . . . . . . .

j) Antrag der Abgeordneten DorotheeMenzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. BarbaraHöll, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der LINKEN: Börsengang der Bahnstoppen(Drucksache 16/3801) . . . . . . . . . . . . . . . .

k) Antrag der Abgeordneten DorotheeMenzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. DietmarBartsch, weiterer Abgeordneter und derFraktion der LINKEN: Deutsche Flug-sicherung europarechtlichen Rahmen-bedingungen anpassen (Drucksache 16/3803) . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 4:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Übereinkommen vom20. Oktober 2005 über den Schutz unddie Förderung der Vielfalt kulturellerAusdrucksformen(Drucksache 16/3711) . . . . . . . . . . . . . . . .

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b) Antrag der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Brigitte Pothmer, KerstinAndreae, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN: Vermittlung in Selbststän-digkeit durch Bundesagentur für Arbeitermöglichen – Künstlerdienste sichern(Drucksache 16/3779) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 30:a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung

des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen vom 11. April 1997 überdie Anerkennung von Qualifikationenim Hochschulbereich in der europäi-schen Region(Drucksachen 16/1291, 16/3669) . . . . . . .

b) Zweite und dritte Beratung des vom Bun-desrat eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Stärkung der Selbstver-waltung der Rechtsanwaltschaft(Drucksachen 16/513, 16/3837) . . . . . . . .

c) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Aner-kennungs- und Vollstreckungsausfüh-rungsgesetzes(Drucksachen 16/2857, 16/3833) . . . . . . .

d) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Budapester Über-einkommen vom 22. Juni 2001 über denVertrag über die Güterbeförderung inder Binnenschifffahrt (CMNI)(Drucksachen 16/3225, 16/3834) . . . . . . .

e) Zweite Beratung und Schlussabstimmungdes von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu demHaager Übereinkommen vom 13. Ja-nuar 2000 über den internationalenSchutz von Erwachsenen(Drucksachen 16/3250, 16/3836) . . . . . . .

f) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Umsetzung desHaager Übereinkommens vom 13. Ja-nuar 2000 über den internationalenSchutz von Erwachsenen(Drucksachen 16/3251, 16/3836) . . . . . . .

g) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Verkehr, Bau und Stadt-entwicklung zu dem Antrag der Abge-ordneten Heidrun Bluhm, Dr. BarbaraHöll, Dr. Gesine Lötzsch, weitererAbgeordneter und der Fraktion der LIN-KEN: Grunderwerbsteuerbefreiung beiFusionen von Wohnungsunternehmenund Wohnungsgenossenschaften in denneuen Ländern(Drucksachen 16/2079, 16/3213) . . . . . . .

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IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

h) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Verkehr, Bau und Stadt-entwicklung zu dem Antrag der Abgeord-neten Horst Friedrich (Bayreuth), JanMücke, Patrick Döring, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der FDP: Qualitätder Mauterfassung durch unabhängi-gen Versuch nachweisen und Kontroll-verfahren zertifizieren(Drucksachen 16/1680, 16/3264) . . . . . . .

i) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Verkehr, Bau und Stadt-entwicklung zu der Unterrichtung durchdie Bundesregierung: Mitteilung derKommission an den Rat, das Europäi-sche Parlament, den EuropäischenWirtschafts- und Sozialausschuss undden Ausschuss der Regionen über dieVerbesserung der Sicherheit der Liefer-kette Vorschlag für eine Verordnung desEuropäischen Parlaments und desRates zur Verbesserung der Sicherheitder Lieferkette (inkl. 6935/06 ADD 1)KOM (2006) 79 endg.; Ratsdok. 6935/06(Drucksachen 16/1101 Nr. 2.12, 16/3554)

j) Dritte Beschlussempfehlung des Wahlprü-fungsausschusses: zu 44 gegen die Gül-tigkeit der Wahl zum 16. DeutschenBundestag eingegangenen Wahlein-sprüchen(Drucksache 16/3600) . . . . . . . . . . . . . . . .

k)–s)

Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-schusses: Sammelübersichten 144, 145,146, 147, 148, 149, 150, 151 und 152 zuPetitionen(Drucksachen 16/3625, 16/3626, 16/3627,16/3628, 16/3629, 16/3630, 16/3631, 16/3632, 16/3633) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 5:

a)–h), j)

Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-schusses: Sammelübersichten 153, 154,155, 156, 157, 158, 159, 160 und 161 zuPetitionen(Drucksachen 16/3817, 16/3818, 16/3819,16/3820, 16/3821, 16/3822, 16/3823,16/3824, 16/3825) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 1:

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionder FDP: Rechtsstaatliche Anforderungenan eine ordnungsgemäße Gesetzgebungs-arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Andreas Schmidt (Mülheim) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulrich Maurer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Michael Bürsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 6:

Antrag der Abgeordneten Jens Ackermann,Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP:Wachstumsschädliche Mehrwertsteuer-erhöhung rückgängig machen(Drucksache 16/2520) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Otto Bernhardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Lydia Westrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . .

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) . . . . . . . .

Georg Fahrenschon (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Gabriele Frechen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 7:

a) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Verbesserung desSchutzes vor Fluglärm in der Umge-bung von Flugplätzen(Drucksachen 16/508, 16/3813, 16/3814)

b) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 V

– zu dem Antrag der AbgeordnetenMichael Kauch, Horst Friedrich (Bay-reuth), Birgit Homburger, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDP:Das Fluglärmgesetz unverzüglichund sachgerecht modernisieren

– zu dem Antrag der AbgeordnetenWinfried Hermann, Peter Hettlich,Cornelia Behm, weiterer Abgeordneterund der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN: Den Schutzder Anwohner vor Fluglärm wirk-sam verbessern

(Drucksachen 16/263, 16/551, 16/3813)

Marko Mühlstein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulrich Petzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Christian Carstensen (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Norbert Königshofen (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 8:

Beschlussempfehlung und Bericht des Vertei-digungsausschusses zu der Unterrichtungdurch den Wehrbeauftragten: Jahresbericht2005 (47. Bericht)(Drucksachen 16/850, 16/3561) . . . . . . . . . . .

Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . .

Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . .

Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hedi Wegener (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . .

Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 9:

Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,Dr. Axel Troost, Oskar Lafontaine und derFraktion der LINKEN: Aufhebung der Steu-erfreiheit von Veräußerungsgewinnen(Drucksache 16/2523) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) . . . . . . . . . . . .

7288 A

7288 B

7290 B

7291 B

7293 A

7294 B

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7300 B

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7305 B

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7310 C

7310 D

7311 D

Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . .

Peter Rzepka (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 10:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Wohnungs-eigentumsgesetzes und anderer Gesetze(Drucksachen 16/887, 16/3843) . . . . . . . . . . .

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dirk Manzewski (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 11:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung zu dem Antrag der Abge-ordneten Thilo Hoppe, Ulrike Höfken, UteKoczy, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:Den Hunger in Entwicklungsländern wirk-sam bekämpfen – das Recht auf Nahrungumsetzen und ländliche Entwicklung för-dern(Drucksachen 16/3019, 16/3835) . . . . . . . . . .

Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Karl Addicks (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) . . . . . .

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 12:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Kultur und Medien

– zu dem Antrag der AbgeordnetenReinhard Grindel, Wolfgang Börnsen(Bönstrup), Peter Albach, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Jörg Tauss,Monika Griefahn, Martin Dörmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD: Die Schaffung eines kohären-ten europäischen Rechtsrahmens für

7313 B

7314 C

7316 B

7317 A

7317 A

7318 A

7318 D

7320 B

7321 B

7322 A

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7323 D

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7326 C

7328 B

7329 A

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VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

audiovisuelle Dienste zu einem Schwer-punkt deutscher Medien- und Kommu-nikationspolitik in Europa machen

– zu dem Antrag der AbgeordnetenChristoph Waitz, Hans-Joachim Otto(Frankfurt), Jens Ackermann, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP:Für einen zukunftsfähigen europäi-schen Rechtsrahmen audiovisueller Me-diendienste – den Beratungsprozess derEU-Fernsehrichtlinie aktiv begleiten

– zu dem Antrag der Abgeordneten GrietjeBettin, Dr. Uschi Eid, Ekin Deligöz, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Füreine verbraucherfreundliche und Quali-tät sichernde EU-Richtlinie für audio-visuelle Mediendienste

(Drucksachen 16/3297, 16/2675, 16/2977,16/3791) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 6:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Kultur und Medien – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-

Joachim Otto (Frankfurt), ChristophWaitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der FDP: KeineRundfunkgebühr für Computer mitInternetanschluss – die Gebühren-finanzierung des öffentlich-rechtlichenRundfunks grundlegend reformieren

– zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Lothar Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen,Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der LINKEN: Moratoriumfür PC-Gebühren – sofortige Neuver-handlung des Rundfunkgebühren-staatsvertrages

– zu dem Antrag der Abgeordneten MatthiasBerninger, Grietje Bettin und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:PC-Gebühren-Moratorium verlängern

(Drucksachen 16/2970, 16/3002, 16/2793,16/3792) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . .Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christoph Waitz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .Monika Griefahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7330 C

7330 D7331 B7332 B

7332 D7333 C

7335 A7336 C

7337 C

Johann-Henrich Krummacher (CDU/CSU) . .Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 13:Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle,Birgit Homburger, Dr. Karl Addicks, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP:Mehr Wettbewerb im Schornsteinfeger-wesen(Drucksache 16/3344) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 14:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zum Pfändungsschutz der Alters-vorsorge und zur Anpassung des Rechtsder Insolvenzanfechtung(Drucksachen 16/886, 16/3844) . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 15:Antrag der Abgeordneten Dr. Axel Troost, Dr.Barbara Höll, Oskar Lafontaine, Dr. GregorGysi und der Fraktion der LINKEN: Für ei-nen starken öffentlich-rechtlichen Sparkas-sensektor – Keine Kompromisse beimSparkassen-Bezeichnungsschutz – Parla-mentswillen respektieren(Drucksache 16/3797) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 7:Antrag der Abgeordneten Dr. MichaelMeister, Otto Bernhardt, Eduard Oswald, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten ReinhardSchultz (Everswinkel), Bernd Scheelen,Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD: Bezeichnungs-schutz für Sparkassen gesichert(Drucksache 16/3805) . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Leo Dautzenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . .

Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 16:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne-ten Marie-Luise Dött, Katherina Reiche

7338 D

7340 A

7342 D

7342 D

7343 C

7343 C7343 C

7344 C7346 B

7347 A7347 C

7349 A

7349 C

Page 7: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/16/16073.pdf · Dr. Lale Akgün (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7207 A 7207 B 7207 B 7207 B 7208 C 7208 D 7209 A 7209 B 7209

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 VII

(Potsdam), Michael Brand, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der CDU/CSU sowieder Abgeordneten Dirk Becker, Marco Bülow,Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD: Integriertes Küsten-zonenmanagement kontinuierlich fortent-wickeln(Drucksachen 16/2502, 16/3143) . . . . . . . . . .

Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 17:

Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, EkinDeligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneterund der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN: Den kostenfreien Empfang vonRundfunk via Satellit sicherstellen(Drucksache 16/3545) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 8:

Antrag der Abgeordneten Dr. Georg Nüßlein,Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler,Dr. Sascha Raabe, Gabriele Groneberg, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD:Chancen und Herausforderungen der Ost-erweiterung der Europäischen Union (EU)für die Entwicklungszusammenarbeit der EU(Drucksache 16/3807) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 18:

Antrag der Abgeordneten Jens Ackermann,Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Daniel Bahr(Münster), weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Dem Beruf des Rettungs-assistenten eine Zukunftsperspektivegeben – Das Rettungsassistentengesetznovellieren(Drucksache 16/3343) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 19:

Antrag der Abgeordneten Lutz Heilmann,Dorothée Menzner, Heidrun Bluhm, weitererAbgeordneter und der Fraktion der LINKEN:Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Que-rung – Fährkonzept verbessern(Drucksache 16/3668) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 9:

Antrag der Abgeordneten RainderSteenblock, Winfried Hermann, Dr. AntonHofreiter, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN: Statt fester Fehmarnbelt-Querung –

7350 C

7350 D

7352 C

7352 D

7353 A

7353 B

Für ein ökologisch und finanziell nachhal-tiges Verkehrskonzept(Drucksache 16/3798) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 20:

Antrag der Abgeordneten Silke Stokar vonNeuforn, Volker Beck (Köln), Jerzy Montag,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Einrich-tung einer Polizeireformkommission(Drucksache 16/3704) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 10:

Antrag der Abgeordneten Dr. Max Stadler,Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDP: Not-wendigkeit einer Defizitanalyse des beste-henden Sicherheitssystems(Drucksache 16/3809) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

Anlage 2

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenElisabeth Winkelmeier-Becker, Ute Granold,Josef Göppel und Siegfried Kauder (Villin-gen-Schwenningen) (alle CDU/CSU) zur Ab-stimmung über den Entwurf eines Gesetzeszur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärmin der Umgebung von Flugplätzen (Tagesord-nungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 3

Erklärung nach § 31 GO des AbgeordnetenMichael Hartmann (Wackernheim) (SPD) zurAbstimmung über den Entwurf eines Geset-zes zur Verbesserung des Schutzes vor Flug-lärm in der Umgebung von Flugplätzen (Ta-gesordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 4

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Mehr Wettbewerb im Schorn-steinfegerwesen (Tagesordnungspunkt 13)

Lena Strothmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Christian Lange (Backnang) (SPD) . . . . . . . .

Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . .Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7353 C

7353 C

7353 D

7354 C

7355 A

7355 B

7355 D

7356 A

7357 A

7358 B7358 D

7359 C

Page 8: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/16/16073.pdf · Dr. Lale Akgün (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7207 A 7207 B 7207 B 7207 B 7208 C 7208 D 7209 A 7209 B 7209

VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Anlage 5

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Gesetzes zum Pfändungs-schutz der Altersvorsorge und zur Anpassungdes Rechts der Insolvenzanfechtung (Tages-ordnungspunkt 14)

Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Dirk Manzewski (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP)

Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 6

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Beschlussempfehlung und des Berichts:Integriertes Küstenzonenmanagement konti-nuierlich fortentwickeln (Tagesordnungs-punkt 16)

Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 7

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Den kostenfreien Empfang vonRundfunk via Satellit sicherstellen (Tagesord-nungspunkt 17)

Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Christoph Pries (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christoph Waitz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Chancen und Herausforderungender Osterweiterung der Europäischen Union(EU) für die Entwicklungszusammenarbeitder EU (Zusatztagesordnungspunkt 8)

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hellmut Königshaus (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

7359 D

7361 A

7361 D

7362 C

7363 B

7363 D

7364 C

7365 B

7365 D

7366 C

7367 C

7367 D

7368 C

7369 C

7370 C

7371 C

7372 B

7373 B

7374 B7375 A

Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Dem Beruf des Rettungsassis-tenten eine Zukunftsperspektive geben – DasRettungsassistentengesetz novellieren (Tages-ordnungspunkt 18)

Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Dr. Margrit Spielmann (SPD) . . . . . . . . . . . .

Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 10

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Anträge:

– Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Que-rung – Fährkonzept verbessern

– Statt fester Fehmarnbelt-Querung – Fürein ökologisch und finanziell nachhaltigesVerkehrskonzept

(Tagesordnungspunkt 19 und Zusatztagesord-nungspunkt 9)

Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . .

Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 11

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Anträge:

– Einrichtung einer Polizeireformkommis-sion

– Notwendigkeit einer Defizitanalyse desbestehenden Sicherheitssystems

(Tagesordnungspunkt 20 und Zusatztagesord-nungspunkt 10)

Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Max Stadler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7376 C

7377 B

7377 D

7379 A

7379 D

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7391 A

Page 9: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/16/16073.pdf · Dr. Lale Akgün (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7207 A 7207 B 7207 B 7207 B 7208 C 7208 D 7209 A 7209 B 7209

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7207

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73. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alleherzlich, wünsche Ihnen einen guten Morgen und uns in-tensive, gute Beratungen.

Vizepräsidentin Dr. Susanne Kastner und der KollegeErich Fritz haben vor einigen Tagen jeweils ihren60. Geburtstag gefeiert. Im Namen des ganzen Hausesgratuliere ich dazu nachträglich herzlich und wünschealles Gute.

(Beifall – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Un-fassbar! Das sieht man nicht!)

Die Kollegin Miriam Gruß hat ihr Amt als Schriftfüh-rerin niedergelegt. Das ist kein Anlass zum Jubeln. AlsNachfolger schlägt die Fraktion der FDP den KollegenFlorian Toncar vor. Sind Sie damit einverstanden? – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Die Fraktion Die Linke teilt mit, dass der Kollege Hü-seyin-Kenan Aydin aus der Parlamentarischen Ver-sammlung des Europarates ausscheidet. An seiner Stellesoll der Kollege Dr. Hakki Keskin neues ordentlichesMitglied werden. Sind Sie auch damit einverstanden? –Das sieht sehr danach aus. Dann ist der KollegeDr. Keskin als ordentliches Mitglied in die Parlamentari-sche Versammlung des Europarates gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:Rechtsstaatliche Anforderungen an eine ordnungsgemäßeGesetzgebungsarbeit

ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENzu den Antworten der Bundesregierung auf die dringli-chen Fragen Nr. 1 und 2 auf Drucksache 16/3790

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning,Christian Ahrendt, Michael Link (Heilbronn), weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der FDP

Mehr Ehrgeiz für die deutsche Ratspräsidentschaft – eineEU der Erfolge für die Bürger

– Drucksache 16/3832 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren(Ergänzung zu TOP 29)a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-

ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommenvom 20. Oktober 2005 über den Schutz und die Förde-rung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen– Drucksache 16/3711 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Auswärtiger Ausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENVermittlung in Selbstständigkeit durch Bundesagen-tur für Arbeit ermöglichen – Künstlerdienste sichern– Drucksache 16/3779 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss

ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache(Ergänzung zu TOP 30)a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-

schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 153 zu Petitionen– Drucksache 16/3817 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 154 zu Petitionen– Drucksache 16/3818 –

c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 155 zu Petitionen– Drucksache 16/3819 –

Redetext

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7208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

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Präsident Dr. Norbert Lammert

d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 156 zu Petitionen– Drucksache 16/3820 –

e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 157 zu Petitionen– Drucksache 16/3821 –

f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 158 zu Petitionen– Drucksache 16/3822 –

g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 159 zu Petitionen– Drucksache 16/3823 –

h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 160 zu Petitionen– Drucksache 16/3824 –

j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 161 zu Petitionen– Drucksache 16/3825 –

ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-schusses für Kultur und Medien (22. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto

(Frankfurt), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPKeine Rundfunkgebühr für Computer mit Internet-anschluss – die Gebührenfinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks grundlegend reformieren

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky,Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der LINKENMoratorium für PC-Gebühren – sofortige Neuver-handlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages

– zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger,Grietje Bettin und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENPC-Gebühren-Moratorium verlängern

– Drucksachen 16/2970, 16/3002, 16/2793, 16/3792 – Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard Grindel Jörg Tauss Hans-Joachim Otto (Frankfurt)Dr. Lukrezia Jochimsen Grietje Bettin

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister,Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Reinhard Schultz (Everswinkel),Bernd Scheelen, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPDBezeichnungsschutz für Sparkassen gesichert– Drucksache 16/3805 –

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Georg Nüßlein,Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenDr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gabriele Groneberg,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDChancen und Herausforderungen der Osterweiterung derEuropäischen Union (EU) für die Entwicklungszusam-menarbeit der EU– Drucksache 16/3807 –

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock,Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Statt fester Fehmarnbelt-Querung – Für ein ökologischund finanziell nachhaltiges Verkehrskonzept– Drucksache 16/3798 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss

ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Stadler,Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDPNotwendigkeit einer Defizitanalyse des bestehenden Si-cherheitssystems– Drucksache 16/3809 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss

ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer,Dr. Rainer Stinner, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDPFür eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeitim Nahen Osten (KSZNO)– Drucksache 16/3816 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss

Die zunächst vorgesehenen Aktuellen Stunden aufVerlangen der Fraktion Die Linke zur Armutsstatistikund auf Verlangen der Fraktion des Bündnisses 90/DieGrünen zum Nichtraucherschutz finden entgegen der ur-sprünglichen Ankündigung nicht statt.

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll so-weit erforderlich abgewichen werden.

Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Aus-schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktlisteaufmerksam:

Der in der 67. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich demAusschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur Mitbera-tung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler,Monika Grütters, Eckart von Klaeden, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-wie der Abgeordneten Monika Griefahn, PetraHinz (Essen), Lothar Mark, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der SPD

Stärkung des Goethe-Instituts durch neuesKonzept

– Drucksache 16/3502 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss

Der in der 71. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich demAusschuss für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-schuss) zur Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Kor-nelia Möller, Cornelia Hirsch, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der LINKEN

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Präsident Dr. Norbert Lammert

Ausbildungsplatzlücke schließen – Vorschlagdes DGB aufgreifen

– Drucksache 16/3540 – überwiesen:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich stelle Einvernehmen fest. Dann ist das so beschlos-sen.

Wir kommen nun zur Abgabe einer Erklärung durchdie Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat in Düssel-dorf – Entschuldigung, in Brüssel.

(Heiterkeit)

– Stellen Sie sich vor, ich hätte dazu Einvernehmen fest-gestellt. Dann wäre es richtig kompliziert geworden.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c so-wie den Zusatzpunkt 3 auf:

4 a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzle-rin

zum Europäischen Rat in Brüssel am14./15. Dezember 2006 und den bevorstehen-den deutschen Präsidentschaften im Rat derEuropäischen Union und in der G 8

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten MichaelStübgen, Gunther Krichbaum, Thomas Bareiß,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Axel Schäfer,Dr. Lale Akgün, Doris Barnett, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPD

Die deutsche Präsidentschaft der Europäi-schen Union zum Erfolg führen

– Drucksache 16/3808 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss

c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung

Präsidentschaftsprogramm 1. Januar bis30. Juni 2007 – Europa gelingt gemeinsam

– Drucksache 16/3680 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusLöning, Christian Ahrendt, Michael Link (Heil-bronn), weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP

Mehr Ehrgeiz für die deutsche Ratspräsident-schaft – eine EU der Erfolge für die Bürger

– Drucksache 16/3832 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Bevor ich dazu der Bundeskanzlerin das Wort erteile,möchte ich dem Minister Michael Glos zu seinem heuti-gen Geburtstag herzlich gratulieren.

(Beifall)

Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungs-antrag der Fraktion Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung anderthalb Stunden vorgesehen. – Auch dazu höreich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatdie Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

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Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

rund zwei Wochen beginnt die deutsche Doppelpräsi-dentschaft: im Rat der Europäischen Union und in derGruppe der Acht. In wenigen Stunden beginnt der Euro-päische Rat – wie gesagt – in Brüssel, noch einmal unterfinnischem Vorsitz.

Weil sich die finnische EU-Präsidentschaft dem Endezuneigt, möchte ich ihr an dieser Stelle ein herzlichesDankeschön sagen. Sie hat unter schwierigen Bedingun-gen vieles erreicht.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDPund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowiebei Abgeordneten der LINKEN)

Der morgen stattfindende Rat wird sich vor allen Din-gen mit dem Thema Erweiterungspolitik befassen.Wenn man sich an die Anfänge der Europäischen Unionerinnert – damals waren es sechs Mitgliedstaaten –, sokann man heute sagen: Diese Erweiterungspolitik isteine Erfolgsgeschichte Europas. Denn heute umfasst dieEuropäische Union fast das gesamte kontinentale Europain Demokratie und Freiheit.

Mit Rumänien und Bulgarien werden am 1. Januar2007 zwei weitere Mitglieder in die Europäische Unionkommen. Beide Staaten haben zusätzliche Verpflichtun-gen zu weiteren Reformen nach dem Beitritt übernom-men. Mit Kroatien und mit der Türkei laufen Verhand-lungen. Auch die Staaten des westlichen Balkans – Siewissen das – haben eine Beitrittsperspektive.

Man sieht also: Es ist viel in Bewegung und natürlichkommen die Fragen auf, wohin das führt und wie, alsonach welchen Prinzipien die Europäische Union wach-sen will. Genau darüber werden wir auf diesem Rat spre-chen. Denn der Erfolg der Erweiterungspolitik muss da-rin liegen, dass die Europäische Union attraktiver undhandlungsfähiger wird, und zwar sowohl nach außen alsauch nach innen.

Wir alle wissen, dass die Perspektive zum Beitrittnoch kein Garantieschein für eine spätere Mitgliedschaftist. Es müssen die Kriterien eingehalten werden, auf diesich der EU-Vertrag gründet, und es müssen die Bei-trittskriterien eingehalten werden, die durch die Be-schlüsse der Staats- und Regierungschefs der Europäi-schen Union festgelegt sind. Dies sage ich nicht alsDrohung, sondern ich sage es eher als Ansporn für dieLänder, die beitreten wollen, und auch als Ansporn fürdie Gemeinschaft, die natürlich dafür sorgen muss, dasssie die notwendige Aufnahmefähigkeit hat.

Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Mon-tenegro und Serbien haben eine solche Beitrittsperspek-tive. Aber bei aller Richtigkeit dieser Entscheidung wis-sen wir, dass die Perspektive eine mittlere ist und dassnoch viele Vorbereitungen zu treffen sind, damit aus die-ser Perspektive eine Aufnahme werden kann. Ich nehmeKroatien hier ausdrücklich aus. Die EU führt mit diesemLand bereits erfolgreiche Beitrittsverhandlungen. Aberauch hier ist es noch zu früh, um ein Datum für die Auf-nahme nennen zu können.

Wir haben uns in diesen Tagen sehr stark mit derFrage der Türkei befasst. Es ging um die Umsetzungdes Ankaraprotokolls. Die Vorgeschichte ist bekannt.Die Türkei hatte sich mit ihrer Unterschrift im Juli 2005verpflichtet, das Ankaraprotokoll umzusetzen. Ich willnoch einmal sagen: Es geht hier um keine Kleinigkeit,sondern um die Selbstverständlichkeit, dass Beitrittskan-didaten und EU-Mitgliedstaaten einander politisch unddiplomatisch anerkennen.

Die finnische Präsidentschaft – das will ich hier aus-drücklich hervorheben – hat bis zur letzten Minute allesunternommen, um der Türkei die Umsetzung des Anka-raprotokolls zu erleichtern. Aber wir müssen heute fest-stellen: Die Türkei hat das Protokoll nicht umgesetzt.Die EU hat darauf reagiert, und zwar, wie ich meine,gleichermaßen entschlossen wie besonnen. Sie hat be-sonnen reagiert, indem der Türkei stets deutlich gemachtwird, dass es sich für sie lohnt, weiter an Reformen zuarbeiten. Damit meine ich nicht nur das Ankaraproto-koll, sondern genauso meine ich tief greifende innenpo-litische Reformen, bei denen es um Menschenrechtegeht, bei denen es um die Freiheit der Bürgerinnen undBürger geht. Entschlossen hat die Europäische Union re-agiert, indem die Europäische Kommission am 29. No-vember dieses Jahres deutlich gemacht hat, dass es eineinfaches „Weiter so!“ nicht geben kann. Sie hat dieEmpfehlung abgegeben, acht Verhandlungskapitel aus-zusetzen und kein Kapitel zu schließen, solange das An-karaprotokoll nicht umgesetzt ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Beifall bei der FDP)

Genau dies haben die Außenminister am Montag die-ser Woche als Grundlage für die Beratungen, die heuteund morgen stattfinden, vereinbart. Ich bin sehr dankbar,dass es gelungen ist, diese Vereinbarung zu treffen. DieAußenminister haben damit gezeigt, dass auf Worte Ta-ten folgen. Aber ich sage noch einmal: Die EU hat glei-chermaßen besonnen und entschlossen reagiert. DasGanze wird dadurch ergänzt und präzisiert, dass dieKommission dem Rat jährlich, also 2007, 2008 und2009, berichten wird, ob und inwieweit die Türkei ihrenVerpflichtungen nachgekommen ist. Auch diesen Über-prüfungsmechanismus begrüße ich sehr. Denn es ist derRat, der immer wieder einstimmig entscheiden muss,wie es mit den Beitrittsverhandlungen weitergeht.

Meine Damen und Herren, es besteht die Notwendig-keit – das wird auch während unserer Präsidentschafteine Rolle spielen und an Bedeutung gewinnen –, Staa-ten enger an die Europäische Union zu binden, ohne ih-nen bereits die Vollmitgliedschaft oder überhaupt etwaszusagen zu können. Das gilt im Hinblick auf dieUkraine, die Schwarzmeerregion und andere Regionen.Deshalb brauchen wir eine attraktive und dauerhafteNachbarschaftspolitik, mit der wir die Länder enger andie Europäische Union heranführen, die selbst nicht Mit-glied werden können. Ich bin sehr dankbar für die Initia-tiven des Auswärtigen Amtes, die sich sehr intensiv mitder Entwicklung einer solchen Nachbarschaftspolitik be-schäftigen.

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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

Wir werden auf dem Rat auch über die Innen- undJustizpolitik sprechen, vor allen Dingen über das ThemaMigration. Wir alle kennen die Bilder verzweifelterMenschen und afrikanischer Flüchtlinge auf brüchigenBooten. Wir können dem nicht einfach zusehen, sondernwir müssen ein kohärentes und gemeinsames Handelnder Europäischen Union hinbekommen. Das bedeutet,dass wir auf der einen Seite mit Entschiedenheit gegenillegale Migration vorgehen müssen, dass wir aber aufder anderen Seite auch die Ursachen der illegalen Migra-tion bekämpfen und uns mit der Situation in den afrika-nischen Ländern auseinander setzen müssen. Beides ge-hört zusammen und bei beidem liegt noch sehr vielArbeit vor uns.

Wir haben heute nicht nur über den aktuell stattfin-denden Rat zu sprechen, der heute und morgen zusam-mentritt, sondern auch darüber, dass Deutschland in gutzwei Wochen die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt.Wir haben unsere Präsidentschaft unter das Motto „Eu-ropa gelingt gemeinsam“ gestellt, aber man könnte auchsagen: Europa gelingt nur gemeinsam. Wir haben es er-lebt: Ein gespaltenes, ein uneiniges Europa – sei es inaußenpolitischen Fragen, sei es in innenpolitischen Fra-gen – macht die Stärke der Europäischen Union nichtdeutlich. Deshalb gilt für die Außenpolitik wie für dieinnere Politik der Europäischen Union: Europa gelingtnur gemeinsam.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das sage ich vor allen Dingen mit Bezug auf das, wasich das Zukunftsmodell der Europäischen Union nennenwürde: das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell.Die Bundesregierung fühlt sich der Weiterentwicklungdes europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells ver-pflichtet. Denn wenn wir wirtschaftlich nicht stark sind,wenn wir den Menschen keine Perspektive geben kön-nen, dann wird Europa, dann wird die EuropäischeUnion nach außen hin nicht stark auftreten können.

Wir brauchen eine erfolgreiche Politik in Brüssel. Dasbedeutet aber – das möchte ich an dieser Stelle nur kurzeinschieben –, dass auch die Mitgliedstaaten stark seinmüssen. Die Bundesregierung wird den Weg der Refor-men während ihrer EU-Ratspräsidentschaft entschiedenweitergehen. Die Dinge gehören zusammen: Einfluss aufdie Entwicklung der Europäischen Union haben wir nurdann, wenn bei uns die Arbeitslosigkeit sinkt, wenn wirauf dem Pfad des Wirtschaftswachstums bleiben undwenn unsere Unternehmen prosperieren. Innen- und Au-ßenpolitik gehören an dieser Stelle sehr eng zusammen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wenn wir vorausschauend auf unsere Präsidentschaftblicken, müssen wir uns bewusst sein, dass in dieser Zeitunerwartete Ereignisse eintreten können. Alle vergange-nen Präsidentschaften haben das erlebt. Selbstverständ-lich haben wir für unsere Präsidentschaft dennochSchwerpunkte gesetzt. So wollen wir insbesondere diewirtschafts- und sozialpolitische Zukunft Europas inden Mittelpunkt unserer Präsidentschaft rücken. Aufdem Frühjahrsgipfel im März 2007 wollen wir deshalb

besondere Impulse in den Bereichen geben, die für dieWettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, für die Be-schäftigung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerund für die Entwicklung unseres Wohlstands wichtigsind. Wir wissen, dass die Bürgerinnen und Bürger Euro-pas natürlich nicht den Sonntagsreden trauen, sonderndass sie sich fragen: Bringt mir diese Europäische Unionfür mein eigenes Leben ein Stück Sicherheit, ein StückWohlstand? Deshalb müssen wir genau die Dinge, diedamit zusammenhängen, weiterentwickeln oder neu an-gehen.

Da nenne ich das Thema Bürokratieabbau – oder„bessere Rechtsetzung“, wie das in der europäischenSprache heißt. Hier gibt es in der letzten Zeit einen Men-talitätswandel und wir wollen ihn fördern. Ein Mehr anRichtlinien bedeutet nicht in jedem Fall ein Mehr anwirtschaftlicher Prosperität für die Europäische Union.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Deshalb werden wir den deutschen Kommissar, HerrnVerheugen, bei diesen Dingen unterstützen.

Wir werden auch eine Diskussion über die Frage derEinführung eines Diskontinuitätsprinzips in der Euro-päischen Union führen. Das hat etwas zu tun mit demVerhältnis der Institutionen in Europa: Kommission,Parlament und Rat. Für uns, in einem nationalen Parla-ment, ist es selbstverständlich, dass mit dem Ende einerLegislaturperiode Gesetzentwürfe verfallen. Auf europäi-scher Ebene gibt es so etwas nicht. Wir sollten darüberreden, dass es doch nicht sein kann, dass ein neues Parla-ment gewählt wird, eine neue Kommission bestellt wird,aber das Einzige, was konstant bleibt, die nicht bearbei-tete Richtlinie ist. Das wird ein langer Prozess, das wirdnicht schnell gehen; ich weiß, welches dicke Brett wir dabohren. Aber wir sollten darüber sprechen, weil es fürdas Selbstverständnis von Parlament, Kommission undRat ganz wichtig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die Vollendung des Binnenmarktes wird ein weite-rer Schwerpunkt sein. Wir müssen uns noch einmal ver-gegenwärtigen – ich glaube, die Zahlen der Kommissionsind da sehr eindrücklich –, dass der Binnenmarkt seitAnfang der 90er-Jahre ein Mehr von über 2,5 MillionenArbeitsplätzen gebracht hat. Das muss man den Men-schen immer und immer wieder sagen: Freiheitliche Re-geln im einheitlichen Binnenmarkt in der EuropäischenUnion und gemeinsame Standards bringen ein Mehr anBeschäftigung und machen uns insgesamt stärker.

Wir werden einen Schwerpunkt setzen bei Forschungund Bildung. Das 7. Forschungsrahmenprogramm wirdwährend unserer Präsidentschaft starten. Das, was unsder Bundespräsident immer wieder gesagt hat – wir müs-sen so viel besser sein, wie wir teurer sind –, müssen wirdadurch umsetzen, dass wir innovativ sind, dass wir for-schungsstark sind, dass Europa an der Spitze ist. Dasmuss das Credo sein, das sich auch sich hinter dem tro-ckenen Ziel des Lissabonprozesses verbirgt.

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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ein weiterer Schwerpunkt wird die Energiepolitiksein. Die Kommission wird hier eine Reihe von Mittei-lungen machen. Deshalb wollen wir beim Frühjahrsgip-fel einen Aktionsplan für eine Energiepolitik für Europaverabschieden. Wir brauchen einen echten Binnenmarktfür Strom und Gas. Wir wollen natürlich die Klima-schutzziele erfüllen und müssen deshalb der Energieeffi-zienz eine besondere Bedeutung beimessen. Wir wollendie erneuerbaren Energien ausbauen. Wir wollen die En-ergieforschung entwickeln. Wenn wir als Europa beimKlimaschutz weiter eine Vorreiterrolle spielen wollen,müssen wir auch Ziele für die Zeit nach 2012, also nachdem Auslaufen des Kiotoprotokolls, festlegen. Eine ge-meinsame Verhandlungslinie der Europäischen Unionwäre sehr gut, gerade mit Blick auf unsere G-8-Präsi-dentschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Natürlich möchten wir, dass der 50. Jahrestag der Un-terzeichnung der Römischen Verträge am 25. März zueinem Höhepunkt unseres Ratsvorsitzes wird. Es ist his-torisch beachtlich – um es ganz vorsichtig zu sagen –,dass es 50 Jahre nach der Unterzeichnung der Römi-schen Verträge möglich ist, in einem wiedervereinigtenDeutschland, in einer nicht mehr geteilten Stadt Berlinein Europa zu feiern, das auch die mittel- und osteuro-päischen Länder umfasst. Dafür kann man gar nichtdankbar genug sein.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und derFDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. OskarLafontaine [DIE LINKE])

Dieser 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römi-schen Verträge und die Verabschiedung einer BerlinerErklärung werden uns noch einmal daran erinnern, dasswir natürlich ein gemeinsames Selbstverständnis und eingemeinsames Werteverständnis brauchen. Europa grün-det sich auf geschichtliche Erfahrungen, die wir zusam-men gemacht haben; häufig waren dies sehr leidvolle Er-fahrungen. Europa gründet sich auf dem Willen, dieZukunft gemeinsam besser zu gestalten. Europa gründetsich aber vor allem auf Werten, die wir alle teilen: Frei-heit und Gerechtigkeit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeitund Achtung der Menschenrechte.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Soziale Bindungen!)

Nur auf der Grundlage dieser Wertegemeinschaft konntenach dem Zweiten Weltkrieg ein historisch neues Mit-einander von größeren und kleineren Mitgliedstaatenentstehen. Das heißt, europäische Integration muss auchin Zukunft wertegebunden sein.

Das führt unweigerlich zum Verfassungsvertrag.Die Verantwortung, die wir haben, ist uns klar. Ich willaber an dieser Stelle auch deutlich sagen: Das wird einProzess sein, der während unserer Präsidentschaft nichtbeendet werden wird. Wir wissen: Nizza ist nicht genug.Wir brauchen einen Verfassungsvertrag.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Aber wir haben die Aufgabe, zum Ende unserer Ratsprä-sidentschaft hin einen Fahrplan vorzulegen, wie es wei-tergehen kann. Ich hielte es für ein historisches Ver-säumnis – das will ich hier ganz klar sagen –, wenn wires nicht schaffen würden, bis zur nächsten Europawahlmit der Substanz dieses Verfassungsvertrages so umzu-gehen, dass wir wirklich ein Ergebnis abliefern können.Ich werde mich während unserer Präsidentschaft jeden-falls intensiv dafür einsetzen – das gilt auch für diegesamte Bundesregierung –, dass auf Grundlage derGemeinsamkeit unserer Werte ein solcher Verfassungs-vertrag zustande kommt.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und derFDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

In den Außenbeziehungen der Europäischen Unionwird uns – das spüren wir alle – immer mehr Gemein-samkeit abverlangt. Wir sind als Mitgliedstaat alleine garnicht in der Lage, den Bedrohungen durch Massenver-nichtungswaffen und internationalen Terrorismus zu be-gegnen. Deshalb tun wir das im Verbund mit unserenPartnern in der Europäischen Union und in der NATO.Wir müssen in unserer Präsidentschaft natürlich dafürsorgen, dass in all den aktuellen Fällen mit einer und miteiner starken Stimme gesprochen wird.

Ich glaube, sagen zu können, dass es in den letztenJahren große Fortschritte bei der europäischen Außen-und Sicherheitspolitik gegeben hat. Die EuropäischeUnion hat – wenn wir uns das einmal vergegenwärtigen –erfolgreich dazu beigetragen, die Krise in Mazedonien zuentschärfen, in Indonesien einen Friedensprozess einzu-leiten und im Kongo einer neuen Krise vorzubeugen.

Was haben wir nicht gerade im Zusammenhang mitdem Einsatz im Kongo über hohe Risiken diskutiert. Ichglaube aber, dass es besser ist, über die Risiken vorherzu diskutieren, damit sie einen nicht unerwartet treffen.Aber ich finde, die Europäische Union hat ihren Auftragan dieser Stelle großartig erfüllt.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin froh, dass unsere Soldatinnen und Soldaten nachHause kommen können. Der Prozess im Kongo im Zu-sammenhang mit der Wahl hat das Land ein Stück weitergebracht. Das heißt aber nicht, dass unser Engagementfür den Kongo jetzt aufhört. Wir werden dort weiterhinPolizisten ausbilden. Die UNO wird sich weiterhin enga-gieren. Wir haben in Bosnien-Herzegowina Verantwor-tung übernommen und sind auch im Gazastreifen aktivtätig.

Die Europäische Union ist sich ihrer wachsenden Ver-antwortung also nicht nur bewusst, sondern sie nimmtsie auch wahr. Aber sie weiß auch: Sie ist nur Teil derZusammenarbeit mit der NATO und in den VereintenNationen. Die Handlungsfähigkeit der Europäer musssich in jedem einzelnen Fall, in jeder Krise wieder neubewähren. Die Stabilisierung des westlichen Balkans

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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

wird dabei in den kommenden Monaten mit Sicherheitein Schwerpunkt unserer Arbeit sein. In Serbien wird esWahlen geben. Wir werden danach vom Sondergesand-ten Ahtisaari einen Vorschlag bekommen, wie es mitdem Kosovo weitergeht. Wir wissen schon heute, dassdann die größte zivile Mission im Rahmen der Europäi-schen Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Ent-wicklung im Kosovo begleiten muss und dass es dort zueiner völlig neuen Qualität bei der Zusammenarbeit vonEuropäischer Union und NATO kommen muss.

Wir sind parallel zur Stabilisierung des Balkans natür-lich mit Afghanistan beschäftigt, mit dem Nachbarkonti-nent Afrika und dessen Konflikten und vor allen Dingenmit dem Nuklearprogramm des Irans. Wir wissen:Deutschland und auch die Europäische Union dürfenund werden sich nicht überheben. Deutschland kenntseine Möglichkeiten, aber auch seine Grenzen. Wir soll-ten jedoch nicht übersehen, dass wir durch die Doppel-präsidentschaft natürlich ein zusätzliches Maß an Ver-antwortung tragen.

Ich habe in den letzten Tagen mit Präsident Mubarakund Ministerpräsident Olmert gesprochen; denn wir wis-sen, dass wir gerade im Nahen Osten vor riesigen Pro-blemen stehen. Bei der Verabschiedung des Libanon-mandats waren wir uns alle hier einig: Die militärischeOption, die Präsenz unserer Soldaten vor der libanesi-schen Küste, ist nur eine Facette des notwendigen politi-schen Prozesses. So schwierig dies ist, so einig ist sichdie Bundesregierung darin, dass der Weg über eine Bele-bung des Nahostquartetts führen muss. Dazu gehörenimmer wieder auch ungewöhnliche Schritte, wie zumBeispiel die Reise des Außenministers nach Syrien.

Ich sage ganz deutlich: Diese Reise war ein Risiko –kein Zweifel. Wir wissen auch, dass durch diese ReiseWiderspruch ausgelöst wurde. Kurzfristig hat sie auchnoch nicht den Erfolg gebracht, den wir uns wünschen.Ich sage aber auch: Diese Reise steht geradezu symbo-lisch für das Verständnis der Außenpolitik der gesamtenBundesregierung.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Verständnis beinhaltet Dialogbereitschaft auchdort, wo sie nicht selbstverständlich ist – aber immer aufder Grundlage klarer Prinzipien und Werte. Dialogbe-reitschaft und klare Prinzipien und Werte – das gehörtfür uns zusammen und das wird auch weiterhin so sein.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Dies werden wir auch im Zusammenhang mit Syrien,mit dem Iran und mit den Konflikten in allen anderenLändern so handhaben.

Meine Damen und Herren, eine sechsmonatige Präsi-dentschaft beinhaltet immer die Gefahr einer gewissenKurzatmigkeit bei der Bewältigung riesiger Aufgaben.Deshalb finde ich es richtig, dass sich die EuropäischeUnion zu Dreierpräsidentschaften entschlossen hat.Das heißt, gemeinsam mit Portugal und Slowenien wer-den wir auch über die Zeit unserer Präsidentschaft hi-

nausreichende Dinge planen, um eine gewisse Kontinui-tät zu erreichen. Dazu wird zum Beispiel die Vorberei-tung eines EU-Afrika-Gipfels im zweiten Halbjahr desJahres 2007 gehören, bei dem wir Portugal unterstützenwerden.

Wir sind natürlich gut beraten, über das halbe Jahr hi-naus zu denken und über den Tellerrand Europas hinauszu schauen. Deshalb werden die Programme, die wirwährend der EU-Präsidentschaft durchführen, und dieArbeiten im Rahmen unserer G-8-Präsidentschaft natür-lich verknüpft. Das bedeutet ganz elementar, dass wirunsere Partnerschaft mit den östlichen Nachbarn der EU,zum Beispiel mit Russland, und unser Verhältnis zu Zen-tralasien sowie zu China und Indien entwickeln.

Ich begrüße es außerordentlich, dass der Bundes-außenminister die zentralasiatische Region und auch dienordafrikanische Region besucht hat. Ich glaube, wirmüssen verstehen, dass diese Regionen auch für die Zu-kunft der Europäischen Union von zentralem Interessesind. Wenn man sich einmal anschaut, mit welcher Vehe-menz Länder wie China heute eine sehr bewusste Au-ßenpolitik betreiben, dann wird klar, dass die EU gut be-raten ist, auch diese Regionen immer wieder imBlickfeld zu haben und sich um sie zu kümmern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, auch während unsererG-8-Präsidentschaft setzen wir einen Schwerpunkt:Wir wollen zeigen, dass es in unserer Bundesregierungden unbedingten Willen zur politischen Gestaltung derGlobalisierung gibt. Die Globalisierung muss fairenRegeln verpflichtet sein. Ich sage das ausdrücklich:Dazu gehören auch Sozial- und Umweltstandards.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD sowie des Abg. Oskar Lafontaine[DIE LINKE])

Natürlich – das ist vielleicht unser größtes Problem –bezweifeln viele Menschen heute, dass das überhauptnoch gelingen kann. Ich glaube aber, wir dürfen diesenAnspruch nie aufgeben. In der Globalisierung bedeutetdas natürlich eine Gemeinsamkeit mit vielen Partnernauf der Welt und zum Teil auch das Bohren sehr dickerBretter: Wir müssen Barrieren für internationale Investi-tionen abbauen, wir müssen die Kapitalmärkte transpa-renter machen, wir wollen das geistige Eigentum effekti-ver schützen, wir wollen die Produktpiraterie bekämpfenund wir müssen vor allen Dingen – dazu ist die G-8-Prä-sidentschaft auch geeignet – im Klimaschutz weiterkom-men, nämlich durch eine Verbesserung der Energieeffi-zienz und durch eine erhöhte Sicherheit hinsichtlich derEnergieversorgung. Schließlich wollen wir während un-serer G-8-Präsidentschaft auch Afrika eine Perspektivegeben, was wir zu einem besonderen Schwerpunkt ma-chen werden.

Meine Damen und Herren, die Doppelpräsidentschaftim Rat der EU und in der G 8 wird uns alle fordern. Des-halb bitte ich bei der Umsetzung auch um die Unterstüt-zung aller. Die Regierung alleine kann das nicht

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7214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

schaffen. Es kommt deshalb auf die Zusammenarbeitvon Bundesregierung, Bundestag, sowohl mit den Koali-tionsfraktionen als auch mit den Oppositionsfraktionen,und auf die Zusammenarbeit mit den Ländern an. Ma-chen wir diese Präsidentschaften zu einem gemeinsa-men nationalen Anliegen.

In diesem Jahr war die Welt für einige wunderbareWochen im Sommer in unserem Land wahrlich zu Gastbei Freunden. Nächstes Jahr können wir ganz anders,aber jeder an seinem Platz dazu beitragen, das Wachstumund die Verantwortung in der Welt zu fördern und Eu-ropa gemeinsam gelingen zu lassen. Denn ich glaube, ei-nes ist gewiss: Europa war und Europa bleibt die Frie-densidee des 20. Jahrhunderts und Europa bleibt die Zu-kunftsidee des 21. Jahrhunderts. Dafür lohnt sich dieMühe, dafür lohnt sich auch die Arbeit an Kompromis-sen. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken. Dannkönnen wir etwas schaffen.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Guido Wes-

terwelle für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Guido Westerwelle (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben um die Unterstüt-zung für die wichtige EU-Ratspräsidentschaft aus demganzen Hohen Haus gebeten. Sie haben ausdrücklichnicht nur um die Unterstützung der Koalitionsfraktio-nen gebeten, sondern sich auch an die Opposition ge-wandt. Ich kann Ihnen jedenfalls für die liberale Opposi-tion in diesem Hause sagen: Wir werden Sie bei Ihremwichtigen Anliegen, die EU-Ratspräsidentschaft zu ei-nem Erfolg im Interesse unseres Landes zu führen, mitSicherheit unterstützen. Darauf können Sie sich verlas-sen. Wir werden mit Sicherheit Ihre Arbeit begleiten,auch kritisch, aber es gibt überhaupt keinen Zweifel da-ran: Hier geht es um deutsches Interesse und nicht umOpposition oder Koalition, meine sehr geehrten Damenund Herren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben mit dieser EU-Ratspräsidentschaft eine he-rausragende Chance für Deutschland. Wir haben eine he-rausragende Chance für Europa. Ich bin deswegen übri-gens auch ein wenig verwundert, wie wenig ausgeprägtdas Interesse seitens der Kolleginnen und Kollegen ge-genüber dieser ersten Regierungserklärung der Bundes-regierung zur EU-Ratspräsidentschaft ist.

Aber, meine Damen und Herren, wir alle wollen denErfolg Ihrer Präsidentschaft. Deswegen will ich zu Be-ginn erst einmal darauf aufmerksam machen, dass diebisherige Außen- und Europapolitik Ihrer Regierung in

einem wesentlichen Punkt eine wohltuende Korrekturgegenüber der rot-grünen Regierungszeit erfahren hat.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren in der Bundesregierung,Sie haben gegenüber der Vorgängerregierung zweiDinge korrigiert, nicht laut angekündigt, aber doch spür-bar. Es ist nicht mehr die Rede von der Achsenbildung,es ist nicht mehr die Rede von einer Achse Paris-Berlin,gar Moskau. Vor allen Dingen hat die Ignoranz in derEuropapolitik gegenüber den kleineren und mittlerenStaaten der Europäischen Union weitestgehend ein Endegefunden. Das begrüßen wir ausdrücklich. Es war immerbeste Tradition deutscher Außen- und Europapolitik,nicht nur die Großen in Europa zu sehen, sondern auchdie kleinen und mittleren Völker in Europa als Verbün-dete zu betrachten.

(Beifall bei der FDP)

Wir erinnern uns noch, wie die Regierung Schröder/Fischer zu Beginn ihrer Amtszeit sogar mit Sanktionengegen unser Nachbarland Österreich arbeitete, weil dorteine Regierungsbildung zustande kam, die aus Sicht derrot-grünen Bundesregierung nicht gewünscht war. Des-wegen ist es wohltuend, dass die Regierung Merkel/Steinmeier dies offensichtlich korrigiert.

Wir alle werden als Volksvertreter immer wieder inunseren Veranstaltungen gefragt, was uns Europa bringt.Ich kann nur das aufgreifen, was die Bundeskanzlerin imKern als ihre Begründung genannt hat. Selbst wenn unsEuropa nicht mehr gebracht hätte als jahrzehntelangenFrieden für unser Land und in Europa selbst, dann hättesich der europäische Integrationsprozess längst ge-lohnt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen ist es richtig, dass die europäische Erweite-rung und die Erweiterung des Integrationsprozesses– dazu zählt auch die Aufnahme von Bulgarien und Ru-mänien – zunächst als Friedenschance gesehen wird.Wann hat es das jemals in unserer Geschichte gegeben,dass wir Deutschen gewissermaßen von Freunden undVerbündeten umzingelt waren? Das sollten wir uns sehrgenau einprägen. Es ist ohne jeden Zweifel eine wunder-bare Entwicklung.

Andere fürchten sich vor dem Wettbewerb, der mitdem Beitritt der ost- und südosteuropäischen Länder ein-hergeht. Wer sich vor dem Wettbewerb aus Rumänienund Bulgarien fürchtet, den müssen wir realistischer-weise darauf hinweisen, dass das erst der Anfang ist. Esist die Ouvertüre. Der eigentliche Wettbewerb kommtnoch auf uns zu, und zwar durch China, Indien und denunterschätzten südamerikanischen Kontinent. Wermeint, er könne den Wettbewerb schon innerhalb Euro-pas nicht bestehen, der ist augenscheinlich auch mentalnicht hinreichend für die Herausforderungen der welt-weiten Globalisierung gewappnet.

(Beifall bei der FDP)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7215

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Dr. Guido Westerwelle

In Wahrheit ist die Globalisierung eine sichere Ent-wicklung. Die beste Antwort auf die Globalisierung istdie Schaffung eines großen europäischen Binnenmarktesund eine koordinierte europäische Außen- und Wirt-schaftspolitik. Europa ist keine weitere Bedrohung fürDeutschland, sondern unsere Antwort auf den weltwei-ten Wettbewerb. Es ist in erster Linie kein Risiko, son-dern eine Chance für unser Land.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen stellt der Binnenmarkt gewissermaßen einFitnessprogramm für diese Herausforderungen dar. Wirwerden uns daran gewöhnen müssen, in Deutschlandmehr über neue Chancen zu reden statt nur über Risiken.Warum überlassen wir es zum Beispiel Österreich, eineInvestitionsbrücke nach Osteuropa zu bauen?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das könnte doch auch unser nationales Projekt inDeutschland sein.

(Beifall bei der FDP)

Wenn wir über die Osterweiterung bzw. über die Er-weiterung insgesamt reden, dann ist neben all dem, wasim Zusammenhang mit Zahlungen und Finanzschlüsselnim Laufe der nächsten Monaten ohnehin zu beraten undvielleicht auch kontrovers zu diskutieren sein wird, einekritische Anmerkung zu einem von Ihnen bereits ange-sprochenen Punkt erforderlich. Das Allermindeste, wasder Deutsche Bundestag hinsichtlich der EU-Ratspräsi-dentschaft von der Bundesregierung erwarten kann, ist,dass sie sich in wesentlichen Fragen der Europapolitik– etwa in der Türkeifrage – innerhalb der Regierung ei-nig ist.

(Beifall bei der FDP)

Es bleibt ein einmaliger Vorgang, dass der deutscheAußenminister die eigene Bundeskanzlerin in der Tür-keipolitik öffentlich per Interview zur Ordnung ruft undanschließend der Vorsitzende der Unionsfraktion wie-derum Herrn Steinmeier kritisiert. So etwas verletzt diegoldene Regel der deutschen Europa- und Außenpolitik.

In Wahrheit sind Sie sich nicht einig. Dabei sollteman von Ihnen Einigkeit erwarten können. Sie schwä-chen mit der Uneinigkeit in der Türkeifrage auch die eu-ropäische Verhandlungsposition gegenüber der Türkei.

(Beifall bei der FDP)

Denn es ist völlig klar, dass das Ankaraprotokoll umge-setzt werden muss. Klar ist auch, dass niemand Mitgliedder Europäischen Union werden kann, der nicht wenigs-tens alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorheranerkannt hat. Das kann nicht anders gesehen werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie haben darauf aufmerksam gemacht, dass manEuropa nur glaubwürdig führen kann, wenn man selberführend ist. Ich kann bei all dem, was Sie sich in Europa– zu Recht – vornehmen, nur an Sie appellieren, IhreHausaufgaben in der Innenpolitik nicht zu vernachlässi-gen. Die Tatsache, dass wir nun eine konjunkturelle Auf-

hellung erleben, darf Sie nicht dazu bewegen, vom Kursder strukturellen Reformen in Deutschland abzugehen;denn in Wahrheit ist die Lage im Vergleich zu andereneuropäischen Ländern noch immer nicht komfortabel,was allein ein Blick auf die Arbeitslosenstatistik und dasWirtschaftswachstum zeigt.

Sie haben die Energiepolitik in den Mittelpunkt ge-stellt. Das ist klug; denn die Energiepolitik ist eineSchicksalsfrage nicht nur für Deutschland, sondern ge-rade für das hoch entwickelte Europa insgesamt. Aberdann muss man von Ihnen erwarten, dass Sie in derEnergiepolitik auch gegenüber solchen Ländern in Eu-ropa gesprächsbereit sind, die nicht den törichten Aus-stiegskurs bei der Kernenergie mitmachen wollen.

(Beifall bei der FDP)

Weil in Ihrer letzten Regierungserklärung zu Recht vonden Herausforderungen die Rede war, die durch den Kli-mawandel auf uns zukommen: Es ist ein Fehler, wennsich Deutschland in der Energiepolitik verhält wie derberühmte Geisterfahrer auf der Autobahn. Alle anderenLänder investieren in die nukleare Kerntechnologie undentwickeln sie weiter, während wir aussteigen wollen.Das ist die falsche Antwort. Wir müssen vielmehr beiden Energietechnologien durch einen Mix aus regenera-tiven und konventionellen Energien sowie der Kern-energie Spitze sein. Wer das ignoriert, der schadet demKlima; denn die CO2-Emissionen können in erster Liniedurch den Einsatz der Kernenergie reduziert werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Frau Bundeskanzlerin, im Forschungsbereich, insbe-sondere bei der Bio- und der Gentechnologie, ist es nichtklug – Sie haben in der begrenzten Zeit Ihrer Regie-rungserklärung dazu nicht so viel ausführen können; dasist verständlich –, wenn wir Deutschen beispielsweisebei der Stammzellforschung in Europa auf der Bremsestehen, anstatt die Chancen für neue Medikamente undneue Technologien für unser Land zu begreifen. Es istnicht etwa das böse Europa, das uns in der Energiepoli-tik oder in der Forschungspolitik behindert. In Wahrheitstehen wir in Deutschland auf der Bremse. Wir sind die-jenigen, die den europäischen Fortschritt behindern.Deswegen sage ich zu denjenigen, die immer davon re-den, dass uns Europa nur Bürokratie bringt: In Wahrheithat die Bundesregierung – beispielsweise beim Antidis-kriminierungsgesetz – bei dem, was aus Europa gekom-men ist, noch eines draufgesetzt.

(Beifall bei der FDP)

Klagen wir also nicht über Europa, sondern machen wirunsere Arbeit in Deutschland!

Sie haben mit der bevorstehenden Präsidentschaft imRat der Europäischen Union eine große Chance. Es isteine Chance nicht nur für die Regierung, sondern für un-ser Land. Weil wir uns alle für unser Land verantwort-lich fühlen, werden wir, die Opposition, Sie bei der EU-Ratspräsidentschaft nach besten Kräften und im Rahmenunserer Möglichkeiten unterstützen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Eichel, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Hans Eichel (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! EU-Ratspräsidentschaft und G-8-Präsident-schaft im nächsten Jahr sind eine große Herausforde-rung. Dabei ist die Regierung gerade ein Jahr im Amt.Ich erinnere mich, dass das bei Rot-Grün noch ein biss-chen knapper war. Die Regierung war erst ein Vierteljahrim Amt, als sie diese Doppelpräsidentschaft zu schulternhatte. Frau Bundeskanzlerin, das geschieht in einer Zeit,in der die europäische Lage – das kann Vorteile, aberauch Nachteile haben – durchaus unübersichtlicher ist.Es ist nicht erkennbar, wer von den großen Staaten vonsich aus eine Führungsrolle in der Europäischen Unionübernehmen könnte. Es ist erfreulich, dass Italien nacheiner Reihe von Jahren unter Berlusconi, als es euro-päisch eine Nullnummer war, in die Mitte der europäi-schen Politik zurückgekehrt ist, obwohl Italien noch eineReihe innerstaatlicher Probleme zu bewältigen hat.

(Beifall bei der SPD)

Herr Westerwelle, es hat nie eine Achse Paris-Berlin-Moskau gegeben, es war nicht einmal die Rede davon,vielmehr hat es über längere Zeit – das gilt zurzeit nicht;das bedauere ich; das liegt nicht an Deutschland – einenrelativ starken französisch-deutschen Motor in der euro-päischen Integration gegeben.

(Beifall bei der SPD)

Ich glaube nach wie vor, dass es gut wäre, nicht umandere auszuschließen, aber um Einigungen möglich zumachen – hier kann ich nur auf das hinweisen, was Jean-Claude Juncker des Öfteren zu diesem Thema gesagt hat –,wenn es einen Gleichklang zwischen Paris und Berlin inzentralen Fragen der Europapolitik gäbe.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Deutschland – das ist ein großer Vorteil – ist den Ma-kel, den Stabilitätspakt nicht einhalten zu können, los.Das verbessert – hier hat die Bundeskanzlerin Recht –natürlich unsere Position in dieser Situation.

Anders, Herr Westerwelle, als Sie sagen, ist inzwi-schen die deutsche Wirtschaft, was das Wachstum be-trifft, mit an der Spitze in der Eurozone und der Europäi-schen Union. Das kommt daher, weil anders als anderein den letzten Jahren die deutsche Wirtschaft, aber auchdie deutsche Politik eine Fülle von Entscheidungen ge-troffen hat, die es jetzt möglich machen, die weltwirt-schaftlichen großen Chancen voll zu nutzen und in Eu-ropa nachhaltig nach vorne zu gehen, wenn uns nichtexterne Probleme, die wir nicht beeinflussen können,wieder zurückwerfen.

(Beifall bei der SPD)

Es war sowohl die Vorgängerregierung als auch diegroße Koalition, die im ersten Jahr ihres Bestehens in

der Wirtschafts- und Finanzpolitik durchgängig die rich-tigen Entscheidungen getroffen hat. Das ist eine gute Ba-sis für die EU-Ratspräsidentschaft; denn die Erwartun-gen sind hoch.

Das kommt auch daher, weil Sie, Frau Bundeskanzle-rin – das bestreitet niemand –, kurz nach der Amtsüber-nahme geholfen haben, eine sehr schwierige Aufgabe inEuropa, nämlich die Finanzielle Vorausschau von 2007bis 2013, zu lösen. Aber ich sage ausdrücklich – dasmüssen wir auch unseren europäischen Partnern sagen –:Die Erwartungen könnten auch zu hoch sein, denn esgeht – hier haben Sie Recht, Frau Bundeskanzlerin –künftig in Europa in zentralen Fragen nur gemeinsam,mit allen 27, voran oder es geht gar nicht voran. Wir sindin vielen Fragen, anders als wir es im Verfassungspro-zess gewollt haben, in der Situation, dass Entscheidun-gen nur einstimmig getroffen werden können. Wir erle-ben es ja dieser Tage – ich will das im Moment gar nichtkritisieren –, es wird sich zeigen, ob am polnischen Vetodie Aufnahme der Verhandlungen mit Russland über einPartnerschafts- und Kooperationsabkommen scheitertoder nicht, ob angesichts der zyprischen Politik die wei-teren Verhandlungen – das ist Gott sei Dank zurzeit ab-gebogen worden, auch Zypern hat das begriffen – mitder Türkei abgebrochen werden oder nicht. Da zeigt sichplötzlich, dass in diesem Europa auch ganz kleine Mit-glieder eine ganz große Rolle spielen können. Deswegenist die Behauptung falsch, Herr Westerwelle, dass sichdie Vorgängerregierung nicht um die Kleinen bemühthabe. Ich weiß, wie oft der Bundeskanzler und ich alsFinanzminister in den Nachbarstaaten der Bundesrepu-blik, und zwar auch in den kleinen Nachbarstaaten, ge-wesen sind. Es gab nämlich einen sehr klugen Satz einerhochrangigen Beamtin in diesem Hause, der lautete:Schaff dir deine Freunde, bevor du sie brauchst; wirbrauchen sie alle. – Das ist völlig richtig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber, meine Damen und Herren, alle müssen ihrenBeitrag dazu leisten. Damit sind wir bei dem nächstenschwierigen Thema, nämlich dem Verfassungsprozess.

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben sich ein hohes Zielgesteckt, nämlich vor der Europawahl 2009 klarzuma-chen, wie es mit der Verfassung weitergeht, und zwar ge-meinsam, sodass dann die Wähler in Europa wissen, wieund unter welchen Bedingungen künftig Europa weitergestaltet wird, weil es mit den jetzigen Regeln – darübersind sich ja im Grunde alle einig – wohl auf Dauer nichtgehen kann. Das, meine Damen und Herren, bedeutet,dass alle mitmachen müssen. Bis heute haben 18 LänderJa und zwei Länder Nein gesagt. Offen stehen bislangnoch die Voten von sieben Ländern. Ich muss übrigensdarauf hinweisen, dass von den 18 Ländern, die Ja ge-sagt haben, sieben Länder das in Kenntnis der negativenVoten von Frankreich und den Niederlanden getan ha-ben. Es ist also nicht so, dass der Ratifizierungsprozessdanach abgebrochen worden wäre. Alle müssen ihrenBeitrag leisten. Deswegen muss man denjenigen, dieNein gesagt haben, auch sagen: Ihr müsst zur Kenntnisnehmen, dass zwei Drittel der Länder Ja gesagt haben,

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Hans Eichel

und zwar die Hälfte davon in Kenntnis eures negativenVotums.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist auch wahr, dass es in Irland und Dänemarkzwei Voten gegeben hat. In diesen Ländern ist dieselbeFrage nach dem ersten, negativen Referendum noch ein-mal gestellt und dann beim zweiten Referendum positivbeantwortet worden. Ich sage nicht, dass das die Lösungsein wird, aber ich denke schon, dass diejenigen, dieNein gesagt haben – das ist ein kleine Minderheit –, dasin ihre eigenen Erwägungen einbeziehen müssen. Hiergilt in der Tat: Entweder machen alle mit oder es kommtnicht zustande. Das ist die Voraussetzung für den Erfolg.An dem Willen der deutschen Präsidentschaft fehlt esganz gewiss nicht. Es darf aber auch nicht an dem Willenjedes einzelnen anderen fehlen.

Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben in der Regierungs-erklärung das europäische Wirtschafts- und Sozial-modell als einen Schwerpunkt der deutschen Präsident-schaft angesprochen. Zum Sozialmodell wird nachhermein Kollege Axel Schäfer einiges sagen. Ich will michauf die wirtschaftliche Seite konzentrieren. Ja, wir wol-len ein wettbewerbsfähiges Europa, aber Wettbewerbsfä-higkeit und sozialer Zusammenhalt gehören für uns undauch für diejenigen, die die Lissabonstrategie erdachthaben, untrennbar zusammen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wettbewerb treibt uns nicht auseinander, sondern machtuns gemeinsam stärker und gibt uns die Fähigkeit, auchdie Schwächeren mitzunehmen. Das ist die Zielsetzung.Nun führen wir in der Tat eine sehr kritische Diskussionin Europa über die Koordinierung der Wirtschafts- undFinanzpolitik, insbesondere ausgehend von Frankreich.Das wird uns im nächsten Halbjahr auch in der deut-schen Präsidentschaft erreichen. Dazu muss man einigeTakte sagen:

Erstens. Die Lissabonstrategie war am Anfang zusehr zerfasert. Sie ist inzwischen auf vier Themen kon-zentriert. Das ist richtig so. Diese sind: Wachstum undBeschäftigung, Innovation, bessere Rechtsetzung undEnergiepolitik. Man muss an dieser Stelle klarmachen,dass die Lissabonstrategie, die Europa zu der wettbe-werbsfähigsten Region der Welt machen will – ein sehrhohes Ziel –, fundamental auf der Solidarität der Staatenaufbaut. Darauf baut Europa überhaupt auf. Das bedeutetauch, dass die Reicheren für die Ärmeren in Europa ein-stehen. Dies hat Konsequenzen, die wir klarmachenmüssen. Es geht bei der Lissabonstrategie nicht um denWettbewerb der Staaten, sondern es geht um den Wettbe-werb der Unternehmen. Es geht darum, dass wir alle vo-rangehen. Dann können wir in der Tat sehen, wer derBessere ist, dann können wir beispielsweise sehen, dasswir die beste Familienpolitik machen, die besten Schu-len und Hochschulen haben und dass wir die besten For-schungsergebnisse und die beste Umsetzung dieser Er-gebnisse in neue Produkte erzielen.

(Beifall bei der SPD)

Darum geht es, aber nicht darum, dass der eine Arbeit-nehmer dem anderen Arbeitnehmer – das betraf dieDienstleistungsrichtlinie – zum Beispiel durch Sozial-dumping schadet. Es geht auch nicht darum, dass dereine Staat dem anderen Staat durch Steuerdumping dasSteuersubstrat entzieht. Deswegen sind wir nachdrück-lich für eine gemeinsame Besteuerungsgrundlage beiden Unternehmen.

(Beifall bei der SPD)

Ich sage auch ausdrücklich: In der weiteren Entwicklungkann ich mir einen gemeinsamen Markt mit 27 unter-schiedlichen Steuersystemen und mit 27 völlig unter-schiedlichen Sozialsystemen nicht vorstellen.

(Beifall bei der SPD)

Dann ist die Freiheit der Betriebe und die Freiheit derMenschen nicht gewährleistet.

(Beifall bei der SPD)

Sie müssen in Europa perspektivisch und bei gleich gu-ter Entwicklung der Staaten auch gleiche Chancen vor-finden.

Zweitens. Wir müssen die Strategien zusammenfas-sen. Es kann nicht sein, dass die Nachhaltigkeitsstrategievon Lissabon und der Stabilitäts- und Wachstumspaktunverbunden und zum Teil widersprüchlich nebeneinan-der stehen. Das müssen die wirtschaftspolitischen Leitli-nien leisten. Wir haben die Instrumente in Europa undwir haben die Gremien. Das sage ich unseren französi-schen Freunden. Die entscheidende Frage ist, ob die na-tionalen Staaten und Regierungen bereit sind, die euro-päische Koordinierung in ihr jeweiliges nationalesHandeln umzusetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Daraus ergibt sich der europäische Mehrwert, zum Bei-spiel die gemeinsamen Anstrengungen im Bereich For-schung und Entwicklung, die ein zentrales Element derLissabonstrategie darstellen.

Drittens: Energiepolitik und Klimaschutz. Europamuss dabei auch für die Zeit nach 2012 eine führendeRolle spielen. Aufgrund der Tatsachen, dass wir erstensbesonders stark vom Import abhängig sind – jetzt50 Prozent, in der Perspektive 70 Prozent unserer Ener-gie werden importierte Energie sein – und zweitens diefossilen Energieträger zur Neige gehen, stehen wir vorriesigen Herausforderungen. Die erste Herausforderunghaben wir im Innern zu bewältigen. Da ist die allerwich-tigste Aufgabe mehr Energieeffizienz. Mit Blick daraufmüssen wir riesigen Druck machen. Das muss eine ge-meinsame europäische Anstrengung sein. Europa mussan dieser Stelle Vorbild sein und anderen zeigen, wie esgeht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die zweite Herausforderung liegt in der Nutzung der re-generativen Energien und dem gemeinsamen Binnen-markt für Gas und Strom. Darüber wird im Einzelnennoch zu reden sein. Das bedeutet ausdrücklich auchWettbewerb. Deswegen muss es möglich sein – das will

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Hans Eichel

der Bundeswirtschaftsminister, aber auch die Kommis-sion –, darüber zu einem gemeinsamen Ergebnis zwi-schen der Bundesregierung und der Kommission zukommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, das hat auch Konsequen-zen nach außen. Wir müssen unsere Bezugsquellendiversifizieren: Russland, Norwegen, Nordafrika, derNahe Osten und auch Zentralasien. Das Thema Energie-politik ist zu Recht ein zentrales Element der Außenpoli-tik. Wir müssen die Beziehungen auf eine sichere Basisstellen. Dazu brauchen wir unter anderem das Partner-schafts- und Kooperationsabkommen mit Russland. Na-türlich ist uns nicht egal, wie Russland sich im Innernentwickelt; das ist wohl wahr. Aber wir müssen auchfeststellen, dass Russland immer, die ganzen Jahrzehnteüber, ein verlässlicher Partner in der Energiepolitik, beider Energielieferung war. Zu keiner Zeit haben wir et-was anderes erlebt.

(Markus Löning [FDP]: Das sieht die Ukraine aber anders!)

Wir wollen, dass die Prinzipien der Energiechartaauch in das Partnerschafts- und Kooperationsabkommenaufgenommen werden. Ich denke, es ist vernünftig, eineVerflechtung zwischen Russland und der Westeuropäi-schen Union auch bei der Energieversorgung herbeizu-führen. Wir haben viel an Know-how und Kapital zu bie-ten, das die Russen für ihre Energiepolitik brauchen. Dasmuss auch umgekehrt gelten; eine solche Verflechtungkann nie einseitig sein, sondern muss in beide Richtun-gen gelten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Was Polen betrifft, müssen wir diesem Land garantie-ren, dass es seine Gaslieferung, wenn nicht vom Osten,vom Westen bekommt. Das kann überhaupt nicht streitigsein. Ich hoffe, dass die finnische Präsidentschaft esnoch schafft, das Problem zu lösen. Denn, meine Damenund Herren, auch das muss man den Polen sagen: DasEnergiethema ist für uns alle zu wichtig, als dass dieseFrage durch das Veto eines einzelnen Landes über län-gere Zeit verzögert werden könnte. Auch das muss klarsein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zum Schluss: Frau Bundeskanzlerin, Sie und dasganze Kabinett – und alle anderen wollen sicher gernehelfen – haben mit der Doppelpräsidentschaft eine rie-sige Aufgabe vor sich. Ich wünsche Ihnen dazu allesGute und sage ganz ausdrücklich: Die Unterstützungganz gewiss der SPD-Fraktion, aber nicht nur dieser,werden Sie bei dieser Aufgabe haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine für

die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Die Linke will ein demokratisches und soziales Eu-ropa.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ein sozia-listisches!)

Der Forderung nach einem demokratischen und sozialenEuropa wird wahrscheinlich jeder in diesem Hause zu-stimmen. Wenn ich aber sage, ohne ein soziales Europagibt es kein demokratisches Europa, dann werden sichdie Geister in diesem Hause scheiden.

(Beifall bei der LINKEN)

Beginnen wir mit der Demokratie. Es ist öfter überden so genannten Ratifizierungsprozess gesprochen wor-den. Aber noch keiner hat die Frage gestellt, wie denn ei-gentlich die Verfassung in Europa verabschiedet werdensoll. Ich sage in aller Klarheit, dass für uns nicht so sehrdie Frage im Vordergrund steht, wie viele Länder sichwie entschieden haben, sondern die Frage, ob die Bevöl-kerung an dem Verfassungsprozess beteiligt worden ist.Ich meine, wenn man ein demokratisches Europa will,dann sollte man zumindest bei der Verfassung eineVolksabstimmung fordern; denn ohne Volksabstimmunggibt es kein demokratisches Europa.

(Beifall bei der LINKEN)

Das gilt im Übrigen nicht nur für den Verfassungspro-zess, sondern im Wesentlichen für alle Entscheidungen,die in den letzten Jahren getroffen worden sind, ob dasdie Einführung des Euro, der Vertrag von Maastrichtoder die Osterweiterung war. Meine Damen und Herren,wir sind der festen Überzeugung, dass man ein demokra-tisches Europa nicht undemokratisch bauen kann, indemman ständig über die Köpfe der Bevölkerung hinwegentscheidet.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun muss der Zusammenhang zwischen einem sozia-len und einem demokratischen Europa nicht unmittelbareinsichtig sein. In dem Verfassungsentwurf wird die atti-sche Demokratie angesprochen. Ich zitiere Perikles, aufden im Verfassungsentwurf konkret Bezug genommenwird:

Der Name, mit dem wir unsere politische Ordnungbezeichnen, heißt Demokratie, weil die Angelegen-heiten nicht im Interesse weniger, sondern derMehrheit gehandhabt werden.

Wenn wir also ein demokratisches Europa bauen wol-len, dann müssen wir die Verfassung so gestalten, dassdie Interessen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürgerberücksichtigt werden und nicht die Interessen der Wirt-schaft und im Wesentlichen der Großkonzerne, wie dasin den letzten Jahren geschehen ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Der eine oder andere wird nun sagen, das sei einfachnur dahergesagt und nicht begründbar. Ich möchte ganz

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Oskar Lafontaine

deutlich sagen, dass diese Regierung aufgrund ihrer Po-litik nicht daran mitwirkt, ein soziales und damit ein de-mokratisches Europa zu bauen. Darüber muss geredetwerden.

Es gibt in Europa drei Fehlentwicklungen, die dazugeführt haben, dass immer mehr Menschen diesen Eini-gungsprozess ablehnen und weiterhin ablehnen werden,wenn er wie bisher gestaltet wird. Wir sollten darauf ein-gehen. Diese drei Fehlentwicklungen kann man bezeich-nen mit Lohndumping, Sozialdumping und Steuerdum-ping. Wenn man auf diesem Wege weiter voranschreitet,dann wird man kein soziales und damit kein demokrati-sches Europa bauen können.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich beginne mit dem Lohndumping. Hier spieltDeutschland eine wirklich verheerende Rolle. Die letz-ten veröffentlichten Zahlen, die jedem zugänglich sind,haben gezeigt, dass die Tarifabschlüsse und die Lohn-entwicklung in Deutschland – das muss man unterschei-den – im Vergleich mit allen übrigen europäischenStaaten so nachteilig für die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer sind, dass die Währungsunion wirklich ge-fährdet ist. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Un-sere Dumpingpolitik, die durch immer niedrigereLohnabschlüsse und durch die fortwährende relativeSenkung der Lohnstückkosten gekennzeichnet ist, führtin anderen europäischen Hauptstädten zu Diskussionen.Auf diese Art und Weise baut man kein gemeinsamesEuropa, sondern man macht eine Dumpingkonkurrenzauf, die zulasten der abhängig Beschäftigten geht. Daskann kein soziales Europa in unserem Sinne sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn man die Lohnkonkurrenz, die das Lohndum-ping letztendlich verursacht, bremsen wollte, dannbrauchte man einen Mindestlohn. Wenn Sie Europawirklich gemeinsam bauen wollen, dann müssen Sie sichder Mehrheit der europäischen Staaten anschließen, diebereits einen Mindestlohn eingeführt haben. Gerade wirin Deutschland brauchen diesen Mindestlohn.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Sozialdumping ist ebenfalls seit einer ganzenReihe von Jahren Mode geworden und insbesonderedurch uns befördert worden, was den luxemburgischenMinisterpräsidenten veranlasste, mit Blick auf die Dis-kussion innerhalb der so genannten Christdemokraten zusagen: Europa kann man nicht bauen, wenn man einenWettbewerb veranstaltet, wer Arbeitnehmerrechte, ins-besondere den Kündigungsschutz, am schnellsten ab-baut. – Es wäre gut, wenn sich solche Einsichten aucheinmal in der CDU/CSU-Fraktion durchsetzen würden.

(Beifall bei der LINKEN)

Neben Lohndumping und Sozialdumping haben wirSteuerdumping. Es ist aber nicht so – der Kollege Ei-chel hat dies so dargestellt –, dass wir die unschuldigenOpfer dieser Entwicklung sind. Ich würde das zwargerne feststellen, aber die Zahlen sagen etwas anderes:Unsere Steuerquote wird gerade noch von der eines klei-nen Staates unterboten. Ansonsten liegen wir hinsicht-lich der Steuerquote ganz unten in Europa. Wir stoßen

das Steuerdumping in Europa an; wir nötigen sozusagendurch unsere verfehlte Politik die anderen europäischenStaaten zum Abbau von Sozialleistungen und von öf-fentlicher Leistung.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie sich die Unternehmensteuern anschauen– Sie planen eine weitere Entlastung in Milliarden-höhe –, dann werden Sie feststellen, dass wir zu denLändern gehören, die immer wieder im so genanntenStandortwettbewerb dafür Sorge tragen, dass die Unter-nehmensteuern nach unten gehen. Das hat zur Konse-quenz, dass die Steuern und Abgaben für die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer nach oben gehen. DiesesEuropa wollen wir nicht; wir lehnen es ab. Sie aber brin-gen es immer stärker auf den Weg.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie sind keinen Argumenten zugänglich. Schauen Siesich doch einmal die Lohnentwicklung und die Steuer-quote an. Unsere Steuer- und Abgabenquote liegt bei34 Prozent. In Europa liegt sie bei durchschnittlich40 Prozent. Das ist eine Differenz von 130 MilliardenEuro. Ich sage es noch einmal: Wenn wir die Steuer- undAbgabenquote des europäischen Durchschnitts hätten,wäre keine einzige der umstrittenen Maßnahmen zumSozialabbau in den letzten Jahren notwendig gewesen.So traurig ist die Wirklichkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich komme zum letzten Punkt, zur Außenpolitik. Ichhabe sehr erfreut gehört, dass Sie, Frau Bundeskanzlerin,besondere Initiativen im Nahen Osten ergreifen wollen.Aber die Frage ist doch: mit welcher Stoßrichtung? Esgehört, wenn wir über Europa sprechen, dazu, sich in Er-innerung zu rufen, dass der Kontinent eine kolonialeTradition hat, und zwar angefangen von Südamerikabzw. den Conquistadores bis hin zu der Rolle verschie-dener Länder – auch Deutschlands – in Afrika und jetztim Vorderen Orient. Diese koloniale Tradition ist nichtzu Ende. Es ist nun einmal so, dass es im VorderenOrient letztendlich nicht um Freiheit und Demokratiegeht, sondern dass dort, wie beispielsweise John F. Kerryim letzten Präsidentschaftswahlkampf wörtlich formu-liert hat, amerikanische Soldaten wegen des Öls sterben.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Aber eine Außenpolitik, die auf Rohstoffimperialismusfußt, kann niemals zum Weltfrieden beitragen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir sind amIrakkrieg beteiligt. Man kann natürlich darüber lachen,dass man das Völkerrecht bricht und an einem solchenKrieg beteiligt ist. Das Bundesverwaltungsgericht hatfestgestellt, dass wir an diesem Krieg beteiligt sind, weilwir die Nutzung deutscher Flughäfen ermöglichen, In-frastruktur bereitstellen, Geleitschiffe entsandt habenusw. usf.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Herr Präsident, bei welchem Thema sind wir?)

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7220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

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Oskar Lafontaine

Frau Bundeskanzlerin, wir hätten gerne von Ihnen ge-hört, ob Sie im Vorderen Orient weiter Außenpolitik indieser Tradition betreiben wollen oder ob Sie sich end-lich von einer verfehlten Außenpolitik lösen wollen, dieauf imperialen Zielen aufbaut und deshalb niemals imNahen Osten zu Frieden führen kann.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Man kann die Tatsachen, die Lohnentwicklung, dieEntwicklung der Sozialsysteme, die Entwicklung derSteuersysteme und die Ergebnisse einer völlig verfehltenAußenpolitik, ignorieren. Wir stimmen zu, dass Europaeinen besonderen Auftrag hat. Die besondere Aufgabebesteht darin, ein Europa zu schaffen, das sozial und de-mokratisch ist und dem Frieden dient.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Peter Ramsauer,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon inte-ressant, Herr Kollege Lafontaine, Ihnen zuzuhören.

(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])

– Ja, es ist interessant; aber gleich werden Sie nicht mehrklatschen. – Lieber Herr Kollege Lafontaine, Sie sitzenmit den Nachfolgern von Sozialisten und Kommunistenin einem Fraktionsboot

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sie doch auch!)

und kommen uns mit Belehrungen über Demokratie inDeutschland und Europa.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Oskar Lafontaine [DIELINKE]: Heuchler! Wie viele Blockflötenhabt ihr denn?)

Ich möchte Ihnen etwas ins Stammbuch schreiben, wasder Kollege Westerwelle vorhin vollkommen richtig ge-sagt hat: Sie haben nicht kapiert, dass es hier nicht umdie Koalition oder die Opposition geht, sondern umdeutsche und europäische Interessen und darum, dassEuropa eine gute Zukunft in der Welt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Noch etwas gehört gesagt – wenn ich an Ihre Person,Herr Lafontaine, anknüpfen darf –: Wenn Leute wie Sie,Herr Lafontaine, die wie sonst niemand die deutscheWiedervereinigung bekämpft haben, in Deutschland diepolitische Oberhand behalten hätten, dann wären wir mitder europäischen Einigung nicht da, wo wir heute Gottsei Dank sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Beifall bei der FDP)

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie haben uns al-len in einer großartigen Regierungserklärung

(Lachen bei der LINKEN)

Mut gemacht in Bezug auf das, was wir im kommendenHalbjahr während der deutschen Präsidentschaft für Eu-ropa und Deutschland bewegen wollen.

(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Wie viele Blockflöten habt ihr denn?)

Sie haben gesagt: „Europa gelingt gemeinsam.“ Ich fügehinzu: Es gelingt gemeinsam, wenn wir den MenschenVertrauen und Verlässlichkeit als Grundlage eines gelin-genden Europas vermitteln können.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Fangen Sie mal an!)

Dass wir daran arbeiten müssen, lehren uns die Erfah-rungen, die wir mit dem europäischen Verfassungsver-trag gemacht haben. Die Bürgerinnen und Bürger inFrankreich und Holland haben in den jeweiligen Refe-renden nicht etwa deshalb Nein zum Verfassungsvertraggesagt, weil sie den Entwurf von der ersten bis zur letz-ten Seite durchstudiert haben.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Doch! InFrankreich lag das auf jedem Schreibtisch! –Weitere Zurufe von der LINKEN)

Sie haben deshalb Nein gesagt, weil sie ein mulmigesGefühl hatten, weil Vertrauen und Verlässlichkeit nichtgewährleistet waren, weil für sie Europa nicht mit einerglänzenden und guten Zukunft verbunden war, sie kei-nen Nutzen für den einzelnen Bürger sahen, wie Sie es,Frau Bundeskanzlerin, angesprochen haben, und sie dieEuropäische Union mit ausufernden Bürokratismen, Un-übersehbarkeiten und mit der unbeantworteten Frage inZusammenhang gebracht haben, wie weit die Europäi-sche Union eines Tages gehen wird, wo die Grenzenfestgelegt werden. Das sind Fragen, mit denen wir unskonstruktiv auseinander setzen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dazu gehört auch die Frage, was mit der von uns vorwenigen Wochen im Deutschen Bundestag im Zusam-menhang mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniensgestellten Forderung geschieht. Wir als Deutscher Bun-destag haben Ja zum Beitritt dieser beiden Länder zum1. Januar des kommenden Jahres gesagt. Aber wir habenauch klare Bedingungen formuliert. Ich möchte einenentscheidenden Satz aus der Entschließung vorlesen.Wir haben beschlossen:

Der Deutsche Bundestag … hält vom Beginn desBeitritts an Schutzmaßnahmen für erforderlich,sollten die von der Kommission genannten Defizitenicht bis zum 1. Januar 2007 beseitigt sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich kann nur sagen: Wir meinen das ernst.

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Dr. Peter Ramsauer

Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Bundeskanzlerin,dass Sie dies gleich danach in einem Brief dem Präsiden-ten der Europäischen Kommission, Barroso, mitgeteilthaben. Wir sind alle auf die Antwort gespannt. Ichmöchte mir das ganz genau ansehen. Barroso muss na-türlich dazu Stellung nehmen, ob die Beitrittskriterienjetzt erfüllt sind oder nicht. Wenn in dem Antwortbrieffestgestellt wird, dass die Beitrittskriterien erfüllt sind,dann ist es gut. Wenn aber in ihm steht, dass die Bei-trittskriterien nicht erfüllt sind, dann müssen nach unse-rer Auffassung diese Schutzmechanismen aktiviert wer-den. Wenn Barroso sagen sollte, dass die Kommissiondie Schutzmechanismen trotzdem nicht einleitet, dannriskiert die Kommission ein Vertrauenszerwürfnis zwi-schen ihr auf der einen Seite und dem Deutschen Bun-destag auf der anderen Seite.

(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das ist reine Spekulation!)

Wir müssen hier eine klare Sprache sprechen, wenn wiruns selbst ernst nehmen wollen und wenn wir den Bür-gern in Europa Vertrauen und Verlässlichkeit vermittelnwollen.

Etwas Ähnliches gilt für die Türkei. Auch die Türkeimuss wissen, dass wir auf der Grundlage von Vertrauenund Verlässlichkeit handeln. Die Türkei muss sich aufdas Verhandlungsgebaren der Europäischen Union ver-lassen können.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das ist ein Ver-sprechen seit 40 Jahren!)

– Das, was ich hier sage, haben wir bei allen so gehalten,die, von den ursprünglichen sechs abgesehen, der EUbeigetreten sind.

Wenn ich Bulgarien und Rumänien hinzunehme, sindes 21 Länder, die beigetreten sind. Sie alle haben dasRechtsstatut, den so genannten Acquis communautaire,immer eingehalten bzw. es gab gewisse festgelegteÜbergangsfristen.

Natürlich muss sich auch die Türkei als verlässlicherund vertrauenswürdiger Verhandlungspartner erweisenund die Zusagen einhalten, die sie gegeben hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich bin deshalb froh, dass die Außenminister am vergan-genen Montag konsequent Schlussfolgerungen darausgezogen haben, dass das Ankaraprotokoll, zu dessenEinhaltung sich die Türkei verpflichtet hat – das hat dieFrau Bundeskanzlerin ausgeführt –, nicht erfüllt wordenist. Die Konsequenzen, die die Außenminister beschlos-sen haben, sind aus unserer Sicht das Mindeste, was alsAntwort erforderlich war.

Noch einmal zur Klarstellung: Die Erfüllung des An-karaprotokolls allein reicht noch nicht für eine Vollmit-gliedschaft. Klarer ausgedrückt: Ohne die Einhaltungdes Protokolls ist die Mitgliedschaft nicht möglich. DieEinhaltung des Ankaraprotokolls war überhaupt die Vor-bedingung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlun-gen. Wenn entgegenkommenderweise – ich verweisenoch einmal auf Verlässlichkeit und Vertrauen – die Bei-

trittsverhandlungen eingeleitet worden sind, obwohldiese Vorbedingung nicht erfüllt war, dann muss das ent-sprechend Berücksichtigung finden.

Wir nehmen natürlich zur Kenntnis, dass es im Inne-ren der Türkei Widerstände gibt, dass es unglaublichschwierig ist, diese Nation nach Europa zu führen. DieTürkei befindet sich nämlich in einem großen Dilemma:In der Türkei gibt es nicht nur eine horizontale kultu-relle Vielfalt – das ist für europäische Länder normal –,sondern auch eine vertikale kulturelle Vielfalt im histori-schen Längsschnitt. Ich kenne die Türkei gut genug, umsagen zu können, dass dort – zwischen Istanbul im Wes-ten und Ostanatolien – die Kulturen verschiedener Jahr-hunderte wie im Zeitraffer im Hier und Jetzt nebeneinan-der stehen. Für die Türkei ist es ungeheuer schwierig,alles, was damit zusammenhängt, zu bewältigen.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das geht den Bayern doch genauso!)

Es wäre aber vollkommen falsch, wenn die EuropäischeUnion das als Begründung dafür heranziehen würde, inihrem Verhandlungsgebaren nachgiebiger zu werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dieses Unvermögen der Türkei bzw. das Dilemma, indem sie steckt, darf nicht zur Forderung nach einer Ver-handlungsnachgiebigkeit führen. Es muss vielmehr zuder Frage führen, ob eine Vollmitgliedschaft der Türkeiangesichts dessen überhaupt – auch für die Türkei – dieadäquate Lösung ist, ob eine andere Form der allerengs-ten Anbindung an Europa nicht im ureigenen Interesseder Türkei liegt. Wir stoßen die Türkei nicht zurück, wirstrecken die Hand zu einer ganz besonders engen Part-nerschaft aus. Ich glaube, die Türkei täte sich im Hin-blick auf ihren inneren Frieden, auf das Bewahren ihrerinneren Kohäsion und ihrer kulturellen Traditionen ei-nen Gefallen, wenn sie nicht sofort dem Acquis com-munautaire beitreten würde; denn eine Vollmitglied-schaft verlangt einem Staat viel ab.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was heißt denn das, was Sie da erzäh-len, Herr Ramsauer? – Klaus Uwe Benneter[SPD]: Hier ist aber eine andere Debatte ange-sagt!)

Wir müssen bei der Erweiterung der EU natürlich da-rauf achten, dass sie auf lange Sicht sinnvoll und sinn-stiftend ist und das erfüllt, was die Bürger in Europa er-warten. Dazu gehört auch die Frage, wie es auf dem Bal-kan weitergeht. Ich möchte hier ausdrücklich feststellen,dass es jetzt vollkommen klar ist, dass die Beitrittsver-handlungen mit Kroatien abgekoppelt sind und nichtmehr, wie es einmal versucht worden ist, im Gleich-schritt mit den Verhandlungen mit der Türkei laufen.Kroatien hat eine exzellente Beitrittsperspektive.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen aber klar machen – vielleicht muss dasim Rahmen des Verfassungsvertrages in nicht allzu fer-ner Zeit beschlossen werden –, dass es auf Dauer nichtangeht, dass kleine Länder eine x-beliebige staatliche

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Dr. Peter Ramsauer

Zellteilung betreiben – auf dem Balkan gab es jüngst einsolches Referendum – und trotzdem die vollen Rechteeines souveränen Staates in der Europäischen Union inAnspruch nehmen wollen. Dafür haben die Menschen inEuropa auf Dauer kein Verständnis.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn wir über den Verfassungsvertrag sprechen, istes wichtig, Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dafür zu dan-ken, dass Sie vor wenigen Wochen noch einmal voll-kommen unmissverständlich klar gemacht haben, dasswir – ich spreche hier für meine Fraktion – einen Got-tesbezug in der Präambel des Verfassungsvertrageswollen. Dazu stehen wir und daran lassen wir uns mes-sen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Im kommenden Halbjahr stehen viele wichtige Pro-jekte auf der Tagesordnung: die Entscheidungsverfahrenverbessern, eine glaubhafte Subsidiaritätsstruktur entwi-ckeln und vor allen Dingen die Liberalisierung derEnergiemärkte weiterbetreiben. Hier haben wir einen er-heblichen Nachholbedarf. Ich danke dem Bundeswirt-schaftsminister an seinem heutigen Geburtstag vielmalsdafür, mit welch unglaublicher Energie er auf die weitereLiberalisierung der Energiemärkte in Europa, aber auchin weltweiten Zusammenhängen hinwirkt.

(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von wem re-den Sie?)

Ich habe gesagt, dass wir auf diesem Gebiet einigesnachzuholen haben. Ich kann mich gut an die Zeit vorzehn Jahren erinnern, als wir die Liberalisierung derEnergiemärkte in Europa auf Grundlage der Liberali-sierungsrichtlinie angegangen sind. Ich habe damals im-mer gesagt: Wir können nur Ja zur Liberalisierung sagen– wir Deutsche haben sie übrigens als Allererste konse-quent durchgeführt, und zwar auf allen Spannungsebe-nen, energiewirtschaftlich betrachtet – unter der Vorbe-dingung, dass Frankreich ein Entflechtungskonzept fürdie EDF vorlegt. Das ist bis heute nicht geschehen. Eswäre richtig gewesen, wenn wir das damals wesentlichkonsequenter eingefordert hätten. Jetzt müssen wir dieHausaufgaben erledigen.

Wir müssen das Problem der Produktpiraterie ange-hen und Entbürokratisierung durchsetzen. Dies be-ginnt damit, dass das Entstehen neuer Bürokratie inBrüssel unterbunden wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In dieser Hinsicht verspreche ich mir viel von den neuenVerzahnungen der Informationsstränge; dadurch wirduns dies besser gelingen.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Es sind nur sechs Monate, keine sechs Jahre!)

– Man kann zumindest Zeichen setzen.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Im Zeichen-setzen seid ihr groß!)

Wenn man es mit dem Unterbinden der Bürokratieernst meint, dann muss man dies an ganz konkretenPunkten festmachen, so wie wir dies jetzt mit der Ableh-nung der Umsetzung der verrückten Feuerzeugverord-nung in deutsches Recht getan haben. Wer selbst Erfah-rungen mit Kindern hat, der weiß, dass man noch soviele Versuche mit Hundertschaften von Kindern undFeuerzeugen machen kann: Die Kinder sind nicht sodumm,

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Arbeitgeber auch nicht beim Antidiskriminierungsgesetz!)

als dass sie damit nichts anrichten könnten. – Hier istVernunft angesagt. Denen in Brüssel, die an den Normenarbeiten, möchte ich eines ins Stammbuch schreiben:Meine Damen und Herren in Brüssel, spart euch etwasvon der intellektuellen Kälte! Mit mehr Herz und Ver-stand gewinnt ihr eher das Vertrauen der Menschen inEuropa als mit bürgerferner intellektueller Kälte.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In wenigen Monaten feiern wir in Deutschland dasJubiläum der Römischen Verträge. Dieses Ereignis imwiedervereinigten Deutschland und gerade hier in Berlinunterstreicht wie kein anderes Symbol, wie sehr Europaeinig geworden ist. Es zeigt auch, dass wir in diesensechs Monaten eine ganz exzellente Chance haben – vorallem durch die Koppelung von EU-Ratspräsidentschaftund G-8-Präsidentschaft –, das Vertrauen in uns und un-sere Verlässlichkeit

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Endlich einmal etwas Positives!)

in den Augen unserer Bürger wieder zu fördern und zumTeil wiederherzustellen, aber auch das Vertrauen und dieVerlässlichkeit zwischen Deutschland, Europa und derübrigen Welt.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Bevor ich dem Kollegen Keskin das Wort zu einer

Kurzintervention erteile, möchte ich dazu ermahnen, beiZwischenrufen, die hier oben nicht immer zweifelsfreizu identifizieren sind – schon gar nicht, wenn sie allegleichzeitig erfolgen –, bewährte parlamentarische Um-gangsformen einzuhalten. Gelegentlich, Herr KollegeLafontaine, gibt es Formulierungen, die wir hier eher zuvermeiden bemüht sind.

(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Herr Präsi-dent, wir müssen mal über Ihre Geschäftsfüh-rung reden! – Dr. Diether Dehm [DIELINKE]: Sie haben immer den Herrn Lafon-taine auf dem Kieker!)

– Noch vorsichtiger ließ sich das kaum formulieren, alsich es gerade getan habe.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Getroffene Hunde bellen!)

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Präsident Dr. Norbert Lammert

Nun hat der Kollege Keskin Gelegenheit zu einerKurzintervention.

Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Dr. Ramsauer,

Sie haben in Bezug auf das Verhalten der Türkei gegen-über der EU von Verlässlichkeit und Vertrauen gespro-chen. Hier gebe ich Ihnen Recht. Aber meinen Sie nicht,dass dies nicht auch für Ihre Verlässlichkeit, für die Hal-tung Ihrer Partei und die des Vorsitzenden der CSU,Herrn Stoiber, zu gelten hat, der sich trotz der vertragli-chen Vereinbarung, dass mit der Türkei Beitrittsverhand-lungen geführt werden, immer wieder gegen einen EU-Beitritt der Türkei ausspricht und dieses Vertrauen unddiese Verlässlichkeit somit in hohem Maße verletzt?

Zur Verlässlichkeit gehört auch, dass die EU ihre Zu-sicherungen gegenüber der Türkei erfüllen muss. DieFrau Bundeskanzlerin und Herr Westerwelle haben in ih-ren Reden aber nur den einen Teil der Wahrheit gesagt.Zum anderen Teil der Wahrheit gehört, dass im Gegen-zug zur Zusicherung der Türkei, das Ankarazusatzproto-koll auf Südzypern auszudehnen, die EU direkte Han-delsbeziehungen mit Nordzypern, dem türkischen TeilZyperns, aufnimmt und das Embargo bzw. die Isolationdieses Teils Zyperns beendet. Hiervon ist aber überhauptkeine Rede. Die Umsetzung dieser Vereinbarung ist bis-lang ausgeblieben. Diese Umsetzung aber hat die Türkeiverlangt.

Die linke Fraktion legt sehr großen Wert auf Gerech-tigkeit.

(Widerspruch bei der CDU/CSU – GuntherKrichbaum [CDU/CSU]: So wie mit den Ar-meniern, indem Sie den Genozid leugnen?)

Dazu gehört nicht nur Gerechtigkeit gegenüber Men-schen, sondern auch Gerechtigkeit gegenüber anderenLändern.

Danke sehr.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Was istdenn mit Armenien und dem Genozid? – Ge-genruf des Abg. Dr. Hakki Keskin [DIELINKE]: Darüber können wir reden! –Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Herr Lam-mert, das mit dem Genozid in Verbindung zubringen, wäre auch einmal eine vorsichtigeFormulierung wert!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich sehe mir das gerne im Protokoll an.

Besteht der Wunsch zu einer Erwiderung? – Das istnicht der Fall.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Worauf soll man denn hier erwidern, Herr Präsident?)

Dann erteile ich als nächster Rednerin der KolleginRenate Künast für die Fraktion des Bündnisses 90/DieGrünen das Wort.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die Redne-rin ist zu klein! – Gegenruf des Abg.Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist ja un-glaublich!)

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-

deskanzlerin, die Herausforderungen angesichts der EU-Ratspräsidentschaft, die Deutschland ab dem 1. Januar2007 innehaben wird, sind groß. Deutschland erwartetund wir erwarten von Ihnen, dass Sie konkret sagen, inwelche Richtung Sie gehen wollen, welche InstrumenteSie nutzen wollen, mit wem Sie Bündnisse schließenwollen und wie Sie Ihre Ziele erreichen wollen. Aber ichmuss Ihnen, Frau Merkel, sagen: Sie haben Ihre Zielenicht konkret benannt. Ihre Rede war seltsam, blutleerund dürftig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie reden immer im Ungefähren. Man kann heutefeststellen, dass Sie im Hinblick auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, die in den nächsten Tagen beginnt,nicht gut aufgestellt sind. Warum? Üblicherweise trägtjeder Mitgliedstaat der Europäischen Union, bevor er dieEU-Ratspräsidentschaft übernimmt, dafür Sorge, dass erselbst in keine Konflikte verwickelt ist, seine eigenenProbleme gelöst hat und seine Hausaufgaben gemachthat. Sie aber übernehmen die Präsidentschaft vor demHintergrund eines blauen Briefs aus Brüssel zum Emis-sionshandel, einer Abmahnung bezüglich der Reduzie-rung der Treibhausgasemissionen und einer, wie ichfinde, wirklich unnötigen Eskalation bei den Verhand-lungen mit der Türkei, zu der Sie persönlich beigetragenhaben. Ich meine, Sie haben einen Klotz am Bein undgenau an der Stelle müssen Sie nachbessern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In Ihrer Rede fehlte es an Konkretisierung. Ich willIhnen einmal sagen, was wir erwarten, und dabei von au-ßen nach innen gehen. Frau Merkel, Sie sagen hier mitgroßer Weltsicht: Wir müssen Afrika helfen, sich zu ent-wickeln in Frieden und Wohlstand. – Wie kann man Af-rika helfen wollen, ohne heute hier das Wort „Darfur“auszusprechen? Eine Lösung für diesen Konflikt gehörtdoch zu einem solchen Konzept dazu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir können – das wissen wir doch – Afrika nur helfen,wenn wir ihm helfen, sich wirtschaftlich zu entwickeln,sich politisch weiter zusammenzuschließen. Wir könnenAfrika nicht helfen, indem wir einfach zur Kenntnis neh-men, dass pro Jahr mehr als tausend Menschen an den eu-ropäischen Außengrenzen oder auf hoher See versterben,ertrinken. Wir können als Antwort nicht die Polizeifes-tung Europa dagegensetzen, sondern da müssen Sie, FrauMerkel, ein Konzept zur Entwicklung Afrikas vorlegen.Sie müssen aber auch sagen, wie die Migrations- undFlüchtlingspolitik für Europa aussehen soll. Das wäreeine Antwort und nicht nur das Ungefähre.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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7224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

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Renate Künast

Wir erwarten von Ihnen auch, dass das Gerede überdie Türkei endlich aufhört. Ich muss ehrlich sagen, ichwundere mich über die Rede von Herrn Ramsauer. HerrRamsauer, wie kann man eigentlich bei weit mehr alszehn Minuten Redezeit der draußen staunenden Öffent-lichkeit immer nur Bedenken und Kritik im Hinblick aufeinen Beitritt der Türkei vermitteln?

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das war dieausgestreckte Hand! Sie haben nicht aufge-passt!)

Das ist ein Fehler, das ist populistisch und das ist das Ge-genteil von dem, was Ihr früherer Bundeskanzler HelmutKohl einmal als Perspektive für die Türkei eröffnet hat,im deutschen Interesse und im europäischen Interesse.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie haben sich selber entlarvt – nicht dass wir es nichtschon vorher gewusst hätten –, indem Sie, nachdem Sieso breit die Probleme eines Beitritts der Türkei erörterthaben, bei Kroatien als guter Katholik gleich Ja gesagthaben.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Ist das eine Schande, ein guter Katholik zu sein?)

Ich will gar nicht negieren, dass Kroatien weit entwi-ckelt ist. Aber, Herr Ramsauer, so kann man Europa, dieErweiterung der Europäischen Union und eine europäi-sche Nachbarschaftspolitik nicht entwickeln; damitkommen Sie den europäischen Interessen nicht nach.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der LINKEN –Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: So, so!)

Frau Merkel, Sie haben meines Erachtens ordentlichauf den Tisch geschlagen – allerdings in einem negati-vem Sinne –, als es um die Türkei ging. Wir sind, ehrlichgesagt, froh, dass sich an dieser Stelle nicht Sie in Brüs-sel durchgesetzt haben, sondern Ihr Außenminister, HerrSteinmeier.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das wusste derSteinmeier noch gar nicht! Dem Steinmeier istneu, dass er sich durchgesetzt hat!)

Wir erwarten von der deutschen Präsidentschaft einaktives Engagement hinsichtlich des Nahen Ostens.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Gibt es auch ein passives Engagement?)

Wir erwarten, dass Europa seiner Verpflichtung nach-kommt, zum Frieden im Nahen Osten beizutragen. Esdarf hier nicht passieren, dass man sich hinter dem inter-nationalen Desinteresse, zum Beispiel der USA, ver-steckt. Deutschland muss an dieser Stelle mehr als koor-dinieren. Deutschland darf nicht einfach sagen, derBesuch von Herrn Steinmeier in Syrien sei eine unge-wöhnliche Maßnahme gewesen. Das hört sich an wieeine Distanzierung Frau Merkels. Wir sagen ganz klar:Man muss mit diesen Ländern reden, auch mit Syrien,

und ihnen eine Perspektive geben. Deutschland ist spätgenug dran.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will noch zwei Dinge nennen, die wir erwarten.Wir erwarten, dass im Bereich Klima- und Energiepoli-tik in dieser Dekade tatsächlich Schritte unternommenwerden. Obwohl Sie viele allgemeine Punkte benannthaben, Frau Merkel, ist mir nach Ihrer Rede immer nochunklar, wen Sie eigentlich unterstützen. Unterstützen SieSigmar Gabriel, der 30 Prozent weniger Emissionenwill? Oder unterstützen Sie Günter Verheugen, der15 Prozent weniger Emissionen will?

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Bei was?)

Genau davon hängt ab, ob Europa seine Klimaziele er-reicht, ob Europa eine Vorreiterrolle haben kann. Nurwenn Sie endlich aussprechen: „Minus 30 Prozent beiden Emissionen“, sind Sie überhaupt in der Lage, inEuropa oder auf dem G-8-Gipfel eine Vorreiterrolle ein-zunehmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Stattdessen stehen Sie hier mit einem blauen Brief undhaben ein Abmahnungsverfahren am Hals. Und da sagenSie uns, man müsse auch weitere Schritte einleiten! Inder Tat, Frau Merkel, wir brauchen weitere Schritte.Doch um diese Schritte überhaupt machen zu können,müssen wir den Verkehr in den Emissionshandel einbe-ziehen und wir müssen überlegen, ob Europas internesKontrollsystem in Sachen Klima und Ökologie hinrei-chend ist.

Nach vielen Jahren gegenteiliger Arbeit durch dieCDU/CSU-Fraktion hat Frau Merkel heute hier gesagt– ich freue mich, dass Sie das angesprochen haben –,auch im internationalen Welthandel müssten soziale undökologische Kriterien verankert werden.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das haben wir immer gesagt!)

Darauf kann ich nur sagen: Sie sind endlich angekom-men. Aber wenn Sie das erreichen wollen, dann müssenSie erst einmal einen großen Schritt in Europa gehen.Danach gehen wir mit Ihnen gerne einen Schritt weiter,wenn es darum geht, dass im WTO-Handel ökologischeund soziale Kriterien verankert werden. Das fehlt bisher.Die WTO legitimiert in Wahrheit nur Raubbau.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir erwarten von Ihnen, Frau Merkel, dass Sie bei derWeiterentwicklung der Bereiche Justiz und Inneresdarauf achten, dass es auch in Zukunft noch Daten-schutz- und Verteidigungsrechte gibt. Dazu haben Siekein Wort gesagt. Wir reden hier über eine Weiterent-wicklung im Asylbereich, was das Thema Migranten be-trifft, und über eine Zusammenarbeit in den BereichenInneres und Justiz. Aber Sie haben am Ende nur eineninternationalen Datenaustausch zu bieten, der Zugriff aufsämtliche nationale Datenbanken innerhalb der Europäi-schen Union ermöglicht. Dazu kann ich nur sagen: Es ist

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Renate Künast

nicht unsere Vorstellung von Europa, dass wir den glä-sernen europäischen Bürger bekommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zum ThemaRömische Verträge sagen. Wir werden im März deskommenden Jahres die Feierlichkeiten zu 50 Jahren Rö-mische Verträge und Euratom begehen. Wir müssen derEuropäischen Union einen Sinn einhauchen. Die Men-schen im Lande fragen sich, wozu sie die EuropäischeUnion brauchen. Keiner glaubt heute mehr, dass dieseEuropäische Union dazu da sein soll, der „Subventioni-tis“ zu frönen. Keiner glaubt heute mehr, dass sie dazuda ist, dass weiterhin Kohle produziert und verwendetwird. Keiner glaubt heute mehr – das richte ich beson-ders an Sie, Herr Westerwelle –, dass unsere Zukunft inder Atomenergie liegt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu-ruf des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP])

– Bis auf einen Geisterfahrer, sage ich Ihnen.

Frau Merkel, wir brauchen eine gemeinsame Außen-politik, um die Weltwirtschaft und den Weltmarkt beein-flussen zu können. Wir brauchen in der EU ein Zusam-menleben der Religionen. Darüber müssen wir redenund dürfen niemanden ausgrenzen. Wir brauchen eineöffentliche Debatte über Europa im Bundestag und inder Gesellschaft. Frau Merkel, Sie haben in Ihrem letz-ten Satz gesagt, dass Sie genau das anbieten. Ich sage inmeinem letzten Satz: Wir sind bereit, über ein offenesEuropa zu diskutieren, das seine Aufgaben beim ThemaKlimaschutz und Soziales erledigt. Aber dann dürfen Sienicht in einer Art klandestiner Politik eine Berliner Er-klärung vorbereiten, bei der nicht einmal der DeutscheBundestag einbezogen wird. Lassen Sie uns gemeinsamdaran arbeiten! Aber dazu gehört auch eine offene Dis-kussion.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eu-

ropa gelingt gemeinsam in der deutschen Ratspräsident-schaft mit dieser großen Koalition.

Wir werden uns dabei in die Tradition deutscher Rats-präsidentschaften stellen. Ich möchte kurz die beidenletzten nennen:

Während der Ratspräsidentschaft 1999 unter Bundes-kanzler Gerhard Schröder waren wir außergewöhnlicherfolgreich. Ich denke nur an die Beauftragung einesKonvents zur Ausarbeitung der Grundrechtecharta, andie Lösung des Kosovokonflikts, an die Bewältigung derKommissionskrise und an die Einigung über die Agenda2000.

Wir stehen auch in der Kontinuität zur Politik vonBundeskanzler Helmut Kohl 1994. Damals haben wir er-hebliche Fortschritte in der Gemeinsamen Außen- undSicherheitspolitik erreicht. An Gesetzen wurde dieRichtlinie über Europäische Betriebsräte verwirklicht.Es wurde das gemeinsame kommunale Wahlrecht füralle Bürgerinnen und Bürger realisiert. – Die Ratspräsi-dentschaften 1994 und 1999 waren Erfolge, auf denenwir aufbauen werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dazwischen liegen 13 Jahre. Bis 2007 wird die Zahlder Mitgliedsländer der EU von zwölf auf 27 wachsen.Wir haben eine gemeinsame Währung und entscheidengleichberechtigt im Europäischen Parlament. Diese Er-folge und diese Dimension müssen wir uns deutlich ma-chen, auch wissend, dass die darauf folgende Ratspräsi-dentschaft – das ist die Dimension – erst wieder in13 Jahren, nämlich 2020, sein wird.

Was sind nun die besonderen Herausforderungenwährend unserer Ratspräsidentschaft?

Erstens wird es darum gehen, Wirtschaft, Sozialesund Ökologie zusammenzuführen. Wir als Sozialdemo-kratinnen und Sozialdemokraten sagen: Entscheidendist, dass wir das europäische Sozialmodell weiterentwi-ckeln.

(Beifall bei der SPD)

Wir müssen das noch einmal ins Bewusstsein rücken:Das europäische Sozialmodell basiert auf starken Ge-werkschaften – Ordnungsfaktor und Gegenmacht –, aufGleichberechtigung – Arbeitnehmer und Arbeitgeber aufgleicher Augenhöhe –, auf Solidarität und auf staatlicherMitverantwortung. Es ist das Gegenteil von kalter Glo-balisierung und Ellenbogengesellschaft. Europa funktio-niert nur als Sozialgemeinschaft.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb ist das, was sich die Bundesregierung kon-kret in diesem Bereich vorgenommen hat, gut:

Erstens. Wir fordern die Kommission auf, sicherzu-stellen, dass die Gesetze auch auf ihre sozialen Auswir-kungen hin und nicht nur hinsichtlich einer allgemeinenRealisierung des Binnenmarktes konzipiert werden.Zweitens. Wir setzen die Beschäftigungsstrategie fort.Drittens. Wir werden dort weiterhin erfolgreich sein, wowir bisher schon am meisten geleistet haben, nämlich imGesundheits- und Arbeitsschutz. Viertens. Mit einemProgramm für die Jahre 2006 bis 2010 entwickeln wirweitere Konzepte für die Gleichstellung von Männernund Frauen.

(Beifall bei der SPD)

Fünftens. Wir sind auch mit speziellen Maßnahmen zurBekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit aktiv.

Das alles sind wichtige und zentrale Bereiche für unsund das werden auch die Sozialdemokraten in der Bun-desregierung, ihre Ministerinnen und Minister tragen.Möglich wurde das erst, weil wir es unter deutscher

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Axel Schäfer (Bochum)

Mitwirkung bei der Gestaltung der Finanzvoraus-schau 2013 im letzten Jahr geschafft haben, dass in die-sen europäischen Haushalt enorme Mittel eingestelltwurden, um diese Herausforderungen – soziale Gerech-tigkeit, Beschäftigungsförderung, Bekämpfung von Be-nachteiligungen und Förderung von strukturschwachenRegionen – erfolgreich bewältigen zu können, anstatt,wie in früheren Zeiten, lediglich den Agrarsektor zu sub-ventionieren.

(Beifall bei der SPD)

Kolleginnen und Kollegen, zweitens werden wir denVerfassungsprozess voranbringen und einen erfolgrei-chen Pfeiler setzen, der eine Brücke über die portugiesi-sche und slowenische bis hin zur französischen Präsi-dentschaft tragen wird, sodass wir zu neuen Grundlagen– auch verfassungsrechtlichen – in dieser EuropäischenUnion kommen werden.

Liebe Bundesregierung, hier haben wir eine ganzklare Erwartung. 18 Länder haben den Verfassungsver-trag ratifiziert. Wir sagen selbstbewusst, dass das ein ge-meinsamer Erfolg ist. Nicht wir müssen uns bewegen,sondern die neun Länder, die noch nicht ratifiziert habenoder in denen die Referenden – in zwei Fällen – negativausgefallen sind. Sie sind jetzt in der Bringschuld. Wirmüssen Brücken bauen und sie mitnehmen, aber dieseLänder müssen ihre Verantwortung wahrnehmen. Mitder Unterzeichnung des Verfassungsvertrages sind sienämlich die Verantwortung eingegangen, den Verfas-sungsvertrag auch zu ratifizieren. Anstatt dass dieseLänder und Regierungen – teilweise sind die Personenidentisch mit denen, die ihn 2003 unterschrieben haben –dieses Werk beiseite stellen, sich zurücklehnen und dieEntwicklung von außen betrachten, müssen sie von unsin die Verantwortung genommen werden. Das werdenwir auch tun.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ein Drittes. Wir betreiben eine europäische Politikfür die Menschen – Politik, um das Leben der Men-schen zu verbessern. Deshalb ist es wichtig, auch einmaldie Erwartungen der Menschen an uns in den Blick zunehmen. Über 80 Prozent sagen, dass wir eine starke Eu-ropäische Union im Bereich der wirtschaftlichen Ent-wicklung und für die äußere und innere Sicherheit brau-chen. Dieser Erwartung der Menschen, die einStückchen skeptischer als früher geworden sind, ob wirdas tatsächlich gemeinsam schaffen, müssen wir gerechtwerden. Deshalb ist es wichtig, dass die Bundesregie-rung hierbei nicht nur eine – wenn auch notwendige –Kommunikationsstrategie fährt, sondern dass sie mit allihrem Handeln auch deutlich macht: Deutsche Interessenwerden am besten in Europa vertreten und Erfolge in Eu-ropa sind Erfolge auch für unser Land. Wir müssen einbewusstes Gegenbild zu manchen Regierungen setzen– ersparen Sie mir, dass ich sie namentlich nenne –, dienur nach dem Motto verfahren: „Europa ist uns eigent-lich egal und alles Schlechte kommt aus Brüssel. Es istentscheidend, dass wir uns national gegen andere durch-setzen.“ Nein, das ist ein falsches Europabild. Richtigist: Wir können in Europa nur gemeinsam erfolgreich

sein – indem wir zu einem Interessenausgleich kommenund indem wir nicht das scheinbare nationale Interessegegen die Europäische Gemeinschaft richten. Das mussunsere gemeinsame Verpflichtung in dieser Koalitionund auch im Deutschen Bundestag sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa gelingt ge-meinsam. Es gelingt auch aufgrund von Regierungskon-tinuitäten, die in den Personen anzuschauen sind. Schonin der Ratspräsidentschaft 1994 war die jetzige Kanzle-rin Ministerin. Schon in der Ratspräsidentschaft 1999war die jetzige Entwicklungsministerin im Amt und derjetzige Außenminister hatte eine wichtige Verantwor-tung. Die haben sie wahrgenommen. Oskar Lafontainehat damals seine Verantwortung nicht wahrgenommen.Deshalb ist es ihm so leicht, hier verantwortungslose Re-den zu halten.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Ich glaube, wir machen die Präsidentschaft zu einemErfolg im blochschen Sinne, nämlich getragen von derHoffnung, ins Gelingen verliebt. Deshalb wird dieseeuropäische Ratspräsidentschaft gemeinsam gelingen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile dem Kollegen Dr. Diether Dehm, Fraktion

Die Linke, das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Lieber Kollege Ramsauer, am Anfang zwei Tipps:

Schauen Sie sich einmal die Protokollstelle an, an derSie davon sprechen, dass Sie es mit dem Unterbindenvon Demokratie ernst nehmen wollen. Korrigieren Siedas, damit es nicht so stehen bleibt. Anstatt anderen De-mokratiedefizite vorzuhalten und sie für ungebildet zuerklären, sollten Sie die Mehrheit der Menschen, die inFrankreich den EU-Verfassungstext abgelehnt haben,endlich ernst nehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wer, wie wir, einen besseren EU-Verfassungsvertragwill, darf über die deutsche Verfassung, das Verhältnisder EU-Verfassung zu unserem Grundgesetz nichtschweigen. Auch durch eine europäische Verfassungs-ordnung dürfen Art. 1 und 20 des Grundgesetzes in ih-rem Wesen nicht beeinträchtigt werden. Das lässt Art. 79Abs. 3 nicht zu.

Mit diesen unabänderlichen Bindungen ist eine Ord-nung unvereinbar, die, dem neoliberalen Zeitgeist fol-gend, die Menschen als Humankapital der Herrschaftdes Profits unterwirft, ihnen also den Eigenwert alsMenschen nimmt.

Hierzu ein Zitat, Kollege Schäfer:

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Dr. Diether Dehm

In der vom Gewinn- und Machtstreben bestimmtenWirtschaft und Gesellschaft sind Demokratie, so-ziale Sicherheit und freie Persönlichkeit gefährdet.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das hat Lafontaine schon gesagt!)

Der demokratische Sozialismus erstrebt darum eineneue Wirtschafts- und Sozialordnung.

Kollege Schäfer, das steht so nicht im Manifest vonOskar Lafontaine und Gregor Gysi, das steht auch nichtin Ihrem gültigen SPD-Parteiprogramm, das immer nochdie Unterschrift von Oskar Lafontaine trägt, sondern dasist ein Zitat aus dem Godesberger Programm.

Wer aber die Würde der Menschen, wer ihre Bedürf-nisse als Ausgangspunkt allen staatlichen und auch allenabgeleiteten supranationalen Handelns ernst nimmt, derkann eine Verengung auf die geltende ungerechte Wirt-schaftsordnung nicht wollen. Jede Wirtschaftsordnungmuss sich in ihren konkreten Auswirkungen auf dieWürde der Menschen immer wieder von neuem an dengenannten Grundprinzipien messen lassen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD – Klaus Uwe Benneter [SPD]:Richtig!)

Und sie muss erforderlichenfalls auch abgewählt werdendürfen. Das meint das Grundgesetz auch mit der Freiheitder Wähler, und zwar in seinen Vorschriften über die Ei-gentumsordnung in den Art. 14 und 15. Hier gibt es dieGewährleistung des Eigentums, aber auch seine verbind-liche Verpflichtung auf das Gemeinwohl. Es gibt dieMöglichkeit der Enteignung der Deutschen Bank undanderer Konzerne im Interesse der Allgemeinheit undauch die Möglichkeit der Vergesellschaftung von Pro-duktionsmitteln durch ihre Überführung in Gemein-eigentum.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: So steht es aber nicht im Godesberger Programm!)

Damit zielt das Grundgesetz zwar nicht auf eine andereWirtschaftsordnung, aber es gibt den Wählerinnen undWählern die Freiheit, den Kapitalismus abzuwählen. Dashat das Bundesverfassungsgericht 1954 in seiner Ent-scheidung zum Investitionshilfegesetz ausdrücklich dar-gelegt und das ist bis heute gültig.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Denken Sie an das Ahlener Programm der CDU!)

Wenn die FDP beispielsweise in einem Antrag for-dert, ausgerechnet Art. 15 aus dem Grundgesetz zu strei-chen, so zeigt dies, dass sie den Wählern die Freiheitnehmen will, den Kapitalismus abzuwählen. Freiheit istaber gerade hier auch die Freiheit der Andersdenkenden.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch dass die EU-Verfassung diese Freiheit ein-schränken will, sodass die Abwahl des Kapitalismusnicht mehr möglich sein soll, ist mit der Würde der Men-schen und ihrer Unantastbarkeit ebenso wenig vereinbarwie mit den Prinzipien der Demokratie und der Sozial-staatlichkeit. In diesem Sinne wiederhole ich –

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege!

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): – ich komme zum Schluss –: Wir wollen einen ande-

ren EU-Verfassungsvertrag. Dabei wollen wir aber nichtdas Grundgesetz auf dem Altar des neoliberalen Zeit-geistes opfern lassen. In dieser Hinsicht bleiben wir Ver-fassungspatrioten, auch wenn wir die Einzigen in diesemHause wären.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. GertWinkelmeier [fraktionslos] – Lachen bei derCDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Dr. Andreas

Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt nach-drücklich, dass die EU-Außenminister in der Frage derBeitrittsverhandlungen mit der Türkei eine Einigung ge-funden haben. Jetzt herrscht Klarheit, wie der Prozessweitergehen soll. Es ist auch zu begrüßen, dass Zypernnicht länger die Freigabe der Finanzmittel für den nördli-chen Teil der Insel blockieren will. Auch das war über-fällig und hat die Beziehungen zur Türkei zu lange unnö-tig belastet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich will in aller Deutlichkeit feststellen: Wir habenein nachdrückliches Interesse daran, dass die Türkei denbegonnenen Reformprozess fortsetzt. Die Beitrittsver-handlungen sind dafür ein Katalysator. Niemand willalso die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbre-chen.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das klang bei Herrn Ramsauer anders!)

Wir müssen aber – ich denke, auch darin sind wir uns ei-nig – weiter auf die Erfüllung der politischen Vorausset-zungen wie die Religionsfreiheit oder die Abschaffungdes Strafrechtsparagrafen 301 drängen, der die Beleidi-gung des Türkentums unter Strafe stellt. Denn das sindVoraussetzungen – Kollege Ramsauer hat zu Recht da-rauf hingewiesen –, die nach den Kopenhagener Krite-rien eigentlich vor Beginn der Beitrittsverhandlungenhätten erfüllt sein müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dazu gehört auch die Erfüllung des Ankaraprotokolls,zu der sich die Türkei schon im September letzten Jahresverpflichtet hat. Erfüllung heißt, dass die Häfen undFlughäfen in der Türkei – also nicht nur ein Hafen undein Flughafen – auch für Schiffe und Flugzeuge Zypernsoffen sein müssen.

Dass die Türkei bisher nicht bereit ist, alle Mitgliederder EU gleichermaßen anzuerkennen und die vereinbarten

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Dr. Andreas Schockenhoff

Regeln einzuhalten, kann nicht ohne Konsequenzen sein.Deswegen ist die Vereinbarung, acht Verhandlungskapi-tel einzufrieren und bei keinem der übrigen Kapitel dieVerhandlungen abzuschließen, bis das Ankara-abkommen erfüllt ist, eine Maßnahme, die Konsequen-zen hat, die aber auch unserem Interesse an der Fortset-zung des Reformprozesses in der Türkei Rechnung trägt,und zwar besonnen und entschlossen, wie es die Bundes-kanzlerin ausgeführt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir halten es auch für erforderlich, dass die EU nichtnur zur Verhandlungsroutine übergeht und wir abwarten,wann die Türkei das Ankaraprotokoll erfüllt. Wir wollenvielmehr, dass diese Frage als politisches Thema auf derAgenda der Staats- und Regierungschefs steht, dass siesich selbst darum kümmern und dies nicht den Beamtender Kommission überlassen.

Deshalb begrüßen wir nachdrücklich, dass sich dieStaats- und Regierungschefs dementsprechend in denJahren 2007, 2008 und 2009 auf der Grundlage eines Be-richts der Kommission mit dieser Frage befassen undden weiteren Prozess überprüfen werden. Das ist für dieGlaubwürdigkeit und Akzeptanz des Erweiterungspro-zesses unverzichtbar. Deshalb war es gut, dass die Initia-tive der Bundeskanzlerin vereinbart und der Kommis-sionsvorschlag nachgebessert wurde.

Im Übrigen entspricht dieser Beschluss genau dem,was sich die Staats- und Regierungschefs zur Frage derIntegrationsfähigkeit der EU auf dem morgigen EU-Gip-fel vorgenommen haben. Denn beim künftigen Erweite-rungsprozess soll es keinen Automatismus geben. Essollen keine Beitrittsdaten mehr genannt werden und essoll auf die strikte Erfüllung der Kriterien und der einge-gangenen Verpflichtungen geachtet werden. Nur wenndie Bürger der Europäischen Union das Gefühl bekom-men, dass die Staats- und Regierungschefs auf die strikteEinhaltung der Beitrittskriterien achten und dass sie voreiner Erweiterung sorgfältig die Auswirkungen einesBeitritts auf die EU und ihre Handlungsfähigkeit prüfen,werden wir die Akzeptanz für künftige Beitritte be-kommen. Diese Akzeptanz brauchen wir; denn die EU-Perspektive etwa für die Staaten des westlichen Balkansliegt in unserem Sicherheitsinteresse.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn diese Staaten ihre inneren und zwischenstaatli-chen Konflikte überwinden, sodass EU und NATO ihreStreitkräfte dort vollständig zurückziehen können, undwenn sie alle Beitrittskriterien, insbesondere bei derRechtsstaatlichkeit und der Bekämpfung der organisier-ten Kriminalität, strikt erfüllen, dann werden wir alle,die derzeitigen Mitglieder der Europäischen Union, ei-nen erheblichen Sicherheitsgewinn haben. Deshalb ist eswichtig und richtig, dass die Staats- und Regierungs-chefs bei ihrem morgigen Gipfel Grundsätze für die Inte-grationsfähigkeit der EU vereinbaren, damit die EU er-weiterungsfähig bleibt.

Ein wichtiger Schwerpunkt der deutschen Präsident-schaft wird die Vertiefung der Beziehungen zwischender Europäischen Union und Russland sein. Wir wollendie strategische Partnerschaft mit Russland weiterausbauen. Strategische Partnerschaft bedeutet, dass sichdie enge Zusammenarbeit mit Russland nicht nur an ge-meinsamen Interessen orientiert, sondern dass sie auchauf gemeinsamen Werten basiert, zu denen wir uns ver-pflichtet haben. Die Erneuerung des Partnerschafts- undKooperationsabkommens zwischen der EU und Russ-land bietet dafür eine gute Gelegenheit. Es ist deshalbsehr zu bedauern, dass es bislang keine Einigung überdas Verhandlungsmandat gibt.

(Beifall des Abg. Hans Eichel [SPD])

Denn das Nachfolgeabkommen liegt im gemeinsamenInteresse, auch im Interesse Polens und auch im Inte-resse Russlands.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Polen hat unsere Solidarität und Unterstützung bei derAufhebung des russischen Importverbots für polnischesFleisch, weil wir dieses Verbot für nicht gerechtfertigthalten. Aber genauso wenig gerechtfertigt ist eine Ver-knüpfung dieser Frage mit dem Verhandlungsmandat fürein Nachfolgeabkommen mit Russland.

Angesichts der Rückschläge bei Demokratie undRechtsstaatlichkeit in Russland ist es wichtig, dass wirim Nachfolgeabkommen, vor allem aber auch in derpraktischen Zusammenarbeit immer wieder auf die Re-spektierung der Werte drängen, zu denen sich Russlandbei seinem Beitritt zum Europarat verpflichtet hat. Ichsage ganz offen: Die innere Entwicklung Russlandsbereitet uns große Sorgen. Die Ermordung von FrauPolitkowskaja stellt einen Verlust für Russland dar. Ihrunparteiisches Engagement für Menschenrechte und De-mokratie war für die Entwicklung der russischen Gesell-schaft wichtig.

(Beifall im ganzen Hause)

Dieser Mord und vor allem die zunehmenden Ein-schüchterungen der wenigen noch verbliebenen kriti-schen Journalisten sind beispielhaft für den Niedergangder Pressefreiheit in Russland.

Wer immer für den Mord an Litwinenko oder für diezunehmend länger werdende Liste von politisch oderwirtschaftlich motivierten Morden in Russland verant-wortlich ist: Es drängt sich die Frage nach der Autoritätder russischen Regierung auf. Beunruhigend ist es vorallem für diejenigen, die sich in Russland selbst engagie-ren. Auch wenn man ein Urteil über die Anwendung desGesetzes über die Nichtregierungsorganisationen erstnach dem Ende der Registrierungspflicht im Aprilnächsten Jahres fällen kann, muss man anhand der bishe-rigen Praxis eines schon heute feststellen: Das NGO-Ge-setz überfordert mit seinem bürokratischen Aufwandnicht nur die Behörden und führt damit zu willkürlichenAuslegungen, sondern es belastet vor allem auch kleineNGOs erheblich. Damit schadet sich Russland selbst;denn viele dieser kleinen NGOs leisten humanitäre Hilfe

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Dr. Andreas Schockenhoff

für die Menschen in Russland. Sie brauchen ihre Zeit,um den Menschen zu helfen, und nicht für das Ausfüllennutzloser Berichte.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Haben also nicht diejenigen Recht, die das langfris-tige Ziel einer Wertepartnerschaft mit Russland aufge-ben und das Verhältnis nur auf eine an gemeinsamen In-teressen orientierte Zusammenarbeit reduzieren wollen?Wir sagen dazu ganz klar Nein. Das wäre ein strategi-scher Fehler. Wir beraubten uns unserer Einflussmög-lichkeiten zur Stärkung von Demokratie und Rechts-staatlichkeit. Wir ließen vor allem die Menschen, diesich mitunter unter Einsatz ihres Lebens in Russland en-gagieren, im Stich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Nein, das Gegenteil muss der Fall sein. Wir müssen jedeGelegenheit nutzen, um Einfluss zu nehmen und mitRussland im Rahmen der „vier Räume“ in der G 8 – baldauch in der WTO – zusammenzuarbeiten.

Das alles sind Möglichkeiten, um die Entwicklung inRussland zu beeinflussen, weil wir den Anspruch erhe-ben, dass Russland in Einklang mit den Werten dieserInstitutionen leben muss.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir begrü-ßen nachdrücklich, dass der EU-Gipfel in Helsinki dieBitte an die deutsche Präsidentschaft richtet, eine Zen-tralasienstrategie zu erarbeiten. Die EU muss die He-rausforderungen, die sich für die Sicherheit und StabilitätEuropas aus dieser Region heraus ergeben, strategischangehen.

Das gilt allerdings genauso für die Schwarzmeerre-gion. Denn mit Beginn der deutschen Präsidentschaft am1. Januar wird die Europäische Union durch den BeitrittRumäniens und Bulgariens eine gemeinsame Außen-grenze mit den Ländern der Schwarzmeerregion haben.Damit werden die Probleme dieser Region noch unmit-telbarer auch zu unseren Problemen werden. Durch dieseRegion laufen nicht nur wesentliche Energierouten, son-dern dort spielen auch organisierte Kriminalität sowieMenschen- und Drogenhandel eine große Rolle. Mit denKonfliktherden Transnistrien, Abchasien und Südosse-tien hat diese Region gleichzeitig ein erhebliches Krisen-potenzial. Die jüngsten Entwicklungen in Georgien ha-ben das deutlich sichtbar gemacht. Deshalb liegt es imInteresse der EU, einen aktiveren Beitrag zur Stabilisie-rung der Schwarzmeerregion und zur Stärkung von De-mokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Pros-perität zu leisten,

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

auch mit Blick auf die Energiezusammenarbeit und wei-tere alternative Energieversorgungsrouten. Nicht zuletztkönnen durch eine EU-Schwarzmeerpolitik Staaten, die

keine bzw. auf absehbare Zeit keine EU-Perspektive ha-ben, stärker in die EU-Politik einbezogen werden, ohnedass sich damit gleich die Frage einer Mitgliedschaft inder Europäischen Union stellt. Gerade mit Blick auf dieBeitrittswünsche von Ländern wie der Ukraine ist dasSignal wichtig, dass sie als europäisches Land nicht zu-rückgewiesen werden, dass sie als europäisches Landenger in die verschiedenen Bereiche der EU-Politik ein-gebunden werden, als dies durch die bilaterale Nachbar-schaftspolitik möglich ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb halten wir es für notwendig, in Ergänzung zurbilateralen Nachbarschaftspolitik und zur Zusammenar-beit mit Russland eine EU-Schwarzmeerpolitik als re-gionale Nachbarschaftspolitik zu entwickeln, vergleichbarder „Nördlichen Dimension“ oder dem Barcelona-Prozess.Schwerpunkte einer solchen Schwarzmeerpolitik solltensein: die Bekämpfung von Terrorismus und organisierterKriminalität, die schrittweise Vertiefung der wirtschaftli-chen Zusammenarbeit, der Umweltschutz, Fragen derEnergiezusammenarbeit und des Energietransports. Un-verzichtbar ist auch die Vertiefung der zivilgesellschaftli-chen Zusammenarbeit zur Stärkung von Demokratie,Rechtsstaatlichkeit, Bildung und Wissenschaft.

Allerdings werden wir uns dann auch an heiße Eisenheranwagen müssen. Denn eine Vertiefung der Zusam-menarbeit in der Schwarzmeerregion erfordert auch ei-nen aktiveren europäischen Beitrag zur Schlichtung derso genannten Frozen Conflicts. Ich finde, hier kann dieEU mehr leisten. Sie hat Vertrauen bei den Konfliktpar-teien. Selbstverständlich ist dabei eine enge Abstim-mung mit den USA unverzichtbar. Auch in den Gesprä-chen mit Russland müssen die Frozen Conflicts stärkerthematisiert werden.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eck-ardt)

Zu einer strategischen Partnerschaft gehört auch dieZusammenarbeit bei den Regionalkonflikten in der ge-meinsamen Nachbarschaft. Es ist jedenfalls nicht akzep-tabel, dass Russland hier eine Politik der kontrolliertenUnsicherheit verfolgt und sich gemeinsamen Bemühun-gen für eine Konfliktregelung verweigert.

Meine Damen und Herren, den Menschen in Deutsch-land wird während unserer Präsidentschaft in der Euro-päischen Union und der G 8 immer wieder bewusst wer-den, dass wir unseren Platz in der Welt, unsere Werte nurin einem politisch integrierten Europa behaupten kön-nen. Ich bin mir sicher, dass die deutsche Präsidentschaftin diesem Sinne ein guter Beitrag zu einer europäischenIdentität wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für das Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Jür-

gen Trittin das Wort.

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Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will

mit einer Bemerkung zu Ihrem Vorschlag, Frau Bundes-kanzlerin, anfangen. Wenn Sie sagen, wir müssten in Eu-ropa das Prinzip der Diskontinuität einführen, dannmuss man sich auch über die Folgen klar werden. Manchewürden sich freuen und sagen: Dann hätten wir letztensim Parlament nicht REACH verabschiedet. – Denken Siean Ihr eigenes Präsidentschaftsprogramm, insbesonderean die vollständige Liberalisierung der Gas- und Strom-märkte. Das ist ein Dossier, das mittlerweile ein Parla-ment und eine Kommission schon in der dritten Amtszeitbeschäftigt.

Zweite Bemerkung. Wenn davon geredet wird, dassDeutschland versuchen möchte, in Sachen Bürokratie-abbau weiterzukommen, dann muss doch die Frage er-laubt sein, ob die Bundesrepublik Deutschland unter die-ser Koalition und in dieser Verfassung nach derFöderalismusreform überhaupt in der Lage ist, anderenBürokratieabbau beizubringen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was ist das eigentlich für ein Bild, das die Bundesregie-rung abgibt? Einerseits redet sie über Bürokratieabbau,andererseits aber wird man statt eines Nichtraucherge-setzes 15 oder 16 Nichtrauchergesetze haben, vielleichtauch nur zwölf, und man baut im Rahmen der Gesund-heitsreform völlig neue bürokratische Strukturen auf, dieunsere Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber noch gehörigquälen werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Norbert Schindler [CDU/CSU]: Wer war dennsieben Jahre dran?)

Dritte Bemerkung zu Ihrer Rede. Sie drücken sich vorder Festlegung Ihres Umweltministers und davor, zu sa-gen: Wir wollen dafür sorgen, dass sich Europa bis zumJahre 2020 verpflichtet, 30 Prozent der Treibhausgaseeinzusparen. – Was hindert Sie eigentlich daran, dieseFrage in vernünftiger Art und Weise mit der Minderungder Energieabhängigkeit zu verknüpfen? Dies hättenämlich eines zur Folge: die Umsetzung dieses Ziels. Eshätte zur Folge, dass die Energieimporte – die Europäi-sche Union importiert heute noch 74 Prozent der Ener-gie – auf unter 50 Prozent sinken würden. Auch das istübrigens nicht nur ein Argument für Klimaschützer, son-dern auch und gerade ein ökonomisches Argument. Daswürde dazu führen, die Abhängigkeit der europäischenWirtschaft zu reduzieren und ihre Wettbewerbsfähigkeitzu stärken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Letzte Bemerkung: Wenn Sie sagen, Sie wollten dieAkzeptanz für Europa verbessern, dann werden Sie in-nerhalb Europas dieses Land europakompatibler machenmüssen. Wenn Sie sagen, Europa sei eine Antwort aufGlobalisierung, dann erwarten die Menschen zunächsteine Antwort, die ihnen mehr Sicherheit, mehr sozialeSicherheit verspricht. Da hat Deutschland nun einmal ei-nen Nachholbedarf.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Wer war denn sieben Jahre dran?)

Wir sind eines der wenigen Länder, die es bis heute nichtfertig gebracht haben, Regelungen einzuführen, damitjemand, der Vollzeit arbeitet, nicht unter die Armuts-grenze sinkt. Wenn Sie Europa akzeptabler machen wol-len, dann müssen Sie hier anfangen und dafür sorgen,dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, nicht trotz ihrerArbeit arm bleiben. Deswegen brauchen wir so etwaswie einen gesetzlichen Mindestlohn, wie wir ihn inFrankreich, in Großbritannien, in Luxemburg, in denNiederlanden und in vielen anderen Ländern haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin, ich komme zum Schlusssatz. –

Wenn Sie Lust auf Europa machen wollen,

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Sieben Jahre Trittin!)

wenn Sie Begeisterung für Europa wecken wollen, danndürfen Sie eines nicht zulassen, nämlich dass hier solcheReden wie die, die vorhin Herr Ramsauer vorgetragenhat, gehalten werden. Das macht nicht Lust auf Europa,sondern das macht Angst vor Europa. Das ist der Grund,wenn Sie bei Ihrem Ziel, bis 2009 in der Verfassungsver-tragsfrage voranzukommen, keinen Schritt weiterkom-men. Wenn Sie das nicht schaffen, dann können Sie sichbei Herrn Ramsauer und bei Herrn Stoiber für ihre Re-den bedanken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die

Kollegin Lale Akgün.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Lale Akgün (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau

Kanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Vor-abend der deutschen Ratspräsidentschaft gibt es eineFülle von Themen, über die wir hier sprechen könnten.Ich möchte mit einem unserer Lieblingsthemen anfan-gen, nämlich der Entscheidung der EU über den Beitrittder Türkei.

Die EU hat mit dem Aussetzen von acht Kapiteln dienotwendige Konsequenz aus der Tatsache gezogen, dassdie Türkei ihrer Verpflichtung zur Unterzeichnung desAnkaraprotokolls und damit der Anerkennung Zypernsnicht nachgekommen ist. Aber sie hat das rechte Maßbewahrt. Ein Abbruch der Verhandlungen wäre übereiltgewesen und den ureigensten Interessen der EU zuwi-dergelaufen.

Die SPD-Fraktion begrüßt die Entscheidung aus-drücklich.

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Dr. Lale Akgün

(Beifall des Abg. Klaus Hagemann [SPD])

Es ist eine Entscheidung mit Augenmaß, die beiden Sei-ten gerecht wird, der Türkei und der EU.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Türkei weiß um ihre Hausaufgaben. Jetzt mussdie EU ihrerseits gegebene Zusagen einhalten. Die Isola-tion Nordzyperns muss aufgehoben und die durch dieEU versprochenen wirtschaftlichen Hilfen müssen end-lich geleistet werden.

(Beifall bei der SPD)

Ich freue mich, dass die EU sich bewegt, was die Zy-pernfrage angeht. Ich möchte in diesem Zusammenhangerwähnen, dass Estland und Schweden Überlegungenanstellen, in Nordzypern Büros einzurichten. Großbri-tannien erwägt Berichten zufolge, Direktflüge zum nord-zypriotischen Flughafen Ercan aufzunehmen. Das sindwichtige Signale.

Genauso aber muss sich in der Republik Zypernnoch einiges tun. Auch hier sind erste Bewegungen be-reits zu verzeichnen. Daher gibt es berechtigte Hoff-nung, dass Zypern bereits beim ersten Außenminister-treffen im Januar seine Blockade aufgeben wird und dieEU Gelder für den türkischen Norden freigeben kann.Auch das Veto für den Direkthandel mit Zypern wirdnicht mehr lange aufrechterhalten werden können. Da-von bin ich überzeugt.

Aus all diesen Gründen ist es richtig, dass die EUdurch das Einfrieren zwar Konsequenzen zieht, dassaber ansonsten business as usual gilt – keine Fristen,keine Sanktionen und keine Revisionsklausel für dieTürkei. Eine Entscheidung mit Augenmaß, wie gesagt.

Für dieses Verhandlungsergebnis möchten wir nocheinmal Außenminister Frank-Walter Steinmeier danken,der diese klare Linie in Brüssel durchsetzen konnte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Damit haben wir eine unnötige Verschärfung der ohne-hin sehr angespannten Lage vermieden.

Meine Damen und Herren, entgegen vielen Annah-men wird diese Entscheidung auch in der Türkei akzep-tiert. Darauf möchte ich hier noch einmal hinweisen. Esist mitnichten so, dass in der Türkei nur Zeter und Mor-dio geschrien wird. Wichtig für die Türkei und für dieBevölkerung ist die Tatsache, dass in Brüssel die Ver-handlungen weitergehen und nach innen die Reformenfortgesetzt werden können.

Das Massenblatt „Sabah“ schreibt gestern: Es ist gut,dass der Zug zum EU-Beitritt eben nicht entgleist ist. –Auch das Massenblatt „Hürriyet“ zählt ganz sachlichund differenziert positive und negative Aspekte des Ein-frierens auf. Die türkische Börse reagierte wie ein Seis-mograf. Die Kurse sind seit vorgestern enorm gestiegenund die türkische Lira hat gegenüber Euro und Dollar anWert gewonnen. Das zeigt einmal mehr, dass die Ent-scheidung der EU-Außenminister richtig war und auchin der Türkei akzeptiert wird.

(Beifall bei der SPD)

Aber – das ist genauso wichtig – die Verhandlungenmüssen jetzt mit größter Sorgfalt weitergeführt werden.Das Einfrieren darf nicht zum Synonym für ein schlei-chendes Ende der Verhandlungen werden, auch wennsich das einige vielleicht wünschen sollten. Ein schlei-chendes Ende würde den Interessen der EuropäischenUnion zuwiderlaufen. Diejenigen, die am lautesten nacheinem sofortigen Abbruch der Verhandlungen gerufenhaben, waren wieder einmal die, die eben nicht die Inte-ressen der EU im Sinn hatten, sondern ihr innenpoliti-sches Süppchen weiter am Köcheln halten wollten.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Ramsauer, die EU führt mit der TürkeiBeitrittsverhandlungen. An dem Wort „Beitrittsverhand-lungen“ ist deutlich zu erkennen, dass diese Verhandlun-gen mit dem Ziel des Beitritts geführt werden.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Da täuschen Sie sich! Das Ergebnis ist offen!)

Man sollte diesen Begriff doch einmal wörtlich nehmen.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Sprachklarheit ist nicht die Stärke der Bayern!)

Meine Redezeit reicht nicht aus, um Ihnen alleGründe für einen Beitritt der Türkei noch einmal darzu-legen. Deshalb sei nur so viel gesagt: Wenn die EU auchim 21. Jahrhundert ihre Rolle als Friedensmacht ausfül-len will, so muss sie sich den neuen Herausforderungenstellen: dem Islam, dem Terrorismus, aber auch denneuen Nationalismen. Deshalb sage ich ganz deutlich:Perspektivisch brauchen wir eine EU mit 30 und mehrMitgliedern, wozu auch die Staaten des westlichen Bal-kans gehören. Auch im Verhältnis zu den Staaten desWestbalkans muss die EU glaubhaft bleiben und ihreVersprechungen einhalten.

Das gilt natürlich auch für alle anderen anstehendenThemen der deutschen Ratspräsidentschaft. Wennman sich die Agenda der deutschen Ratspräsidentschaftanschaut, dann muss man sagen, dass das nicht geradewenige Themen sind. Es ist keine Frage, dass alles, waswir uns für die nächsten sechs Monate vorgenommen ha-ben, dabei von großer Bedeutung ist. Energiepolitik,Wirtschaftswachstum, Klimaschutz, Verfassungspro-zess, Nachbarschaftspolitik sowie die Gemeinsame Si-cherheits- und Außenpolitik sind große Themen, mit de-nen wir uns beschäftigen müssen.

Wichtig ist allerdings, dass wir am Ende dieser sechsMonate tatsächlich Erfolge aufweisen können und dasswir unsere Versprechen gegenüber den Beitrittskandida-ten und Nachbarn, aber auch gegenüber den Bürgerinnenund Bürgern der europäischen Mitgliedstaaten eingehal-ten haben. Nur so können wir das größte Problem Euro-pas, nämlich den Verlust an Akzeptanz, wettmachen. Fürneuen Schwung, neue Legitimität und neue Begeiste-rung für die EU zu sorgen, ist die Hauptaufgabe für diedeutsche Ratspräsidentschaft.

Ich wünsche mir von der deutschen Ratspräsident-schaft echte Antworten auf die Sorgen der Menschen.

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Dr. Lale Akgün

Erweiterung, vertiefte politische Integration und das so-ziale Europa sind in diesem Zusammenhang die Stich-worte. Leitmotiv der deutschen Ratspräsidentschaftsollte sein: Europa neu denken vor den Herausforderun-gen des 21. Jahrhunderts.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/3808, 16/3680 und 16/3832 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/3796soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Druck-sache 16/3680 zu Tagesordnungspunkt 4 c, jedoch nichtan den Tourismusausschuss und den Haushaltsausschussüberwiesen werden. – Damit sind Sie ganz offensichtlicheinverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 h auf:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Verbesserung der Beschäfti-gungschancen älterer Menschen

– Drucksache 16/3793 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenzean die demografische Entwicklung und zurStärkung der Finanzierungsgrundlagen dergesetzlichen Rentenversicherung (RV-Alters-grenzenanpassungsgesetz)

– Drucksache 16/3794 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten KorneliaMöller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN

Beschäftigungspolitik für Ältere – für ein wirt-schafts- und arbeitsmarktpolitisches Gesamt-konzept

– Drucksache 16/3027 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

d) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Heinrich L. Kolb, Christian Ahrendt, DanielBahr (Münster), weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP

Den Rentenversicherungsbericht im Interesseder Versicherten realistischer gestalten

– Drucksache 16/3676 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerSchneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Karin Bin-der, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derLINKEN

Stichtagsregelung für die Altersteilzeit im RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz (Rente mit 67)verlängern

– Drucksache 16/3815 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmin-gard Schewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, MarkusKurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Neue Kultur der Altersarbeit – Anpassung dergesetzlichen Rentenversicherung an längereRentenlaufzeiten

– Drucksache 16/3812 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss

g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung

Bericht der Bundesregierung über die gesetzli-che Rentenversicherung, insbesondere überdie Entwicklung der Einnahmen und Ausga-ben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des je-weils erforderlichen Beitragssatzes in denkünftigen 15 Kalenderjahren (Rentenversiche-rungsbericht 2006)

und

Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversi-cherungsbericht 2006

– Drucksache 16/3700 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss

h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung

Lagebericht der Bundesregierung über dieAlterssicherung der Landwirte 2005

– Drucksache 16/907 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss

Zwischen den Fraktionen ist eine Aussprache von an-derthalb Stunden verabredet. – Dazu höre ich keinen Wi-derspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demHerrn Bundesminister Franz Müntefering.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit undSoziales:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sind uns in diesem Haus fraktionsübergreifend ei-nig, dass wir ein gemeinsames Ziel haben: Wir wollen indiesem Land ein Wohlstandsniveau haben. Daran sollenalle Generationen einen gerechten Anteil haben. Das sollfür heute, für morgen und für übermorgen gelten. Diesesallgemeine Ziel heißt mit Blick auf das heutige Themabuchstabiert: Wir wollen eine gute materielle Absiche-rung der älteren Generation und wir wollen die Möglich-keit altersgerechter Arbeit für diejenigen, die 50, 55,60 Jahre und älter sind.

Wir haben in der Koalition ein Konzept entwickelt,von dem ich sage: Es ist plausibel. Es ist anstrengend.Aber es hat viele gute Argumente für sich. Wir beratenheute die Initiative „50 plus“ und das Gesetz zur schritt-weisen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre.Wir diskutieren aktuell über die Möglichkeiten zusätzli-cher Altersvorsorge im Betrieb oder mittels der Riester-rente. Diese drei Punkte gehören ganz eng zusammen.

Wir sind mitten im Prozess dieser Entwicklung. Dasfaktische Renteneintrittsalter steigt seit Jahren. Vor we-nigen Jahren waren es etwa 40 Prozent, die mit 60 Jah-ren in Rente gingen. Denn wir hatten ja ein Fenster von60 bis 65 Jahren. Heute sind es noch etwa 25 Prozent.Wir stehen nicht am Anfang der ganzen Debatte. Dasfaktische Renteneintrittsalter steigt und das ist auch gutso. Die Menschen sind bereit, länger zu arbeiten und inihren Berufen zu bleiben.

Es tut sich auf dem Arbeitsmarkt eine ganze Menge.

(Klaus Brandner [SPD]: Gott sei Dank!)

Es gibt etwa 90 000 bis 100 000 arbeitslose Ältere über50 weniger als vor einem Jahr. Die allgemeine Entwick-

lung auf dem Arbeitsmarkt wird besser, auch bei den Äl-teren. Die Vermittlungszahlen im vergangenen Jahr sindgut gewesen: sechsstellig.

Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hatgerade in der letzten Woche beschlossen, dass in zehnseiner Kammerbezirke die Aktion „50 plus“ unterstütztwird. Ich habe in der letzten Woche in Fulda 62 Firmenaus 62 Regionen in Deutschland ausgezeichnet, die ganzbesonders aktiv daran arbeiten, dass die ältere Genera-tion wieder in den Betrieben eine Chance hat.

Diese Entwicklung geht so weiter. Im Jahre 2000 wa-ren etwa 38 Prozent der über 55-Jährigen berufstätig.Heute sind es 45 Prozent. Wir haben uns in der Koalitionvorgenommen, bis zum Ende der Legislaturperiode min-destens 50 Prozent der über 55-Jährigen in Beschäfti-gung zu haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist eine Bewegung da, die in eine vernünftige Rich-tung geht.

Das hat natürlich seine Gründe darin, dass wir dasfaktische Renteneintrittsalter, also die Chance, aus derArbeitslosigkeit in Rente zu gehen, von 60 auf 63 Jahreanheben; wir befinden uns mitten in diesem Prozess.Darüber wird wenig gesprochen; aber es ist so. Auch dieZahldauer des Arbeitslosengeldes haben wir von maxi-mal 32 Monate auf maximal 18 gekürzt. Beides sindMaßnahmen, die mit der Politik der Beschäftigung älte-rer Menschen eng zu tun haben. An einer Stelle diskutie-ren wir gerade wieder mit allem Nachdruck darüber. Ichsage: Das, was wir machen, ist vernünftig. Wir gebenden Menschen, die 50, 55 oder 60 Jahre alt sind, eineChance, am Erwerbsleben teilzunehmen.

Im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf zur Initia-tive „50 plus“ will ich zwei zusätzliche Initiativen an-sprechen. Eine erste Initiative in diesem Gesetzentwurfist – sie ist ganz wichtig und stellt eine Verbesserung imVergleich zur bisherigen Regelung dar –: Menschen, die45 und älter sind und in Unternehmen mit bis zu250 Beschäftigten arbeiten, haben die Chance, sich aufStaatskosten mittels Bildungsgutscheinen qualifizierenzu lassen.

(Beifall bei der SPD)

Wir müssen bei der Weiterbildung dringend besser wer-den.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Der VDI bzw. die großen Verbände melden uns, dasszurzeit in Deutschland 22 000 Ingenieure fehlen. Ichweiß von der BA und anderen Stellen: In Deutschlandgibt es 30 000 bis 40 000 arbeitslose Ingenieure. Esmuss doch in dieser Gesellschaft möglich sein, dass wirnicht aus dem Ausland, also irgendwoher aus der Welt,20-, 25- und 30-jährige Ingenieure holen, sondern dassunsere Ingenieure, die 45 und 50 Jahre alt und arbeitslossind, in ihren Berufen bleiben können. Dies muss dochbesser zu organisieren sein, als es bisher der Fall ist.

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Bundesminister Franz Müntefering

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das gilt für andere Berufe in gleicher Weise.

Eine zweite Initiative ist der Kombilohn. Denjeni-gen, die 50 und älter sind und die arbeitslos werden, sa-gen wir: Wenn du eine Chance hast, wieder in Arbeit zukommen, dann mache es schnell. Nimm sie schnell an,auch wenn du weniger Lohn hast als bisher. Wir gebenim ersten Jahr die Hälfte der Differenz, die zwischendem alten Nettoeinkommen und dem neuen besteht,dazu und im zweiten Jahr 30 Prozent. Denn wir wissengenau: Ältere, die schnell wieder vermittelt werden,kommen auch gut wieder in den Beruf hinein. Sie dürfenerst gar nicht in das Arbeitslosengeld II fallen. Auch dasgehört zu dem angesprochenen Gesetzentwurf.

Der Gesetzentwurf zur Rentenversicherung verändertden Eintrittskorridor von bisher 60 bis 65 Jahre auf 63bis letztlich 67 Jahre im Jahre 2029. Es wird aber wiebisher sein: Die meisten Menschen werden vor demHöchsteintrittsalter in Rente gehen. Das tun heute die al-lermeisten; sie gehen weit vor 65 in Rente. Das wirdauch in Zukunft so sein, wenn wir ein Renteneintrittsal-ter von 67 Jahren erreicht haben.

Die Frage ist dann: Wie viel Geld bekommen sie,wenn sie mit 63, 64 oder 65 Jahren in Rente gehen? Mit63 Jahren können sie in Rente gehen, wenn sie35 Zahljahre erreicht haben, und mit 65 und damit ohneAbschläge, wenn sie 45 Zahljahre erreicht haben. Ichwill darauf hinweisen, dass die Frage der Alterssiche-rung entscheidend davon abhängt, wie die Wohl-standsentwicklung in Deutschland sein wird. Man darfdie Debatte nicht nur an den Jahreszahlen festmachen.Ich will einige Minuten darauf verwenden, das noch ein-mal deutlich zu machen. Das Rentenwohlstandsniveaubeträgt zurzeit 52 Prozent. Es wird nach der Rentenpla-nung – nicht nach dieser, sondern nach der, die schonlängst beschlossen ist – im Jahre 2020 bei mindestens26 Prozent liegen.

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: 46!)

– 46, Pardon. – Es wird im Jahre 2030 mindestens43 Prozent betragen.

(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])

– Ja, das ist richtig, Herr Gysi. Das ist aber nicht neu. Sietun immer so, als ob das neu wäre. Wir sind längst in derPhase, dass die Gesellschaft begriffen hat, dass man dasangesichts veränderter Strukturen in dieser Gesellschaftnicht mehr wird fortführen können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn 1960 wurden die Renten durchschnittlich zehnJahre lang gezahlt; jetzt werden sie 17 Jahre lang ge-zahlt. Im Jahre 2030 würde die Rente 20 Jahre lang ge-zahlt werden.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Aber die Pro-duktivität ist ja weiter gestiegen!)

Man kann es auch anders ausdrücken: Das Verhältniszwischen denen, die im Erwerbsleben sind, und denen,die 64 oder älter sind, beträgt heute 100 : 30. In30 Jahren wird das Verhältnis 100 : 50 betragen, 2 : 1.Auf einen Rentner werden somit zwei Beschäftigte kom-men. Die zwei Beschäftigten müssen das verdienen, wasder eine Rentner bekommt. Wir Politiker müssen dochden Menschen sagen, welche Entwicklung zu erwartenist. Gute Politik beginnt damit, dass man sagt, was ist.Wer die Menschen an dieser Stelle belügt, tut ihnenüberhaupt keinen Gefallen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Walter Riester, den ich hier sehe, hat vor einigen Jah-ren eine wichtige Reform begonnen und hat diesesThema als Erster gesetzt. Er hat gezeigt, wohin der Weggehen kann.

Jetzt aber wieder zurück zu der Frage: Wie hoch istdie Rente dann eigentlich? Die 46 Prozent, die sich imJahre 2020 ergeben, sind ja kein absoluter Wert, in Geldausgedrückt. Die Frage, die sich anschließt, ist: Wie vielist dann 100 Prozent? Das hängt davon ab, wie sich dieLöhne in diesem Land entwickeln. Wenn wir eine Lohn-entwicklung wie in den vergangenen zehn Jahren haben,wird das natürlich Konsequenzen für die Höhe der Ren-ten haben. Das gilt, ob man nun 46 Prozent oder43 Prozent hineinschreibt. 43 Prozent von viel ist ebenmehr als 46 Prozent von wenig. Das ist ganz einfach.Um das nachzuvollziehen, muss man kein Mathematikersein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deshalb ist es so wichtig, dass wir dafür sorgen, dassder Wohlstand erhalten bleibt. Entscheidend für dieAlterssicherung ist letztlich nicht, ob man von 60 bis65 oder von 63 bis 67 in Rente gehen kann; vielmehr istentscheidend, wie hoch die 100 Prozent Wohlstand sind.Wenn die Normalverdiener in Deutschland im Jahre2030 bzw. 2020 ein gutes Einkommen haben, werdenauch die Rentnerinnen und Rentner ein ordentliches Ein-kommen haben, ansonsten eben nicht. Deshalb bestehtdie beste Alterssicherung darin, dass wir uns bewusstsind: Wir müssen in die Köpfe und in die Herzen derjungen Menschen investieren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Was wir in Bildung, Weiterbildung und Qualifizierunginvestieren, bestimmt letztlich die Höhe der Rente.

Das Festhalten an bestimmten Jahreszahlen führt indie Irre. Wir müssen das Gesamtbild betrachten. Die Al-terssicherung hängt von der Wohlstandsentwicklung ins-gesamt ab. Die von mir genannten Prozentsätze müssenvernünftige Geldbeträge ergeben. Das wird nur gesche-hen, wenn wir eine Politik machen, wie wir sie uns vor-genommen haben. Wir haben uns in der Koalition vorge-nommen, im Jahre 2010 etwa 6 Milliarden Euro mehrfür Forschung und Entwicklung auszugeben, nämlich3 Prozent des BIP. Wenn wir diese 6 Milliarden Euro indie Rentenkasse gäben, könnten wir uns viele Freunde

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Bundesminister Franz Müntefering

machen und das wäre auch nicht so übel; man hat ja im-mer gerne Freunde. Ich sage aber: Wenn wir das ma-chen, wird die nachfolgende Generation dafür büßenmüssen. Denn die 46 bzw. 43 Prozent – heute sind es52 Prozent – ergeben nur noch etwa drei Viertel desWohlstandsbedarfs.

Neben allem, was ich angesprochen habe, brauchtman eine vernünftige zusätzliche Alterssicherung – obsie nun Riesterrente oder betriebliche Altersvorsorgeheißt. Daran müssen wir arbeiten. Bei den Debatten umden Investivlohn müssen wir im Blick behalten: Wirbrauchen vor allen Dingen die Bereitschaft der Betriebe,der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, dafür zu sorgen,dass die Menschen rechtzeitig für ihr Alter sparen kön-nen.

Wenn wir miteinander das alles machen, dann – dabin ich sicher – haben wir als Koalition der Sicherungdes Alters in der Zukunft eine gute Perspektive gegeben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Heinrich Kolb hat das Wort für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die heutige Debatte verbindet mit den Entwürfen vonGesetzen zur Verbesserung der Beschäftigungschancenälterer Menschen und zur Anpassung der Regelalters-grenze zwei, wie ich finde, wichtige soziale Kernfragenunserer Gesellschaft; denn, Herr Minister Müntefering,die Anhebung, die Sie vorhaben, macht doch nur Sinn,wenn die Menschen am Schluss wirklich die Gelegen-heit haben, länger zu arbeiten. Zu Beginn meiner Aus-führungen will ich gleich sagen: Die Antworten, die diegroße Koalition auf diese Fragen gibt, sind alles andereals der Situation angemessen. Um es in Schulnoten aus-zudrücken: Sie sind ungenügend.

(Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Das heißt soviel wie: Sechs! Setzen!)

– Ja, genau.

Herr Minister, die Anhebung des Regelrentenzu-gangsalters auf 67 Jahre, auf die sich die Koalition aufIhr Betreiben hin in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ver-ständigt hat, ist ein unerwarteter Tabubruch, für den vorallem die SPD vonseiten der Gewerkschaften erhebli-chen Gegenwind erfährt. Ich hatte in der vergangenenWoche auf einer DGB-Podiumsdiskussion in Hanau zu-letzt Gelegenheit, das zu beobachten. Die Menschen ah-nen – Herr Minister, ich sage: zu Recht –, dass die Re-form der Rente aufgrund mangelnder begleitenderArbeitsmarktreformen für die allermeisten Versichertenauf eine verkappte Rentenkürzung hinauslaufen wird.Ich fand es bemerkenswert, wie der SPD-Kollege in Ha-nau von den anwesenden Betriebsräten attackiert und re-gelrecht demontiert wurde.

(Beifall bei der FDP – Irmingard Schewe-Ge-rigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seitwann hört denn die FDP auf Betriebsräte?)

Die Bereitschaft zum Tabubruch als solches ist der ei-gentliche Grund, warum die Rente mit 67 in der Bilanzder bisherigen Regierungsarbeit eher auf der Habenseiteangerechnet wird. Eine echte Entlastungswirkung fürdie Rentenkasse kann sie eigentlich nicht entfalten; denndie Entlastung um 0,5 Beitragspunkte – und das erst ab2030 – ist sehr gering. Herr Müntefering, meines Erach-tens wird das nicht ausreichen, um den Rentenversiche-rungssatz bis 2020 unter den im Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz vorgesehenen und versprochenen20 Prozent zu halten. Dass die Entlastungswirkung sogering ist, hängt mit den zahlreichen Ausnahmen zusam-men, die Sie im Gesetzentwurf vorgesehen haben, na-mentlich die abschlagsfreie Rente für langjährige undbesonders langjährige Versicherte.

Kerstin Schwenn hat es in der „FAZ“ vom gestrigenTage mit den folgenden Worten, wie ich finde, treffendkommentiert:

Der politische Versuch, das Unpopuläre populis-tisch zu verpacken und die Rentenreform damit so-zialverträglich zu machen, wird einen erheblichenTeil des Geldes verschlingen, das die Rentenkasseneinsparen sollen. So gesehen, erscheint die renten-politische Großtat doch wieder recht klein.

Recht hat sie.

(Beifall bei der FDP)

Die allermeisten Sachverständigen, Tarifpartner undParteien – außer der Koalition natürlich – sind sich in ih-rer Ablehnung der abschlagsfreien Rente nach 45 Bei-tragsjahren einig, weil sie systemwidrig und ungerechtist und schwächere Personengruppen benachteiligt;meine Kollegin Laurischk wird als zweite Rednerin mei-ner Fraktion darauf näher eingehen. Die Anhebung auf67 ist für die Angehörigen einzelner Geburtsjahrgängebesonders ungerecht. Der Sachverständigenrat hat in sei-nem aktuellen Gutachten darauf hingewiesen, dass dieJahrgänge 1959 bis 1974 durch die Art und Weise derAnhebung des Rentenzugangsalters besonders belastetwerden.

Anstatt ein starres Renteneintrittsalter durch ein höhe-res zu ersetzen, müssen wir, so denke ich, dafür sorgen,dass der Übergang aus dem Erwerbsleben in den Ru-hestand von den Menschen flexibler als bisher gestaltetwerden kann.

(Beifall bei der FDP)

Wir brauchen mehr Beschäftigung im Alter. Unsere Ge-sellschaft kann es sich nicht länger leisten, dass geradeeinmal 45 Prozent der über 55-Jährigen noch in Beschäf-tigung sind.

Viele Menschen in der Altersgruppe ab 60 Jahrenwollen aber nicht mehr Vollzeit arbeiten. Sie wollen überden Umfang, in dem sie voll oder teilweise mit entspre-chender Teilrente tätig sind, selbst bestimmen können.Sie wünschen sich eine flexible Gestaltung des

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Renteneintritts und die Sicherstellung eines ausreichen-den Auskommens durch eine Kombination aus gesetzli-cher Rente, privater und betrieblicher Altersvorsorge.Sie wünschen sich – das ist ganz wichtig –, dass ihre Be-schäftigungschancen durch Reformen auf dem Arbeits-markt, zum Beispiel durch Vorteile bei den Sozialversi-cherungsbeiträgen, endlich wieder verbessert werden.Warum nicht? Der eigentliche Skandal ist doch, dass äl-tere Arbeitnehmer in unserer Volkswirtschaft aus demArbeitsleben regelrecht herausgedrängt werden. Ein 60-Jähriger muss sich heute fast rechtfertigen, wenn er mor-gens noch zur Arbeit geht. Damit muss Schluss sein.

(Beifall bei der FDP)

Für uns ist wichtig, dass die individuelle Gestaltungdes Übergangs in den Ruhestand nicht länger zulastender Versichertengemeinschaft gehen darf. In dieser Hin-sicht unterscheiden wir uns dezidiert von der großen Ko-alition. Sie hat in der letzten Woche ein teueres Schlupf-loch für die Altersteilzeit offen gehalten, obwohl wirheute besser denn je wissen, dass der Weg über die Al-tersteilzeit falsch war. Es ist besser, ihn heute als morgenzu schließen.

(Beifall bei der FDP)

Ich darf Ihnen ankündigen, dass die FDP-Fraktion in we-nigen Wochen ein entsprechendes neues Rentenmodellpräsentieren wird, in dem die von mir genannten Kritik-punkte und Vorschläge berücksichtigt werden.

Zur Arbeitsmarktsituation Älterer und Ihrer Initiative„50 plus“, Herr Minister, muss ich sagen: Sie ist nichtausreichend und nicht geeignet, eine wirkliche Verbesse-rung der derzeitigen Situation herbeizuführen. Das be-legt schon die Wirkungsprognose, die Ihr Haus für die-ses Gesetz selbst gegeben hat. Auf der Homepage desBMAS heißt es, es sollen 65 000 Arbeitsplätze geschaf-fen werden. Sie, Herr Müntefering, waren im Novemberehrgeiziger und haben in diesem Haus von 100 000 Ar-beitsplätzen gesprochen. Anscheinend sind Sie ein biss-chen vorsichtiger geworden. Es ist auf jeden Fall zu we-nig, wenn man bedenkt, dass die Beschäftigungsquoteder 55- bis 64-Jährigen heute – ich sagte es bereits – ge-rade einmal bei 45 Prozent liegt. Das sind 2,8 MillionenMenschen in dieser Altersklasse, die noch arbeiten. Dasbedeutet auch, dass 65 000 Beschäftigungsverhältnissemehr eine Steigerung von 45 auf 46 Prozent sind. Damitliegen wir deutlich hinter Schweden mit 69 Prozent oderDänemark mit 60 Prozent. Ich finde, Herr Minister, Siesollten hier durchaus ein bisschen mehr Ehrgeiz an denTag legen und nicht einfach nur alten Wein in neuenSchläuchen verkaufen. Genau darauf läuft Ihre Initiative„50 plus“ am Ende hinaus.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: Das ist al-ter Wein in alten Schläuchen!)

– Ja, vielleicht ist es sogar alter Wein in alten Schläu-chen. Auch das kann ich nicht ausschließen.

Wir brauchen einen grundsätzlichen Wechsel in derHerangehensweise an das Problem der mangelnden Be-schäftigung älterer Menschen. Es geht darum, dass wir

Fehlanreize beseitigen, die zu einem Beschäftigungsab-bau – er ist heute fast systematisch – bei Älteren führen.Es hilft nicht, Programme, die bisher schon wirkungsloswaren, einfach zu verlängern. Ich glaube nicht, dass das,was bisher wirkungslos war, plötzlich Wirkung zeigenwird. Sie sagen ja, Herr Minister Müntefering, das liegedaran, dass die Instrumente zu wenig bekannt waren. Ja,wer hat denn die Verantwortung dafür, dass die Men-schen diese Programme bisher nicht kennen? Kann daswirklich der Grund sein? Ich glaube eher, dass die Pro-gramme nicht nur unbekannt, sondern auch einfach un-sinnig sind.

Der Kombilohn, den Sie jetzt vorschlagen, wird ab-sehbar keine Wirkung zeigen, solange es lukrativereAusstiegsmodelle wie etwa die Altersteilzeit gibt, dieSie gerade verlängert haben. Eingliederungszuschüssemögen für die Unternehmen interessant sein, insbeson-dere wenn es keine Nachbeschäftigungspflicht gibt.Aber es gibt hier hohe Mitnahmeeffekte. Bei dem gerin-gen vorgesehenen finanziellen Volumen ist es absehbar,dass die Wirkung niedrig sein wird. Ich frage Sie: Wenndie erweiterten Möglichkeiten der Befristung von Ar-beitsverträgen für Personen ab 52 Jahren ein richtigerSchritt sind, warum wird dieses Instrument dann nichtfür alle Menschen angeboten, die aus der Arbeitslosig-keit heraus wollen?

Zusammenfassend noch einmal: Die genannten Maß-nahmen werden verpuffen, wenn sich das Denken nichtändert und wenn Fehlanreize nicht beseitigt werden.Wenn, wie schon angesprochen, die Koalition reizvolleMöglichkeiten des Ausstiegs aus dem Arbeitsleben wei-ter anbietet und mit großzügigen Vertrauensschutzregelnausstattet, wird sich das neue Denken nicht durchsetzenkönnen. Das ist falsch.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie müssen zum Ende kommen, Herr Kollege.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ich komme zum Ende.

(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Ich dachte, jetztkommen die Vorschläge! Jetzt kommen die Al-ternativen!)

Ich verweise noch einmal auf den vorliegenden An-trag der FDP zum Rentenversicherungsbericht. Hier gehtes darum, dass wir den Menschen künftig wirklich dieWahrheit sagen. Denn, Herr Minister, Sie haben gesagt:Gute Politik beginnt damit, dass man den Menschen dieWahrheit sagt.

(Anton Schaaf [SPD]: Das machen wir gleich!)

Sie tun das nicht. Sie bringen mit der Rente mit 67 eineverkappte Rentenkürzung auf den Weg. Sie prognosti-zieren in Ihrem Rentenversicherungsbericht zu guteRentenwerte, weil Sie im mittleren Szenario mit durch-schnittlich zweieinhalb Prozent Lohnsteigerung rechnen,was mehr als optimistisch ist; vielleicht ist es realisti-

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scher als in der Vergangenheit, aber immer noch mehrals optimistisch.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege!

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Deswegen werden Sie den Anforderungen an eine

gute Politik leider nicht gerecht.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege

Brauksiepe.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Die große Koalition hält Kurs in der Rentenpolitikund bringt heute die notwendigen Antworten ein, um dieAlterssicherung langfristig und weit über die laufendeLegislaturperiode hinaus zu stabilisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Blicken wir auf die Entwicklungen in der Vergangen-heit zurück. Die bestehende Altersgrenze von 65 gibt esseit mittlerweile 90 Jahren: seit 1913 für die Angestell-ten und seit 1916 für die Arbeiter. Diese Grenze wurdealso in einer Zeit festgelegt, in der die Lebenserwartungweit darunter lag. Arbeiten praktisch bis in den Tod– das ist heute unvorstellbar – ist bei der Einführung die-ser Regelaltersgrenze noch der übliche Fall gewesen. Eshat im Laufe der Jahrzehnte erheblichen sozialen Fort-schritt gegeben. So lag die durchschnittliche Rentenbe-zugsdauer in den 60er-Jahren bei zehn Jahren, heute be-trägt sie 17 Jahre.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was wir vorle-gen, bedeutet nach all den Zahlen, die wir kennen, dasswir sagen: Die Rentenversicherung kann es verkraften,dass die durchschnittliche Rentenbezugsdauer bis zumJahr 2030 von heute 17 Jahren auf 18 Jahre steigt. Dasist der Inhalt, um den es erfreulicherweise geht. Wir wis-sen schon heute, dass die Lebenserwartung der 65-Jähri-gen im Jahr 2029 knapp drei Jahre höher ist als heute.Die Lebenserwartung der Rentner steigt also um knappdrei Jahre. Die Lebensarbeitszeit erhöhen wir um zweiJahre. Das heißt, die durchschnittliche Rentenlaufzeitwird um rund ein Jahr steigen. Das ist eine gute Nach-richt für die Menschen. Das kann die gesetzliche Ren-tenversicherung dank der Produktivität der Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer in unserer Volkswirtschaftverkraften. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauerauf 20 Jahre zu erhöhen, das wäre allerdings unverant-wortlich. Deswegen beschließen wir heute die vorliegen-den Maßnahmen zur Rente mit 67.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Von verschiedenen Seiten wird kritisiert, das sei einRentenkürzungsprogramm.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!)

– Lieber Kollege Kolb, das, was Sie gesagt haben, warwirklich weit unter Ihrem Niveau. Wir haben seit letztemJahr 536 000 Arbeitslose weniger. Diese Entwicklunglässt sich schon rein mathematisch nicht bis zumJahr 2029 fortschreiben. Denn dann müssten wir ein paarMillionen Arbeitslose minus haben.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ach was! – Dirk Niebel [FDP]: So ein Quatsch!)

Ich wiederhole: in einem Jahr 536 000 Arbeitslose weni-ger.

Herr Kollege Kolb, Ihre Partei hat in der Geschichtedieses Landes 42 Jahre lang in unterschiedlichen Kon-stellationen regiert,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das waren nichtdie schlechtesten Jahre! – Zuruf von der SPD:Jawohl! Genauso ist es!)

entweder mit uns oder mit den Sozialdemokraten. Ich for-dere Sie auf – dabei lasse ich Ihnen die freie Auswahl –:Suchen Sie das beste dieser 42 Jahre heraus und sagen Sieuns, in welchem Umfang in diesem Jahr die Arbeitslosig-keit reduziert wurde.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn Sie die Reduzierung der Arbeitslosigkeit um536 000 Personen als ungenügend bezeichnen,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das setzt sichaber doch nicht in sozialversicherungspflich-tige Beschäftigung um! Das ist nicht so ein-fach umzusetzen!)

muss ich Ihnen sagen: Sie haben von der Realität über-haupt keine Ahnung mehr, Herr Kollege Kolb.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] meldet sichzu einer Zwischenfrage)

– Herr Kollege Kolb, es kommen noch ganz andere Sa-chen. Bleiben Sie erst einmal sitzen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann kommtnachher aber eine Kurzintervention! – AntonSchaaf [SPD]: Es kommt noch besser!)

Suchen Sie lieber in Ruhe das beste Jahr Ihrer Regie-rungszeit heraus und sagen Sie uns, in welchem UmfangSie in diesem Jahr die Arbeitslosigkeit gesenkt haben.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie wollen die Zwischenfrage also nicht zulassen?

Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Nein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Anhebung derAltersgrenze auf 67 Jahre tritt nicht heute in Kraft undauch nicht morgen oder übermorgen, wie von Kritikernimmer wieder suggeriert wird. In den nächsten fünf

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Jahren ändert sich beim Renteneintrittsalter überhauptnichts.

(Dirk Niebel [FDP]: Jawohl! Sagen Sie es doch: Die Rente ist sicher!)

Erst ab dem Jahr 2012 beginnen wir sehr behutsam da-mit, das Renteneintrittsalter um einen Monat pro Jahr zuerhöhen. Das heißt, im Jahre 2023, also in 17 Jahren, ha-ben wir ein um ein Jahr höheres Renteneintrittsalter alsheute. Dann wird es bei 66 Jahren liegen. Danach geht esin größeren Schritten weiter. Das ist ein behutsamer undkalkulierbarer Weg.

Richtig ist, dass uns die heutige Situation auf dem Ar-beitsmarkt für die Menschen über 50 Jahre noch nichtzufrieden stellen kann. Aber auch hier sind wir auf demrichtigen Weg. Wenn man sich die Quote der Beschäfti-gung der 55- bis 64-Jährigen, wie sie im EU-Vergleichgemessen wird, vor Augen führt, stellt man fest: Nochvor drei Jahren lag sie in Deutschland bei unter 40 Pro-zent. Heute liegt diese Quote bei uns bei 45,4 Prozent, inder alten EU 15 bei 44,1 Prozent und in der EU 25 bei42,5 Prozent. Das heißt, was die Beschäftigung Ältererangeht, sind wir schon jetzt klar über dem EU-Durch-schnitt. Dieser Trend ist positiv. Wir haben uns vorge-nommen, im Jahr 2010 – bis dahin wird sich beim Ren-teneintrittsalter nichts geändert haben – 50 Prozent zuerreichen. Auf diesem Weg sind wir.

Im November dieses Jahres waren 97 000 wenigerüber 50-Jährige arbeitslos gemeldet als vor einem Jahr.Wir sind also auf einem positiven Weg, was die Beschäf-tigung Älterer angeht. Wir werden diesen Weg gemein-sam weitergehen. Schon im Jahr 2012 wird die Entwick-lung auf dem Arbeitsmarkt völlig anders verlaufen.Jeder, der mit diesem Thema seriös umgeht, weiß, dassder Arbeitsmarkt des Jahres 2029 völlig anders aussehenwird als der heutige. Deswegen sind diese Maßnahmensachgerecht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wir haben in vielen wichtigen Detailfragen deutlichgemacht, dass wir eine Reform durchführen müssen, diefinanzielle Solidität und soziale Gerechtigkeit miteinan-der verbindet. Beides ist notwendig. Von diesem Prinziphaben wir uns leiten lassen, als es um die Frage ging:Wie gehen wir mit dem runden Dutzend verschiedenerRentenarten um, die es von der Rente für Schwerbehin-derte über die Rente für langjährig unter Tage beschäf-tigte Bergleute bis hin zur Witwen- und Witwerrentegibt? Wir haben uns dabei von dem Grundsatz leiten las-sen, jeweils parallel zur Regelaltersrente bis zum Jahr2029 einen Anstieg um zwei Jahre vorzunehmen.

Wir haben in drei Bereichen Ausnahmen gemacht.Der Erste betrifft die Menschen, die 45 Jahre gearbeitethaben, also besonders langjährig Versicherte. Wir stel-len sicher, dass diejenigen, die 45 Beitragsjahre aufzu-weisen haben, weiterhin mit 65 Jahren ohne Abschlägein Rente gehen können. Da mag mancher sagen, das seiunsystematisch. Wahr ist, das ist etwas Neues. Wir sagendamit klipp und klar: Beitragsleistung ist notwendig, dieSozialversicherung lebt von den Beiträgen. Eine lang-

jährige Beitragszahlung bedeutet auch etwas im Hin-blick auf die Lebensleistung. Das muss in den sozialenSicherungssystemen honoriert werden. Das hat etwasmit sozialer Gerechtigkeit zu tun und deswegen machenwir das so.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Weil wir diejenigen, die Familienarbeit leisten, nichtschlechter stellen wollen, weil wir Beitragsleistung undFamilienleistung gleichstellen wollen, haben wir gesagt:Diejenigen, die Kinder erziehen, bekommen diese Zeitangerechnet; diejenigen, die Angehörige pflegen, be-kommen das angerechnet.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist, wenn jemand langeerwerbslos war? Wird das auch angerechnet?)

Für die ersten drei Jahre der Erziehung eines Kindeswird angenommen, der Durchschnittsbeitrag sei einge-zahlt worden. Durch die Einbeziehung der Kinderbe-rücksichtigungszeiten werden im Grunde zehn Jahre proKind angerechnet, wenn festgestellt wird, wie lange je-mand versichert war. Dies ist nach meiner festen Über-zeugung eine notwendige Ausnahme. Ich bin dankbar,dass unser Koalitionspartner diesem Wunsch, den wir indie Koalitionsverhandlungen eingebracht haben, gefolgtist, dass wir das gemeinsam verabreden konnten. Daswar ein langjähriges Ziel der Union und ich darf sagen,es war auch ein langjähriges Ziel der Christlich-Demo-kratischen Arbeitnehmerschaft, eine solche Ausnahmefür besonders langjährig Versicherte zu schaffen. Ich binfroh, dass wir dies vereinbart haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben eine weitere Ausnahme verabredet fürlangjährig Versicherte, die vor dem 67. Lebensjahr inRente gehen wollen. Das ist bisher schon möglich – mitversicherungsmathematisch korrekten Abschlägen –, al-lerdings in einem kürzeren Korridor. Wir werden dafürsorgen, dass es weiterhin möglich ist, mit 63 Jahren inRente zu gehen; bei der Rente mit 67 dann mit versiche-rungsmathematisch korrekten Abschlägen für vier Jahre.Damit kommen wir auch einem Wunsch der Tarifpartnernach mehr Flexibilität nach. Diese Regelung ist für dieRentenversicherung langfristig kostenneutral.

Uns ist darüber hinaus klar: Es wird bei allem Fort-schritt bei der Humanisierung der Arbeitsverhältnisseimmer Menschen geben, die nicht bis 67 arbeiten kön-nen. Deswegen brauchen wir auf Dauer das Instrumentder Erwerbsminderungsrente; auch dazu bekennen wiruns ausdrücklich. Heute geht jemand, der nicht mehrvoll arbeiten kann, mit ungefähr 50 Jahren in die Er-werbsminderungsrente. All diejenigen, die in einem sol-chen Alter in Erwerbsminderungsrente gehen, bleiben sogestellt, wie sie sind: Sie werden so behandelt, als hättensie bis 60 gearbeitet, das heißt, die so genannten Zurech-nungszeiten bleiben unverändert, für diese Menschenändert sich nichts. Auch für all diejenigen, die langjährigversichert sind, wird es möglich sein, wenn sie später inErwerbsminderungsrente gehen, die volle Erwerbsmin-derungsrente zu beanspruchen. Das heißt, für langjährigVersicherte wird es im Alter von 63 Jahren weiterhin die

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volle Erwerbsminderungsrente geben. Wir bekennen unsdazu. Auch wenn der Grundsatz der Heraufsetzung umzwei Jahre auch bei dieser Rentenart gilt, haben wir weitreichende Ausnahmen geschaffen, um der Lebens- undBeschäftigungssituation derer gerecht zu werden, dienicht so lange arbeiten können. Die Starken für dieSchwachen, das ist das Prinzip der solidarischen Renten-versicherung. Die, die nicht mehr können, werden aufge-fangen von der Solidargemeinschaft derer, die längerarbeiten können. Das ist das bewährte Prinzip der Ren-tenversicherung. Das erhalten wir aufrecht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Diese Rentenreform auf den Weg zu bringen, war inder Tat nur gegen massive Widerstände möglich; das istwahr. Der Begriff der Jahrhundertreform ist politischviel zu häufig strapaziert worden. Deswegen will ich da-von bewusst nicht sprechen. Aber sicherlich schreibenwir ein Stück Sozialgeschichte, wenn wir heute die Wei-chen für einen Übergangszeitraum von 23 Jahren stellen,um dann die Grundlage für eine durchschnittliche Ren-tenbezugsdauer von 18 Jahren zu haben.

Das war – das ist schon angesprochen worden – nurgegen massive Widerstände möglich. Wichtige undmächtige Menschen haben sich dagegen ausgesprochen.Ich nenne als Beispiele den DGB-Chef MichaelSommer, den FDP-Chef Guido Westerwelle, den IG-Me-tall-Chef Jürgen Peters und den FDP-GeneralsekretärDirk Niebel. Sie alle haben sich gegen die Rente mit 67ausgesprochen. Vor diesem Hintergrund gilt mein beson-derer Dank der Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem Vi-zekanzler und zuständigen Minister Franz Münteferingsowie den Kolleginnen und Kollegen aus den Koali-tionsfraktionen, dass wir diesem Druck nicht nachgege-ben haben, sondern diesen notwendigen Beschluss ge-meinsam gegen Widerstände auf den Weg gebrachthaben. Wir werden das auch weiterhin gegen Wider-stände tun.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Widerstand kam leider auch von der FDP. Das wissenSie, Herr Kolb, am besten. Sie haben auf Ihrem letztenBundesparteitag den Antrag eingebracht, das reguläreRenteneintrittsalter solle auf 67 Jahre heraufgesetzt wer-den. Das haben Sie damit begründet, dass die FDP denMut haben und sich zu notwendigen Reformschritten be-kennen solle. Dafür haben Sie leider keine Mehrheit be-kommen, keine Mehrheit für Mut, keine Mehrheit fürnotwendige Reformschritte in der FDP. Das ist schade,auch für Sie, Herr Kolb. Aber Sie können beruhigt sein:Wir als große Koalition ergreifen auch gegen Wider-stände unpopuläre Maßnahmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Sätzezum Thema „50 plus“ sagen. Trotz der positiven Ent-wicklung, die wir haben, sind wir als Gesetzgeber aufge-fordert, das, was wir tun können, auch in Zukunft zu tun,um diesen Prozess zu flankieren. Das Programm

„50 plus“ bedeutet mehr als der Gesetzentwurf, den wirvorlegen. „50 plus“ ist etwas, was in den Köpfen derMenschen stattfinden muss. Es muss allen klar sein, dassein über 50-Jähriger nicht zum alten Eisen gehört, son-dern noch rund eineinhalb Jahrzehnte zu arbeiten hat.

Deswegen gibt es schon jetzt eine Reihe von gesetzli-chen Maßnahmen zur Förderung der BeschäftigungÄlterer. Es gibt aber nicht nur Gesetze. Wir auf Bundes-ebene nehmen auch Geld in die Hand. Das Bundes-arbeitsministerium fördert 62 Modellprojekte inDeutschland. Nach mir spricht noch die KolleginSchewe-Gerigk. Auch in unserem Wahlkreis – wir sindim selben Wahlkreis tätig – gibt es ein solches Projekt.Es wird Geld des Bundes in die Hand genommen, umdie Wirtschaft, um die Länder und um die Kommunenstärker in diesen Prozess einzubinden.

Zusätzlich tun wir mit bundesgesetzgeberischen Maß-nahmen nun noch etwas, um diesen Prozess anzustoßen.Darüber hinaus regeln wir die EU-rechtskonformebefristete Beschäftigung Älterer neu, und zwar in einerWeise, die Flexibilität schafft, wie das sonst im Befris-tungsrecht an keiner Stelle der Fall ist. Unsere Erwar-tung ist, dass die Unternehmen von diesen Möglichkei-ten Gebrauch machen und in Zukunft noch verstärktältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einstellen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir haben den Weg in diesem Gesetzgebungsverfah-ren noch vor uns. Ich sage ganz deutlich: Wir sind dafüroffen, diese gesetzlichen Maßnahmen, wenn es den Be-darf gibt, noch anzureichern und Anhörungen und Dis-kussionen dazu durchzuführen.

Wir von der Union wollen – auch das sage ich ganzdeutlich – für ältere Arbeitslosengeld-I-Empfänger, sowie es der Minister vorgeschlagen hat, die Entgeltsiche-rung verbessern, damit mehr Menschen nach kurzer Ar-beitslosigkeit wieder in Beschäftigung kommen. Wirvon der CDU/CSU wollen gleichzeitig einen Kombi-lohn für über 50-jährige Arbeitslosengeld-II-Bezieher,um auch die Menschen, bei denen es, aus welchemGrund auch immer, nicht geklappt hat, sie wieder schnellin Arbeit zu bringen, nicht aufzugeben. Auch ältereLangzeitarbeitslose brauchen eine Perspektive in unse-rem Land. Das hat etwas mit unserem christlichen Ver-ständnis zu tun, niemanden aufzugeben und am Weges-rand stehen zu lassen. Deswegen werden wir in dieserFrage auch weiterhin aktiv werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Also: Wir haben wichtige Reformvorhaben vorgelegt,um die Renten zu konsolidieren und um zu einer gerech-ten Verteilung der Lasten aus der demografischen Ent-wicklung zwischen Rentenempfängern, Beitragszahlernund Steuerzahlern zu kommen. Lassen Sie uns gemein-sam konstruktiv diesen Weg weitergehen im Interesseder arbeitenden Menschen und derer, die als Rentnerin-nen und Rentner den Lohn für ihre Lebensleistung vonuns mit Recht erwarten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem

Kollegen Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich denke, wenn jemand keine Zwischen-frage zulässt, dann muss er es sich zumindest gefallenlassen, dass man in Form einer Kurzintervention inhalt-lich zu dem Stellung nimmt, was hier gesagt wurde. HerrKollege Brauksiepe, ich will das zu zwei Punkten tun.

Erstens. Sie sollten sich das, was Herr MinisterMüntefering gesagt hat, wirklich noch einmal vor Augenführen: Gute Politik fängt damit an, dass man den Men-schen sagt, was ist.

(Beifall bei der FDP)

Sie haben wieder nur die Hälfte der Wahrheit gesagt. DieHälfte der Wahrheit ist: Die Arbeitslosenzahl in unseremLand ist im letzten Jahr im Jahresvergleich um500 000 zurückgegangen. Die andere Hälfte der Wahr-heit ist: Im gleichen Zeitraum sind nur etwa250 000 neue sozialversicherungspflichtige Stellen ge-schaffen worden.

(Klaus Brandner [SPD]: Was ist das für eineMilchmädchenrechnung! Wir freuen uns überSelbstständigkeit und Existenzgründungen!Die Erwerbstätigkeit steigt, Herr Kolb!)

– Ja, Herr Kollege Brandner, das ist ein ganz entschei-dender Punkt, weil die Finanzierungskrise in allen Berei-chen der sozialen Sicherung damit zusammenhängt, dasswir in den letzten vier Jahren 1,4 Millionen sozialversi-cherungspflichtige Arbeitsplätze verloren haben. Ichfreue mich, dass wir jetzt wieder 250 000 Stellen gut ge-macht und etwas Boden gewonnen haben.

(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Ihre Freude kommt in Ihrem Beitrag nicht zum Ausdruck!)

Zur Wahrheit gehört aber, den Menschen auch zu sagen,dass es keinen Grund zur Entwarnung gibt und dass dieLage der sozialen Sicherungssysteme weiterhin ange-spannt bleibt, wenn wir diese Trendumkehr nicht wirk-lich dauerhaft erreichen und verstetigen.

(Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]:Die Lage der FDP ist ernst, aber noch nichthoffnungslos!)

Herr Brauksiepe, Sie hätten auch sagen sollen, dasssich die Differenz dadurch begründet, dass demografischbedingt viel mehr Menschen aus dem Arbeitsmarkt aus-treten, als neue hinzukommen. Manche Menschen ver-abschieden sich gänzlich aus dem Arbeitsmarkt undmanche gehen einer geförderten selbstständigen Tätig-keit – Ich-AG – nach. Für uns ist wichtig, dass die An-zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungs-verhältnisse relativ gesehen stagniert. Wenn man sichden Vierjahresvergleich anschaut, dann erkennt man,dass wir weiterhin deutlich im negativen Trend liegen.

Das Zweite, auf das ich eingehen möchte, sind IhreAussagen zur Position der FDP in Rostock.

(Klaus Brandner [SPD]: Sie hatten doch schon elf Minuten Redezeit!)

In Rostock lag ein Antrag mit dem Titel „Rentenpolitikfair und generationengerecht gestalten“ vor, der siebenPunkte enthielt. Davon haben wir sechs beschlossen.

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Zum Beispiel?)

– Darauf komme ich noch zurück. – Teilweise waren dassehr unpopuläre Dinge, nämlich etwa die Abschaffungdes Lebensalters als Kriterium im Kündigungsschutzge-setz und die sofortige Beendigung von Frühverrentungs-möglichkeiten. Man muss hier klipp und klar sagen: Dasalles trauen Sie sich ja nicht, obwohl dies wesentlicheTeile der Lösung des Problems sind.

Einen Punkt haben wir offen gelassen, aber nicht des-halb, weil wir uns dem verweigern wollen, sondern weilwir mit etwas mehr Zeit nach einer besseren Lösung su-chen wollten. Wenn Sie mir zugehört hätten, dann wüss-ten Sie, dass ich gesagt habe, dass die FDP in wenigenWochen im Deutschen Bundestag ein Eckpunktepapiereinbringen wird, in dem sehr klar beschrieben ist, wieman die Erwartungen der Menschen bezüglich des Über-gangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand besser erfül-len kann. Wir kneifen hier nicht, sondern wir werdenFarbe bekennen.

Ich sage Ihnen voraus: Sie werden sich mit dem Vor-schlag, den wir Ihnen präsentieren werden, schwer tun.Ich freue mich schon heute auf diese Situation.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Brauksiepe, bitte.

Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Herr Kollege Kolb, ich bitte ausdrücklich um Ent-

schuldigung, dass ich Ihnen nicht die Gelegenheit zu ei-ner Zwischenfrage gegeben habe. Ich hatte sie zu einemspäteren Zeitpunkt erwartet, nämlich dann, als ich daraufhingewiesen habe, dass Sie die Rente mit 67 Jahren ab-lehnen. Als ich das das letzte Mal gesagt habe, haben Sieeine Zwischenfrage gestellt. Sie bestreiten jetzt alsonicht mehr, dass die FDP die Rente mit 67 Jahren ab-lehnt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, nein!)

Das haben Sie akzeptiert. Deswegen kam die von mir er-wartete Zwischenfrage an dieser Stelle nicht. Sie hattenalso keine Gelegenheit, sie zu stellen. Dafür bitte ichausdrücklich um Entschuldigung. Wir sind sehr gespanntdarauf, was Sie uns ankündigen werden.

Ich habe von 536 000 Arbeitslosen weniger als vor ei-nem Jahr gesprochen. Wir können gerne über die sozial-versicherungspflichtige Beschäftigung reden. Wir haben317 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte mehrals vor einem Jahr. Ich habe Ihren Beitrag so verstanden,dass Sie einen solchen Rückgang der Arbeitslosigkeit inIhren 42 Regierungsjahren nicht hinbekommen haben.

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Dr. Ralf Brauksiepe

Ich mache Ihnen ein neues Angebot: Wenn Ihre Kolleginan der Reihe ist, dann soll sie uns das Jahr der 42 JahreIhrer Regierungszeit in der Bundesrepublik Deutschlandnennen, in dem Sie 317 000 sozialversicherungspflich-tige Beschäftigungsverhältnisse zusätzlich geschaffenhaben. Das wäre doch ein interessanter Beitrag zurWahrheitsfindung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben von1982 bis 1990 zusammen übrigens 3 Millionenzusätzliche Beschäftigungsverhältnisse ge-schaffen! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Klärt das vor der Tür!)

– Da waren wir gut; das ist wahr.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Braucht ihr einen Sekundanten? –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, es geht hierweitgehend gewaltfrei ab!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi für die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Müntefering, wir haben es zunächst einmal mit ei-nem praktischen Demokratieproblem zu tun.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: DieLinkspartei hat ein Problem mit der Demokra-tie!)

Herr Meckelburg hat hier in der vorigen Debatte ge-sagt, die Mehrheit wolle nicht, dass das Renteneintritts-alter auf 67 Jahre erhöht werde. Nun will ich gar nichtbestreiten, dass auch eine Koalition in einer Regierungs-zeit von vier Jahren einmal als Ausnahmefall gezwungensein kann, etwas gegen den Willen der Mehrheit zuentscheiden. Das Problem ist nur: Bei Ihnen wird daszum Regelfall.

(Beifall bei der LINKEN)

Ob wir die Mehrwertsteuererhöhung nehmen, ob wir dieGesundheitsreform nehmen, ob wir die Körperschaft-steuersenkung für die Deutsche Bank und andere Kapi-talgesellschaften nehmen, ob wir die Pendlerpauschalen-reduzierung nehmen, all das geschieht gegen denMehrheitswillen der Bevölkerung.

(Beifall bei der LINKEN)

Was die Rente ab 67 betrifft, gibt es hier eine breiteÜbereinstimmung. Die Union will sie, die SPD will sie,die Grünen wollen sie. Die Grünen behaupten sogar, diesläge im Interesse der jungen Leute. Das verstehe ich nungar nicht, denn die jungen Leute müssen ja dann längerarbeiten. Die FDP will die Erhöhung des Renteneintritts-alters halb, noch nicht ganz. Wir werden sehen, wie sichdie Sache entwickelt.

Dann werden wir dafür kritisiert – zum Beispiel vonHerrn Meckelburg und von anderen –, dass wir eine an-dere Auffassung haben. Ich würde gerne darüber disku-tieren, was das bedeutet. Stellen Sie sich einmal vor,auch wir wären der Meinung, man müsse das Rentenein-trittsalter auf 67 Jahre erhöhen. Stellen Sie sich einmalvor, der ganze Bundestag wäre sich einig, aber67 Prozent der Bevölkerung sind dagegen.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor zwei Jahren waren noch100 Prozent dagegen!)

Und dann wollen Sie, dass die Interessen dieser67 Prozent im Bundestag nicht einmal artikuliert wer-den! Das wäre das Ende der repräsentativen Demokratie.

(Beifall bei der LINKEN)Herr Müntefering, Sie haben zu Recht gesagt: Alles

fängt damit an, dass man Tatsachen anerkennt und dassman sie auch ehrlich vorträgt. Ich darf zwei Zitate brin-gen, ein Zitat aus dem Wahlprogramm der Union ausdem Jahr 2005: „Sobald es die Bedingungen auf demArbeitsmarkt erlauben, kommt auch eine schrittweiseAnhebung des Renteneintrittsalters infrage.“

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:Sehr gut! – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]:Genau!)

– Na ja. Ich finde, die Bedingungen erlauben es nicht.Falsch ist es auch, aber immerhin: Sie haben es gesagt.

Jetzt zitiere ich aus dem Wahlprogramm der SPD. Da-rin steht Folgendes: „Unser Ziel ist, das faktische Ren-teneintrittsalter an das gesetzliche Renteneintrittsaltervon 65 Jahren heranzuführen.“ Da steht nichts von 67.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja wie bei der Mehrwertsteuererhöhung!)

Sie machen dasselbe wie bei der Mehrwertsteuer: Sieversprechen im Wahlkampf etwas anderes, als Sie hierrealisieren.

(Beifall bei der LINKEN und der FDP)Damit müssen Sie sich auseinander setzen. Sie kön-

nen nicht behaupten, andere erkennen die Tatsachennicht an, und sich hier hinstellen und sagen, Sie wollennicht an Ihre Wahlversprechen erinnert werden. So gehtes nicht!

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sie sind immer noch in der Phase des Versprechens!)

Kommen wir zur demografischen Entwicklung, alsozu den Zahlen und Tatsachen. Ich will jetzt nicht so weitzurückgehen, aber als wir noch in Höhlen lebten, wurdenwir 20 bis 30 Jahre alt, glaube ich. Das liegt sehr langezurück.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Da gab es auch noch keine Rentenversicherung!)

Aber ab 1900 gibt es genauere Zahlen. In den100 Jahren von 1900 bis 2000 sind wir in der Gesell-schaft in Deutschland um über 30 Jahre älter geworden.Das ist schon interessant.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gut so!)

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Dr. Gregor Gysi

Herr Bismarck hat 1891 das Rentenalter mit 70 einge-führt, weil er die Beiträge nicht so hoch ansetzen wollte.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Leute sind mit 40 gestorben!)

1916 wurde für Arbeiter das Rentenalter auf 65 Jahre re-duziert, für Angestellte schon früher. Das heißt, 90 Jahrehaben wir dieses Renteneintrittsalter durchgehalten – beieiner Steigerung der Lebenserwartung von über30 Jahren. Und jetzt kommen Sie und sagen, bis zumJahre 2050 werden wir noch einmal sechs Jahre älter. ImVergleich zu über 30 Jahren ist das nichts. Nicht einmaldemografisch lässt sich Ihre Entscheidung vernünftig be-gründen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Nächste, wenn wir über Tatsachen reden, ist, dasses auf die Alterszusammensetzung der Bevölkerung garnicht ankommt.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:Doch, das ist das entscheidende Thema! Nichtausweichen! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

– Es ist übrigens interessant, wie sich alle aufregen. Siewerden alle älter, aber so alt, wie Sie tun, nun auch wie-der nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie viele Menschen über 65 Jahre alt sind, ist garnicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frageist die der Produktivität der Menschen.

(Beifall bei der LINKEN)

1900 hat ein Bauer acht Menschen versorgt. Heute ver-sorgt ein Bauer 80 Menschen. Das sind Tatsachen, dieSie überhaupt nicht erörtern. Im Schnitt der letzten Jahrestieg die Produktivität pro Jahr um 3 Prozent. Nehmenwir nur ein Jahr; nehmen wir nur das Jahr 2005. In die-sem Jahr stieg die Produktivität um 1,9 Prozent. Daraufhat Herr Lafontaine zwar schon hingewiesen und Siewollen eigentlich keine Wiederholungen hören, aberweil Sie es offenbar nicht verstanden haben, muss ich eswiederholen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Produktivität stieg, wie gesagt, um 1,9 Prozent.Die Wirtschaft wuchs aber nur um 1,4 Prozent. Dasheißt, dass bei unveränderter Arbeitszeit 1,9 Prozentmehr Waren und Dienstleistungen hergestellt bzw. er-bracht wurden. Im selben Zeitraum wurden aber nur1,4 Prozent mehr Produkte und Dienstleistungen ver-kauft. Das ist das Problem. Kein Unternehmen wird et-was herstellen, das es nicht verkaufen kann. Es bleibteine Differenz von 0,5 Prozentpunkten.

Was ist zu tun? Es gibt zwei Wege: Man kann entwe-der die Arbeitszeit entsprechend reduzieren oder die Ar-beitslosigkeit steigt an. Leider ist immer Letzteres ge-schehen. Aber eine Maßnahme ist völlig unpassend– darauf sind Sie mit keinem Satz eingegangen –: imLaufe der nächsten Jahre die Arbeitszeit um zwei Jahre

zu verlängern. Die Produktivität nimmt doch weiter zuund wir werden nicht entsprechend mehr Waren undDienstleistungen verkaufen können. Deshalb ist es inökonomischer Hinsicht völliger Unsinn, die Arbeitszeitum zwei Jahre zu verlängern.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Ralf Brauk-siepe [CDU/CSU]: Also am besten gar nichtarbeiten!)

Es gibt zwar Löcher in den Rentenkassen – das istrichtig –, aber sie haben nichts mit der Bevölkerungszu-sammensetzung nach ihrem Alter zu tun, sondern mitdem Wachstum des Sozialprodukts bzw. der Produktivi-tät, der Entwicklung der Reallöhne, der Zahl der sozial-versicherungspflichtig Beschäftigten und der Verteilungdes Sozialprodukts. Schuld an Löchern in der Renten-kasse sind die hohe Arbeitslosigkeit – denn Arbeitslosezahlen keine Beiträge ein –, der Rückgang der Lohn-quote – denn wenn es weniger Löhne gibt oder dieLöhne nicht steigen, dann gehen die Beiträge entspre-chend zurück – und der wachsende Niedriglohnsektor,wodurch die Einzahlungen in die gesetzliche Rentenver-sicherung noch weiter zurückgehen.

Ich darf daran erinnern, dass wir als einzige Industrie-gesellschaft in den letzten sieben Jahren einen Rück-gang der Reallöhne um 0,9 Prozent zu verzeichnen hat-ten. In den USA, in Großbritannien und Frankreichwurden Steigerungen von 20 bis 25 Prozent erzielt. Dasist eine völlig andere Entwicklung.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese Probleme wirken sich auch in der Rentenver-sicherung aus. Dann kam noch ein weiterer Fehler hinzu,auf den ich aus Zeitgründen nur kurz eingehen kann.Dieser Fehler bestand darin, die Kosten der deutschenEinheit – insbesondere auch die Renten in Ostdeutsch-land – dem Rentenversicherungssystem aufzubürden,statt sie aus Steuermitteln zu finanzieren, was dringenderforderlich gewesen wäre.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt können wir Altersarmut prognostizieren. Siesagen selbst, Herr Müntefering, dass der Anteil amDurchschnittsverdienst, den man als Rente bekommt, imLaufe der Jahre immer weiter zurückgehen und letztlichauf unter 46 Prozent sinken wird. Im Osten wird sich dasdramatisch auswirken; denn dort ist die Arbeitslosigkeitdoppelt so hoch wie im Westen. Die geringe Durch-schnittsrente wird nur nach 45 Jahren Beitragszahlungausgezahlt. Im Osten wird es aber kaum jemanden ge-ben, der 45 Jahre lang Beiträge zahlen konnte. Das heißt,dass wir es dort mit einer ernst zu nehmenden Altersar-mut zu tun bekommen werden.

Das alles lösen Sie doch nicht dadurch, dass Sie einewirkungslose Initiative „50 plus“ durchführen und dasRenteneintrittsalter um zwei Jahre erhöhen. Ich fragemich, wo Ihre Antworten zu finden sind.

(Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Meckel-burg [CDU/CSU]: Wie lösen Sie es denn?)

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Dr. Gregor Gysi

– Man muss Reformen durchführen. Das stimmt und daswissen wir auch. Wir haben viele Eigenschaften, aberwir sind nicht bescheuert.

(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Na, na! Da kannman geteilter Meinung sein! – Zuruf von derCDU/CSU: Die einen sehen es so und die an-deren so!)

Sie müssen 8,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler zu-mindest zutrauen, dass sie keine bescheuerten Leutewählen. Wenigstens das sollten Sie den über 4 MillionenMenschen zutrauen, wenn Sie ihnen sonst schon nichtviel zutrauen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich ärgere mich über etwas anderes mehr. Sie verspre-chen immer wieder Dinge, die Sie nicht einhalten. Sieschwindeln im Wahlkampf, werden aber wieder gewählt.Das ärgert mich zwar, aber ich kann es nicht ändern.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Zurück zur Finanzierung: Zu Bismarcks Zeitenstammten 90 Prozent der Einkommen aus abhängigerBeschäftigung und 10 Prozent aus Vermögen, Selbst-ständigkeit und Unternehmertum. Heute stammen nurnoch 60 Prozent der Einkommen aus abhängiger Be-schäftigung; 40 Prozent kommen aus Selbstständigkeit,Unternehmertum und Vermögen. Dadurch reduziert sichdie Zahl der Beitragszahler enorm, nämlich von90 Prozent auf 60 Prozent derjenigen, die ein Einkom-men erzielen. Also könnte eine Reform darin bestehen– das wäre ein mutiger Schritt –, alle Einkommenschrittweise in die gesetzliche Rentenversicherung miteinzubeziehen.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.Kolb [FDP]: Sie lösen das Problem damitnicht!)

– Dass die FDP das nicht will, ist mir klar. Dass ein ar-mer Apotheker plötzlich in die Rentenversicherung ein-zahlen soll, halten Sie nervlich nicht aus.

Jetzt werden Sie sagen, dass die Einzahler dann aucheine Rente beziehen werden.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer Beiträge zahlt, hat auch einen Anspruch darauf!)

– Hören Sie zu; ich will auf etwas anderes hinaus. –

Natürlich bekommen auch diejenigen, die zusätzlichin die Rentenversicherung einzahlen, eine Rente. Wirmüssen daher die Beitragsbemessungsgrenze schritt-weise aufheben und die Rentensteigerungen abflachen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das landet dann in Karlsruhe!)

Wissen Sie, wie es in der Schweiz ist? In der Schweizmuss jemand, der Millionen verdient, entsprechend sei-nem Einkommen Beiträge zahlen. Es gibt aber eine ge-setzliche Höchstrente von circa 1 800 Schweizer Fran-

ken. Der dort geltende Grundsatz lautet: Es ist zwarrichtig, dass die Millionäre keine gesetzliche Rente be-nötigen, aber die gesetzliche Rentenversicherung benö-tigt die Millionäre. Einen solchen Mut würde ich gerneauch im Bundestag erleben.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.Kolb [FDP]: Dem steht das Grundgesetz ent-gegen!)

Die Unternehmen haben sich verändert. ZuBismarcks Zeiten erzielten zwei Unternehmen aus unter-schiedlichen Branchen mit jeweils 100 Beschäftigten inetwa den gleichen Gewinn, wenn sie gleich gut geleitetwurden. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Jenach Branche braucht der eine 200 Beschäftigte und derandere nur 100 Beschäftigte, um den gleichen Gewinnzu erzielen. Deshalb fordere ich immer: Streichen Siedie Lohnnebenkosten! Machen Sie eine Reform und füh-ren Sie eine Wertschöpfungsabgabe ein! Sie ist viel ge-rechter, insbesondere im Hinblick auf die unterschiedli-che Leistungsfähigkeit der Unternehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Was ist das Ziel? Sie sagen, es gehe um die Beiträge.Aber das stimmt gar nicht. Sie sagen, dass die Menschenmehr private Vorsorge betreiben und beispielsweiseRiester-Verträge abschließen sollten. Aber dann müssendie Menschen 4 Prozent ihres Bruttoeinkommens zurAltersvorsorge aufwenden. Tatsächlich geht es Ihnennicht um die Beiträge der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer, sondern nur um den Arbeitgeberanteil. Die-sen wollen Sie festschreiben, damit die Unternehmennicht mehr zahlen müssen. Hier macht die SPD mit. Dasentspricht aber nicht ihrer Herkunft und sollte auch nichtihre Zukunft sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Lassen Sie mich als letzten Satz sagen: Das ist meines

Erachtens eine Unterordnung der Politik unter die Inte-ressen der Wirtschaft. Da Sie dafür sorgen, dass auch ichzwei Monate später die gesetzliche Rente bekomme– was nicht weiter schlimm ist, weil ich eine Pension desBundestages erhalte –, dachte ich mir, dass Sie einekleine Strafe verdient haben: Ich bleibe hier einfach eineLegislaturperiode länger, als ich es vorhatte.

Danke schön.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,

Bündnis 90/Die Grünen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das scheint eine lange Rede zu werden, Frau Schewe-Gerigk!)

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Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Renteneintrittsalter zu erhöhen ist keine populäreEntscheidung, wegen der demografischen Entwicklungaber richtig. Das sage ich auch als Oppositionspolitike-rin.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-ten der SPD)

Wir sind nicht als Abgeordnete gewählt worden, um po-pulistische Entscheidungen zu treffen, sondern wir sindgewählt worden, um den Menschen die Wahrheit überdie tatsächliche Situation zu sagen und Lösungen anzu-bieten.

Die Wahrheit ist: Weniger Beschäftigte

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unter Rot-Grün!)

müssen für mehr Rentner und Rentnerinnen längere ZeitRente zahlen; das sind heute 17 Jahre. Viele Gründesprechen für die Rente mit 67. Da ist der Geburtenrück-gang. Im Jahre 2030 wird es fast 8 Millionen wenigerMenschen im Erwerbsalter geben. Da ist die steigendeLebenserwartung. Jedes zweite heute geborene Mädchenwird 100 Jahre alt werden. Da sind die wachsende Ge-sundheit und Leistungsfähigkeit Älterer sowie der schonheute sichtbare Fachkräftemangel.

Für uns Grüne ist allerdings die Voraussetzung für dieRente ab 67 die Integration Älterer in den Arbeits-markt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Minister Müntefering, Ihre Initiative „50 plus“reicht aber nicht aus; darauf wird die Kollegin Pothmergleich noch ausführlicher eingehen. Ich frage mich,welche Wertschätzung die Gesellschaft gegenüber Älte-ren aufbringt, wenn sie davon ausgeht, dass Ältere nurdann vermittelt werden können, wenn man den Arbeit-gebern ein zusätzliches Zückerchen in Form von Kom-bilohn oder Eingliederungshilfen gibt. Ich kenne vieleältere Erwerbslose mit hoher Qualifikation und einemgroßen Erfahrungswissen, auf das jedes Unternehmenstolz sein könnte. Wir brauchen endlich einen Mentali-tätswandel. Es kann nicht sein, dass Menschen unter 30zu jung und ab 45 zu alt für eine bestimmte Aufgabesind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In den deutschen Betrieben herrscht aber noch immer– das ist bedauerlich – der Jugendwahn. Wir haben inDeutschland keine Kultur der Altersarbeit. Das habenwir insbesondere einem zu verdanken, nämlich dem ehe-maligen Rentenminister Dr. Norbert Blüm,

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Was?)

der mit seinem Frühverrentungsprogramm die Renten-kassen zulasten der Allgemeinheit geplündert hat. Ich

finde, es ist absolut absurd, dass er uns nun via Talk-shows Ratschläge erteilt oder der IG BAU als Kron-zeuge gegen eine solidarische Verlängerung der Alters-grenzen dient. Herr Exminister Blüm, Sie sollten lieberdieses Sitzkissen, das uns die IG BAU zusammen mit ih-rer Stellungnahme und ihren Ratschlägen zugeschickthat, nehmen und damit in ein Fußballstadion gehen, stattdie Menschen in die Irre zu führen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen die innovativen Arbeitgeber, die schonheute wissen: Lebenslanges Lernen, Gesundheitsförde-rung und altersgemischte Teams sind der Schlüssel fürden Erfolg eines Unternehmens der Zukunft. Es ist einegroße Herausforderung, ausreichend Arbeitsplätze fürÄltere zu schaffen. Wer aber, wie es die Linke tut, dieheutige Arbeitsmarktsituation auf das Jahr 2030 über-trägt, der gibt den Anspruch auf politische Gestaltungauf.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir Grüne tun das nicht. Auch darum, Herr MinisterMüntefering, unterstützen wir Sie bei Ihrem Vorhaben,das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Was wir aber über-haupt nicht verstehen, sind Ihre doppelten Botschaften.Sie wollen Reformer sein, trauen sich aber offensichtlichdoch nicht so richtig. Sie wollen mit Vollgas nach vornefahren, wollen die Rente mit 67 Jahren, gleichzeitig aberhaben Sie den Rückwärtsgang eingelegt und machen einGesetz, durch das 15 000 Beschäftigte der Postnachfol-geunternehmen mit 55 Jahren in Rente gehen können.Sie sorgen durch eine verlängerte Stichtagsregelung da-für, dass Betriebe Altersteilzeitverträge nach dem Block-modell abschließen, sodass die älteren Beschäftigten frü-her entlassen werden. Ich nenne ein solches Verhaltenschizophren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Allerdings!)

Dazu passt die geplante Einführung einer neuen ab-schlagsfreien Altersrente für Versicherte mit mindes-tens 45 Beitragsjahren. Das kostet die Versichertenmehr als 2 Milliarden Euro und schmälert den Effekt Ih-rer Reform. Das Vorhaben ist aber auch verfassungs-rechtlich bedenklich, weil es Versicherte mit gleichenAnwartschaften unterschiedlich behandelt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das geht schief! Ob Herr Köhler das mitmacht?)

Das heißt, jemand, der nach 45 Jahren abschlagsfrei inRente geht und 1 000 Euro erhält, bezieht 24 000 Euromehr als jemand, der den gleichen Anspruch bereitsnach 40 Jahren erfüllt. Da sage ich Ihnen nur: Viel Spaßbeim Bundesverfassungsgericht!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Beim Bundesprä-sidenten, Frau Kollegin!)

– Beim Bundespräsidenten auch.

Wenn Sie dann schon einmal in Karlsruhe sind, dannkönnen Sie ja vielleicht auch gleich erläutern, wie Sie

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Irmingard Schewe-Gerigk

eine mittelbare Diskriminierung von Frauen legitimie-ren; denn 2004 konnten lediglich 5 Prozent der Frauen,aber 41 Prozent der Männer diese 45 Versicherungsjahreerfüllen. Hinzu kommt, dass diese Sonderregelung de-nen, die Sie, Herr Minister, besonders schützen wollen,überhaupt nichts nützt.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU] mel-det sich zu einer Zwischenfrage)

– Ich komme gleich zu Ihnen. Lassen Sie mich zunächstden Gedanken zu Ende führen.

Ich erinnere an die Debatte im Sommer, in der Minis-terpräsident Beck Ausnahmen von der Rente mit 67 Jah-ren für bestimmte Berufe forderte. Er sprach von Dach-deckern und Krankenschwestern. Die Debatte läuftheute nicht mehr. Sie dürften aber wissen, dass die die45 Versicherungsjahre kaum erreichen, weil viele vondenen bereits mit 50 Jahren eine Erwerbsminderungs-rente beziehen. Darum sage ich: Diese Regelung ist Eti-kettenschwindel. Sie begünstigt die, die schon gute An-sprüche haben, oder: Wer hat, dem wird gegeben.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Weiß zulassen?

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Ja, ich lasse sie gleich zu.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Erst wenn die Redezeit abgelaufen ist!)

Profitieren wird der gut verdienende Abteilungsleiterim öffentlichen Dienst, mitfinanzieren muss es die Ver-käuferin. Das ist eine Umverteilung von unten nach obenund das nenne ich Murks.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dann kommt jetzt die Zwischenfrage des Kollegen

Weiß.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Ich muss erst einmal den Minister zu etwas auffor-dern. Ich fordere Sie, Herr Minister, auf: Nehmen Siediese verfassungsrechtlich bedenkliche, Frauen diskri-minierende und sozial unausgewogene Sonderregelungzurück! Was Sie betreiben, ist Besitzstandswahrung undInteressenpolitik. Das lehnen wir Grüne ab. Uns geht esums Ganze. Uns geht es um Generationengerechtigkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Weiß, haben Sie eigentlich noch Interesse an ei-

ner Zwischenfrage?

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frau Kollegin Schewe-Gerigk, es war natürlich wun-

derschön, Ihnen zuzuhören. Deswegen habe ich so langemit der Zwischenfrage gewartet.

Meines Wissens haben Sie zwei Kinder.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Ja. Haben Sie das gerade nachgesehen?

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein Kind heißt Verena, das andere heißt Sarah Rosa.

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Danke schön, jetzt kennen wir auch die Namen.

Wenn Sie nun eines Ihrer Kinder belobigen, weil eseine besondere Leistung erbracht oder etwas besondersgut gemacht hat, dann ist das doch keine Benachteili-gung des anderen Kindes.

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIELINKE]: Ist das jetzt eine juristische Frage,Herr Weiß?)

– Nein, das ist ein praktisches Beispiel aus dem Leben. –Es kann doch keine Benachteiligung anderer Beitrags-zahlerinnen und Beitragszahler in der gesetzlichen Ren-tenversicherung sein, wenn durch eine wirkliche Innova-tion im neuen Rentenrecht derjenige, der lange hartgearbeitet hat und 45 Jahre lang regelmäßig Beiträge indie Rentenversicherung gezahlt und damit für die Leis-tungsfähigkeit der deutschen Rentenversicherung ge-sorgt hat, der Rentnerinnen und Rentnern mit seinenBeiträgen eine anständige Rente ermöglicht hat, eine Be-lobigung im Rentensystem erhält, die darin besteht, dasser mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen kann.Wenn ich eine Gratifikation verteile, wenn ich eine Belo-bigung ausspreche, dann ist das doch keine Benachteili-gung anderer.

Deswegen kann ich Ihre Denkweise – Entschuldi-gung, Frau Kollegin Schewe-Gerigk – überhaupt nichtnachvollziehen, zumal wir in diese Regelung ausdrück-lich eine frauenspezifische Bestimmung eingebaut ha-ben, nämlich dass wir nicht nur die drei Jahre Kinder-erziehungszeiten, hinter denen Beiträge des Staatesstehen, bei den 45 Jahren anerkennen, sondern auchzehn Jahre Kinderberücksichtigungszeiten einrechnen.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Kollege Weiß, Ihr Rechtsverständnis teile ichnicht. Ihr Beispiel hinkt absolut. Was heißt denn eigent-lich Belobigung? Wenn jemand die Chance hatte,45 Jahre durchgehend erwerbstätig zu sein, das heißt,wenn er keine Zeiten der Erwerbslosigkeit hatte, dannkönnen wir froh sein. Dann hat diese Person ein gutesPolster für das Alter aufgebaut und kann sich auf diesemSitzkissen niederlassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])

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Irmingard Schewe-Gerigk

Aber was ist mit den Personen, die nur 40 Jahre arbeitenkonnten und zwischendurch fünf Jahre erwerbslos wa-ren, oder was ist mit denen, die erst später in den Berufeingestiegen sind und diese 45 Jahre überhaupt nicht er-reichen werden?

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Abschläge verpassen!)

Die Logik, die Sie verbreiten, stimmt überhaupt nicht.Es kann doch nicht sein, dass Sie die heutige Arbeits-marktsituation, die die Menschen daran gehindert hat,45 Jahre zu arbeiten, diesen vorwerfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: DieRente ist doch keine Sozialleistung, sonderneine beitragsbezogene Leistung!)

– Wenn das eine Beitragsleistung ist, Herr Kollege Weiß,dann müssen Sie demjenigen, der mit 40 die gleicheLeistung erbracht hat, das gleiche geben wie dem, derdiese Leistung mit 45 Jahren erreicht hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das waren jetzt eine Nachfrage und eine Antwort.

Jetzt haben Sie noch neun Sekunden.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Nein, ich war gerade beim Stichwort Generationenge-rechtigkeit.

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Die Rede ist noch nicht zu Ende!)

Ein späterer Renteneintritt senkt den Druck auf dieBeiträge und entlastet die nachkommende Generation.Wir wollen, dass die Menschen individuell flexibler inRente gehen können. Das ist auch das, was die Mehrheitder Bevölkerung will. Sie ist – wie schon so oft – weiterals die Politik. Eine Mehrheit sagt, sie möchte gerne fle-xibel zwischen 60 und 67 Jahren mit Abschlägen odermit Zuschlägen in Rente gehen. Starre Altersgrenzen inTarif- und Arbeitsverträgen müssen aufgehoben werden.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das will auchdie FDP, Frau Schewe-Gerigk! Sie werdennicht enttäuscht werden!)

Auch Modelle wie Teilrente und Teilzeitbeschäftigungsind gefragt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. NeueWege sind oft mit Zumutungen verbunden. Das wissenSie, Herr Kolb. Wenn aber das Ziel klar ist und alle ent-sprechend ihrer Leistungsfähigkeit mitgenommen wer-den – ich sage ganz ausdrücklich: auch die Beamten unddie Politikerinnen und Politiker müssen analog zu diesenRentenbeschlüssen behandelt werden –, dann lohnt essich, diesen Weg zu gehen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Wolfgang Grotthaus spricht für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb[FDP]: Was sagt Herr Grotthaus eigentlich zuHerrn Gysi?)

Wolfgang Grotthaus (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Der Kollege Kolb sagte gerade: Bitte nicht zuHerrn Gysi.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich wollte wis-sen, was Sie zu Herrn Gysi sagen!)

– Ich werde zu Herrn Gysi etwas sagen; denn sein Bei-trag war wieder einmal eine Sternstunde des Parlaments.Er hat uns fast körperlich bedroht, als er sagte, er werdefür noch eine Wahlperiode kandidieren. Uns wird davornicht bange, Herr Gysi. Wir akzeptieren Sie so, wie Siesind.

(Beifall des Abg. Volker Schneider [Saarbrü-cken] [DIE LINKE])

Ich habe in Ihrem Beitrag festgestellt, dass Sie in denletzten 18 Jahren doch einiges gelernt haben. Sie habenin Ihrem Beitrag unser Demokratieverständnis kritisiert.Wir nehmen das erst einmal so hin. Das deutet daraufhin, dass Sie die Demokratie in den letzten 18 Jahren sorichtig kennen gelernt haben. Wenn Sie das aber so he-rüberbringen, wie Sie es getan haben, dann wirkt daspopulistisch und sehr unglaubwürdig.

Das Zweite ist: Wenn Sie den Vergleich bringen, dassein Bauer um 1900 acht Menschen ernähren konnte,während es heute 80 sind, und daraus den Schluss zie-hen, dass es nicht notwendig ist, Rentenbeitragserhöhun-gen oder eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit daraus ab-zuleiten, dann sage ich Ihnen: Das ist die Logik einesMenschen, der im Arbeiter- und Bauernstaat groß ge-worden ist. Für mich ist das nicht logisch. Vielleicht soll-ten Sie auch darüber noch einmal nachdenken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derCDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wasist mit dem Milchsee und dem Butterberg?)

Ich möchte nun zu einigen sachlichen Begründungenzu der Initiative „50 plus“ kommen. Mit diesem Gesetz-entwurf kommen wir den Menschen entgegen, die sehroft nur aufgrund ihres Alters aus dem Arbeitsprozessausgemustert worden sind. Wir bieten den Arbeitgebe-rinnen und Arbeitgebern mit diesem Gesetzentwurf ver-schiedene Förderinstrumente, damit sie sich verstärktum die Einstellung älterer Kolleginnen und Kollegen be-mühen.

Wir meinen, dass es unzulässig ist, wenn sich Arbeit-geber über Fachkräftemangel beklagen. Wenn gefordertwird, ausländische Ingenieure auf dem deutschen Ar-beitsmarkt zuzulassen, obwohl man weiß, dass sich ins-

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Wolfgang Grotthaus

besondere ältere Kolleginnen und Kollegen mit den ent-sprechenden Qualifikationen in der Arbeitslosigkeitbefinden, dann ist dies wenig glaubwürdig.

Lassen Sie mich dazu eine persönliche Bemerkungmachen. Ich habe es in meinem Job erlebt, dass von1995 an ältere Kolleginnen und Kollegen, insbesondereIngenieure, aus den Jobs hinausgekegelt worden sind,vor allem im Bereich des Maschinenbaus und der Ver-fahrenstechnologie. Man hat damals jungen Menschengesagt, es lohne sich nicht mehr, Ingenieurwissenschaf-ten zu studieren. Heute beklagen genau diejenigen, diedies damals jungen Menschen mit auf den beruflichenWeg gegeben haben, dass es keinen Nachwuchs mehrgibt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, der Schwei-nezyklus gilt auch für Ingenieure!)

Diese Arbeitgeber sollten in die Pflicht genommen wer-den, ältere Arbeitslose, die dieses Studium schon absol-viert haben, durch Fördermaßnahmen wieder in den Be-ruf zu integrieren.

Es ist notwendig, ältere Menschen durch gezielteMaßnahmen nicht arbeitslos werden zu lassen und ältereArbeitslose durch Fördermaßnahmen wieder zu integrie-ren. Genau das ist die Zielsetzung dieses Gesetzentwur-fes.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Er beinhaltet dazu ein ganzes Bündel von Maßnahmen.Wer lebenslanges Lernen einfordert, der – wir haben da-rüber hier oft genug in Übereinstimmung über alle Frak-tionen hinweg diskutiert – muss die Chance dazu auchälteren Menschen geben.

Im Gesetzentwurf sehen wir dazu eine deutliche Er-weiterung und damit eine effektive Verbesserung schonbestehender Maßnahmen hinsichtlich der Regelung derWeiterbildungsförderung älterer Arbeitnehmer undArbeitnehmerinnen vor. Künftig können die Beschäftig-ten bereits ab dem 45. Lebensjahr Förderleistungen er-halten, wenn der Betrieb weniger als 250 Arbeitnehmerbeschäftigt. Perspektivisch führt das nach unserer Auf-fassung zu einer Erhöhung von Fördermöglichkeiten, diefrüher in Anspruch genommen werden können, wodurchsich die Gefahr der Arbeitslosigkeit verringert.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Übernahme der Weiterbildungskosten stellt geradeim Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen einenwichtigen Baustein für verstärkte Anstrengungen zurWeiterbildung von älteren Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern dar.

Ein weiteres Instrument – ich sehe, die Zeit läuft mirdavon; deswegen will ich mich nur auf ein weiteres In-strument beziehen – sind die finanziellen Anreize fürEingliederungsmaßnahmen. Wir bieten den Älteren mitdiesem Gesetzentwurf eine Teilentgeltsicherung. Dasbedeutet, dass ältere Menschen, die eine Arbeitsstelleannehmen, die geringfügiger bezahlt wird als die vorhe-rige, einen Gehaltszuschuss für bis zu zwei Jahre erhal-ten können. In der Spitze sind das 50 Prozent, im unteren

Bereich bis zu 30 Prozent. Dabei wird meistens etwasvergessen, was für die Menschen aber ebenfalls vonWichtigkeit ist, nämlich dass die Rentenbeitragszahlungauf 90 Prozent des letzten Verdienstes aufgestockt wird.

Bewertet man die Inhalte dieses Gesetzentwurfes,lässt sich feststellen, dass es attraktiv ist, ältere Men-schen aufgrund ihres Fachwissens und ihrer Leistungs-bereitschaft einzustellen. Denn das – nicht die finanziel-len Voraussetzungen – ist erst einmal der wichtigsteGrund. Die Menschen, die sich um einen Job bemühen,wollen eingestellt werden. Sie sind leistungsbereit. Siehaben ein entsprechendes Fachwissen. Vielleicht sind sienicht immer so schnell wie die Jungen. Aber wer guteKenntnisse von Betriebsabläufen hat, kann rationellerarbeiten als mancher, der nur schneller ist.

Mit den Förderinstrumenten wollen wir älteren Men-schen in der Gesellschaft eine weitere Chance im Berufs-leben geben. Ich bitte darum, dass alle Fraktionen – dennes geht schließlich um die Menschen, die arbeitslos sind –Werbung für die im Gesetz enthaltenen Maßnahmen ma-chen und in den Gemeinden auf die entsprechenden Mög-lichkeiten aufmerksam machen. Damit können dieArbeitgeberinnen und Arbeitgeber in die Pflicht genom-men werden, den Älteren eine neue Chance im Berufsle-ben zu geben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aus einem rot-grünen Placebo wird ein rot-schwarzes!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die FDP spricht die Kollegin Sibylle Laurischk.

Sibylle Laurischk (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Bei dem Gesetz, über das wir jetzt debattieren,handelt es sich tatsächlich um ein Rentenkürzungspro-gramm. Man muss es ganz klar so benennen.

(Beifall bei der FDP)

Es nennt sich zwar Gesetz zur Verbesserung der Be-schäftigungschancen älterer Menschen. Aber ich fragemich schon, wo es die Arbeitsplätze für die über 50-Jäh-rigen gibt. Leere Worte und schöne Plakate wie die fürdie Initiative „50 plus“, Herr Minister, schaffen keineArbeitsplätze.

Es ist nötig, auch seniorenpolitisch hier klare Wortezu finden. Ich bin der Auffassung, dass sich die Bundes-regierung mit mehr Mut und Fantasie an den Umbau desgesamten Sozialversicherungssystems machen müsste,statt ständig nur an einer Schraube zu drehen.

(Beifall bei der FDP)

In 60 Prozent aller Unternehmen in Deutschland gibt esderzeit keine Arbeitnehmer über 50 Jahre. Obwohl ge-rade ältere Arbeitnehmer über Erfahrung und Wissenverfügen, gehören sie neben den Geringqualifizierten zuden großen Verlierern am Arbeitsmarkt.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das muss sich ändern!)

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Sibylle Laurischk

Bereits für über 40-Jährige wird es immer schwieriger,eine Anstellung zu finden. Hieran ändert die Erhöhungdes Renteneintrittsalters nichts.

Statistisch gesehen sind Menschen ab 55 Jahre einemRückgang der Erwerbsbeteiligung und einem Zu-wachs an Arbeitslosigkeit ausgesetzt, der sich ab dem60. Lebensjahr noch einmal verschärft. Grund dafür isteine Arbeitsmarktpolitik, die den Trend zur Frühverren-tung gefördert hat und teilweise noch fördert. Neue Vor-gehensweisen in der Wirtschaft und in der Personalent-wicklung sind erforderlich.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jawohl!)

Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Es ist Heuche-lei, den Renteneintritt mit 67 zu begrüßen und gleichzei-tig ältere Bewerber noch nicht einmal zu Vorstellungsge-sprächen einzuladen.

(Beifall bei der FDP)

Hier muss sich sehr schnell sehr viel ändern.

Aber auch die Einstellung der Arbeitnehmer musssich den geänderten Zeiten anpassen. Eine wichtige Vo-raussetzung für ein längeres Verbleiben im Beruf ist derErwerb neuer Qualifikationen und die Sicherung vonKompetenzen, um mit der technologischen EntwicklungSchritt halten zu können. Arbeitgeber und Betriebsrätemüssen der Weiterbildung älterer Arbeitnehmer einehohe Priorität einräumen.

(Beifall bei der FDP)

Ich will aber Ihr Augenmerk auch auf die frauenpoli-tische Problematik richten.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jawohl! Jetzt wird es spannend!)

Dieses Gesetz zur Verbesserung der Beschäftigungschan-cen älterer Menschen geht an der Arbeitsbiografie vonFrauen geradezu zynisch vorbei.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wer 45 Erwerbsjahre – gegebenenfalls inklusive dreiJahre Erziehungszeit pro Kind – nachweisen kann, kannnach dem vorliegenden Gesetzentwurf schon mit 65 ab-schlagsfrei in Rente gehen. Davon sind aber kaumFrauen betroffen. Denn allenfalls 4 Prozent der Frauenwerden nach den vorliegenden Erhebungen zu denjeni-gen gehören, die tatsächlich schon mit 65 in Rente gehenkönnen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie müssen also in der Regel bis zum 67. Lebensjahr ar-beiten.

Das empfinde ich als umso zynischer, als die Aner-kennung einer langen Arbeitsbiografie eben hier nichtgreift.

(Beifall bei der FDP – Peter Weiß [Emmendin-gen] [CDU/CSU]: Doch!)

Wenn Frauen in Rente gehen, haben sie in den meistenFällen eine doppelte Belastung hinter sich, nämlich ihreErwerbsarbeit und ihre Sorge für die Familie inklusiveder Erziehung der Kinder. Das wird hier überhaupt nichtberücksichtigt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Brauksiepe, an dieser Stelle haben Sie das Prin-zip „Die Starken für die Schwachen“ falsch verstanden.Vielleicht schauen Sie sich einmal den nächsten Bundes-parteitag der FDP an

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir laden ihn ein!)

– sehr gerne –, um eine andere Sicht der Dinge zu erle-ben, nicht nur die der SPD.

Wenn wir im demografischen Wandel auf dem Ar-beitsmarkt bestehen wollen, müssen wir akzeptieren,dass Kompetenz, Kreativität und Innovationskraft auchjenseits der Lebensmitte vorhanden sind und dass Lern-fähigkeit und persönliche Weiterentwicklung nicht mit50 enden. Der vorliegende Gesetzentwurf wird den An-forderungen an eine umfassende Reform der Sozialversi-cherungssysteme nicht gerecht, zumal er Frauen einsei-tig belastet.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt das Wort der

Kollege Stefan Müller.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Seit dem Regierungswechsel vor gut zwölf Monaten istdie Zahl der Arbeitslosen von über 5 Millionen auf un-ter 4 Millionen gesunken. Ich finde, dieser massiveRückgang ist ein großartiger Erfolg.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:In der DDR hieß es: Überholen, ohne einzuho-len!)

Dies ist ein Erfolg auch deswegen, weil dadurch klarwird, dass der wirtschaftliche Aufschwung, der in un-serem Land stattfindet, sich nicht nur auf die Unterneh-men und deren Gewinnsituation auswirkt, sondern jetztauch bei den Menschen ankommt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:Ich sehe schon die Leute vor Freude auf denStraßen tanzen, Herr Müller!)

– Herr Kollege Dr. Kolb, ich glaube, wir sollten dasnicht zu gering schätzen. Versetzen wir uns einmal in dieSituation eines Menschen, der seit langer Zeit von Ar-beitslosigkeit betroffen ist und in diesen zwölf Monateneinen neuen Arbeitsplatz gefunden hat.

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Stefan Müller (Erlangen)

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist erfreu-lich!)

Für diesen Menschen ist das in der Tat außerordentlicherfreulich; denn er hat nicht nur eine neue Arbeit gefun-den, sondern hat dadurch auch neue Perspektiven undneue Chancen und ganz einfach wieder das Gefühl, ge-braucht zu werden und für sich und seine Familie etwaszu erwirtschaften und nicht mehr auf staatliche Fürsorgeangewiesen zu sein. Deswegen sollten wir uns mit die-sen Menschen freuen und froh darüber sein, dass es wie-der mehr Menschen in unserem Land gibt, die eine Be-schäftigung haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Es wird aber niemand bestreiten, dass trotz des Auf-schwungs und des Rückgangs der Arbeitslosigkeit dieLage gerade für ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterund ältere Arbeitslose in unserem Land nach wie vorschwierig ist. Die Zahlen wurden schon genannt: Jedervierte Arbeitslose in Deutschland ist älter als 50. Bun-desweit sind es über 1 Million.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: 1,3 Millionen!)

Davon ist die Hälfte im Übrigen schon länger als einJahr arbeitslos. Das Beschäftigungsniveau der Älterenin Deutschland ist im europäischen Vergleich nach wievor deutlich schlechter als in anderen Ländern. Das istüberhaupt keine Frage und darüber gibt es hier keinenDissens.

Was mich persönlich, ehrlich gesagt, sehr bedenklichstimmt und was ich geradezu für dramatisch halte, ist dieTatsache, dass die Einstellungschancen Älterer in denletzten Jahren nicht besser geworden sind. Zumindest imletzten Jahr waren nur 7 Prozent der neuen Mitarbeiter,also derjenigen, die neu eingestellt worden sind, älter als50. Ein Zweites stimmt mich sehr bedenklich, nämlichdie Tatsache, dass fast jedes dritte Unternehmen inDeutschland ältere Mitarbeiter nur dann einstellt, wennes staatliche Beihilfen bekommt oder wenn es keine jün-geren Bewerber findet. Daher ist hier Handlungsbedarfunumstritten.

Ich möchte mich außerordentlich dafür bedanken,dass es jedenfalls darüber keine Diskussionen gibt. Wiralle wissen, dass wir an dieser Stelle etwas tun sollten.Dies ist auch in den vorhergehenden Reden deutlich ge-worden.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also, was tut ihr jetzt?)

Man kann über die Rente ab 67 unterschiedlicher Auf-fassung sein. Aber die Aufgabe, die Chancen für Ältereauf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, eignet sich ausmeiner Sicht nicht für einen parteipolitischen Streit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, wir wollendas ja!)

Wir alle wissen, dass sich ein Fachkräftemangel ab-zeichnet. Wir wissen, dass die niedrige Erwerbsbeteili-

gung der Älteren negative Auswirkungen auf die Wett-bewerbsfähigkeit der Unternehmen hat, weil Know-howverloren gegangen ist. Ich finde, es ist gegenüber den Äl-teren in unserem Lande ungerecht, dass man ihnen dasGefühl gibt, dass sie mit 50 schon zum alten Eisen gehö-ren. Das passt nicht zusammen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Genau deshalb haben wir die Verbesserung der Beschäf-tigungssituation von Älteren in unserem Land im Koali-tionsvertrag festgeschrieben.

Wir müssen Einigkeit darüber herstellen, dass dieseAnstrengungen auch wirklich von allen Beteiligten zuleisten sind und nicht nur die Politik gefragt ist. Zunächsteinmal muss die Erkenntnis, dass damit alle Beteiligtengefordert sind, durchgesetzt werden. Dies betrifft nichtnur die Politik, sondern auch die Unternehmen. Es be-trifft aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmersowie die Tarifvertragsparteien.

Die Politik hat die Aufgabe, dort, wo es möglich ist,Einstellungshemmnisse abzubauen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das tun Sie aber nicht!)

Wir haben vor zwei Wochen in einem ersten Schritt dieLohnzusatzkosten zum 1. Januar 2007 gesenkt. Natür-lich wird diese Senkung der Sozialabgaben, die in ihrerHöhe ein massives Einstellungshemmnis in unseremLand sind, die Beschäftigungschancen, auch für ältereMitarbeiterinnen und Mitarbeiter, erhöhen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Mit der Initiative „50 plus“ und dem heute vorlie-genden Gesetzentwurf tun wir das, was der Arbeits-marktpolitik möglich ist: Wir setzen Anreize, damit Un-ternehmen wieder ältere Mitarbeiter einstellen; demdient der Eingliederungszuschuss. Wir verstärken auchden Anreiz dafür, mehr für die Bildung und Weiterbil-dung der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerzu tun. Mit der Entgeltsicherung setzen wir Anreize da-für, auch niedriger bezahlte Tätigkeiten anzunehmen.Nun kann man ja einwenden, dass es diese Instrumentealle schon gibt. Das ist richtig. Wir verändern die Instru-mente zwar hinsichtlich einiger Stellschrauben,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wo denn?)

aber es gibt sie schon. Das heißt: Es wird auch darum ge-hen, diese Instrumente, die wir jetzt verbessern, wirklichbekannt zu machen. Herr Bundesminister, ich bin Ihnenaußerordentlich dankbar dafür, dass Sie mit Ihrer Initia-tive „Erfahrung ist Zukunft“ versuchen, die Instru-mente bei den Unternehmen bekannter zu machen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das, was Sie anMitteln vorgesehen haben, reicht aber nicht,wenn es wirklich bekannt wird!)

Gespräche mit Unternehmen beweisen ja: Es ist dasgrößte Problem, dass viele Unternehmen nicht wissen,welche Maßnahmen sie in Anspruch nehmen können.

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Stefan Müller (Erlangen)

Wir werden ein Weiteres tun müssen – das ist meinepersönliche Überzeugung –: Wenn wir im kommendenJahr die Instrumente der Bundesagentur für die Arbeits-förderung überprüfen, dann werden wir sie auch darauf-hin überprüfen, was die Maßnahmen der BA zur Einglie-derung Älterer zu leisten imstande sind.

Kommen wir zum zweiten Bereich. Nicht nur die Po-litik ist gefordert, auch die Unternehmen sind gefordert.Auch die Unternehmen müssen erkennen, dass ältere Ar-beitnehmer keine Belastung, sondern eine wertvolleRessource sind. Mit der schrittweisen Erhöhung desRenteneintrittsalters verlängert sich die Lebensar-beitszeit; ich halte das angesichts der demografischenEntwicklung für einen richtigen und wichtigen Schritt.Das führt aber zu der Frage, die wir heute auch schon an-satzweise diskutiert haben: Haben wir gerade für ältereMenschen in unserem Land genügend Arbeitsplätze zurVerfügung? In diesem Zusammenhang möchte ich da-rauf hinweisen, dass der Renteneintritt mit 67, die Erhö-hung des Renteneintrittsalters, seit Jahren von der Wirt-schaft immer wieder gefordert wird. Deshalb ist dieWirtschaft jetzt auch in der Pflicht – wir setzen das janun um –, Arbeitsplätze für ältere Arbeitnehmer zurVerfügung zu stellen. Gerade das Auseinanderklaffenvon Reden und Fordern auf der einen Seite und Realitätauf der anderen Seite, die so aussieht, dass keine älterenMitarbeiter eingestellt werden, führt zu Verdrossenheitin Bezug auf Staat und soziale Marktwirtschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Die Arbeitnehmer sind aufgefordert, länger im Be-rufsleben aktiv zu sein. Die Tarifvertragsparteien sindaufgefordert, das Ihre zu tun. Ich will mich dabei garnicht in die Tarifautonomie einmischen, aber ich glaubeschon, dass auch die Tarifvertragsparteien dazu einendeutlichen Beitrag leisten können.

Ich finde: Unsere Wirtschaft, aber auch unsere Gesell-schaft insgesamt können auf ältere Menschen nicht ver-zichten. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem Ge-setzentwurf, den wir heute in erster Lesung beraten, einSignal geben, dass auch Ältere wieder Chancen haben,in der Wirtschaft mitzuwirken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünen die

Kollegin Brigitte Pothmer.

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau

Schewe-Gerigk hat es bereits gesagt: Die Grünen tragendas Projekt „Rente mit 67“ mit. Wir müssen – davorkönnen auch Sie die Augen nicht verschließen, HerrGysi – die Belastung der jüngeren Erwerbsgenerationenbegrenzen.

(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])

Aber gerade weil wir zu diesem Projekt stehen, müssenwir die Verantwortung auch dafür übernehmen, dassnicht versucht wird, die Gerechtigkeitslücke, die sichdann, wenn wir nichts tun, bei den Jüngeren zweifellosergeben wird, dadurch zu schließen, dass eine neue Ge-rechtigkeitslücke bei den Älteren aufgerissen wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie der Abg. Anton Schaaf [SPD] und KlausBrandner [SPD])

Der Sachverständigenrat hat darauf hingewiesen:Wenn es nicht gelingt, die Erwerbsbeteiligung der Älte-ren in großem Umfang zu erhöhen, wird das zu einer Al-tersarmut erheblichen Ausmaßes führen. Wenn dieMenschen keine Arbeit mehr haben, beginnt die Alters-armut schon in den Jahren, bevor sie in Rente gehen. Siesetzt sich natürlich fort, wenn die Menschen Rente be-ziehen, weil weniger eingezahlt worden ist. Das Pro-gramm 50 plus reicht bei weitem nicht aus, um diesesProblem zu lösen, und zwar weder quantitativ noch qua-litativ.

Ich will etwas zu den Zahlen sagen. 1,3 Millionen ar-beitslose Menschen sind älter als 50. Mit den jetzt hiervorgestellten Programmen erreichen Sie, wenn alles su-pergut läuft,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn!)

100 000 von ihnen. Ich habe aber erhebliche Zweifel, obSie mit Ihren Programmen 100 000 Menschen erreichenkönnen;

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nie! Haben Sie ja schon erfolglos versucht!)

denn mit den Instrumenten Eingliederungszuschussund Entgeltsicherung haben Sie 2006 nur 19 000 Men-schen erreicht. Sie müssten die Zahl also signifikant stei-gern. Wir sind gerne bereit, Sie dabei zu unterstützen.Ich will deutlich sagen: Die Prognose ist zwar sehr posi-tiv, aber gemessen an den Problemen, erreichen Sie nachwie vor viel zu wenig Menschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Frage ist, ob diese Instrumente die richtigen sind.Sie versuchen nämlich, mit ihnen angebliche Produktivi-tätsnachteile auszugleichen. Die Instrumente haben da-mit immer einen stigmatisierenden Charakter. DieseStigmatisierung unterstützen Sie – auch das muss gesagtwerden – mit Fehlanreizen, zum Beispiel mit der so ge-nannten 58er-Regelung.

(Beifall der Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie der Abg. Ina Lenke[FDP])

Diese Stigmatisierung gegenüber Ältern unterstützenSie, wenn Sie Altersteilzeitregelungen treffen. In beson-derem Maße gilt das, wenn bei Post und Telekom jetzt15 000 ältere Beschäftigte mit aktiver Unterstützung die-ser Bundesregierung in den Vorruhestand gehen.

(Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unglaublich!)

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Brigitte Pothmer

Sie fordern die Unternehmen auf, Vorurteile gegenüberÄlteren abzulegen, produzieren diese Vorurteile aberdurch Ihr eigenes Handeln immer wieder neu.

Gleichzeitig fehlt Ihnen leider völlig der Ehrgeiz, dieBeschäftigungsfähigkeit der älteren Menschen zu er-halten, sie zum Beispiel durch mehr und bessere Weiter-bildungsmöglichkeiten arbeitsfähig zu halten; denn mitden 5 Millionen Euro, die Sie mit Ihrem Gesetzentwurffür die Weiterbildung von Beschäftigten einsetzen wol-len,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Kann man nicht wirklich etwas machen!)

erreichen Sie rechnerisch – jetzt hören Sie genau zu –790 Beschäftigte. So viel zur Dimension des Problemsund zur Lösung, die Sie hier vorschlagen.

Das Programm 50 plus ist nicht mehr als ein Tropfenauf den heißen Stein. Es ist sogar weniger. Herr Grott-haus, Sie haben die Chance, die Ausweitung des Prinzipsdes lebenslangen Lernens auf die Mitarbeiter kleiner undmittlerer Betriebe grundlegend anzustoßen, vertan, ob-wohl Sie selbst genau das fordern. Angesichts von790 geförderten Leuten kann man doch nicht allen Erns-tes davon sprechen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich komme zum Schluss. In Zeiten der großen Koali-tion gilt einmal mehr: Älterwerden ist nicht schwer, altzu sein dagegen sehr!

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Katja Mast hat das Wort für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Katja Mast (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an“,und mit 50 ist noch lange nicht Schluss. Was hat uns derfrühe Prophet des demografischen Wandels und der stei-genden Lebenserwartung, Udo Jürgens, zu sagen?

(Heiterkeit)

Wir leben länger, sind länger aktiv und bekommen auchlänger Rente. Das stimmt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Mir fällt dazu ein Fall aus meiner Bürgersprechstundeein. Einem über 50-Jährigen, der einen Job suchte, habeich gesagt, welche Firmen in meiner Heimat bevorzugtÄltere einstellen. Nach wenigen Wochen habe ich ihnwieder getroffen. Er hatte einen Job.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wieso?

(Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Weil er sich rasiert hatte!)

Der Arbeitgeber suchte eine qualifizierte Kraft mit Er-fahrung.

Ich weiß, dass jetzt viele mit Gegenbeispielen kom-men. Natürlich haben sie Recht: Gerade Ältere ohneAusbildung haben am Arbeitsmarkt geringe Chancen.Das wissen wir alle. Aber der Unterschied zu uns Sozial-demokraten ist: Wir sind der festen Überzeugung, dasswir handeln können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Denn mit 66 Jahren, da fängt das Leben an. Mit 50 istnoch lange nicht Schluss. Mit 50 Jahren gehört niemandzum alten Eisen.

(Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Sehrgut! – Zurufe von der CDU/CSU: Wie alt sindSie, Herr Tauss? – Die Betroffenen meldensich!)

Deshalb bringen wir heute die Initiative „50 plus“auf den Weg. Mit ihr werden wir den Arbeitsmarkt fürÄltere verändern. Sie wird nächstes Jahr starten. Mit derInitiative „50 plus“ fördern wir lebenslanges Lernen,schaffen finanzielle Anreize zur Beschäftigung Ältererund entwickeln neue Methoden zur Verbesserung derArbeitsplätze, humanisieren also die Arbeitswelt. Dennnur wer gesund ist, kann bis 65 oder 67 arbeiten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir verbinden die Initiative „50 plus“ mit der Renteab 67. Die Rente ab 67 ist notwendig, um die Rente zu-kunftsfest zu machen und den Generationenvertrag fort-zuführen. Mit der Initiative „50 plus“ liegen die Instru-mente auf dem Tisch, mit denen für Ältere derArbeitsmarkt verbessert werden kann. Hier und heutewill ich mit einigen Vorurteilen aufräumen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na! Jetzt bin ich gespannt!)

Erstens. Rentnerinnen und Rentner – ich kann nurhoffen, dass mir viele zu Hause vor den Bildschirmenzuhören –

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bis zu 19 Millionen!)

sind von der Rente ab 67 nicht betroffen. Für sie ändertsich nichts.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zweitens. Erst ein heute 42-Jähriger ist voll von derRente ab 67 betroffen. Aber er lebt auch in der festen Si-cherheit, dass er durchschnittlich drei Jahre länger Rentebezieht als ein heutiger Rentner, und wahrscheinlich hater mit seinem Berufsleben später angefangen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Drittens. Die Rente ab 67 hat mit den heutigen Ar-beitslosenzahlen – sie sind zum Glück auf unter4 Millionen gesunken – nichts zu tun.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Alles wird gut, Frau Mast!)

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Katja Mast

Denn erst 2012 starten wir mit der schrittweisen Umset-zung der Rente ab 67, die nach 17 Jahren abgeschlossenist, also nachdem die Initiative „50 plus“ ihre Wirkungentfaltet hat und wir in Deutschland händeringend Fach-kräfte suchen werden.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Reden-schreiber würde ich rauswerfen!)

Viertens. Es gibt schon heute Betriebe, die Älteregerne einstellen, zum Beispiel die Firma Härter aus Kö-nigsbach-Stein in meiner Heimat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derLINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: KeineWerbung!)

Denn gerade Ältere sind leistungsbereit und motiviert.Mehr noch: Ältere bewahren in schwierigen Situationeneinen kühlen Kopf.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Die Firma Härter wurde deshalb letzte Woche von unse-rem Vizekanzler und Bundesarbeitsminister, FranzMüntefering, als Unternehmen mit Weitblick ausge-zeichnet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin der festen Überzeugung: Politik kann den Menta-litätswandel in den Köpfen beeinflussen. Nur wer guteBeispiele kennt, kann diese nachahmen. Deshalb fordereich alle hier im Haus auf, gute Beispiele vor Ort immerwieder bekannt zu machen.

Fünftens. Gerade ältere Arbeitnehmer haben Angst,dass sie nach vielen Berufsjahren nicht mehr arbeitenkönnen, die Rente erst ab 67 bekommen und davorschauen müssen, wo sie bleiben. In diesem Fall gibt esschon heute die Erwerbsminderungsrente. Sie müssenwir noch einmal unter die Lupe nehmen, um denen, dienicht mehr können, eine echte Perspektive zu bieten.

Aber wir dürfen nicht vergessen: Das ist der nachsor-gende Sozialstaat. Wir müssen den vorsorgenden Sozial-staat konsequent stärken. Es kann nicht sein, dass Arbeitdie Menschen krank macht. Deshalb muss die Arbeits-platzqualität in den Betrieben verbessert werden. Teil-habe bis 67 ist dabei das Ziel aller. Alle, das sind: Be-triebsräte, Arbeitgeber, jeder Einzelne und die Politik.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin der festen Überzeugung, dass Menschen ar-beiten wollen. Sie wollen Teilhabe und das geht in derArbeitsgesellschaft nur über Arbeit. Deshalb ist unsereStrategie richtig: zuerst die Initiative „50 plus“, die mehrJobs für Ältere fördert, und dann im zweiten Schritt dielangsame Anpassung der Rente an die Bevölkerungsent-wicklung. Bei steigender Lebenserwartung führen wirdamit den Generationenvertrag fort und verbessern dieGenerationengerechtigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Älter werden wollen wir, Mitmachen fördern wir unddass wir das können, dafür kämpfen wir.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Peter Weiß hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Frak-

tion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ir-mingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele Kinder haben Siedenn?)

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Im nächsten Monat, am 21. Januar 2007, feiert diedynamische Rente in Deutschland ihren 50. Geburtstag.Vor genau 50 Jahren ist die dynamische Rente, eine dergrößten sozialpolitischen Leistungen unseres Landes,beschlossen worden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir wollen mit der Rentenreform, die wir heute in denBundestag einbringen, dafür sorgen, dass die Rente inDeutschland nicht lahmt, sondern auch in Zukunft dyna-misch bleibt. Darum geht es.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Genau!)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, vor 50 Jahren lagdie durchschnittliche Lebenserwartung von Männernbei 66 Jahren, die von Frauen bei 71 Jahren. ImJahr 2030, wenn die heutige Reform voll greift, liegt diedurchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes beifast 81 Jahren, die einer Frau sogar bei 86 Jahren. Das isteine erfreuliche Entwicklung.

Dabei muss man aber auch berücksichtigten, dass wiruns in den kommenden Jahren auf ein Schrumpfenunserer Bevölkerung einstellen müssen. Jede neue Ge-neration wird um etwa ein Drittel kleiner sein als ihre El-terngeneration. Das ist übrigens die entscheidende Zahl,die der Kollege Gysi in seinen Rechenbeispielen verges-sen hat, weswegen sie von vorn bis hinten nicht stim-men.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auf diese Fakten muss der Gesetzgeber reagieren, da-mit die Rentenversicherung für alle Generationen einverlässliches und leistungsstarkes Instrument der Alters-sicherung bleibt. Ich behaupte: Egal wer regiert,

(Jörg Tauss [SPD]: Na ja! Ganz so ist es wohl auch wieder nicht!)

niemand kann der Notwendigkeit zur Anhebung der Re-gelaltersgrenze ausweichen, es sei denn, er will die ge-setzliche Rente bewusst gegen die Wand fahren.

Die große Koalition handelt rechtzeitig. Wir beschlie-ßen jetzt die Anhebung der Regelaltersgrenze. WieFrau Kollegin Mast gesagt hat, sind die nächsten Rent-nergenerationen davon aber überhaupt nicht betroffen.Wir starten schrittweise ab dem Jahr 2012 und erreichendie neue Regelaltersgrenze für die, die dann in Rente ge-hen, im Jahr 2029.

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Peter Weiß (Emmendingen)

(Jörg Tauss [SPD]: 2029!)

– Ja, 2029, Herr Tauss.

(Jörg Tauss [SPD]: Ja! Das kann man nicht oft genug sagen!)

Wir stellen die Weichen also rechtzeitig und voraus-schauend. Wer bei der Rente mit 67 nicht mitmachenwill, der steckt den Kopf in den Sand und flieht aus derrentenpolitischen Verantwortung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:Das ist doch Quatsch!)

Die Polemik gegen die Rente mit 67 wird mit demArgument geführt, dabei handele es sich um eine ver-kappte Rentenkürzung.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! So ist das!)

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich möchtees auf ganz drastische Weise formulieren: Diese Behaup-tung ist schlichtweg eine Lüge.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:Na, na, na, Herr Kollege! Das ist unparlamen-tarisch!)

Fakt ist:

Erstens. Die Anhebung der Regelaltersgrenze umzwei Jahre bis zum Jahr 2029 entspricht der Steigerungder Lebenserwartung. Das heißt, die durchschnittlicheRentenbezugsdauer desjenigen, der im Jahr 2029 inRente geht, ist nicht kürzer als die Rentenbezugsdauerdesjenigen, der heute in Rente geht, sondern sie ist eherlänger. Das, was wir beschließen, hat also nichts mit ei-ner Rentenkürzung zu tun.

Zweitens. Man muss darauf hinweisen, dass durch dieRente mit 67 das Verhältnis zwischen aktiven Erwerbstä-tigen einerseits und Rentnerinnen und Rentnern anderer-seits verbessert wird. Der in der Rentenformel enthalteneso genannte Nachhaltigkeitsfaktor bewirkt,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben! Darum geht es!)

dass angesichts einer solch positiven Veränderung wie-der Rentenerhöhungen ermöglicht werden. Um es klarund deutlich zu sagen: Wer für die Rente mit 67 stimmt,der macht Rentenerhöhungen erst wieder möglich.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ach was! Das tut ja weh!)

Wer gegen die Rente mit 67 stimmt, gehört zur Fraktionder potenziellen Rentenkürzer. Das sind die Fakten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:Wer hat denn schon drei Nullrunden zu verant-worten und wer macht zwei weitere in dennächsten beiden Jahren absehbar? – Zuruf vonder CDU/CSU: Ach, Herr Kolb, die FDP ver-weigert sich doch nur ihrer Verantwortung!)

Wer lange gearbeitet hat und durch langjährige Bei-tragszahlung in besonderer Weise zur Leistungsfähigkeitder Rente beigetragen hat, dem geben wir die Möglich-keit, nach 45 Beitragsjahren schon mit 65 Jahren ab-schlagsfrei in Rente zu gehen. Ich möchte betonen: Die45-Jahre-Regelung ist keine Benachteiligung anderer,

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Oh doch!)

sondern eine Belohnung für ein langes und aktives Be-rufsleben.

(Sibylle Laurischk [FDP]: Sie machen sich doch selbst etwas vor!)

Daher ist die 45-Jahre-Regelung in meinen Augen einSchlüssel zur Akzeptanz des neuen Rentenrechts.

(Sibylle Laurischk [FDP]: Das ist einfach nicht zu fassen!)

Zur Anhebung der Regelaltersgrenze gehört alszweite Seite ein und derselben Medaille – deswegen diebeiden Gesetzentwürfe, die wir heute gemeinsam bera-ten – die Verbesserung der Beschäftigungssituation älte-rer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also die Ini-tiative „50 plus“. Auch wenn viele etwas anderes be-haupten, haben wir da in den letzten Jahren schon ge-wisse Fortschritte erzielt. Im Jahr 2000 lag die Quote der55- bis 65-Jährigen, die noch im Erwerbsleben standen,bei nur 37,5 Prozent.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Skandal!)

Im Jahr 2005 lag sie immerhin bei 45 Prozent. Das warwenigstens eine kleine Verbesserung. Aber es ist immernoch viel zu wenig. Deswegen wollen wir den positivenTrend durch die Initiative „50 plus“ massiv verstärken.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt)

Was unsere Nachbarländer, vor allen Dingen im Nor-den Europas, zur Verbesserung der Beschäftigungssitua-tion älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ge-schafft haben, können wir auch in Deutschland schaffen.Wir brauchen dafür einen Aktionsplan aller Akteure fürdie nächsten zehn bis zwanzig Jahre, nicht nur der Poli-tik – etwa in Form eines Gesetzentwurfes, wie wir ihnheute beraten –, sondern auch der Tarifpartner, der Wirt-schaft, der Medien. Wir brauchen eine Veränderung desBewusstseins dahin gehend, dass die Erfahrung und dieKompetenz Älterer unsere Wirtschaft und unser Landvoranbringen können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Ich finde, mit den beiden Gesetzesvorhaben zeigt dieBundesregierung, dass sie vorausschauend handelt. Esgehört in der Tat Mut dazu, in der Politik etwas zu tun,was auf den ersten Blick bei vielen Bürgerinnen undBürgern nicht besonders beliebt ist. Diese große Koali-tion hat den Mut, das Notwendige vorausschauend zutun. Deswegen, behaupte ich, wird sie Erfolg haben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist nun der Kollege Anton Schaaf für

die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Anton Schaaf (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

glaube, die Diskussion über die Zukunft der Rente istimmer eine verkürzte Diskussion; denn in der Regelsteht dabei die Finanzierbarkeit der Rente im Vorder-grund. Ich glaube, die Diskussion ist verkürzt, weil dieAlterung der Gesellschaft, der demografische Wandelauch eine gesellschaftliche und nicht nur eine finanzielleHerausforderung ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die finanziellen Fragen kann man sicherlich schlicht be-antworten, indem man die Beiträge erhöht. Das kannman machen. Oder man erhöht einfach den Steuerzu-schuss.

Übrigens, Herr Gysi, hat es nicht nur Fehlentwicklun-gen im Zusammenhang mit der Finanzierung der deut-schen Einheit gegeben. Wir lassen der Rentenversiche-rung jedes Jahr einen Zuschuss von 78 Milliarden Eurofür die Aufgaben zukommen, die über die reinen Ren-tenzahlungen hinaus zu leisten sind. In dieser Hinsichtwird ja immer von versicherungsfremden Leistungen ge-sprochen. Ich finde, dass beispielsweise die Anerken-nung von Erziehungszeiten keine versicherungsfremdeLeistung ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist eine sozialpolitische Leistung, die genau da an-gesiedelt gehört, wo sie es jetzt ist: bei der gesetzlichenRentenversicherung. Also: Wir führen eine verkürzteDiskussion.

Dass wir in unserem Lande mehr ältere Menschen ha-ben, ist kein Problem; da hat Gysi völlig Recht. DieFrage ist aber, ob die Bevölkerungsentwicklung insge-samt mit der Alterung der Gesellschaft Schritt hält, obalso genügend Junge nachwachsen. Da müssen wirschlichtweg konstatieren: Die Gesellschaft wird imSchnitt immer älter, und zwar deshalb, weil immer weni-ger Junge nachkommen. Das ist die gesellschaftlicheHerausforderung, auf die wir eine Antwort geben müs-sen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Eines ist völlig klar: Jemand, der 50 oder 55 Jahre altist, darf in diesem Land nicht als alt gelten und vor die-sem Hintergrund aus den Erwerbsprozessen gedrängtwerden. Das ist der entscheidende Punkt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Frau Pothmer hat gesagt, dafür reicht unser Programm„50 plus“ nicht aus. In der Tat, Frau Pothmer: Es reichtnicht aus, definitiv nicht. Die Erkenntnis, dass man mit

50 nicht alt ist, muss bei den Verantwortlichen in denBetrieben wachsen.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber auch in der Regierung!)

Das ist eine Grundvoraussetzung, um die Beschäfti-gungsfähigkeit Älterer zu erhöhen. Übrigens haben wirdafür in den letzten beiden Legislaturperioden im Rah-men der Betriebsverfassung enorme Möglichkeiten ge-schaffen, was den Gesundheitsschutz am Arbeitplatzoder was Weiterbildung und Qualifizierung angeht. DieTarifpartner sind aufgefordert, diese Möglichkeiten auchzu nutzen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es hieß, wir hätten in der Frage der Erwerbsminde-rung populäre Ausnahmen gemacht.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Populistische!)

– „Populistische Ausnahmen“, haben Sie gesagt, HerrKolb, genau. – Als Antwort darauf sage ich sehr deut-lich: Ich werde mich auf gar keinen Fall damit abfinden,dass Arbeit dazu führt, dass Menschen wirklich krankwerden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn man sich aber die gesellschaftlichen Realitäten an-schaut, dann muss man feststellen, dass das oftmals lei-der noch so ist. Deswegen ist es völlig richtig: SolangeArbeit Menschen tatsächlich krank und kaputtmacht,müssen die bisherigen Regelungen zur Erwerbsminde-rung beibehalten werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich bin froh, dass unser Koalitionspartner in diesemPunkt mitgemacht hat und wir die Regelungen zur Er-werbsminderung so belassen konnten, wie sie im Gesetzsind, und nicht verändern mussten: Zugang mit 60 Jah-ren, abschlagsfrei mit 63 Jahren.

(Beifall des Abg. Klaus Brandner [SPD])

Das war unsere Leistung. Wir sprechen über die Men-schen, die sich kaputt gearbeitet haben und die über dieErwerbsminderung die Möglichkeit haben, zukünftigmit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente zu gehen.

Es ist eine sozialpolitische Frage: Wenn sich die ge-sellschaftlichen Verhältnisse, die Arbeitsbedingungen soändern, dass Menschen nicht durch Arbeit krank werden– Herr Kolb, Sie könnten einiges bei Ihrer Klientel, denUnternehmern, dafür tun –, dann bräuchten wir auchkeine Erwerbsminderungsrente mehr.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich habe dochgar nicht gesagt, dass wir keine Erwerbsmin-derungsrente mehr wollen!)

Das ist ganz klar. Dann kommen wir ohne weiteres vollund ganz zusammen.

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Anton Schaaf

Ich möchte noch etwas zum Änderungsantrag derFDP sagen. Die FDP schreibt, wir sollten hinsichtlichder Annahmen – es sind keine Prognosen, sondern An-nahmen –, die der Rentenversicherungsbericht zurEntwicklung gibt, zurückhaltender sein. Der Sozialbeirathat uns durchaus ein gutes Zeugnis ausgestellt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er hat nur ge-sagt: Es ist besser geworden!)

Sie sagen, unsere Annahme eines durchschnittlichenLohnzuwachses von 2,5 Prozent, den wir erwarten, seideutlich zu positiv.

Ich kann Ihnen auch sagen, wieso Sie das sagen: IhrKollege Niebel hat in einer TV-Show auf die Frage, obArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der guten wirt-schaftlichen Entwicklung nicht partizipieren sollten, ge-antwortet: Ja, aber nicht über prozentuale Lohnerhöhun-gen. Wenn man keine prozentualen Lohnerhöhungenhaben möchte, dann ist auch die Annahme, die Prognosefalsch; das ist doch völlig klar.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gewinnbeteiligung!)

Heute sind wir in einer Situation, in der die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer an dem wirtschaftlichen Erfolg,den wir aufgrund der Arbeit, die die alte Regierung, aberauch die neue Regierung gemacht hat, zu konstatieren ha-ben, partizipieren müssen, und zwar vernünftig. Das ent-lastet die Sozialkassen, und zwar wirklich nachhaltig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Zu der Frage, ob die Rente mit 67 nicht eine ver-kappte Rentenkürzung ist. Populistisch kann man so si-cherlich argumentieren.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Menschen sehen das so!)

Allerdings müsste man dann gleichermaßen auch Fol-gendes sagen: In den 60er-Jahren hatten wir eine durch-schnittliche Rentenbezugszeit von zehn Jahren, heutesind es 17 Jahre. Das bedeutet im Prinzip eine giganti-sche Rentenerhöhung. Wir haben den Menschen vielmehr gegeben, da sie viel länger Rente beziehen. Anderskann man aus meiner Sicht nicht sauber argumentieren.Das ist nicht redlich.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das können Sie niemandem erklären, was Sie hier sagen!)

Damit macht man den Menschen schlichtweg Angst.

Zum Schluss möchte ich auf die Rede von Herrn Gysieingehen. Herr Gysi, in der Tat haben Sie Recht, wennSie sagen, dass viele Menschen die Rente mit 67 ableh-nen. Aus ihrer persönlichen Situation heraus ist das auchvöllig nachvollziehbar, schließlich ist es eine Belastung.Das gilt übrigens nicht für die Rentner von morgen, auchnicht von übermorgen. Wir sollten in unseren Statementsauch nicht so tun, als wäre das so, sondern sagen, wastatsächlich absehbar ist, damit es planbar und für dieMenschen handhabbar ist. Dass es eine Belastung ist,werde ich nicht negieren, an keiner Stelle. Dass viele

Menschen das nicht wollen, ist völlig klar. Aber dasheißt doch nicht, dass wir nicht im Interesse der nachfol-genden Generationen handeln.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dass das von Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird,heißt doch nicht, dass wir nicht im Interesse der Men-schen handeln. Das ist völlig widersinnig. Das sozialde-mokratische Interesse gilt primär den sozialen Siche-rungssystemen. Ich sage als Bekenntnis eindeutig: Unsgeht es bei den Maßnahmen, die wir nicht nur vor demHintergrund des Koalitionsvertrages, sondern auch vordem Hintergrund der Erkenntnisse, die man selber ge-sammelt hat, ergreifen müssen, darum, die sozialen Si-cherungssysteme auf Dauer als paritätische und solidari-sche Sicherungssysteme zu erhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das bedingt, dass man bereit ist, sich selbst zu verän-dern. Vor dem Hintergrund der weltweiten, europawei-ten, aber auch nationalen Entwicklung, vor dem Hinter-grund der Globalisierung haben wir Handlungsbedarf.Dieser Handlungsbedarf, dem wir jetzt Rechnung tragen,ist allemal im Interesse der Menschen. So agieren wir.

Danke.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 16/3793, 16/3794, 16/3027,16/3676, 16/3815, 16/3812, 16/3700 und 16/907 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 ksowie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:

29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieUmweltverträglichkeit von Wasch- und Reini-gungsmitteln (Wasch- und Reinigungsmittel-gesetz – WRMG)

– Drucksache 16/3654 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Gesundheit

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsände-rungsgesetzes zur Bekämpfung der Computer-kriminalität (… StrÄndG)

– Drucksache 16/3656 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien

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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzesüber die Bereinigung von Bundesrecht im Zu-ständigkeitsbereich des Bundesministeriumsfür Wirtschaft und Technologie und des Bun-desministeriums für Arbeit und Soziales

– Drucksache 16/3657 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Ausschuss für Arbeit und Soziales

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieelektromagnetische Verträglichkeit von Be-triebsmitteln (EMVG)

– Drucksache 16/3658 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem In-ternationalen Übereinkommen vom 19. Okto-ber 2005 gegen Doping im Sport

– Drucksache 16/3712 –Überweisungsvorschlag:Sportausschuss (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-tokoll vom 21. Mai 2003 über Schadstofffrei-setzungs- und -verbringungsregister

– Drucksache 16/3755 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Innenausschuss

g) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aus-führung des Protokolls über Schadstofffreiset-zungs- und -verbringungsregister vom 21. Mai2003 sowie zur Durchführung der Verordnung(EG) Nr. 166/2006

– Drucksache 16/3756 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Innenausschuss

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten BirgitHomburger, Michael Kauch, Angelika Brunk-horst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDP

EU-Abfallrahmenrichtlinie ökologisch wirk-sam, unbürokratisch und marktwirtschaftlichgestalten

– Drucksache 16/3318 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

i) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Jürgen Gehb, Norbert Geis, Ute Granold,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten Fritz RudolfKörper, Joachim Stünker, Dr. Carl-ChristianDressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD

Ächtung des Gesetzes zur Verhütung des erb-kranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933

– Drucksache 16/3811 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten DorotheeMenzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derLINKEN

Börsengang der Bahn stoppen

– Drucksache 16/3801 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Finanzausschuss Haushaltsausschuss

k) Beratung des Antrags der Abgeordneten DorotheeMenzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-KEN

Deutsche Flugsicherung europarechtlichenRahmenbedingungen anpassen

– Drucksache 16/3803 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

ZP 4 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen vom 20. Oktober 2005 überden Schutz und die Förderung der Vielfaltkultureller Ausdrucksformen

– Drucksache 16/3711 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Auswärtiger Ausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinGöring-Eckardt, Brigitte Pothmer, Kerstin An-dreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Vermittlung in Selbstständigkeit durch Bun-desagentur für Arbeit ermöglichen – Künstler-dienste sichern

– Drucksache 16/3779 –

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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das istebenfalls der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.

Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 30 a bis30 s sowie den Zusatzpunkten 5 a bis 5 j. Dabei handeltes sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denenkeine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 30 a:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Übereinkommen vom11. April 1997 über die Anerkennung von Qua-lifikationen im Hochschulbereich in der euro-päischen Region

– Drucksache 16/1291 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung (18. Ausschuss)

– Drucksache 16/3669 –

Berichterstattung:Abgeordnete Anette Hübinger Dr. Ernst Dieter Rossmann Uwe Barth Cornelia Hirsch Kai Gehring

Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzung empfiehlt auf Drucksache 16/3669,den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist der Ge-setzentwurf einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 b:

Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-kung der Selbstverwaltung der Rechtsanwalt-schaft

– Drucksache 16/513 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/3837 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb Christine Lambrecht Mechthild Dyckmans Wolfgang Nešković Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/3837, den Gesetzent-wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer istdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damitin zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hausesangenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in dritter Beratung ebenfalls einstimmig ange-nommen.

Tagesordnungspunkt 30 c:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Anerkennungs- und Voll-streckungsausführungsgesetzes

– Drucksache 16/2857 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/3833 –

Berichterstattung:Abgeordnete Ute Granold Dirk Manzewski Mechthild Dyckmans Sevim DağdelenJerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/3833, den Gesetzent-wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istdamit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls einstimmigangenommen.

Tagesordnungspunkt 30 d:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Budapester Übereinkommen vom22. Juni 2001 über den Vertrag über die Güter-beförderung in der Binnenschifffahrt (CMNI)

– Drucksache 16/3225 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/3834 –

Berichterstattung:Abgeordnete Marco Wanderwitz Dirk Manzewski

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7258 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) (C)

(B) (D)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

Mechthild Dyckmans Sevim DağdelenJerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/3834,den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und derFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltungder Fraktion Die Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in dritter Beratung mit derselben Mehrheit an-genommen.

Tagesordnungspunkt 30 e:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Haager Übereinkom-men vom 13. Januar 2000 über den internatio-nalen Schutz von Erwachsenen

– Drucksache 16/3250 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/3836 –

Berichterstattung:Abgeordnete Ute Granold Christine Lambrecht Joachim Stünker Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Sevim DağdelenJerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/3836, den Gesetz-entwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer istdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damitmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenbei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 f:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurUmsetzung des Haager Übereinkommens vom13. Januar 2000 über den internationalenSchutz von Erwachsenen

– Drucksache 16/3251 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/3836 –

Berichterstattung:Abgeordnete Ute Granold

Christine Lambrecht Joachim Stünker Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Sevim DağdelenJerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/3836, den Ge-setzentwurf anzunehmen. Ich bitte nun diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmender Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnis-ses 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion bei Enthaltungder Fraktion Die Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit mit der gleichen Mehrheit angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 g:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antragder Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. BarbaraHöll, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der LINKEN

Grunderwerbsteuerbefreiung bei Fusionenvon Wohnungsunternehmen und Wohnungs-genossenschaften in den neuen Ländern

– Drucksachen 16/2079, 16/3213 –

Berichterstattung:Abgeordneter Ernst Kranz

Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache16/2079 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen bei Ablehnung der Oppositions-fraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 h:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antragder Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth),Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der FDP

Qualität der Mauterfassung durch unabhängi-gen Versuch nachweisen und Kontrollverfah-ren zertifizieren

– Drucksachen 16/1680, 16/3264 –

Berichterstattung:Abgeordneter Wilhelm Josef Sebastian

Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 16/1680 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stim-

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7259

(A) (C)

(B) (D)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derOppositionsfraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 i:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Unter-richtung durch die Bundesregierung

Mitteilung der Kommission an den Rat, dasEuropäische Parlament, den EuropäischenWirtschafts- und Sozialausschuss und denAusschuss der Regionen über die Verbesse-rung der Sicherheit der Lieferkette Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-schen Parlaments und des Rates zur Verbesse-rung der Sicherheit der Lieferkette (inkl.6935/06 ADD 1)KOM (2006) 79 endg.; Ratsdok. 6935/06

– Drucksachen 16/1101 Nr. 2.12, 16/3554 –

Berichterstattung:Abgeordneter Hubert Deittert

Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Ist jemand dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim-mig angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 j:

Beratung der Dritten Beschlussempfehlung desWahlprüfungsausschusses

zu 44 gegen die Gültigkeit der Wahl zum16. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahl-einsprüchen

– Drucksache 16/3600 –

Berichterstattung:Abgeordnete Bernhard Kaster Dr. Wolfgang Götzer Dr. Carl-Christian Dressel Petra Merkel (Berlin)Ernst Burgbacher Ulrich Maurer Silke Stokar von Neuforn

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ist je-mand dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist einstimmig angenommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 30 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 144 zu Petitionen

– Drucksache 16/3625 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 144 ist einstimmig angenom-men.

Tagesordnungspunkt 30 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 145 zu Petitionen

– Drucksache 16/3626 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Dann ist auch Sammelübersicht 145 einstimmigangenommen.

Tagesordnungspunkt 30 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 146 zu Petitionen

– Drucksache 16/3627 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegen-stimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltungen derFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 n:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 147 zu Petitionen

– Drucksache 16/3628 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Dann ist die Sammelübersicht 147 einstimmigangenommen.

Tagesordnungspunkt 30 o:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 148 zu Petitionen

– Drucksache 16/3629 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 148 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnis-ses 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion bei Gegen-stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 p:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 149 zu Petitionen

– Drucksache 16/3630 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 149 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenund der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 q:

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7260 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) (C)

(B) (D)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 150 zu Petitionen

– Drucksache 16/3631 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 150 ist damit mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion beiGegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-nen und Enthaltungen der Fraktion Die Linke angenom-men.

Tagesordnungspunkt 30 r:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 151 zu Petitionen

– Drucksache 16/3632 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 151 ist damit mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 s:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 152 zu Petitionen

– Drucksache 16/3633 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Dann ist die Sammelübersicht 152 mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derOppositionsfraktionen angenommen.

Zusatzpunkt 5 a:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 153 zu Petitionen

– Drucksache 16/3817 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 153 ist einstimmig ange-nommen.

Zusatzpunkt 5 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 154 zu Petitionen

– Drucksache 16/3818 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 154 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltungender Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenom-men.

Zusatzpunkt 5 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 155 zu Petitionen

– Drucksache 16/3819 –

Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 155 ist mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.

Zusatzpunkt 5 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 156 zu Petitionen

– Drucksache 16/3820 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 156 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und derFraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen angenommen.

Zusatzpunkt 5 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 157 zu Petitionen

– Drucksache 16/3821 –

Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht 157 ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktiondes Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen derFraktion Die Linke angenommen.

Zusatzpunkt 5 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 158 zu Petitionen

– Drucksache 16/3822 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 158 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnis-ses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Ge-genstimmen der FDP-Fraktion angenommen.

Zusatzpunkt 5 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 159 zu Petitionen

– Drucksache 16/3823 –

Wer ist dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 159 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenund der Fraktion Die Linke angenommen.

Zusatzpunkt 5 h:

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7261

(A) (C)

(B) (D)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 160 zu Petitionen

– Drucksache 16/3824 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 160 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnis-ses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion DieLinke und der FDP-Fraktion angenommen.

Zusatzpunkt 5 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 161 zu Petitionen

– Drucksache 16/3825 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 161 ist damit mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen derOppositionsfraktionen angenommen.

Damit haben wir diesen Teil der Abstimmungen ab-geschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:

Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der FDP

Rechtsstaatliche Anforderungen an eine ord-nungsgemäße Gesetzgebungsarbeit

(Beifall bei der FDP)

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenbergerdas Wort.

(Beifall bei der FDP)

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! In einer verheerenden Mixtur ausgrundrechtlicher Ignoranz, verfassungsrechtlicher In-kompetenz und gesetzgeberischem Aktionismus schei-nen Sie sich, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen derRegierungsfraktionen, nach Kräften zu bemühen, unsererechtspolitische Kultur, die einmal als Glanzstück desbundesrepublikanischen Parlamentarismus galt, in einenTrümmerhaufen zu verwandeln.

(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kaum ein wichtiges Gesetz, das nicht in engsten nächtli-chen Koalitionszirkeln kurzfristig ausgebrütet wordenwäre!

(Joachim Stünker [SPD]: So etwas von der FDP! Das kann doch wohl nicht wahr sein!)

Kaum ein wichtiges Gesetz, das mit der gebotenen Acht-samkeit und Sorgfalt hinsichtlich seiner Wirkungen, ver-fassungsrechtlichen Bezüge und Probleme erarbeitet undberaten worden wäre!

(Beifall bei der FDP und der LINKEN)

Kaum ein wichtiges Gesetz, das nicht ohne Rücksichtauf gute parlamentarische Gepflogenheiten im Eilver-fahren durch den Bundestag und den Bundesrat ge-peitscht worden wäre!

(Beifall bei der FDP und der LINKEN)

Die Liste der blamablen Folgen dieser hektischenPolitik ist lang. Das Gesetz zur Umsetzung des Rahmen-beschlusses zum Europäischen Haftbefehl wurde vomBundesverfassungsgericht in toto für verfassungswidrigerklärt. Ebenso drastisch urteilte das Bundesverfas-sungsgericht über das Luftsicherheitsgesetz, dessen § 14Abs. 3, mit dem die Streitkräfte zum Abschuss zivilerFlugzeuge ermächtigt werden sollten, verfassungswidrigist. Das Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherungscheitert wegen offensichtlicher Verfassungswidrigkeitbereits am Bundespräsidenten, der die Ausfertigung desGesetzes verweigert. Dem Verbraucherinformationsge-setz wird das gleiche Schicksal zuteil werden. Das Ge-setz, das ihm als Entwurf vorgelegt wurde, sei, so derBundespräsident, ein klarer Verstoß gegen das Grundge-setz.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN)

Noch peinlicher ist, dass sich der Bundespräsident in sei-ner Einschätzung genau auf jene grundgesetzlichen Re-gelungen bezieht, die im Rahmen der Föderalismusre-form gerade erst vor wenigen Monaten von der Koalitiongeändert wurden. Kennen Sie diese Gesetzesänderungengar nicht?

(Beifall bei der FDP und der LINKEN)

Nun erfahren wir, dass die Verfassungskonformitätdes gerade erst von den Koalitionsfraktionen verabschie-deten Entwurfs eines Gesetzes zur Beteiligung des Bun-des an den Unterbringungskosten von ALG-II-Empfän-gern mittlerweile selbst in den Reihen derKoalitionsparteien bezweifelt wird. Ähnliches gilt fürdie mit riesigem publizistischem Aufwand gegen dieOpposition und gegen den Sachverstand fast aller Fach-leute angekündigte Gesundheitsreform, an der – so mussnun der Kollege Bosbach einräumen – erhebliche verfas-sungsrechtliche Zweifel bestehen. Nicht um die politi-sche Auseinandersetzung, sondern um die Inhalte gehtes hier.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN)

Angesichts all dieser peinlichen Vorgänge ist es nurein arg dämmeriger Lichtblick, dass das ebenfalls mitgroßem publizistischem Aufwand angekündigte Nicht-raucherschutzvorhaben wegen offensichtlicher Verfas-sungswidrigkeit gerade noch rechtzeitig auf Bundes-ebene aufgegeben wurde.

Man könnte diese traurige Bilanz großkoalitionärerRechtspolitik mit Zynismus quittieren, träfen die Folgendieser Art von Politik nicht uns alle. Als Oppositions-politikerin würde ich mich über die offensichtlicheÜberforderung der großen Koalition gerne freuen kön-nen, beförderten die Folgen dieser Art von Politik in derÖffentlichkeit nicht genau jene Zweifel an der parlamen-

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7262 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

tarischen Demokratie, die der politischen Apathie undden äußersten Rändern des politischen Spektrums Auf-trieb geben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Verlässlichkeit – so hat heute Morgen Herr Ramsauergesagt – ist der Maßstab für Politik, damit Vertrauen ent-steht. Halten Sie sich an diese Aufforderung!

(Beifall bei der FDP)

Die Liste der gesetzgeberischen Fehlleistungen dergroßen Koalition droht länger zu werden. Lassen Siemich nur auf ein bevorstehendes Vorhaben hinweisen,das unter grundrechtlichen Gesichtspunkten unsäglichist, nämlich die Anbieter von elektronischen Kommuni-kationsdiensten zur Speicherung der bei ihnen anfallen-den Kommunikationsdaten auf Vorrat zu verpflichten.Mit der Übernahme der europarechtlichen Verpflichtun-gen, die sich aus der von der Bundesregierung mitgetra-genen Richtlinie zur Vorratspeicherung ergeben, geht dieBundesregierung bewusst ein Risiko ein, nämlich dasRisiko eines schweren Verfassungskonflikts zwischenBundesverfassungsgericht und dem Europäischen Ge-richtshof.

(Beifall bei der FDP)

Ich kann Sie nur bitten: Lassen Sie im Interesse desdeutschen Parlamentarismus davon ab, die Verfassung,unser Grundgesetz, als Feind, als Gefängnis zu sehen,aus dem man nach Möglichkeit ausbrechen sollte. Las-sen Sie davon ab, über den Bundespräsidenten und des-sen pflichtgemäße Entscheidungen zu lamentieren undin einer noch nie da gewesenen Form das Verfassungsor-gan Bundespräsident zu beschädigen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Seien Sie froh, dass wegen einer ernsthaften Prüfungeine nächste Niederlage vor dem Bundesverfassungsge-richt vermieden wird. Es stünde Ihnen besser an, dafürSorge zu tragen, dass das Bundesinnen- und das Bundes-justizministerium ihren einmal als vornehm angesehenenAufgaben als Verfassungsressorts, als Notare der Regie-rung, wieder gerecht werden können: Gründlichkeit vorSchnelligkeit, Achtung und Berücksichtigung verfas-sungsrechtlicher Bedenken vor einer schnell getroffenenpolitischen Entscheidung! Fangen Sie damit an, dann ha-ben Sie unsere Unterstützung.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Der nächste Redner ist der Kollege Andreas Schmidt

für die CDU/CSU-Fraktion.

Andreas Schmidt (Mülheim) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde,Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, die Art und

Weise, in der Sie hier gesprochen haben, wird demThema nicht gerecht.

(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut!)

Auch unserer gemeinsamen Verantwortung in diesemHaus sind Sie nicht gerecht geworden.

(Joachim Stünker [SPD]: Das war reine Heuchelei!)

Das Thema ist ja nicht neu. Es ist meistens ein Themader Opposition. Die Opposition kritisiert, die Koalitions-fraktionen verteidigen, und jeder von uns war ja auchschon einmal in jeder Rolle. Insofern ist auch die De-batte nicht neu.

(Joachim Stünker [SPD]: So ist es!)

Sie haben schon einmal in einer anderen Rolle hiergesprochen; damals haben Sie mehr verteidigt.

(Zurufe von der FDP)

– Hören Sie mir doch einmal zu. Wir wollen doch eingutes Bild in der Öffentlichkeit abgeben. – Wir solltendie Debatte grundsätzlich führen. Die Geländegewinne,die Sie vielleicht kurzfristig haben werden, werden nichtsehr nachhaltig sein. Wir sollten zu diesem Thema überunser Selbstverständnis sehr ausführlich sprechen, undzwar nicht nur in einer Aktuellen Stunde, sondern etwaslänger.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Nichts ist so gut, als dass es nicht verbesserungsfähigist. Natürlich hat es Fehler gegeben. Ich finde, es stehtuns gut an, diese einzugestehen. Wir sollten aber nichtden Eindruck erwecken, als hätten wir alle rechtsstaatli-chen Grundsätze über Bord geworfen. Im Rechtsaus-schuss des Deutschen Bundestages ist Ihr Debattenstilein anderer. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dasswir gestern im Rechtsausschuss von Ihnen sehr viele lo-bende Worte über Gesetzesvorhaben gehört haben.

(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]:Da haben wir über ein ordentliches Gesetz be-raten!)

Es ist nämlich so, dass wir im Ausschuss sehr sach-lich reden, dass wir nicht alles übernehmen, was die Re-gierung sagt, sondern es wird verbessert, es finden An-hörungen statt, es sind langwierige Verfahren. Das habenSie gestern ausdrücklich gelobt. Dies hätte heute aucheinmal gesagt werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Ich will einige grundsätzliche Ausführungen machen.Wir als Parlament sind selbstbewusst genug, um zu sa-gen, dass wir eine bestimmte Verantwortung haben undnicht der Gesetzgebungsvollstrecker der Bundesregie-rung sind. In einer parlamentarischen Demokratie sindwir, das Parlament, der Chef. Das ist die Normalität. Ichhabe das gerade gesagt. Wie oft werden Gesetzesvor-schläge der Regierung nach Anhörungen und nach einerbestimmten Zeit – das geht alles sehr rechtsstaatlich und

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7263

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Andreas Schmidt (Mülheim)

sehr gründlich vor sich – gemeinsam verändert und dannhier beschlossen? Es gilt auch bei uns der Grundsatz:Gründlichkeit vor Schnelligkeit.

Jetzt möchte ich etwas zu der Verfassungsmäßigkeitvon Gesetzen sagen. Sie haben schon oft behauptet, einGesetz sei verfassungswidrig, und das Bundesverfas-sungsgericht war anderer Meinung als Sie. Das Problemist, dass wir hier in einem Bereich arbeiten, der nicht zuden Naturwissenschaften gehört. In den Naturwissen-schaften können Sie etwas unter ein Mikroskop legenund sagen: So ist das. – Bei der Frage der Verfassungs-mäßigkeit ist das etwas schwieriger.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Es hängt oft von der Meinung ab, ob etwas als verfas-sungswidrig betrachtet wird. Deswegen möchte ich et-was zum Verfassungsgefüge sagen. Ich beteilige michnicht an der Kritik des Bundespräsidenten. Das solltenwir nicht tun. Dennoch darf man etwas zum Verfas-sungsgefüge sagen. Wir bilden uns im Parlament eineMeinung darüber, ob etwas verfassungswidrig oder nichtverfassungswidrig ist. Sie können anderer Auffassungsein. Die Mehrheit bildet sich ihre Auffassung undbringt ein Gesetz mit der Mehrheit durch. Der Bundes-präsident kann die Unterschrift verweigern. Das ist seingutes Recht und das haben wir zu akzeptieren. Damit istaber nicht festgestellt, ob das Gesetz verfassungswidrigist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Auch das ist richtig. Dem wird auch der Bundespräsi-dent nicht widersprechen. Ob etwas verfassungswidrigist, kann nur durch das Bundesverfassungsgericht festge-stellt werden.

(Beifall bei der SPD)

Das Problem ist, dass ein Gesetz, das der Bundespräsi-dent nicht unterschreibt, gar nicht überprüft werdenkann. Das bedingt diese Entscheidung zwangsläufig.Das darf man bei allem Respekt hier sagen.

Ich glaube, dass wir in Deutschland insgesamt dasProblem haben, dass wir zu viele Gesetze machen. Da-rüber sollten wir einmal sprechen. Wir glauben, dass wiralle Lebensbereiche gesetzlich regeln müssen. Darübermüssen wir einmal grundsätzlich sprechen. Ich will auchdavor warnen, in die Falle zu geraten, dass wir zu einemReflexgesetzgeber werden. Immer wenn etwas inDeutschland passiert, erfolgt sofort der Ruf nach demGesetzgeber. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nichtvon den Medien instrumentalisieren lassen. Auch das istein wichtiger Punkt, was unser Selbstverständnis angeht.Ich will die Beispiele nennen: Auch mir hat die Einstel-lung des Verfahrens im Mannesmann-Prozess nicht ge-fallen. Sofort kam der Ruf nach dem Gesetzgeber und eswurde gefordert, die Strafprozessordnung müsse geän-dert werden. Im Fall des Schiedsrichters Hoyzer, der be-trogen hat, sagte irgendein Staatsanwalt, dass der Tatbe-stand des Betrugs nicht erfüllt sei. Schon gibt esKollegen, die fordern, den § 263 StGB zu ändern. Wennwir immer nur reflexartig handeln, werden wir dem Ho-hen Haus keinen guten Dienst erweisen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Deswegen, Frau Kollegin, sollten wir das Thema auf-greifen, wir sollten es aber nicht parteipolitisch instru-mentalisieren. Wir sollten unserer Gesamtverantwortungals Parlament gerecht werden. Dann, so glaube ich, sindwir auf einem guten Weg.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Maurer für die

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Jetzt kommt der Kulturbruch!)

Ulrich Maurer (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Dass sich der Kollege Schmidt bemühte, ein Stück weitabzulenken und abzuwiegeln, war zu erwarten. Sie kom-men aber nicht daran vorbei, dass es noch nie eine soeindrucksvolle Kette von Fehlleistungen gegeben hatwie die, die hier von der Kollegin Leutheusser-Schnar-renberger aufgezählt worden ist.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wie viele denn im Verhältnis zu den anderen?)

– Schauen Sie nach, Herr Kollege, wie oft in der Nach-kriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland derBundespräsident in vergleichbaren Fällen intervenierthat.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Jürgen Gehb[CDU/CSU]: Hier wird die Ausnahme zur Re-gel stilisiert!)

Dann merken Sie, was hier eigentlich los ist. Gegen ei-nes, was ich beim Kollegen Schmidt herausgehört habe,will ich mich ausdrücklich zur Wehr setzen. Er verfährtoffenbar nach dem Motto: Wir machen jetzt einmal Ge-setze und dann wird sich in einem offenen Prozess beimBundesverfassungsgericht oder beim Präsidenten schonherausstellen, ob sie nun verfassungswidrig sind odernicht.

(Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)

So habe ich die Rolle des Parlaments bisher nicht inter-pretiert. Es darf nicht den permanenten Versuch unter-nehmen herauszufinden, ob die Gesetze, die es be-schließt, verfassungswidrig sind oder nicht.

(Beifall bei der LINKEN und der FDP – Mi-chael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie habennoch nicht einmal die einfachen Teile seinerRede verstanden!)

Bei der Gelegenheit fällt mir ein, dass neulich in derDebatte über den Entwurf des Justizmodernisierungsge-setzes der Sprecher der SPD auf die Feststellung derKollegin von der FDP, dieser sei gegen die Rechtspre-chung des Bundesverfassungsgerichts gerichtet, gesagthat: Die haben auch nicht immer Recht. Der Gesetzgeber

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Ulrich Maurer

muss die Richter veranlassen, ihre Rechtsprechung zuändern, indem man ein Gesetz macht, das gegen das,was die Richter bisher immer beschlossen haben, gerich-tet ist. – Das ist eine Art von spielerischem Umgang mitder Verfassungsmäßigkeit, die wir nicht akzeptierenkönnen. In diesem Bereich darf es keinen spielerischenUmgang geben.

(Beifall bei der LINKEN)

Man kann ja über die Frage rätseln, wie so etwas zu-stande kommt. Ich glaube, dass es etwas mit den Gesetz-mäßigkeiten der großen Koalition zu tun hat. Bei vertief-tem Nachdenken kommt man darauf.

(Joachim Stünker [SPD]: Ja, das fehlt bei Ih-nen!)

Erstens haben Sie einen bestimmten Machtrausch; dasist jedenfalls unser Eindruck. Ihre übergroße Mehrheitführt offensichtlich dazu, dass Sie zum einen – der Kol-lege Gysi hat heute Morgen darauf hingewiesen – inRuhe permanent gegen die Mehrheit der Bevölkerungentscheiden können. Das wird uns irgendwann in eineKrise der repräsentativen Demokratie führen. Zum ande-ren haben Sie offensichtlich im Hinterkopf, dass Sie sichbei einer so großen Mehrheit, durch die auch die Opposi-tionsrechte, etwa beim Thema Normenkontrolle, sehreingeschränkt sind, noch mehr leisten können. Das isteine Art doppelte Ignoranz.

Zweitens ist es bei Ihnen, glaube ich, so, dass Sie,wenn Sie sich in der großen Koalition unter großen Mü-hen, unter Berücksichtigung machtpolitischer Erwägun-gen, unter wechselseitiger Gesichtswahrung, auf irgend-etwas geeinigt haben, dann so angestrengt waren, dassSie auf das weitere parlamentarische Verfahren keinegroße Lust mehr hatten. Sie müssen einmal überprüfen,ob das bei Ihnen nicht der Fall ist.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was erzählen Sie denn da?)

Haben Sie so viel Anstrengendes hinter sich? Sie mei-nen, wenn alles so schwierig war, dann muss das, wasman gefunden hat, die Wahrheit sein – oder jedenfallsdas Einzige, was machbar ist.

Diese ganzen Vorgänge werfen verschiedene Fragenauf: erstens – das hat die Kollegin zu Recht gesagt –nach der Rolle der Ministerien, des Justizministeriumsund des Innenministeriums, die den Gesetzgebungsgangeigentlich überprüfen müssten. Vielleicht sollten Sie dasJustizministerium immer sofort zu Ihren Koalitionsge-sprächen auf höchster Ebene hinzuziehen,

(Beifall bei der LINKEN)

damit dessen Überlegungen gleich mit einfließen. Daswäre durchaus erwägenswert.

Zweitens werfen sie die Frage auf, inwieweit das Par-lament sozusagen durch den Koalitionsausschuss ersetztwird. Wie groß ist Ihr Selbstbewusstsein

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das wächst täglich!)

bei der Frage der verfassungsrechtlichen Überprüfung,die in der Tat dem gesamten Parlament obliegt und nichtnur der Opposition? Wann greifen Sie eigentlich unterdem Gesichtspunkt der Verfassungsmäßigkeit in Ihre ei-genen großkoalitionären Debatten ein?

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Drittens und letztens; das will ich zum Schluss sehrdeutlich sagen. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal indie Rolle komme, den Bundespräsidenten gegen An-griffe aus der großen Koalition verteidigen zu müssen.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das hat keiner gedacht!)

Ich will Ihnen sagen, was ich zu dem Thema gelesenhabe. Namhafte Leute haben sich zu der Aussage ver-stiegen, der Bundespräsident solle seine Prüfungskom-petenz zurücknehmen und nur noch das zurückweisen,was sozusagen Otto Normalverbraucher vor dem Fernse-her zu dem Satz „Oh, das ist ja verfassungswidrig!“veranlasst. Die Ermahnungen, die erfolgt sind, sind gera-dezu dazu geeignet, eine institutionelle Krise heraufzu-beschwören.

(Lachen des Abg. Dr. Michael Bürsch [SPD])

– Ja, natürlich! Passen Sie einmal auf: Ich kenne meineLandsleute ganz gut. Sie sind ziemlich nachhaltig, mankönnte auch sagen: stur, wenn man ihnen auf diese Artund Weise kommt. Das kann man dem Herrn Bundesprä-sidenten nur empfehlen. Wollen Sie ihn im Ernst jetzt je-des Mal, wenn es Ihnen nicht passt, öffentlich zur Ord-nung rufen? Was meinen Sie, wie das in derBevölkerung ankommt, in der das Urteil – oder Vorur-teil; wie Sie wollen –, „die da oben“ machten sowieso,was sie wollen, verbreitet ist, wenn die Menschen nunauch noch die Erfahrung machen, dass „die da oben“auch gegenüber dem Bundespräsidenten machen, wassie wollen?

(Beifall bei der LINKEN)

Was glauben Sie, was das in einer Demokratie auslöst?

Deswegen kann ich Ihnen nur raten: keine lautenTöne mehr! Gehen Sie in diesem Punkt in sich; Sie er-weisen uns dann allen einen Dienst!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der FDP – Dr. Michael Bürsch [SPD]:Reden, die die Welt bewegen!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Bundesregierung erteile ich nun dem Parla-

mentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach dasWort.

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun-desministerin der Justiz:

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! In politischer Hinsicht verstehen wir, dass die FDPeben, durch Frau Leutheusser-Schnarrenberger sehr ein-drucksvoll dargestellt, die apokalyptischen Reiter desdemokratischen Antichristen hat galoppieren lassen.

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Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das war jetzt ähn-lich bombastisch wie Frau Leutheusser-Schnarrenberger!)

Ich höre den Hufschlag immer noch. Mehr allerdings ha-ben Sie auch nicht zu bieten. Sie tragen sozusagen dieSchminke Ihrer eigenen Unfähigkeit sehr dick auf.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. ReinhardGrindel [CDU/CSU] – Hans-Michael Gold-mann [FDP]: Ihnen fliegen die Gesetze um dieOhren! – Heinz Lanfermann [FDP]: WelchesMinisterium musste das Gesetz denn prüfen,Herr Kollege?)

Lassen Sie mich zwei Bemerkungen vorausschicken.

Erste Bemerkung. Sie haben eben das Verbraucherinfor-mationsgesetz angeführt. Ich glaube, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, dieses Gesetz ist denkbar ungeeignet,der Koalition eine Missachtung rechtstaatlicher Regelnvorzuwerfen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut!)

Denn die Oppositionsparteien haben zwar gegen das Ge-setz gestimmt. Aber die verfassungsrechtlichen Ein-wände, die aus dem Bundespräsidialamt gekommensind, sind auch von Ihnen, der Opposition, damals beiden Beratungen des Gesetzentwurfs nicht artikuliertworden. Wir alle sitzen also in einem Boot. Wenn Sieuns auf die Nase hauen, dann sollten Sie sich auch an dieeigene Nase fassen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Unruhe bei der FDP)

Zweite Bemerkung. Es ist für uns sicherlich nicht er-freulich, dass der Bundespräsident in kurzer Zeit zweiGesetze nicht ausgefertigt hat. Aber im Gegensatz zudenjenigen, die den Parlamentarismus erst in den letztensechs Jahren oder vielleicht noch gar nicht entdeckt ha-ben, weiß ich, dass solche Vorkommnisse wie die Nicht-ausfertigung eines Gesetzes in der Geschichte der Bun-desrepublik Deutschland schon immer vorgekommensind.

(Dirk Niebel [FDP]: Das macht es nicht bes-ser!)

Ich darf auch darauf hinweisen, dass in dieser Legis-laturperiode eine Vielzahl von Gesetzen verabschiedetworden sind.

(Zuruf des Abg. Heinz Lanfermann [FDP])

– Seien Sie einmal ganz ruhig. Sie sollten lieber an Ihreeigene Zeit im Justizministerium denken.

(Heinz Lanfermann [FDP]: So etwas ist da-mals in der Form nicht vorgekommen, HerrKollege!)

– Sie haben Ihre eigene Ministerin damals dazu getrie-ben, zurückzutreten. Seien Sie also ganz ruhig.

(Beifall bei der SPD – Lachen bei der FDP –Zuruf der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarren-berger [FDP])

– Hören Sie einmal gut zu.

Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben unsvorhin pauschal Vorwürfe zu jedem Gesetz gemacht. DieKoalition hat 77 Gesetze auf den Weg gebracht. Sie wur-den beraten, verabschiedet und ausgefertigt. Sie sind inKraft getreten und haben sich in der Praxis bestens be-währt. Auch das muss man einmal deutlich sagen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – La-chen bei der FDP)

– Ihr pennälerhaftes Gelächter zeigt mir, dass ich mitmeiner Einschätzung genau richtig liege.

(Zurufe von der FDP: Oh!)

Die Bundesregierung und hier insbesondere die Ver-fassungsressorts brauchen sich ihrer Arbeit nicht zuschämen. Sie prüfen alle Entwürfe in rechtsförmlicherund verfassungsmäßiger Hinsicht.

(Heinz Lanfermann [FDP]: Jetzt liest er die Geschäftsordnung vor!)

Dass diese Prüfung nicht selten unter erheblichem Zeit-druck erfolgen muss, haben diese Ressorts am wenigstenzu verantworten. Es ist auch nichts wirklich Neues.

Jede Partei, die einmal Regierungsverantwortung ge-tragen hat, weiß aus eigener Erfahrung, dass die Kom-promissfindung innerhalb einer Koalition infolge desDrucks von Interessenverbänden und Medien und nichtzuletzt auch der Entscheidungsweg im Parlament selbstunter erheblichem Zeitdruck stehen.

(Dirk Niebel [FDP]: Dann lassen Sie doch die Fristverkürzung sein!)

Dass es den Verfassungsressorts trotzdem gelingt, be-denkliche Passagen fast immer rechtzeitig zu identifizie-ren und auch dann zu entschärfen, wenn dafür politischeKompromisse, für die nicht selten die Opposition verant-wortlich zeichnet, neu justiert werden müssen, ist eineLeistung, die auch im heutigen Kontext nicht übersehenwerden sollte.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Jetzt sind wir schuld oder was?)

Selbst wenn man von solchen äußerlichen Erschwer-nissen der Prüfung einmal absieht, bleibt eines unbe-streitbar: Auch Verfassungsfragen sind Rechtsfragen.Über Rechtsfragen kann man sehr schnell geteilter Mei-nung sein und trefflich streiten. Selbst vor dem Bundes-verfassungsgericht gibt es Überraschungen. Denn seltengibt es dort einstimmige Entscheidungen. Häufig könnendie Verfassungsrichter, die eine abweichende Meinungvertreten, mit beachtlichen Argumenten aufwarten.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Selbst beim Zuwanderungsgesetz war das so!)

Wer in einer juristischen Auseinandersetzung unter-liegt, muss sich deshalb nicht automatisch vorwerfenlassen, er habe fehlerhaft gearbeitet. Viele von uns, diein juristischen Berufen tätig sind oder waren, haben dasam eigenen Leibe erfahren. Man sollte das auch in derheutigen Diskussion nicht vergessen.

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Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach

Zum Schluss möchte ich eines hervorheben: Schonimmer war der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit einbeliebtes und gängiges Mittel in der Auseinanderset-zung. Studenten, die keine schlüssige Antwort auf Pro-bleme haben, nutzen diesen Begriff oft als Totschlagar-gument und sonnen sich dann in ihrer Größe. In derPolitik – ich will niemanden besonders ansprechen –scheint mir das nicht anders zu sein.

Selten führt eine inflationäre Verwendung des Begrif-fes der Verfassungswidrigkeit zu Gutem. Ganz im Ge-genteil: Ich könnte mir vorstellen, dass diese inflationäreVerwendung des Begriffes der Verfassungswidrigkeitauch diejenigen, die es angeht, desensibilisieren kann.

(Heinz Lanfermann [FDP]: Wer viel Wasserverschüttet, bekommt auch nasse Füße, HerrKollege!)

– Ach wissen Sie, Herr Kollege, ich bin schon dankbardafür, dass Sie sich ab und zu einmal zu Wort melden.Seit Sie wieder im Deutschen Bundestag sind, habe ichnämlich noch nichts von Ihnen gehört. Das ist heuterichtig erfreulich.

Lassen Sie mich abschließend feststellen: Wenn Sieein bisschen mehr Ernsthaftigkeit in Ihr politisches Den-ken bringen würden,

(Dirk Niebel [FDP]: Wer heutzutage alles indie Regierung hinein darf! Das ist unglaub-lich!)

könnte diese Aktuelle Stunde vielleicht dazu führen,dass wir uns, so wie es Herr Schmidt angeboten hat – ichgreife dies dankbar auf –, in aller Ruhe und sehr intensivüber die Frage unterhalten, wie wir gemeinsam zu nochbesseren Gesetzen kommen können, als wir sie heuteschon haben.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Vol-ker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Abwahl dieser Regierung!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag für die

Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über

das Thema der heutigen Aktuellen Stunde hat dasDeutschlandradio vorgestern früh einen Vorbericht ge-sendet und dabei das Verhalten der Bundesregierung undder großen Koalition mit einem Zitat aus einem Westernvon Clint Eastwood zusammengefasst. Dieses Zitat willich Ihnen nicht vorenthalten. Es lautet: „Ich reite in dieStadt und der Rest findet sich.“

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten derFDP)

Diese Haltung ist für die FDP zu Recht Anlass für dieseAktuelle Stunde; wir kritisieren sie ebenso.

Herr Kollege Schmidt, das meiste von dem, was Siegesagt haben, unterschreibe ich. Es ist richtig: Wir soll-ten uns vor Populismus in der Gesetzgebung hüten. Wirsollten uns nicht von der öffentlichen Meinung treibenlassen. Aber worüber heute zu diskutieren ist, sind dieWurschtigkeit und die Beliebigkeit, die sich bei der Bun-desregierung bei der Prüfung verfassungsgemäßer Fra-gen in der Gesetzgebung breit machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Ich sage Ihnen: Wenn sich der Kollege Olaf Scholzheute in der „Westfälischen Rundschau“ zu dem Themaunserer Aktuellen Stunde mit dem Satz zitieren lässt: „Ermeint, ‚eine etwas lässigere Haltung’ würde demRechtsstaat helfen“,

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Unglaublich!)

dann trifft er das Problem bzw. den Nagel auf den Kopf.Darüber müssen wir uns unterhalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Den Beispielen, die von Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger umfassend dargestellt worden sind, willich keine weiteren hinzufügen; fast alle wichtigen sindangesprochen worden. Einige wenige will ich aber auf-greifen und analysieren. Beim Verbraucherinformations-gesetz hatten wir folgendes Problem: In der Föderalis-musreform hat die große Koalition das Grundgesetzgeändert; den Kommunen dürfen keine Aufgaben mehrzugewiesen werden. Sie haben aber im Verbraucherin-formationsgesetz den Kommunen Aufgaben zugewie-sen.

(Joachim Stünker [SPD]: Nein, stimmt nicht!Keine neuen Aufgaben! – Weitere Zurufe vonder SPD)

– Aber selbstverständlich.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist doch nur eine Auslegungsfrage!)

Sie hätten vom September bis heute die Möglichkeit ge-habt, den Fehler, der aufgetreten ist, ganz leicht zu korri-gieren, indem Sie in einem kurzen Änderungsgesetz dieZuweisungen an „die Kommunen“ in Zuweisungen an„die zuständigen Stellen“ umgewandelt hätten.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: So ist es gemeint! Jeder, der lesen kann, versteht es so!)

Wir werfen Ihnen vor, dass Sie, so stur und selbstzu-frieden, wie Sie sind, monatelang im Nichtstun verhar-ren und dann, wenn der Bundespräsident sagt, so gehe esnicht, er stoppe dieses Gesetz, an ihm herummeckern,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der FDP sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

statt in sich zu gehen. Genau dies hat Ihnen der KollegeWiefelspütz ins Stammbuch geschrieben.

Dieser Poltergeist der Innenpolitik hat sich zu demThema der heutigen Aktuellen Stunde so geäußert: Es ist

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Jerzy Montag

Zeit, dass die große Koalition Selbstkritik übt und ein-mal in sich geht.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)

Das bezog er auf genau die Themen, die wir jetzt hierbesprechen. Wenn schon der Kollege Wiefelspütz dassagt, meine Damen und Herren, dann sollten Sie das tat-sächlich beherzigen.

Beim Gesundheitsschutz, beim Nichtraucherschutzhaben wir das gleiche Problem. Natürlich ist jedem klar:Gaststättenrecht ist Landesrecht und der Gesundheits-schutz fällt unter das Bundesrecht. Die Bundesregierungund die große Koalition insgesamt hätten Monate Zeitgehabt, in dieser Diskussion, die für Hunderttausendevon Menschen wichtig ist, eine Position zu beziehen.Aber Sie haben monatelang geschwiegen, die Debattelaufen lassen und, als die Angelegenheit fast vor demVollzug war, den Karren vor die Wand fahren lassen.Das ist es, was man Ihnen vorwerfen muss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnar-renberger [FDP])

Ich könnte auch aus der fachpolitischen Diskussiondes Rechtsausschusses und der Rechtspolitik zu demThema dieser Aktuellen Stunde viele Beispiele anfüh-ren; ich will aber nur ein einziges bringen. Beim Stal-king hat es die Bundesregierung geschafft, innerhalb vonwenigen Wochen bestimmte gesetzliche Formulierungenals verfassungsrechtlich höchst bedenklich zu bezeich-nen, die auf durchgreifende Bedenken stoßen müssten,um dann sechs Wochen später zu dem gleichen Sachver-halt zu sagen: Es gibt null verfassungsrechtliche Beden-ken; alles ist in Ordnung. Ein solches Hin und Her habeich in den vier Jahren, in denen ich im Bundestag bin,nicht erlebt und niemand, der länger im Bundestag ist,hat mir berichten können, dass es so etwas schon einmalgegeben hätte.

Ich komme zum Schluss. Die Dirigentin der Bundes-regierung hat an Sie die Noten für einen Regierungs-durchmarsch verteilt. Aber Sie spielen nicht die Musikder Bundeskanzlerin, sondern völlig dissonante Melo-dien. Auf der rechten Seite spielen Sie deutsche Weisen;auf der linken Seite spielen Sie den Blues und das Ganzegerät zu einer verfassungsrechtlichen Chaos-Combo.Deswegen ist es so wichtig, dass wir darüber auch in ei-ner Aktuellen Stunde diskutieren, damit nämlich klarwird, dass es mit der Überprüfung von Gesetzen auf ihreVerfassungsmäßigkeit in der großen Koalition so nichtweitergeht.

Es ist die letzte Sitzungswoche vor Weihnachten. Siebekommen in dieser Frage von der Opposition keineWeihnachtsgeschenke, sondern ein Jahreszeugnis. Die-ses lautet ganz eindeutig: Sie können es nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der FDP sowie bei Abgeordneten derLINKEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]:Besser, Sie hätten „Stille Nacht“ gesungen,Herr Montag!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Bundesregierung erteile ich das Wort Herrn

Parlamentarischen Staatssekretär Peter Altmaier.

Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär beim Bundes-minister des Innern:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ichdem Kollegen Montag zuhörte, gewann ich den Ein-druck, er hätte sich von der einen oder anderen exzellen-ten Rede inspirieren lassen, die wir von der CDU/CSUzu den Hochzeiten von Rot-Grün gehalten haben, als Siedamals mit Ihren Gesetzen aufgelaufen sind. Damals ha-ben Sie unsere Reden mit dem Brustton ehrlicher Über-zeugung und Empörung zurückgewiesen.

Es gehört zur Ehrlichkeit und zur Sachlichkeit in die-ser Debatte, dass wir einige grundlegende Fakten zurKenntnis nehmen. Dazu gehört zunächst, dass für einegute Gesetzgebung, die im formellen und materiellenSinn dem Grundgesetz entspricht, alle beteiligten Ver-fassungsorgane gemeinsam die Verantwortung tragen,nicht nur die Bundesregierung allein, sondern auch derBundesrat und das Parlament, der Bundestag. Ferner ge-hört dazu die Feststellung, dass, wenn wir uns die Zahlder Gesetze ansehen, die in den letzten 57 Jahren, derZeit seit In-Kraft-Treten des Grundgesetzes, verabschie-det worden sind – der Kollege Schmidt hat, wie ichmeine, zu Recht gesagt: Wahrscheinlich waren es viel zuviele; auch darüber muss man reden –, und diese Zahlmit der Zahl derjenigen Gesetze vergleichen, die nichtausgefertigt wurden oder die vom Verfassungsgericht fürganz oder teilweise unvereinbar mit dem Grundgesetzerklärt worden sind,

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das sind ho-möopathische Dosen!)

wir einsehen, dass diese Zahl sehr gering ist und dassdiese Zahl, über die Jahre gesehen, im Wesentlichengleich geblieben ist. Es stimmt eben nicht, wenn gesagtwird, dass es in den letzten Monaten oder Jahren einensignifikanten Anstieg gegeben hat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Diese Bilanz spricht – das will ich als Vertreter einesVerfassungsressorts offensiv ansprechen – für die Quali-tät der Gesetzgebungsarbeit, für die Wirksamkeit derverfahrensmäßigen Vorkehrungen und auch – das fügeich ausdrücklich hinzu – für die Professionalität und dieKompetenz der Beamtinnen und Beamten in den betei-ligten Häusern, die oft unter erheblichem Zeitdruck ar-beiten. Dieser Zeitdruck wird bisweilen auch von unsPolitikern verursacht, sowohl durch die Entscheidungender jeweiligen Koalition als auch durch die Opposition,wenn sie sagt, dass eine notwendige Gesetzesmaßnahmeaus ihrer Sicht am besten schon vorgestern hätte verab-schiedet werden sollen. Das müssen wir zur Kenntnisnehmen, aber auch ansprechen.

Meine Damen und Herren von der FDP, Sie wissendoch selbst, dass die verfassungsrechtliche Prüfunglaufender Gesetzesvorhaben notwendigerweise hoch

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Parl. Staatssekretär Peter Altmaier

komplex ist, häufig von Wertungsfragen abhängig istund mit guten Argumenten so oder so entschieden wer-den kann. Tun Sie doch nicht so, als ob jedes Gesetz, dasvom Bundestag verabschiedet wird, ein Etikett trägt, aufdem „verfassungsrechtlich unbedenklich“ oder „eindeu-tig verfassungswidrig“ steht. Das ist eine Unterstellung,die mit der Praxis nichts zu tun hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Da spricht je-mand, der etwas von der Sache weiß!)

Sie wissen doch genauso gut wie ich – jedenfalls dieExperten unter Ihnen, die im Rechtsausschuss tätig wa-ren oder sind –, dass Sie häufig zu ein und demselbenGesetzgebungsvorhaben genauso viele befürwortendewie ablehnende Gutachten von herausragenden Verfas-sungsjuristen beibringen können.

(Joachim Stünker [SPD]: Genauso ist es!)

Dass der politische Meinungskampf über die Frage, wel-ches Gesetz gewollt ist, zunehmend mit juristischenFachgutachten ausgetragen wird, ist eine Modeerschei-nung, die wir einmal gemeinsam hinterfragen sollten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Ich wundere mich bisweilen über die Bandbreite verfas-sungsrechtlicher Auffassungen, je nachdem, wer derAuftraggeber für ein bestimmtes Gutachten im politisch-parlamentarischen Raum ist.

(Joachim Stünker [SPD]: So ist es!)

Die verfassungsrechtliche Prüfung vollzieht sich oft-mals vor dem Hintergrund politischer Debatten, bei de-nen der Wünschbarkeit einer bestimmten Regelung Vor-rang vor ihrer verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeiteingeräumt wird.

(Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD])

Das Thema Nichtraucherschutz ist genannt worden.Dazu kann man stehen, wie man möchte. Wenn uns aberdas Argument entgegengehalten wird, eine politisch ge-wollte Regelung dürfe nicht an den Ergebnissen der Fö-deralismusreform scheitern, dann sind selbstverständlichdie Verfassungsressorts der Bundesregierung gefordert.Dieser Aufgabe werden sie gerecht, auch wenn das nichtauf allen Seiten des Hauses ausschließlich zur Freudegereicht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vor diesem Hintergrund ist es die wichtigste Aufgabeder Verfassungsressorts – Justizministerium und Innen-ministerium –, anerkannte und nachvollziehbare Maß-stäbe für die Prüfung der Verfassungskonformität aufzu-stellen. Diese Maßstäbe dürfen nicht von Gesetz zuGesetz neu festgelegt werden, sondern müssen generellgültig sein. Wir müssen uns in allen Fällen von ihnen lei-ten lassen, unabhängig von der politischen Wünschbar-keit eines Vorhabens.

Ich meine, immer dann, wenn eine Gesetzesvorlageverfassungsrechtlich mit guten Argumenten vertretbarist, sollten von der Regierung keine Einwände erhoben

werden, sondern die politischen Entscheidungen desParlaments respektiert werden. Wenn wir uns auf diesenGrundsatz einigen könnten, wären wir schon wesentlichweiter. Dann könnten wir sachlich darüber diskutieren,was bei der technischen Ausgestaltung des Prüfungspro-zesses vielleicht noch verbessert werden kann. Ich binim Übrigen der Auffassung, dass das Vorgehen der Bun-desregierung dem von mir formulierten Prüfungsmaß-stab in den beiden von Ihnen zuletzt angesprochenenFällen durchaus gerecht geworden ist.

Wenn Sie sich die Ausgestaltung unseres Gesetzge-bungsverfahrens ansehen – von der Prüfung durch dieBundesregierung über die Prüfung im Rechtsausschussdes Bundesrates im so genannten ersten Durchgang, derAufbereitung der verfassungsrechtlichen Fragestellun-gen für den Bundestag, der es dann seinerseits in Aus-schussberatungen und Sachverständigenanhörungen ver-tiefen und weiter erörtern kann –, dann meine ich, dasswir verfahrensmäßige Garantien dafür haben, dass diePrüfung mit einem Höchstmaß an Seriosität und Gründ-lichkeit vorgenommen wird.

Wir tragen für das, was zustande kommt, gemeinsamdie Verantwortung. Ich möchte für die Mitglieder desBundestages, des Bundesrates und der Bundesregierung– wer auch immer sie stellt – in Anspruch nehmen, dasswir alle gleichermaßen ausschließlich im Rahmen derVerfassung handeln wollen. Dieser Maßstab gilt für un-sere Arbeit. Wir sind auch bereit, das in jedem einzelnenFall konkret zu belegen.

Für die Legitimität und die Glaubwürdigkeit unsererpolitisch-demokratischen Institutionen ist es schon wich-tig, liebe Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger,wie wir miteinander umgehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Das war der Grund, warum mich der Stil Ihres Vortragszu Beginn Ihrer Rede – auch wenn man über einzelneArgumente diskutieren kann –

(Joachim Stünker [SPD]: Geärgert hat!)

berührt hat. Ich glaube, dass wir ausgesprochen vorsich-tig und zurückhaltend damit sein sollten, uns gegenseitigsach- und verfassungsfremde Motive oder unsachge-mäße Arbeit zu unterstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Erlauben Sie mir bitte noch folgenden Hinweis: Auchzu Zeiten, als die FDP oder die Grünen an Bundesregie-rungen beteiligt waren, sollen einzelne Gesetze vor demBundesverfassungsgericht keinen Bestand gehabt haben.Es ist also keine neue Erscheinung, die Sie hier bekla-gen.

Für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in dieFunktionsfähigkeit unserer verfassungsmäßigen Ord-nung ist es wichtig, dass sich alle Verfassungsorgane, diein diesem oder einem späteren Stadium am Zustande-kommen von Gesetzen beteiligt sind, gegenseitig mitRespekt begegnen. Dies gilt selbstverständlich auch fürEntscheidungen des Bundespräsidenten. Soweit es im

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Parl. Staatssekretär Peter Altmaier

Laufe dieses Prozesses unterschiedliche Auffassungenzwischen den beteiligten Verfassungsorganen gibt, sindwir aufgerufen, gemeinsam alle Anstrengungen zu un-ternehmen, um eine Lösung zu finden, die vor demGrundgesetz und vor dem Bundesverfassungsgericht Be-stand hat. In den wenigen Fällen, in denen die unter-schiedlichen Auffassungen durch eine Entscheidung desBundespräsidenten oder durch Entscheidungen in einembestimmten Verfahrensstadium deutlich werden, sindwir aufgerufen, schnellstmöglich, nachvollziehbar undtransparent einen neuen überzeugenden Vorschlag zumachen. Ich bin davon überzeugt, dass uns dies auch imvorliegenden Fall gelingen wird.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher für

die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Ernst Burgbacher (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine

Aktuelle Stunde dient dazu, Themen, die die Bevölke-rung aktuell bewegen, hier im Disput darzustellen undMeinungen darüber auszutauschen. Herr StaatssekretärHartenbach, Ihr Beitrag diente nicht diesem Zweck undwar dieses Hauses nicht würdig.

(Beifall bei der FDP)

Herr Staatssekretär Hartenbach, es ist für mich nichtnachvollziehbar, wie Sie sich hier hinstellen und so tunkönnen, als sei überhaupt nichts gewesen. Sie vertretenein Verfassungsministerium. Sie haben Gesetze auf Ver-fassungskonformität zu prüfen. Sie aber stellen sich hier-her, sagen, es sei überhaupt nichts gewesen, und lesenvor, was man Ihnen aufgeschrieben hat. Dieser Stil istdieses Hauses nicht würdig.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich darf, damit die Kritik nicht nur von uns kommt,eine kurze Zeitungspassage vorlesen. Ich könnte vieleZeitungen dafür nehmen. In der heutigen Ausgabe der„Stuttgarter Zeitung“ steht:

Die beiden Volksparteien haben im ersten schwarz-roten Jahr viel Pfusch produziert. Sie schaffen beider Gesetzesarbeit nicht weniger schlampig als diedarob zu Recht gescholtene Vorgängerregierung.

Das ist der Stand. Darauf haben Sie hier einzugehen.

(Beifall bei der FDP)

Herr Kollege Schmidt, Sie haben in Ihrer Rede ge-sagt, dass in der parlamentarischen Demokratie das Par-lament der Chef ist; das ist richtig. Aber ein Betrieb läuftnur dann, wenn der Chef seine Arbeit verantwortungs-voll ausführt und darauf achtet, was er zu tun hat. MeinVorwurf an Sie lautet: Das haben Sie nicht getan.

Für diejenigen, die das nicht tagtäglich verfolgen kön-nen, möchte ich dies an einem Beispiel deutlich machen:Sie haben mit Ihrer Mehrheit die Einführung einer Anti-terrordatei beschlossen. Wir von der FDP – ich denke,das gilt auch für die Grünen – hatten Ihnen signalisiert,dass wir bereit wären, mit Ihnen in einen Dialog zu tre-ten und Sie dabei zu unterstützen. Aber Sie haben unsnicht einmal die Chance dazu gegeben. Warum? WeilSie sich in der großen Koalition bis zum Dienstagabendnicht über den Gesetzentwurf einig wurden und der zu-ständige Ausschuss am Mittwoch darüber abstimmenmusste. Das Problem dieser Regierung ist: Sie legen Ge-setzentwürfe auf den Tisch, an denen Sie, weil Sie keineEinigkeit erzielen, bis zur letzten Minute feilen müssen,und so weder dem Parlament noch anderen die Möglich-keit geben, Ihre Gesetzentwürfe zu prüfen.

(Beifall bei der FDP)

Wir werden morgen eine Debatte über die Einsetzungder Föderalismuskommission II führen. Die Ergebnisseder ersten Föderalismusreform sind aus sehr verschiede-nen Blickwinkeln kritisiert worden. Aber auf eines,meine Damen und Herren von der großen Koalition,wäre wohl niemand gekommen: dass die Föderalismus-reform daran scheitern könnte, dass Sie nicht verstehen,was Sie überhaupt beschlossen haben. Das ist das eigent-liche Problem.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wenn man sich anschaut, welche Themen im Mittel-punkt der Diskussion stehen, wird deutlich, dass Sie of-fenbar noch nicht verinnerlicht haben, in welchen Berei-chen Sie Kompetenzen haben und in welchen nicht.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)

Lassen Sie mich noch einmal deutlich machen, dasszum Beispiel mein Kollege Goldmann in seiner Redezum Verbraucherinformationsgesetz auf das Problemhingewiesen hat.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Genau!)

Aber daraus wurden Sie nicht schlau. Das zeigt sich jetztbei der Gesundheitsreform. Kollege Lanfermann hat desÖfteren darauf aufmerksam gemacht, dass auch sie Ver-fassungsbrüche beinhaltet.

(Rainer Brüderle [FDP]: Jawohl! So ist es! –Klaus Uwe Benneter [SPD]: Dass Herr Lan-fermann auf etwas hinweist, reicht aber nochnicht aus, um es verfassungswidrig zu nen-nen!)

Aber Sie hören nicht auf uns. Das verstehen wir nicht.

(Beifall bei der FDP)

Lassen Sie mich nun auf das SGB XII zu sprechenkommen. Sie haben den Gemeinden gesagt, dass sie eineWeihnachtsgratifikation zu zahlen haben, zum Beispielan die Heimbewohner. Die Gemeinden hingegen weisendarauf hin, dass Sie das nicht dürfen. In der Neufassungvon Art. 84 des Grundgesetzes heißt es – so haben Sie eswörtlich formuliert –:

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Ernst Burgbacher

Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Ge-meindeverbänden Aufgaben nicht übertragen wer-den.

Wir hatten immer angemahnt – das war übrigens einwesentlicher Grund, warum wir die Föderalismusreformabgelehnt haben –, dass das Problem dadurch nicht ge-löst wird. In genau dieser Situation befinden wir unsjetzt. Hätten wir das Konnexitätsprinzip in das Grundge-setz aufgenommen,

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ganz genau!)

könnten Sie diese Aufgaben übertragen; man müsste nurdas Geld zur Verfügung stellen.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das aber haben Sie nicht gewollt. Die Verfassungskon-flikte werden jetzt auf dem Rükken derer ausgetragen,die gehofft haben, die 35 Euro zu bekommen. Nach demaktuellen Stand der Diskussion können sie sich dessenaber nicht mehr sicher sein. Das ist keine solide Politik.Dagegen wehren wir uns.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einerBitte aus dem Gebet eines Pfarrers aus dem Jahre 1864schließen, das heute allerdings mindestens genauso ak-tuell ist wie damals – ich zitiere nur zwei Zeilen –:

Lieber Gott und Herr! Gib den Regierenden einbesseres Deutsch und den Deutschen eine bessereRegierung.

Dem ist nichts hinzuzufügen.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie beiAbgeordneten der LINKEN – Klaus Uwe Ben-neter [SPD]: Was machen da bloß die Ita-liener?)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Dr. Michael Bürsch für

die SPD-Fraktion.

Dr. Michael Bürsch (SPD): Ich vertrete die bessere Regierung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wider-spruch bei der FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im An-schluss an die Ausführungen des Kollegen Schmidt be-tone ich für die heutige Debatte und für alle künftigenDebatten dieser Art: Gesetzgebung ist keine Naturwis-senschaft. Sie folgt nicht den Prinzipien der Mathematik,liebe FDP.

Gerne trage ich zur Wahrheitsfindung bei – dazu hatdie FDP aufgerufen – und sage etwas zu den rechtsstaat-lichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Gesetz-gebungsarbeit. Diese Anforderungen lassen sich sehrschnell aufzählen. Von Bedeutung sind die folgenden

Gebote: Gesetze müssen bestimmt sein, was direkt ausdem Gebot der Rechtssicherheit folgt.

Gesetze müssen so eindeutig in ihren Regelungensein, dass jeder die Rechtsfolgen seines individuellenHandelns voraussehen kann. Gesetze müssen außerdemklar sein, das heißt, sie müssen unmissverständlich undrational nachvollziehbar sein. Gesetze müssen notwen-dig sein, außerdem verhältnismäßig und sie dürfen denVertrauensschutz der Bürgerinnen und Bürger nicht ver-letzen.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wenden Sie das nicht an?)

Wenn wir jetzt, nach einem Jahr großer Koalition,eine erste Bilanz ziehen, dann stellen wir fest:97,8 Prozent der Gesetze, die wir erlassen haben, erfül-len diese Voraussetzungen. Das Glas ist nicht etwa halbvoll, es ist bis oben voll.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das ist zu wenig!)

Reden wir also über die 2,2 Prozent, die bleiben. Esgibt einen übergeordneten Gesichtspunkt, der bei allemeine Rolle spielt, die Verfassungsmäßigkeit. Ich folgedem Gewohnheitsrecht: Niemand darf diesen Bundes-präsidenten kritisieren;

(Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD])

darin gibt es Übereinstimmung in diesem Saal. Aberauch dieser Bundespräsident hat ein Recht auf Irrtum. Esist ihm wie allen Bundespräsidenten unbenommen, sichauch einmal zu irren, wie uns als Gesetzgeber auch.

Wer Jura studiert hat, hat schon vor dreißig, vierzigJahren den Streit darüber mitbekommen – Frau Leut-heusser-Schnarrenberger, wir haben das während unsererjuristischen Ausbildung erlebt –, welches Prüfungsrechtder Bundespräsident nach Art. 82 Grundgesetz hat. Wirhaben aus dem Maunz/Dürig und wie sie alle heißenüber all die Jahre unverändert erfahren: Er hat ein for-melles Prüfungsrecht; das heißt, er muss nach Art. 82prüfen, ob ein Gesetz formell ordnungsgemäß zustandegekommen ist.

(Joachim Stünker [SPD]: So ist es!)

Außerdem hat er – das ist Meinung der überwältigendenMehrheit derer, die sich dazu geäußert haben – ein ein-geschränktes Recht sowie die Pflicht zu prüfen, ob einGesetz evident verfassungswidrig ist. Es gibt nach unse-rem Prinzip der Gewaltenteilung, liebe FDP, nur eine In-stanz, die aufgerufen ist, die Verfassungsmäßigkeit oderdie Verfassungswidrigkeit festzustellen: das Bundesver-fassungsgericht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dieser Bundespräsident ist zu dem Ergebnis gekom-men, das Verbraucherinformationsgesetz entsprechenicht Art. 84 Grundgesetz. Dieses Gesetz ist aber nach-weisbar in allen Regierungsinstanzen, die dazu aufgeru-fen waren, im Bundestag und im Bundesrat, geprüft wor-

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Dr. Michael Bürsch

den und man ist zu dem Ergebnis gekommen, dass essich nicht um neue Aufgaben handelt.

(Dirk Niebel [FDP]: Der Präsident ist Bestand-teil der Gesetzgebung!)

Man mag diese Auffassung nicht teilen. Wenn es aberüber etwas Streit gibt, ist dieses Gesetz noch lange nichtevident, auf der Stirn tragend, verfassungswidrig.

(Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD] so-wie des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU])

Der Bundespräsident hat an dieser Stelle das Rechtauf Irrtum. Er muss aber nicht unbedingt die Unterzeich-nung eines Gesetzes verweigern, wenn er der Meinungist, es sei nicht der Verfassung gemäß. Er kann das auchwie Johannes Rau elegant machen und sagen: Ich unter-zeichne es, aber ich gebe euch den zarten Hinweis, dasVerfassungsgericht möge es noch einmal überprüfen.

(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Das ist doch seine Aufgabe!)

Ich will aus diesem Anlass einen weiteren Hinweisgeben – das ist aus meiner Sicht in der Kommentierungetwas zu kurz gekommen –: Das Gesetz zur Privatisie-rung der Flugsicherung hat der Bundespräsident eben-falls zurückgewiesen. Ich will mich nicht darüber auslas-sen, ob zu Recht oder zu Unrecht. Ich sehe denBundespräsidenten in der Funktion eines Staatsnotars,der darauf hinweist, ob ein Gesetz ordnungsgemäß zu-stande gekommen ist oder so evident verfassungswidrigist, dass es zurückgenommen werden muss. Das ist beidiesem Gesetz meiner Ansicht nach auch nicht der Fall.

Dieser Fall wirft aber höchst interessante Fragen fürdas Parlament auf, die ich hier gern einmal diskutierenwürde, Herr Schmidt: Welche Aufgaben gehören zu denKernaufgaben des Staates? Wie viel von seiner Hoheitdarf der Staat abgeben? Welche Aufgaben soll der Staatin Zukunft noch übernehmen? Wenn er Aufgaben ab-gibt: mit welcher Gewährleistung? – Ich bin bekanntlichein großer Anhänger der öffentlich-privaten Partner-schaften. Für mich ist ein Gefängnis eine Einheit, in derder Staat die Verantwortung für die Sicherheit trägt.Aber dass diese Dienste von Privaten erbracht werden,ist kein Verstoß gegen das Gebot, dass der Staat dieseAufgabe innehat. Diese Fragen sollten wir einmal durch-diskutieren.

Zum Schluss komme ich zu den Jahreszeugnissen,Kollege Montag. Ich habe immer gehört: Die Oppositionist die Regierung von morgen. – Mit platter Polemik, mitkünstlicher Aufgeregtheit und Diffamierung des Gesetz-gebers ist dieses Ziel noch weit entfernt von euch.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Götzer

für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Die FDP möchte sich mit dieser Aktuellen Stundewieder einmal als Rechtsstaatspartei und parlamentari-sche Hüterin der Verfassung darstellen; das haben Sie jaauch früher schon immer wieder für sich in Anspruchgenommen. Deshalb haben Sie für diese Aktuelle Stundeeinen Titel gewählt, der einer Dissertation oder, ichmöchte fast sagen, einer Habilitation alle Ehre machenwürde.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Rehabilita-tion!)

Aber ich denke, wir sollten auf dem Boden bleiben.Das sage ich vor allem zu Ihnen, Frau Kollegin Leut-heusser-Schnarrenberger. Ihre maßlos überzogene Pole-mik wird diesem Thema ganz gewiss nicht gerecht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Sie haben so getan, als wären die beiden Ausnahmefällein dieser Wahlperiode, in denen der Bundespräsident einGesetz nicht ausgefertigt hat, die Regel. Damit stellenSie die Dinge auf den Kopf.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Diese Koalition hat bei allen Gesetzesvorhaben die Ver-fassung im Blick und nimmt verfassungsrechtliche Be-denken selbstverständlich immer ernst. Treten verfas-sungsrechtliche Zweifel auf, dann werden diese geprüft.Dass dabei auch einmal Fehleinschätzungen vorkommenkönnen, bestreitet niemand.

Dass es in der Beurteilung von verfassungsrechtli-chen Fragen unterschiedliche Meinungen gibt und manzu unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann, ist fürJuristen, insbesondere für Verfassungsjuristen, weiß Gottnichts Neues oder gar Ungewöhnliches. Wer das Verfas-sungsrecht kennt, der weiß, dass es nahezu nichts gibt,wozu es unter Verfassungsrechtlern nicht unterschiedli-che Auffassungen gibt und was unstrittig ist.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Richtig!)

Das gilt übrigens auch für die Frage, ob dem Bundesprä-sidenten ein materielles Prüfungsrecht zusteht, was abernach herrschender Meinung der Fall ist und von derStaatspraxis anerkannt wird. Aber es gibt, wie gesagt,fast nichts, was unstrittig ist.

Dass der Bundespräsident in dieser Wahlperiode nun-mehr bereits zum zweiten Mal ein Gesetz wegen verfas-sungsrechtlicher Bedenken nicht unterzeichnet hat, istbedauerlich. Gleichwohl respektieren wir diese Ent-scheidung. Wir tun dies, obwohl man mit guten Argu-menten durchaus darüber streiten könnte, ob geradebeim Verbraucherinformationsgesetz ein Verfassungs-verstoß seitens des Gesetzgebers vorliegt.

Die betreffende Verfassungsnorm ist erst kürzlich imRahmen der Föderalismusreform umgestaltet worden.Art. 84 des Grundgesetzes in seiner neuen Fassung be-stimmt, dass Gemeinden durch Bundesgesetz Aufgabennicht mehr übertragen werden dürfen. Man kann sehr

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Dr. Wolfgang Götzer

wohl der Auffassung sein, dass es sich im vorliegendenFall nicht um die Übertragung einer Aufgabe im Sinnedes Art. 84 Grundgesetz handelt.

(Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD])

Es geht nämlich um die Schaffung eines Rechts der Bür-ger auf Zugang zu einschlägigen Daten von Behörden,eben auch zu solchen von Gemeinden.

(Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut, Herr Kol-lege!)

Ob hier also ein Verfassungsverstoß vorliegt, noch dazuein so evidenter, der die Ablehnung der Ausfertigung un-umgänglich macht, daran kann man gut begründeteZweifel haben.

Bundesregierung und Parlament haben die Rechtslagegeprüft und sind zu einem anderen Ergebnis gekommenals das Bundespräsidialamt.

(Joachim Stünker [SPD]: Der Bundesrat auch!)

– Ja, auch der Bundesrat. Vielen Dank für den Hinweis,Herr Kollege Stünker. – Wer sagt denn, dass die Rechts-auffassung des Bundespräsidialamtes die einzig richtigeist?

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Dann klagen Sie doch!)

Dass wir immer in besonderem Maße die Verfas-sungsmäßigkeit von Gesetzen im Auge haben, zeigendie aktuellen Beratungen über ein Nichtraucherschutzge-setz. Die Unionsfraktion hat die Probleme hinsichtlichder Zuständigkeit des Bundes für eine umfassendeNichtraucherschutzregelung klar gesehen und angespro-chen. Deshalb ist der Vorschlag der damit befassten Ar-beitsgruppe gestoppt worden, und zwar in einem sehrfrühen Stadium, lange vor den parlamentarischen Bera-tungen. Was wollen Sie eigentlich mehr? Ich kann Ihnenversichern: Es wird eine Regelung geben, die mit derVerfassung im Einklang steht. Dieselbe Vorgabe gilt üb-rigens auch für die Gesundheitsreform.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Die steht doch mit der Verfassung im Einklang!)

Lassen Sie mich abschließend zwei Punkte festhalten:Erstens. Die Koalitionsfraktionen werden ihre legislativeArbeit auch in Zukunft sehr ernst nehmen. Zweitens. Fürdie verbindliche Klärung der Frage, ob ein Gesetz ver-fassungswidrig ist, ist einzig das Bundesverfassungsge-richt zuständig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege

Dr. Matthias Miersch für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Matthias Miersch (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Thema dieser Aktuellen Stunde lautet: „Rechtsstaat-liche Anforderungen an eine ordnungsgemäße Gesetzge-bungsarbeit“. Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger,ich komme, wie Sie vielleicht wissen, aus Niedersachsen.Seit ein paar Jahren regiert die FDP in Niedersachsen anvorderster Stelle mit.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Und gut!)

Wenn wir uns einmal anschauen, was in Niedersachsenin den letzten Jahren passiert ist, dann stellen wir fest,dass es

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Besser wurde als vorher!)

für diejenigen, die einer Partei angehören, die dort Re-gierungsverantwortung hat, geboten wäre, eine solcheKritik hier gemäßigter vorzutragen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Liebe Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger,schauen wir uns einmal die Entscheidung des Verfas-sungsgerichts zur Möglichkeit der Telefonüberwachungan. Es ist nicht so, dass sich nur ein Organ geweigert hat,etwas auszufertigen bzw. zu unterschreiben. Vielmehrhaben Sie verfassungsgerichtlich verbrieft bekommen,dass das, was Sie getan haben, als Sie mit an der Regie-rung waren, in einem sehr zentralen Punkt verfassungs-widrig gewesen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Jeder, der den Rechtsstaat verkörpern will, muss hieraufheulen. Ich denke, deswegen steht es uns allen gut an,sehr vorsichtig Kritik zu üben, die Dinge sehr behutsammiteinander zu besprechen und nicht polemisch aufei-nander einzuhauen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Heute ist in der „Hannoverschen Allgemeinen Zei-tung“ nachzulesen, dass der Gesetzgebungs- und Bera-tungsdienst des Niedersächsischen Landtags das geplanteGesetz zur Privatisierung der Landeskrankenhäuser in ei-ner Art und Weise verrissen hat, wie es das jedenfalls fürviele Landespolitiker zuvor noch nie gegeben hat.

(Dirk Niebel [FDP]: Kandidieren Sie doch für den Landtag!)

Auch das ist ein Beispiel dafür, dass man sehr ruhig seinsollte, wenn man woanders Verantwortung übernommenhat und hier sagt, man bewahre die Verfassungsmäßig-keit bzw. man habe die Weisheit mit Löffeln gefressen.Ich glaube, so geht das nicht.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Lassen sie dasLandeskrankenhausgesetz jetzt so durchgehen,Frau Leutheusser-Schnarrenberger?)

Herr Kollege Maurer, es hat mich schon erstaunt, dassder Kollege Nešković neulich im Rahmen der Debatteüber § 153 a StPO, bei dem es um die Einstellung beiErfüllung von Auflagen und Weisungen geht, als Bun-

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Dr. Matthias Miersch

desrichter vorgeschlagen hat, bei einer gerichtlichen Ent-scheidung unter Umständen noch eine Prüfungskompe-tenz einzuführen, die der Legislative zugerechnetwerden soll. Das halte ich wirklich für Verfassungsunfugund einen Vorschlag, durch den alles auf den Kopf ge-stellt würde.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Daskönnen die Grünen auch! Ihr habt den Beckvorgeschickt, einen juristischen Analphabe-ten!)

Ich glaube also, dass wir gut beraten sind, zu akzep-tieren, dass es immer unterschiedliche Auffassungen ge-ben wird, dass auch die Verfassungsorgane unterschied-liche Meinungen vertreten. Die Vorredner haben schondarauf verwiesen, dass man bezüglich der Verfassungs-mäßigkeit bzw. der Verfassungswidrigkeit unterschiedli-cher Meinung ist. Ich glaube auch, dass wir es aushaltenmüssen, dass ein Bundespräsident so agiert, wie eragiert.

Das, was der Kollege Schmidt hier vorgetragen hat,war aus meiner Sicht ein sehr guter Vorschlag.

(Joachim Stünker [SPD]: War es auch!)

Wir sollten daran anknüpfen. Als Mitglied der AG Rechtmeiner Fraktion kann ich nur sagen: Wir nehmen dasdankend an.

Wir werden uns auch die Frage stellen müssen, wiewir künftig eine noch bessere Arbeit machen können. Anzwei Punkten will ich ganz konkret werden.

Erstens. Ich glaube, wir müssen uns überlegen – die-ses Problem ist hier an vielen Stellen vorgetragen wor-den –, wie wir dem Zeitdruck begegnen. Das beziehtsich vor allem auf die Umsetzung europäischen Rechts.Wie oft sind wir in den letzten Monaten aufgrund anhän-giger Verletzungsverfahren unter enormen Zeitdruck ge-raten? Ich glaube, wir brauchen hier ein Frühwarnsystemzwischen der Bundesregierung und dem Bundestag, so-dass der Bundestag nicht mehr unter einen solchen Zeit-druck gerät. Wir müssen überlegen, wie wir das hinbe-kommen.

(Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD])

Zweitens. Ich glaube, wir sollten uns die Geschäfts-ordnung einmal sehr aufmerksam anschauen. Als je-mand, der jetzt seit einem Jahr Mitglied des Bundestagesist, erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass wir in denAusschussberatungen oft unter großen Zeitdruck geratenund federführende und mitberatende Ausschüsse zumgroßen Teil parallel beraten. Deshalb sollten wir unsüberlegen, ob wir die Geschäftsordnung nicht dergestaltändern, dass der federführende Ausschuss stets mindes-tens eine Sitzungswoche nach den mitberatenden Aus-schüssen tagt. Ich glaube, es ist wichtig, dass ein feder-führender Ausschuss die Voten richtig beraten kann.Daran haperte es an der einen oder anderen Stelle.

(Martin Zeil [FDP]: Zum Beispiel bei der Fö-deralismusreform!)

Ich glaube, es wäre gut, wenn wir daran arbeiten unduns dieser Aufgaben annehmen würden. Herr Schmidt,ich bin mir sicher, dass Sie diese zwei konkreten Vor-schläge mit aufnehmen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten JensAckermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Wachstumsschädliche Mehrwertsteuererhö-hung rückgängig machen

– Drucksache 16/2520 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich sehe und höredazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenDr. Volker Wissing das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Volker Wissing (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Macht Geld glücklich?

(Zurufe von der LINKEN: Ja!)

Diese Frage beschäftigt die Menschheit schon lange.Wenigstens unser Bundesfinanzminister hat eine Ant-wort darauf. Er sagt: „Es hilft“ und fährt fort: „DasGlücksgefühl, Geld zu haben, ist allerdings weitaus we-niger intensiv als die beklemmende Erfahrung, keinesoder wenig zu haben.“

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erzählt er bei jeder Veranstaltung!)

Aber dann fragt man sich, meine Damen und Herren,warum ausgerechnet dieser Bundesfinanzminister soviele Menschen dieser beklemmenden Erfahrung aus-setzt.

(Beifall bei der FDP)

Die SPD hatte es in ihren Wahlprospekten ja schönaufgelistet: 21,8 Millionen Rentner, 1,4 Millionen Pen-sionäre und Versorgungsempfänger, 1,8 Millionen Be-amte, 4,7 Millionen Arbeitslose,

(Dirk Niebel [FDP]: Wo ist eigentlich das Fi-nanzministerium? – Rainer Brüderle [FDP]:Betriebsausflug der Regierung!)

2 Millionen Studenten, 3,8 Millionen Selbstständige –sie alle zahlen ab Januar nicht nur 2, sondern dank

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Dr. Volker Wissing

effektiver Unterstützung durch die SPD sogar 3 Prozent-punkte mehr beim Einkaufen.

Dabei weiß es die SPD genau: Die Erhöhung derMehrwertsteuer ist sozial ungerecht, weil sie vor allemFamilien sowie kleine und mittlere Einkommen massivbelastet.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol-

legen Niebel zu?

Dr. Volker Wissing (FDP): Ja, selbstverständlich.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Niebel.

Dirk Niebel (FDP): Vielen Dank, Herr Kollege Wissing. – Wir debattie-

ren hier ja über die zu erwartende Mehrwertsteuererhö-hung im nächsten Jahr, die nicht nur politisch, sondernvor allem in der Bevölkerung zu vielen Ängsten führt.Finden Sie es vor diesem Hintergrund angemessen, dassdas Finanzministerium bei dieser Debatte nicht zugegenist?

(Rainer Brüderle [FDP]: Die ganze Regierung ist in der Kantine!)

Dr. Volker Wissing (FDP): Ich finde das äußerst unangemessen. Es zeigt, dass

sich der sozialdemokratische Finanzminister für die Inte-ressen der Menschen, denen er in die Tasche greift,längst nicht mehr interessiert.

(Beifall bei der FDP)

So sagt Peer Steinbrück auch: „Wir treten vielen aufdie Füße, aber wir tun dies gleichmäßig.“ Aber wenn ichbei der SPD bleibe und dies nach ihrer eigenen Darstel-lung weiterspinne, dann muss man sagen: Mit der Mehr-wertsteuererhöhung treten Sie Beziehern größerer Ein-kommen mit der flachen Sohle und denen mit geringenEinkommen mit der Hacke auf die Füße.

Auch das Deutsche Institut für Wirtschaft gelangt zudem Ergebnis, dass die geplante Mehrwertsteuererhö-hung Nichterwerbstätige wie Arbeitslose und Rentnerbesonders belastet. Während Ihre Politik die Bevölke-rung insgesamt um 0,8 Prozent ihres verfügbaren Ein-kommens bringt, ist das obere Zehntel mit 0,6, das un-tere mit knapp 1,4 Prozent dabei.

(Zuruf des Abg. Willi Brase [SPD])

– Ich hatte es gerade gesagt. Wenn Sie zugehört hätten,wüssten Sie es. Es ist das Deutsche Institut für Wirt-schaft.

Wo SPD draufsteht, ist eines jedenfalls nicht mehrdrin, und das ist soziale Gerechtigkeit, meine Damenund Herren.

(Beifall bei der FDP – Gabriele Frechen [SPD]: Und davon haben Sie keine Ahnung!)

Ich muss Ihnen auch sagen: Was die SPD heute fürganz konkret falsch hält, hält sie morgen für ganz kon-kret richtig. Ich will Ihnen noch einmal Franz Müntefe-ring zitieren, weil Sie das ja schon langsam verdrängen:

(Dirk Niebel [FDP]: Wie unfair!)

Wenn wir jetzt die Mehrwertsteuer erhöhen, alsoProdukte und Dienstleistungen spürbar teurer ma-chen, würde das die Binnennachfrage noch weiterabwürgen. Das kann niemand ernsthaft wollen.Deswegen sind wir fest entschlossen, das zu verhin-dern.

(Beifall bei der FDP)

So sieht es also aus, wenn Sie fest entschlossen sind,etwas zu verhindern: Dann zahlen die Bürger nicht2 Prozentpunkte mehr, sondern gleich 3 Prozentpunkte.

Meine Damen und Herren, die Erhöhung der Mehr-wertsteuer schwächt die Konjunktur. Daran ändert auchdie Einschätzung von Herrn Finanzminister Steinbrücknichts, dass es sich nur um eine „leichte Delle“ handelnwird. Man kann nicht bestreiten, dass das Ganze unterdem Strich Arbeitsplätze kostet und nur eines fördert,nämlich die Schwarzarbeit.

(Beifall bei der FDP)

Sie müssen sich schon die Frage gefallen lassen: Wasist denn eigentlich eine leichte Delle? Sind das 100, sindes 1 000 oder 100 000 verloren gegangene Arbeits-plätze? Wir wissen es heute nicht. Fest steht aber: Sieschwächen unser Land mit einer Steuererhöhung nachder anderen. Und es wird keinen trösten, der seinen Ar-beitsplatz verliert, wenn er vom Bundesfinanzministererklärt bekommt, dies geschehe nur aufgrund einer klei-nen Delle.

(Beifall bei der FDP)

Diese leichte Delle wird für viele Menschen einen her-ben und bitteren Einschnitt bedeuten. Finanzpolitik fin-det nicht im leeren Raum statt. Was wir hier beschließen,hat für die Menschen konkrete Auswirkungen. Das soll-ten wir nicht vergessen.

Es wirkt geradezu grotesk, wenn sich die Bundesre-gierung im Hinblick auf die größte Steuererhöhung inder Geschichte unseres Landes mit einer sensationellniedrigen Nettokreditaufnahme rühmt. Sie greifen denBürgerinnen und Bürgern schamlos in nicht gekanntemAusmaß in die Taschen und wollen dann auch noch einLob für Ihre geringe Nettokreditaufnahme haben. Dasgrenzt an Lächerlichkeit.

(Beifall bei der FDP)

Wenn man bedenkt, dass durch die Mehrwertsteuer-erhöhung um 3 Prozentpunkte die Ausgaben entspre-chend steigen, dann ist die Grenze zum Grotesken weitüberschritten. Hätten Sie die im Haushalt verfolgtenZiele durch Sparanstrengungen erreicht, dann wäre Ih-nen der Respekt in unserem Land und – davon bin ichüberzeugt – auch des gesamten Hauses sicher gewesen.

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Dr. Volker Wissing

(Zuruf von der FDP: Das Geld anderer Leute ausgeben, das können die!)

Aber den Menschen das Geld wegzunehmen und sichdann dafür zu loben, dass die Kreditaufnahme niedrigerausfällt, ist ein starkes Stück.

(Beifall bei der FDP)

Aber wie der Bundesfinanzminister so schön festgestellthat: Man kann sich auch totsparen. Das Finanzministe-rium ist ja auf der Regierungsbank im Augenblick nichtvertreten.

(Martin Zeil [FDP]: Die schämen sich so! Die sind gar nicht gekommen!)

Ich sehe aber auch sonst niemanden, der kurz davorwäre, sich totzusparen. Wenn Sie endlich erkennen wür-den, dass Sparen für den Staat keine Bedrohung dar-stellt, sondern dass Einsparungen – das heißt, nicht mehrAusgaben, sondern weniger – eine Chance für unserLand sind, dann würden Sie vielleicht statt von Totspa-ren von Gesundsparen sprechen und endlich damit an-fangen.

(Beifall bei der FDP)

Die FDP hat die Mehrwertsteuererhöhung von An-fang an abgelehnt und wir fordern Sie heute auf, dieseMaßnahme auszusetzen. Sie schadet der Konjunktur undgefährdet Betriebe und Arbeitsplätze in Deutschland.Genau das haben auch Sie vor den Wahlen verkündet.Jetzt wollen Sie aber nicht mehr daran erinnert werden.

Ich bin im Übrigen schon gespannt, was Sie den Men-schen vor der nächsten Bundestagswahl erzählen wer-den.

(Gabriele Frechen [SPD]: Das sage ich Ihnen dann, wenn es soweit ist!)

Fest steht nur, dass Sie sich nach der nächsten Wahl freifühlen werden, das krasse Gegenteil zu tun.

(Zuruf von der FDP: Sie werden gar nicht mehr antreten können!)

Geld mag vielleicht glücklich machen oder nicht, aberwenn der Finanzminister unter dem beklemmenden Ge-fühl leidet, zu wenig zu haben,

(Dirk Niebel [FDP]: Er wird schon ganz krank sein, sonst wäre er hier!)

dann sollte er ernsthaft sparen, sparen und nochmals spa-ren, bevor er sich am Geld der Bürgerinnen und Bürgerbedient.

(Beifall bei der FDP)

Wir wissen genauso gut wie Sie, dass bei Steuermehr-einnahmen in Höhe von 19,4 Milliarden Euro in diesemJahr und 20,1 Milliarden Euro im nächsten Jahr dieMehrwertsteuererhöhung nicht notwendig ist.

(Beifall bei der FDP)

Sie können auf diese Erhöhung verzichten, ohne sich tot-zusparen. Sie können vor allen Dingen unserem Land ei-nes ersparen, nämlich dass das kleine Pflänzchen des

konjunkturellen Aufschwungs, den wir in den letztenMonaten erlebt haben – es ist wirklich nur ein kleinesPflänzchen –, nicht zertreten wird. Wenn Sie etwas fürArbeitsplätze in diesem Land tun wollen, dann stimmenSie unserem Antrag zu, die Mehrwertsteuererhöhungrückgängig zu machen! Die Menschen in unserem Landwerden es Ihnen danken. Dann können wir die Chance,die sich durch die Belebung der weltweiten Konjunkturzum Teil auch in Deutschland bietet, in großem Maßenutzen. Die FDP steht in diesem Sinne an Ihrer Seite.

(Detlef Dzembritzki [SPD]: Bitte helfen Sieuns nicht! Es ist allein schon schwierig ge-nug!)

– Sie mit Ihren klugen Zwischenrufen! Ich gehe davonaus, dass sich die SPD weigern wird, das zu tun, wofürSie gewählt worden sind. Sie haben den Menschen ge-sagt, Sie seien gegen die Mehrwertsteuererhöhung.

(Beifall bei der FDP)

Sie werden sich heute aller Voraussicht nach weigern,das zu tun, wofür Sie gewählt wurden. Aber wundern Siesich nicht, wenn sich die Menschen in Deutschland dannbeim nächsten Mal weigern, Sie zu wählen.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat das Wort der Kollege Otto Bernhardt für die

Fraktion der CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Otto Bernhardt (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie wis-

sen, dass die Finanzpolitik der großen Koalition

(Zuruf von der FDP: Schlecht ist!)

zwei Ziele gleichzeitig anstrebt: erstens die Stärkung derWachstumskräfte der Wirtschaft und zweitens die nach-haltige Sanierung der öffentlichen Finanzen. Wenn manzwei Ziele gleichzeitig anstrebt, weil beide sehr wichtigsind, dann kann man leider nicht maximieren, sondernnur optimieren.

Mit einem Drittel der Einnahmen aus der geplantenMehrwertsteuererhöhung leisten wir einen Beitrag zurStärkung der Beschäftigung; denn 7 Milliarden Euro– das entspricht etwa den Einnahmen aus einem Mehr-wertsteuerpunkt – sind für uns ein durchlaufender Pos-ten. Diesen Betrag nehmen wir den Mehrwertsteuerzah-lern und geben ihn den sozialversicherungspflichtigBeschäftigten. Hier wird netto gegen netto ausgetauscht.Konjunkturpolitisch können Sie diese 7 Milliarden ver-nachlässigen. Aber mit diesem Betrag leisten wir wie ge-sagt einen Beitrag zur Stärkung der Beschäftigung.Das ist eines unserer Ziele.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die 14 Milliarden Euro aus dem Aufkommen der bei-den anderen Mehrwertsteuerpunkte sind hälftig für dieSanierung der Finanzen der Bundesländer und des Bun-deshaushalts bestimmt. Dies wird dazu führen, dass die

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Otto Bernhardt

öffentliche Hand im nächsten Jahr 14 Milliarden Euroweniger Schulden aufnehmen muss. Das bedeutet selbstbei günstigen Zinssätzen langfristig eine Ersparnis inHöhe von 500 Millionen Euro im Jahr. Wir machen alsoendlich mit dem Schuldenabbau ernst und handeln da-mit im Interesse zukünftiger Generationen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Nun gibt es die beiden berühmten Argumente, die Sieheute wieder gegen eine Mehrwertsteuererhöhung vor-getragen haben. Diese werden durch Wiederholung nichtglaubwürdiger. Das eine Argument lautet: Ihr könntetdoch mehr sparen. – Meine Damen und Herren, was hatdiese große Koalition nicht bereits alles an unpopulärenEntscheidungen zum Subventionsabbau durchgesetzt!Ich erinnere nur an die Abschaffung der Eigenheimzu-lage und die Kürzung der Pendlerpauschale. Beim Spa-ren haben wir mehr gemacht als fast alle vorangegange-nen Regierungen, und das in sehr unpopulärenBereichen. Das hat die große Koalition durchgestanden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wenn Sie 7 Milliarden Euro im Bundeshaushalt einspa-ren wollen, dann müssen Sie an Positionen wie dieRente, das Kindergeld oder die Infrastruktur herangehen.Ich sage sehr deutlich: Dazu sind wir nicht bereit. Mituns, der großen Koalition, wird das mit Sicherheit nichtgeschehen.

(Martin Zeil [FDP]: Sie kürzen lieber die Rente!)

Das zweite Argument gegen eine Mehrwertsteuerer-höhung lautet: Die Steuereinnahmen sprudeln. Wir ma-chen offenbar eine gute Politik und deshalb steigen dieSteuereinnahmen; darauf sind wir stolz. Aber wer dieZahlen kennt, der wird mir zustimmen, wenn ich sage:Wir stehen bei der Sanierung der Staatsfinanzen leidernoch ganz am Anfang. Wir werden den ohnehin viel zuhohen Schuldenberg trotz der sprudelnden Steuereinnah-men in diesem Jahr um 30 Milliarden Euro und trotz derMehrwertsteuererhöhung im nächsten Jahr um 20 Mil-liarden Euro neue Schulden erhöhen. Das eigentlicheZiel der Finanzpolitik muss aber sein – nur so darf manden Maastrichtvertrag und Art. 115 des Grundgesetzesinterpretieren –, dass man in wirtschaftlich „normalen“Jahren gar keine neuen Schulden macht, dass die Netto-neuverschuldung in schlechten Jahren maximal 3 Pro-zent beträgt und dass man in guten Jahren beginnt– wenn man die momentane wirtschaftliche Entwick-lung sieht, dann kommt man zu dem Schluss, dass wiruns in wirtschaftlich guten Jahren befinden –, Schuldenzurückzuzahlen. Wer vor diesem Hintergrund die spru-delnden Steuereinnahmen als Argument gegen die ge-plante Mehrwertsteuererhöhung anführt, der ist entwe-der nicht bereit – das ist bei vielen so – oder nichtwillens, die Zahlen zu verarbeiten.

Auf dem Weg zur Sanierung der Staatsfinanzen sindzwei Bundesländer schon deutlich weiter als wir imBund. Ich kann den Bayern nur wieder Lob zollen. Siehaben in diesem Jahr einen ausgeglichenen Haushalt. Es

ist eine sehr positive Meldung, dass Sachsen offensicht-lich im nächsten Jahr genauso weit sein wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn wir uns in Europa umschauen, dann stellen wirfest, dass inzwischen fünf EU-Länder dabei sind, Schul-den zurückzuzahlen; das sind die skandinavischen Län-der und im nächsten Jahr offensichtlich Spanien. Dasmuss unser Ziel sein.

Ich höre immer wieder den Vorwurf, die Mehrwert-steuererhöhung sei nicht sozial verträglich. Ich sage Ih-nen: Die Mehrwertsteuererhöhung ist auch sozial ver-träglich. Wer die Fakten kennt, der weiß, dasswesentliche Positionen, zum Beispiel Nahrungsmittel,unverändert mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatzvon 7 Prozent belegt werden.

(Zuruf von der FDP: Bis auf Trüffel!)

Das zeigt, dass unsere Politik sozial ist.

Ein weiterer entscheidender Posten, die Mieten, wirdgar nicht mit Mehrwertsteuer belegt. Von daher stelle ichdie These auf, dass zwei Drittel der Ausgaben der vielzitierten Empfänger unterer Einkommen von der Mehr-wertsteuererhöhung überhaupt nicht tangiert werden.

Wenn Sie sich einmal in Europa umsehen, dann wer-den Sie feststellen, dass wir mit 19 Prozent noch in derunteren Hälfte liegen.

(Zuruf von der FDP: Die haben aber ein ande-res Steuersystem!)

Es gibt einige, die weniger haben, aber die Mehrzahl derLänder innerhalb der EU hat eine höhere Mehrwert-steuer, sodass Sie auch unter diesem Gesichtspunkt nichtdavon reden können, dass wir mit überzogenen Positio-nen arbeiten.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die haben aber viel niedrigere Sozial-abgaben!)

Ich sage sehr deutlich: Wem die Sanierung der öffent-lichen Haushalte ein ernstes Anliegen ist – der großenKoalition ist es ein ernstes Anliegen; deshalb haben wirja die vielen unpopulären Entscheidungen getroffen –,

(Zuruf von der FDP: Der muss bei den Ausga-ben sparen!)

der kommt nicht um die Mehrwertsteuererhöhung he-rum.

Interessant ist, dass die Einstellung von Wissenschaft,Wirtschaft und inzwischen auch von weiten Teilen derBevölkerung zur Mehrwertsteuererhöhung eine anderegeworden ist. Es ist richtig, dass zu Beginn mancheswissenschaftliche Institut gesagt hat, es bestehe die Ge-fahr, dass die Konjunktur erschlagen werde. Solche Mel-dungen gab es vor einem Jahr. Lesen Sie heute einmalnach! Das Ifo-Institut schreibt schon in der Überschrift:Der Aufschwung ist inzwischen so robust, dass sich dieNachfrageseite von der Mehrwertsteuererhöhung nichtmehr ablenken lässt. – Gott sei Dank! Das ist Ergebnisunserer Politik.

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Otto Bernhardt

Der Antrag der FDP ist nicht mehr aktuell. Sie müs-sen sich andere Themen einfallen lassen. Das ThemaMehrwertsteuererhöhung ist abgehakt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Zuruf von der FDP: Der isthoch aktuell!)

Wir haben ganz andere Probleme. Ich bin froh, dass dieBevölkerung und insbesondere die wissenschaftlichenInstitute und die Wirtschaft erkannt haben, dass die Sa-nierung der Staatsfinanzen etwas ganz Wichtiges ist. Vordiesem Hintergrund – das wird Sie von der FDP nichtüberraschen – werden wir natürlich Ihren Antrag ableh-nen. Wir freuen uns, dass die Zustimmung zur Mehr-wertsteuererhöhung immer größer wird. Sie sollten sichaktuellere Themen einfallen lassen.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Her-

bert Schui das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der

Zweck der höheren Mehrwertsteuer soll sein, zu ausge-glichenen Haushalten zu kommen. Gegen eine Haus-haltskonsolidierung ist an sich ja gar nichts einzuwen-den, nur das Mittel taugt nichts.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Defizite und die zu niedrigen Steuereinnahmensind im Wesentlichen eine Folge der anhaltenden Sen-kung der Besteuerung von Gewinn- und Vermögens-einkommen. Als grober Anhaltspunkt kann gelten: ImJahre 1960 hat die Steuerbelastung dieser Einkommen inWestdeutschland 20 Prozent betragen. Bis 1980 ist dieseauf 15 Prozent abgefallen. Im darauf folgenden Jahr-zehnt, bis zur deutschen Vereinigung, ist sie auf rund8 Prozent gesunken, und gegenwärtig haben wir geradeeinmal 6 Prozent.

Wie Sie wissen, hat sich das Wachstum des Brutto-inlandprodukts in derselben Periode verringert. An die-sem Trend ändert auch das gegenwärtige Wachstum von2,4 Prozent nichts. Die Investitionskonjunktur wird imkommenden Jahr abflachen; ebenfalls wird sich dasWachstum der Exporte verlangsamen. Wen wollen Sievor diesem Hintergrund noch davon überzeugen, dassweniger Gewinnsteuern zu mehr Wachstum und zu mehrBeschäftigung führen?

Reden Sie sich nicht mit der Globalisierung heraus,die wie eine biblische Plage über uns gekommen sei.Vielmehr ist diese Form der Globalisierung das Ergebnisvon Politik.

(Beifall bei der LINKEN)

Gerechtfertigt haben Sie diese Politik mit dem Ver-sprechen von mehr Wohlstand. Den aber haben wir

nicht. Nachdem nun nichts daraus geworden ist, drehenSie das Argument um. Nun sind es auf einmal fremdeVölkerschaften, die unseren Lebensstandard bedrohen,weil sie billiger arbeiten. Wenn sich die Vorstellung,mehr Lohn besonders für gering Qualifizierte sei wegender Auslandskonkurrenz nicht möglich, endgültig im all-gemeinen Bewusstsein eingefressen hat, dann werdenerste Plakate mit der Losung „Das Ausland ist unser Un-glück“ nicht auf sich warten lassen.

Die höhere Mehrwertsteuer wird die wirtschaftlicheLage der großen Mehrheit der Bevölkerung weiter ver-schlechtern. Der Wachstumsverlust wird je nach Schät-zung 0,7 bis 1,0 Prozent betragen. Dieser Wachstums-verlust als Folge der Mehrwertsteuererhöhung wird solange anhalten, wie aus Gründen der Konsolidierung desHaushalts die projektierten Staatsausgaben langsameransteigen als das geschätzte Wirtschaftswachstum. Be-kanntlich sollen die Ausgaben des Bundes laut Finanz-planung bis 2010 im Durchschnitt nominal um rund1,3 Prozent jährlich wachsen, das Bruttoinlandsproduktdagegen um durchschnittlich 2,5 Prozent. Für diesenganzen Zeitraum also entzieht die hohe Mehrwertsteueranhaltend dem privaten Sektor Kaufkraft, ohne dass derStaat entsprechend mehr ausgeben würde.

Gibt es eine Alternative für die Konsolidierung?Ohne Zweifel ja. Die Gewinn- und Vermögenseinkom-men, die hohen Vermögen und Erbschaften müssenwieder stärker besteuert werden. Damit es sich einprägt:Allein die Steuerbelastung der Gewinn- und Vermögens-einkommen ist seit 1960 – Westdeutschland – von20 Prozent auf jetzt – Gesamtdeutschland – 6 Prozentgesunken.

(Zuruf von der Linken: Hört! Hört!)

Würde sich die Koalition entschließen können, diesenSteuersatz auch nur etwas anzuheben, dann gäbe es ge-nug Staatseinnahmen, um die Kreditaufnahme zu min-dern.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Volker Wissing[FDP]: Und noch mehr Arbeitslose, Herr Kol-lege!)

– Darauf kommen wir gleich. – Im Jahr 2005 beträgt dasUnternehmens- und Vermögenseinkommen vor Steuern555 Milliarden Euro, 2002 waren es 452 MilliardenEuro; in kurzer Zeit eine Steigerung um 100 MilliardenEuro. Jeder Prozentpunkt mehr Steuern auf dieses Ein-kommen bringt 5,5 Milliarden Euro. Das ist das Alpha-bet, nach dem soziale Gerechtigkeit und Steuergerech-tigkeit buchstabiert wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Glauben Sie denn wirklich, dass Unternehmen mas-senhaft aus Deutschland flüchten, wenn das Unterneh-mens- und Vermögenseinkommen um zusätzliche 4 Pro-zentpunkte – das wären 22 Milliarden Euro – besteuertwürde? Beachten Sie das Beispiel Schweden, das gerneauch von Ihnen zitiert wird. Dort beträgt die Staatsquote57,1 Prozent, in Deutschland dagegen sind es 45,7 Pro-zent. Die schwedische Wirtschaft wächst heuer um real4 Prozent, die deutsche um 2,4 Prozent. Im Globalisie-

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Dr. Herbert Schui

rungsindex, den „Foreign Policy“ in seiner Dezember-ausgabe erneut ausgewiesen hat, belegt Schweden denRang 19, Deutschland dagegen nur den Rang 41. Schwe-den ist also international viel mehr eingebunden alsDeutschland. Sein höheres Wachstum und seine niedri-gere Arbeitslosigkeit stammen nicht von niedrigerenLöhnen und Gewinnsteuern und nicht von einer geringe-ren Staatsquote. Wenn aber Schweden noch auf derLandkarte ist und trotz seiner hohen Einbindung in dieGlobalisierung ökonomisch die besseren Erfolge hat,warum sollen wir in Deutschland nicht dasselbe wagen?

(Beifall bei der LINKEN)

Wandern die Unternehmen einfach ab, wenn sie wie-der höhere Steuern zahlen müssen? FinanzministerSteinbrück behauptet das in einem „Spiegel“-Interview.Ich will mich gerne auf Ihre Überlegungen einlassen.Die höhere Mehrwertsteuer kostet ein Wachstum von0,7 bis 1 Prozent. Welcher Wachstumsverlust wäre denntatsächlich durch Abwanderung von Unternehmeneingetreten, wenn Ihr theoretischer Ansatz überhauptrichtig wäre? Mehr oder weniger als bei einer höherenMehrwertsteuer? Haben Sie das je durchgerechnet, be-vor Sie darangegangen sind, die Mehrwertsteuer zu er-höhen?

(Lydia Westrich [SPD]: Ja, klar! – Zuruf von der FDP: Natürlich nicht!)

Selbst wenn der Verlust an Wachstum und Arbeitsplät-zen genauso groß wäre – wenigstens wäre das verfüg-bare Realeinkommen der Lohnbezieher nicht um die Be-lastung durch die Mehrwertsteuer gesenkt worden.

Dies ist umso fataler, als beispielsweise die Einkom-men der Arbeitnehmerhaushalte von 1991 bis 2005 realum 10 Prozent gesunken sind. Müssen eigentlich immerdie Arbeitnehmer zahlen, wenn die Staatshaushalte kon-solidiert werden?

(Beifall bei der LINKEN)

Oder haben Sie sich schon einmal durch den Kopf gehenlassen, dass das vielleicht auch die Aufgabe vonGewinn- und Vermögenseinkommensbeziehern seinmüsste?

(Beifall bei der LINKEN)

Es bleibt nur ein vernünftiger Weg: Die Mehrwert-steuererhöhung ist zurückzunehmen. In diesem Punkthat die FDP Recht. Allerdings darf der Arbeitsmarktnicht weiter dereguliert und der Unternehmeranteil ander Finanzierung der sozialen Sicherheit nicht weiter ab-gesenkt werden. Dieser Vorschlag der FDP ist abzuleh-nen.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.

Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Ja, ich bin sofort so weit. – Stattdessen sind die Unter-

nehmens- und Vermögenseinkommen wieder höher zubesteuern, um den Staatshaushalt auszugleichen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Volker Wissing[FDP]: Wie Sie mit niedrigeren Einnahmenden Staatshaushalt ausgleichen wollen, HerrKollege, weiß ich nicht!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Lydia We-

strich, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Lydia Westrich (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Obwohl Sie von der FDP die derzeitige Wirtschaftslagein Ihrem Antrag so positiv geschildert haben, Herr Wis-sing, und mit Ihrem Eingeständnis natürlich auch die Po-litik unserer Koalition loben,

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Nein, überhaupt nicht!)

dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben. Herr Bern-hardt hat das schon ausgeführt. Die Finanzpolitik in un-serem Land steht immer noch vor den größten Heraus-forderungen der letzten Jahrzehnte.

(Frank Schäffler [FDP]: Das stimmt! Weil Sie ein Jahr nichts gemacht haben!)

Wir als Volksvertreter müssen angesichts des sichvollziehenden demografischen Wandels die Leistungs-fähigkeit des Staates und der Volkswirtschaft sichern.Das ist unsere Pflicht. Immer mehr alte Menschen wer-den immer weniger jungen Menschen gegenüberstehen.Das bedeutet, dass wir gemeinsam – das ist eine vielspannendere Aufgabe, als einen solchen Antrag zuschreiben – entscheiden müssen, wie und in welchemUmfang wir uns staatliche Tätigkeit in Zukunft nochleisten können und wollen. Das ist eine ganz wichtigeFrage für unser Volk.

Das Ziel der damaligen rot-grünen Bundesregierungwie auch der jetzigen großen Koalition ist es, auch fürdie künftigen Generationen einigermaßen Wohlstandund einen finanziell leistungsfähigen Staat zu sichern,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Georg Fahrenschon [CDU/CSU])

der auch ihren Kindern und ihren Enkeln gute Lebens-grundlagen bescheren wird.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Dr. Wissing? – Bitte.

Dr. Volker Wissing (FDP): Frau Kollegin Westrich, sind Sie bereit, zur Kenntnis

zu nehmen, dass Sie das Ziel, das diese Regierung mitder Mehrwertsteuererhöhung verfolgt hat, nämlich etwa19,4 Milliarden Euro mehr einzunehmen, durch denkonjunkturellen Aufschwung bereits ohne Mehrwert-steuererhöhung erreicht haben und damit die Mehrwert-steuererhöhung nach Ihrer eigenen Logik überflüssig ist?Sind Sie ebenfalls bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass

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Dr. Volker Wissing

ich in meinen Ausführungen vorhin gesagt habe, dassdie leichte konjunkturelle Belebung in DeutschlandFolge eines weltweiten konjunkturellen Aufschwungsist? Sind Sie weiter bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dassDeutschland von diesem weltweiten konjunkturellenAufschwung unterdurchschnittlich profitiert und es in-folgedessen nicht logisch ist, die Belebung den Erfolgenund der Arbeit der Bundesregierung zuzuschreiben?

(Zuruf von der CDU/CSU: Nein, nein, nein! – Lachen bei der CDU/CSU)

Lydia Westrich (SPD): Das ist ganz einfach: Unsere Reformen haben mit

dazu beigetragen, dass die Wirtschaft in Deutschlandzurzeit so floriert

(Frank Schäffler [FDP]: Drittschlechteste in Europa!)

und dass die Zuversicht überall wächst. Ich denke, dassunsere Arbeit die richtigen Grundlagen dafür schaffenwird, dass wir in Deutschland an der prosperierendenWirtschaft in Europa und der Welt teilhaben können. –Jetzt habe ich Ihre letzte Frage vergessen; wahrschein-lich waren es zu viele.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Ich glaube, Sie hatten die anderen auch vergessen!)

– Herr Kollege, wenn Sie mir weiter zuhören, werdenSie das, was Sie wissen wollen, noch erfahren. Sie müs-sen nur jeden Tag die Zeitung aufschlagen, um etwasganz anderes zu lesen als das, was Sie hier dargestellthaben. Wahrscheinlich sind die Verfasser dieser Zei-tungsartikel mindestens genauso schlau, wie die FDPmeint, beim Schreiben ihres Antrags gewesen zu sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie haben in Ihrem Antrag die Frage nicht beantwor-tet, wie Sie die Lebensgrundlagen für unsere Kinder undEnkel sichern wollen.

(Frank Schäffler [FDP]: Weniger Steuern!)

Um diese Lebensgrundlagen zu sichern, haben wir inden letzten Jahren eine Reihe von Reformen eingeleitetund durchgeführt, die jetzt ihre Wirkung zeigen. Andiese Reformen, die Sie in Ihrem Antrag beschrieben ha-ben, haben Sie sich in Ihrer langen Regierungszeit nichtansatzweise herangetraut. Das muss man einmal ganzdeutlich sagen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eck-ardt)

Das Ergebnis unserer Reformen ist: Die Bundesagen-tur für Arbeit zahlt Geld zurück, anstatt abzukassieren.Die Kommunen können wieder durchatmen. Für uns So-zialdemokraten – für die FDP vielleicht weniger – istganz wichtig, dass die Zahl der sozialversicherungs-pflichtigen Beschäftigungsverhältnisse steigt. Die Steu-erquote wird selbst mit der Mehrwertsteuererhöhung un-ter dem Durchschnitt der europäischen Staaten liegen.

Das Wirtschaftswachstum ist robust. Wir werden dieMaastrichtkriterien einhalten. Das haben Sie nicht ge-schafft.

Herr Kollege Wissing, auch Sie sind schon längerMitglied des Finanzausschusses. Ich weiß nicht mehr ge-nau, wie oft wir im Finanzausschuss über die Einhal-tung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes diskutierthaben. Es ist die vornehme Aufgabe der Opposition, denFinger in die Wunde zu legen, wenn sie der Meinung ist,es laufe irgendetwas falsch. Aber angesichts der vielenDiskussionen, die wir geführt haben, könnte man von Ih-nen ein bisschen mehr Stringenz mit Blick auf die zu-künftige Politik erwarten.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. OttoBernhardt [CDU/CSU] – Frank Schäffler[FDP]: Was hat das mit der Mehrwertsteuer-erhöhung zu tun?)

Entweder ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt einwichtiges Instrument für die kontinuierliche Weiterent-wicklung unseres Landes, für eine harte Währung undfür eine prosperierende Wirtschaft – dann müssen wir al-les dafür tun, die Einhaltung der in ihm festgelegten Be-dingungen nachhaltig zu sichern, wie wir das jetzt mitder Erhöhung der Mehrwertsteuer tun – oder wir hängenwie Sie in Ihrem Antrag unser Fähnchen nach demWind, egal von welcher Seite er auch weht.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Und das sagt die SPD!)

Was ich von dem Verantwortungsbewusstsein solcherPolitiker halte, brauche ich wirklich nicht auszuführen.

Ihr Antrag ist – das hat Herr Bernhardt schon gesagt –vollkommen unnötig; er geht von falschen Prämissenaus. Hätten Sie schon im Mai die Prognosen des Ifo-In-stituts und die Aussagen der EU-Kommission aufmerk-sam gelesen, dann hätten Sie sich nicht eine solcheMühe mit diesem Antrag machen müssen. Denn die EU-Kommission hat schon im Mai gesagt, dass diese Steuer-erhöhung dazu beitragen wird, dass Deutschland denStabilitäts- und Wachstumspakt einhalten kann, ohne dieKonjunktur abzuwürgen.

Der Generaldirektor für Wirtschaft und Währung,Klaus Regling, hat das damit begründet, dass die Haus-haltskonsolidierung – entgegen Ihren Aussagen – aus-schließlich auf sinkende Staatsausgaben zurückginge,während die Staatseinnahmen – die Mehrwertsteuererhö-hung schon eingerechnet – praktisch konstant blieben.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ulrich zulassen?

Lydia Westrich (SPD): Ja.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön.

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Alexander Ulrich (DIE LINKE): Liebe Kollegin Westrich, entweder ich oder Sie sind

im falschen Film. Denn Sie sagen heute das Gegenteilvon dem, was Sie noch vor 14 Monaten gesagt haben.

(Frank Schäffler [FDP]: So ist es!)

Ich möchte Sie daher fragen: Nehmen Sie zur Kennt-nis, dass Sie noch im Wahlkampf gegen die Merkel-Steuer zu Felde gezogen sind? Nehmen Sie zur Kenntnis,dass Sie persönlich damals genau die Gründe angeführthaben, die heute die Opposition anbringt? Nehmen Siezur Kenntnis, dass wir zwar Exportweltmeister sind, dassaber unsere Wirtschaft aufgrund der schwachen Binnen-nachfrage Probleme hat? Glauben Sie nicht auch, dassdie Mehrwertsteuererhöhung kontraproduktiv ist?Glauben Sie nicht auch, dass Sie ein bisschen Wahlbe-trug machen, wenn Sie jetzt sagen, dass die Mehrwert-steuererhöhung richtig ist?

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: „Ein bisschen“ ist gut!)

Lydia Westrich (SPD): Herr Kollege Ulrich, obwohl wir benachbarte Wahl-

kreise haben, haben wir keinen gemeinsamen Wahl-kampf gemacht. Für keinen von uns ist also erkennbar,was der jeweils andere im Wahlkampf gemacht hat.

Ich gebe zu, dass ich mich im Wahlkampf gegen dieErhöhung der Mehrwertsteuer eingesetzt habe. Ichbin aber der Meinung, dass die Stabilität unserer Finan-zen Vorrang haben muss und dass die Mehrwertsteuerer-höhung keineswegs bedeutet, dass es eine Delle bei derKonjunktur geben wird. Vielmehr besagen alle Progno-sen, dass unsere Konjunktur auch im nächsten Jahr gutlaufen wird und dass es eine Steigerung bei den Löhnengibt. Damit wird die Mehrwertsteuererhöhung, zumalder ermäßigte Steuersatz auf Lebensmittel erhaltenbleibt, erträglich sein.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Für die Renter? Für die Familien?)

– Ja, dies gilt auch für Rentner und Familien.

Wichtig ist – das muss auch die Linke lernen –, dassman irgendwann einmal damit beginnt, Schulden, dieman in Zeiten aufgehäuft hat, in denen dies notwendigwar, zurückzuzahlen. Die EU-Kommission hat ausge-rechnet, dass wir die Staatsausgaben zurückgeführt ha-ben und dass die Staatseinnahmen im europäischen Ver-gleich auf einem niedrigen Niveau bleiben werden. DieSteuer- und Abgabenquote sei in den letzten fünf Jahren,das heißt während der rot-grünen Regierung und der gro-ßen Koalition, bezogen auf das BIP, um 3,5 Prozent ge-sunken und werde 2007 trotz Mehrwertsteuererhöhungnicht höher sein, während die Ausgabenquote weiterhinsinken werde. Vor diesem Hintergrund – so sagt die EU-Kommission – sei die Mehrwertsteuererhöhung ökono-misch vertretbar.

(Frank Schäffler [FDP]: Da sind auch zu we-nige Liberale drin!)

Außerdem führt sie – das ist eine alte Forderung von Ih-nen – zu einer Verlagerung von direkten zu indirektenSteuern und zu einer Senkung der Lohnnebenkosten.

Das, was die EU-Kommission als Tatsache beschrie-ben hat, nämlich die Senkung der Staatsausgaben durchden Abbau von Subventionen und durch hohe Sparsam-keit sowie die Senkung der Lohnnebenkosten zur Entlas-tung der Arbeitsplätze, waren immer auch Ihre Forde-rungen. Das alles haben wir während der rot-grünenRegierungszeit und in der großen Koalition geleistet, al-lerdings ohne Ihre Mithilfe, da Sie sich jeder – wirklichjeder – schwierigen Reform verweigert haben. Sie kom-men mir so vor, als hinkten Sie der Zeit hinterher. Siefordern Reformen, die teilweise schon erledigt sind odergegen die Sie – das ist schon jetzt absehbar – kämpfenwerden, statt sie mitzutragen. Was sollen wir uns aberdarüber aufregen, da Sie sowieso nicht unser Partnersein werden!

Ich will, dass dieser Staat handlungsfähig bleibt, da-mit wir die zukünftigen Risiken auffangen können.Wenn wir jetzt auch mit der Mehrwertsteuererhöhungdafür sorgen, dass der Schuldenberg, den Sie währendIhrer Regierungszeit mit angehäuft haben, endlich Stückfür Stück abgebaut wird, dann gewinnen wir Vertrauenzurück. Wir bieten dem Staat eine gute Basis für die Zu-kunft.

(Frank Schäffler [FDP]: Zu der SPD kann mangar kein Vertrauen mehr haben! Das Vertrauenist zerstört!)

Die Bürger wollen einen starken Staat, der jetzt und inZukunft den Anspruch hat, gleichmäßige Lebensbedin-gungen für seine Einwohner zu schaffen und zu sichern.Das ist eine Aufgabe, der sich die große Koalition vollstellt. Ihr Vertrauen, dass das der freie Markt allein durchnoch tiefer greifende Deregulierung besser schafft, wirdvon den Bürgern kaum geteilt, zumal unsere Managerzurzeit nicht gerade durch ihre Vorbildfunktion glänzen.

(Frank Schäffler [FDP]: Ihr Vorsitzender aber auch nicht!)

Wir, die große Koalition, haben gerade heute wiedereine der für die Zukunft notwendigen Reformen auf denWeg gebracht. Auch die Unternehmensteuerreform istauf einem sehr guten Weg. Das heißt, Sie fordern undwir tun es bzw. haben es schon lange getan. Sie machenes sich sehr leicht und betrachten bei Ihrer jetzigen Art,Politik zu machen, nur den Tag.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Und Sie machenheute etwas anderes, als Sie gestern verspro-chen haben!)

Das gilt auch für die Linke.

Die große Koalition kann die 1 500 Milliarden EuroSchulden nicht verdrängen, an deren Anhäufung Sie inaußerordentlichem Maße mitgewirkt haben. Den Glau-ben, dass sich Schulden in Luft auflösen, teilen wohl nurweltfremde Illusionisten. Das sind Sie, denke ich, nicht.Ich frage Sie, wann Sie den Zeitpunkt für gekommenhalten, die Konsolidierung der Staatsfinanzen endlichin Angriff zu nehmen.

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Lydia Westrich

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Haben Sie imWahlkampf das Flugblatt gegen die Mehrwert-steuererhöhung eigentlich auch verteilt?)

In einem ungebrochenen Aufwärtstrend, in einer robus-ten Konjunkturlage oder dann, wenn die nächsten Risi-ken auf uns zu kommen und wir Schuldenaufbau stattSchuldenabbau betreiben müssen? Sie müssten dochwissen, wie es Ihnen ergangen ist.

Daraus schließe ich – ich wiederhole es –, dass Ihr In-teresse an den Zukunftschancen unserer Kinder traurigunterentwickelt ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich weiß, dass Sie eigene Sparvorschläge unterbreitethaben.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Die Sie alle abge-lehnt haben!)

Die Vorschläge der Damen und Herren von der Linkenhinsichtlich anderer Steuererhöhungen haben wir jetztwieder gehört. Sie machen sich erfolglose Illusionen,was Sie damit alles finanzieren können. Sie müsstenvielleicht einfach einmal mit Ihrem Finanzbeamten da-rüber sprechen, wie das im Endeffekt ausgeht.

Aber wenn Sie von der FDP glauben, dass der sofor-tige Wegfall der Steinkohlesubvention die Zukunft derKinder in den betroffenen Regionen nachhaltig verbes-sern wird,

(Frank Schäffler [FDP]: Das ist besser als der Restbergbau!)

dann sind Sie wirklich auf dem Holzweg. Dazu kommtnoch: Ein verschuldeter Staat – weil Sie es uns nicht er-lauben, Schulden abzubauen – kann bei der Umstruktu-rierung nicht helfen. Die Forderung nach Wegfall derSteinkohlesubvention ist einfach ein Mantra, das Sieständig vortragen, das Sie aber meiner Ansicht nach ei-gentlich kaum ernsthaft meinen.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber das hilft, um Schulden abzubauen!)

Ich verstehe nicht, wie Sie in Ihrem Antrag behauptenkönnen, dass Sie mit dem Verzicht auf die Mehrwert-steuererhöhung zu einer Lösung der Lohnkostenproble-matik beitragen können. Arbeit gibt es in Deutschland jasicher genug. Die Menschen wollen aber, unbescheidenwie sie sind, von ihrer Arbeit leben können.

(Frank Schäffler [FDP]: Bei einer höheren Mehr-wertsteuer wird das aber schwieriger!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Westrich, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Lydia Westrich (SPD): Ja. – Lohnkosten sind die Summe aller Löhne, die Ar-

beitgeber an Arbeitnehmer zahlen. Was bedeutet dasWort „Problematik“ im Zusammenhang mit Lohnkos-ten? Die Löhne haben sich die Arbeitnehmer doch ver-dient. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie meinen,

dass dann, wenn wir die Mehrwertsteuererhöhung zu-rücknehmen, im Gegenzug die Löhne gekürzt werdenkönnten. Oder haben Sie Angst, dass die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer –

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, kommen Sie jetzt bitte zum Ende.

Lydia Westrich (SPD): – auch einen Anteil an der guten Konjunkturentwick-

lung haben wollen? Ich finde, Ihr Antrag ist total veraltetund ist sehr merkwürdig. Das müssten Sie jeden Tag se-hen, wenn Sie die Zeitungen aufschlagen und die sichüberschlagenden Prognosen lesen.

(Frank Schäffler [FDP]: Niedrigstes Wirt-schaftswachstum in Europa!)

Ziehen Sie diesen Antrag lieber zurück, –

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Westrich!

Lydia Westrich (SPD): –, damit Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz in den

Augen der Öffentlichkeit nicht weiter leidet.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat das Wort Christine Scheel für Bündnis 90/

Die Grünen.

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Dr. Wissing, ich kann es Ihnen nicht ersparen:Wenn Sie ehrlich und nicht so scheinheilig wären, wiedas in Ihrem Redebeitrag wieder zum Ausdruck kam,müssten Sie zugeben, dass die Länder – darauf hat HerrBernhardt zu Recht hingewiesen – von dieser Mehrwert-steuererhöhung mit 7 Milliarden Euro profitieren, dassdie Regierungen, an denen die FDP beteiligt ist, bereitsim Frühjahr dieses Jahres die Einnahmen aus dieserMehrwertsteuererhöhung in ihren Haushaltsberatungenberücksichtigt und im Bundesrat zugestimmt haben.

(Frank Schäffler [FDP]: Diese Situation ken-nen Sie ja nicht mehr! – Gegenruf der Abg.Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Das ist leider wahr! Wir sind nicht mehr anden Regierungen beteiligt!)

Sie können diese Forderung nach Verzicht auf dieMehrwertsteuererhöhung von Ihrer Homepage nehmen.Denn das Jahr ist ja fast vorbei.

Wenn man das realistisch betrachtet, glaube ich, dassdie Bürgerinnen und Bürger weder daran glauben noches erwarten, dass die große Koalition diese Mehrwert-steuererhöhung zurücknimmt oder kurzfristig aufgibt.Die Bürger verhalten sich in dieser Beziehung sehr re-alistisch. Sie ziehen Anschaffungen teilweise einfachvor; wir sehen, dass das Weihnachtsgeschäft brummt.

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Christine Scheel

Die Konjunktur läuft. Es ist richtig, dass man imFrühjahr mit Blick auf diese Mehrwertsteuererhöhunggrößere Befürchtungen vonseiten der Wirtschaftsver-bände und der Institute gehabt hat, dass man aber jetztsagt, dass die Mehrwertsteuererhöhung keinen erheb-lichen Konjunktureinbruch bewirken wird. Es werdezwar eine Delle geben; danach setze aber eine Versteti-gung ein.

Dennoch ist es natürlich so – da gebe ich Ihnen wie-der Recht –, dass die Mehrwertsteuererhöhung für dieBezieher kleinerer Einkommen und viele Konsumentenein Problem darstellt. Denn die Leute haben ja ab demnächsten Jahr nicht nur die Mehrwertsteuererhöhung mit3 Prozentpunkten zu tragen; vielmehr steigt auch dieVersicherungsteuer – sie ist damit gekoppelt – um3 Prozentpunkte. Dazu kommt, dass bis zum20. Kilometer die Pendlerpauschale entfällt, der Sparer-freibetrag halbiert wird und das Benzin wohl teurer wird,weil der durch die Mehrwertsteuererhöhung und anderesteuerliche Veränderungen erhöhte Mineralölsteueranteilzu einer Anhebung von ungefähr 5 Cent führt. Dies wirddas Problem des Tanktourismus, das wir beispielsweisein Bayern sehr stark haben, verschärfen. Diese Problemedarf man nicht unter den Tisch kehren; vielmehr mussman sie benennen.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Die Altlasten vonRot-Grün, die die Bürger noch zu tragen ha-ben, dürfen Sie nicht vergessen!)

Es ist schade – das muss ich wirklich sagen –, dassdie große Koalition, wenn sie schon eine Mehrwertsteu-ererhöhung macht, die Chance nicht genutzt hat, dieSozialversicherungsbeiträge nachhaltig unter 40 Pro-zent zu senken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben Vorschläge dazu unterbreitet. Es ist schade,dass Sie das nicht gemacht haben; denn das hätte die Be-schäftigungschancen arbeitsloser Menschen in diesemLand um einiges verbessert. Wir hätten es richtig gefun-den, wenn man strukturell zielgenauer vorgegangenwäre.

Die Kollegin Thea Dückert hat in diesem Zusammen-hang das so genannte Progressivmodell entwickelt. Manhätte dieses Modell mit der Erhöhung finanzieren kön-nen. Gerade für Menschen mit einem Einkommen bis2 000 Euro hätte man die Sozialversicherungsbeiträgeauf hervorragende Art und Weise senken und damitgleichzeitig für die Arbeitgeber Anreize setzen können,insbesondere im unteren Lohnbereich mehr Menscheneinzustellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das wäre der richtige Weg gewesen. Sie sind ihn leidernicht gegangen. Vielleicht kommt in diesem Jahr ja nochetwas Positives, was in diese Richtung zielt.

Die Konjunktur brummt

(Frank Schäffler [FDP]: Wenn das schon brummen ist!)

– ich sage das bewusst an dieser Stelle –, weil in den ver-gangenen Jahren, noch unter Mitwirkung der Grünen,Reformen gemacht worden sind, die jetzt zum Tragenkommen. Sie tragen dazu bei, dass unsere konjunkturelleEntwicklung besser ist. Die Konjunktur brummt, weilsich die Lohnstückkosten im Vergleich zum Auslandgünstig entwickelt haben. Die Terms of Trade haben sichletztendlich zugunsten von Deutschland entwickelt.Vielleicht hat die PDS die aktuellen Berichte noch nichtgesehen. Bei der Argumentation der PDS bekommt manmanchmal das Gefühl, sie hätte noch immer die Berichtevon vor zehn Jahren im Kopf.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir sehen die Notwendigkeit für weitere Struktur-reformen in den sozialen Sicherungssystemen. Wir ha-ben jetzt zwar einen Konjunkturaufschwung. Wenn manvonseiten des Staates jetzt aber nicht vernünftige Rah-menbedingungen setzt, besteht die Gefahr, dass es sehrleicht wieder zu einem Abschwung kommt. In diesemZusammenhang sehen wir deswegen die Notwendigkeit,vernünftige Reformen durchzuführen.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Es geht doch jetzt um die Mehrwertsteuer!)

Diese Reform ist aber nicht vernünftig. Sie ist einTorso und wird Chaos verursachen. Die Pflegeversiche-rungsreform ist nicht in Sicht und die Arbeitsmarkt-reform ist strittig. Die Umstellung auf eine stärkere Steu-erfinanzierung ist in den Bereichen, wo sie dringendnotwendig wäre, in weiter Ferne.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin Scheel, der Kollege Schui würde gerne

eine Zwischenfrage stellen.

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bitte schön.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte.

Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Sind Sie bereit, die folgende, sehr aktuelle Informa-

tion zur Kenntnis zu nehmen: Um die drohende Infla-tionsgefahr zu bändigen, steigert die US-Zentralbankden Zins. Der Zweck ist, das Wachstum etwas zu dros-seln, damit man den Inflationsgefahren entgeht. Daswird zur Folge haben, dass das Volumen der deutschenExporte absinkt, weil die Konjunkturlokomotive USAebenfalls ihre Fahrt verlangsamen wird. Sind Sie bereit,das zu würdigen und daraus den Schluss zu ziehen, dassuns eine Verbesserung der Terms of Trade zugunsten vonDeutschland nicht weiterhelfen wird, wenn das Wachs-tum unserer Handelspartner nachlässt?

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bin bereit, das zu würdigen. Sie haben mich nach

der Weltmarktsituation gefragt und Vergleiche mit demDollar angestellt. Dazu will ich sagen: Die Bedeutung

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Christine Scheel

des Dollars für unseren Wirtschaftsraum ist bei weitemnicht mehr so groß, wie es beispielsweise vor zehn oder20 Jahren der Fall war, weil sich unsere Wirtschaftsbe-ziehungen zu anderen Ländern verändert haben. Die da-mit verbundenen Risiken wirken sich auf uns, was denHandel anbelangt, bei weitem nicht mehr so stark aus,wie es vor vielen Jahren der Fall war.

Da Sie so schön stehen, gebe ich Ihnen noch eine an-dere Antwort. Sie haben vorhin die konjunkturelle Situa-tion in Schweden angesprochen.

(Ute Kumpf [SPD]: Das hat er gar nicht ge-fragt! Sie nutzt einfach die Zeit!)

Dazu möchte ich Ihnen klar sagen: In Schweden finan-zieren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dashohe Steueraufkommen. Die Kapitaleinkünfte werdenaufgrund der Tatsache, dass Kapital sehr flüchtig ist, wasdie Schweden zu Recht erkannt haben, mit einer sehr ge-ringen Abgeltungsteuer bedacht.

Ich finde, man kann nicht immer bei bestimmten Län-dern das herausziehen, was einem gefällt, und alles an-dere, was dort vonstatten geht, nicht zur Kenntnis neh-men.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie müssen, wenn Sie schon einen Vergleich mit demskandinavischen Raum anstellen, auch die andere Seiteder Medaille sehen und nicht immer nur das, was Ihnenpasst.

(Dr. Herbert Schui [DIE LINKE]: Was ichjetzt sagen will, kann ich leider nicht in einerFrage formulieren!)

– Ja, das kann ich mir vorstellen.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich wollte noch einmal kurz auf das Stimmenchaos inder großen Koalition eingehen. Wir sehen: Wenn es umSteuererhöhungen geht, ist sich die große Koalition sehrschnell einig. Wenn es darum geht, strukturelle Verände-rungen vorzunehmen, kommen Sie nur millimeterweisevoran, wenn Sie nicht sogar ein Stück zurückfallen.

Wenn man sich die wirtschaftliche Entwicklung an-sieht, erkennt man, dass sie nicht wegen, sondern trotzder großen Koalition so gut ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Das muss man in diesem Kontext deutlich sagen. TrotzIhrer verkorksten Politik haben Sie der Wirtschaft zumGlück nicht geschadet. Diese Perspektive sollte man zurKenntnis nehmen.

Ich finde, dass die Diskussion, die über die Beteili-gung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnenam Produktivkapital geführt wird, bei den Tarifpar-teien anzusiedeln ist.

(Frank Schäffler [FDP]: Bei den Unternehmen!)

Politik kann Rahmenbedingungen setzen. Sie kann auchvieles andere tun. Aber generell ist es so, dass Sie sichThemen zu Eigen machen, die Sie gar nicht unbedingtauf der politischen Ebene zu lösen haben, sondern die ananderer Stelle gelöst werden müssen. Über sie wird ananderer Stelle diskutiert und dort werden sie angegan-gen.

Letztendlich kann man sagen, dass wir Grüne sehrgute Vorschläge gemacht haben zur Haushaltskonsoli-dierung, zum Abbau der Neuverschuldung und zu Ein-sparungen im Haushalt. Hier sitzt Frau Hajduk, die diegroße Koalition mit 350 Anträgen im Haushaltsaus-schuss malträtiert – das ist positiv gemeint – und Vor-schläge gemacht hat. Wir haben zu den sozialen Siche-rungssystemen Vorschläge gemacht.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Stimmen Sie dem Antrag zu?)

Wir hätten auf die Mehrwertsteuererhöhung verzichtenkönnen. Aber wenn man sie schon macht, dann sollteman die Mittel sinnvoll verwenden und nicht so, dass sieversacken.

(Frank Schäffler [FDP]: Was machen die Grünen?)

Wir befürchten, dass das der Fall sein wird.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Georg Fahrenschon hat als nächster das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Lieber Kollege Wissing, Sie erlebengerade das Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn manin der letzten Sitzungswoche vor Weihnachten nochschnell einen Schaufensterantrag stellt. Im Ergebnisspringt Ihnen nur noch Die Linke bei, allerdings garniertmit der für Sie mit Sicherheit zielführenden Forderungzur Erhöhung der Erbschaftsteuer und zur Wiedereinfüh-rung der Vermögensteuer. Ich gratuliere Ihnen zu diesemstrategischen Zug.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Man kann sich die Mühe machen, nach besonderenKronzeugen zu suchen. Ich habe einen gefunden. Ich binstolz darauf, das Konzept eines ehemaligen Mitbürgersmeines Wahlkreises, des Landkreises München, anzu-führen; er ist aktiver Politiker. Er schreibt, dass sich dieHaushalte von Bund und Ländern in einem desolatenZustand befinden:

Die Haushalte sind zu konsolidieren und die Schul-denberge abzubauen.

Er schreibt weiter:

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Georg Fahrenschon

Um diese Ziele zu erreichen, kann unter folgendenrestriktiven Bedingungen eine Mehrwertsteuererhö-hung herangezogen werden: …

Ich fasse die Bedingungen wie folgt zusammen: Ers-tens muss es eine Unternehmensteuerreform geben.Zweitens muss es Subventionskürzungen und Sparmaß-nahmen geben. Drittens müssen Steuerbegünstigungenreduziert werden.

All diese Punkte hat die große Koalition abgearbei-tet. Die Eckpunkte einer Unternehmensteuerreform, dieauf die Bedürfnisse eines internationalen Wettbewerbsder Steuersysteme eingehen, liegen vor und werden bisMitte 2007 in ein Gesetz gegossen.

(Frank Schäffler [FDP]: Warten wir ab!)

Wir haben konsequent den Abbau von Subventionenund Steuervergünstigungen betrieben, sowohl im Bun-deshaushalt 2006 als auch im Bundeshaushalt 2007. Be-reits zum 1. Januar 2006 trat das Gesetz zur Abschaffungder Eigenheimzulage in Kraft. Ebenfalls zum 1. Januar2006 trat darüber hinaus das Gesetz zur Beschränkungder Verlustverrechnung im Zusammenhang mit Steuer-stundungsmodellen in Kraft.

Außerdem trat zum 1. Januar 2006 das Gesetz zumEinstieg in ein steuerliches Sofortprogramm in Kraft,mit dem eine ganze Reihe weiterer Ausnahmetatbe-stände abgeschafft wurde. Dies umfasst die Beseitigungder Möglichkeit, Mietwohnungen degressiv abzuschrei-ben für Neufälle, die Streichung der Steuerfreiheit fürHeirats- und Geburtshilfen, die Abschaffung der begrenz-ten Steuerbefreiung für Abfindungen sowie für Über-gangsgelder und Übergangsbeihilfen und die Abschaffungdes Sonderausgabenabzugs von Steuerberatungskosten.Im Übrigen wird ebenfalls mit Wirkung für das Jahr 2006im Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuerge-staltungen darauf abgezielt, dass Gestaltungsmissbrauchund der nicht gerechtfertigten Ausnutzung von Gesetzes-lücken im Steuerrecht entgegengewirkt wird.

Schlussendlich wurden im Rahmen des Steuerände-rungsgesetzes 2007 eine Reihe von Abzugspositionenund weiterer Sonderregelungen mit Wirkung ab dem1. Januar 2007 eingeschränkt.

(Frank Schäffler [FDP]: Ja! Zum Beispiel Re-gelungen für verbindliche Auskünfte!)

Dabei handelt es sich um eine ganze Reihe von Maßnah-men, durch die wir direkte Steuersubventionen und an-derweitige steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten abge-schafft haben.

Letztlich kommen wir, um die öffentlichen Haushaltezu sanieren und den Schuldenberg abzubauen, allerdingsnicht an einer Mehrwertsteuererhöhung vorbei, die wirjedoch mit einer gleichzeitigen Senkung des Beitrags zurArbeitslosenversicherung um mehr als 2 Prozentpunkteverbinden. All das ist also ganz im Sinne des soeben vonmir zitierten, in Grünwald, also im Landkreis München,geborenen Mitglieds des Berliner Abgeordnetenhauses,Dr. Martin Lindner, seines Zeichens Vorsitzender derFDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Hans Michelbach [CDU/CSU]: Hört! Hört! –Frank Schäffler [FDP]: Da haben Sie aberlange gesucht!)

Der Kollege Lindner hat in seinem Papier mit dem Ti-tel „Steuerpolitische Vorschläge der FDP-Fraktion imAbgeordnetenhaus“ vom 16. Juni 2005, wahrscheinlichvor allem in Kenntnis der dramatischen Lage des Berli-ner Haushalts, das Problem wie folgt auf den Punkt ge-bracht:

Um langfristig die Staatsfinanzen nachhaltig zukonsolidieren, kommen wir trotz aller Sparanstren-gungen und Subventionskürzungen

(Frank Schäffler [FDP]: Soll das etwa heißen, dort wird jetzt die Landesbank verkauft?)

nicht um eine Mehrwertsteuererhöhung herum.

Diese Tatsache scheint Ihnen, meine Damen und Herrender FDP-Bundestagsfraktion, allerdings nicht bewusstzu sein. Daran, dass nur noch drei aufrechte Liberale an-wesend sind,

(Frank Schäffler [FDP]: Ja! Aber wir sind die guten!)

wird deutlich, wie intensiv Sie diesen Antrag in Wahr-heit verfolgen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Sie bleiben unter Ihren Möglichkeiten, wenn Sie eineDiskussion, die wir erst in der letzten Sitzungswoche imRahmen der Beratungen des Haushalts 2007 sehr aus-führlich geführt haben, jetzt aufwärmen. Gulasch wirdbeim Aufwärmen besser, eine Debatte, die wir bereitssehr intensiv durchgekaut haben, aber mit Sicherheitnicht.

(Frank Schäffler [FDP]: Schönes Bild!)

Übrigens geben mittlerweile, nach angemessener Ver-dauungszeit, auch die meisten Wirtschaftsforschungsin-stitute zuversichtlichere Prognosen ab.

Heute Vormittag um 10 Uhr – diese Meldung ist alsosehr aktuell – hat das Kieler Institut für Weltwirtschaftseine Wachstumsprognose für das kommende Jahr ummehr als das Doppelte nach oben korrigiert: Statt1 Prozent Wachstum erwartet das IfW für das Jahr 2007einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 2,1 Pro-zent. Zugegebenermaßen ist die Kieler Prognose damitam optimistischsten. Andere Institute sind zurückhalten-der. Allerdings sagt uns der Sachverständigenrat bzw. sa-gen uns die fünf Wirtschaftsweisen ein Wachstum inHöhe von 1,8 Prozent voraus

(Frank Schäffler [FDP]: Ja! Das bedeutet Platz drei in Europa!)

und das Ifo-Institut prognostiziert – übrigens auch amheutigen Tag – immerhin ein Wachstum von 1,9 Prozent.Im Übrigen sind sich alle Konjunkturexperten in einemPunkt einig: Der Wirtschaftsaufschwung ist robust undbeständig und er wird im kommenden Jahr trotz derMehrwertsteuererhöhung nicht zum Stillstand kommen.

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Georg Fahrenschon

(Frank Schäffler [FDP]: Aber er ist nicht von uns verursacht!)

Das können Sie nicht vom Tisch wischen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ihr Antrag ist daher nicht nur fantasielos, sondern er gehtschlicht und einfach an der Realität vorbei.

Im Interesse der Sache sollte man sich aber auch da-mit auseinander setzen, was die Damen und Herren vonder FDP-Fraktion unternehmen würden,

(Frank Schäffler [FDP]: Gespart!)

wenn sie selbst Verantwortung hätten. Dazu sagen Siezweierlei: Erstens würden Sie ein neues Steuersystemauf den Weg bringen, das sich durch niedrige Steuersätzeauszeichnet und einfach und gerecht ist.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sehr gut!)

Zweitens sagen Sie, Sie würden sparen.

(Frank Schäffler [FDP]: Das habe ich doch gleich gesagt!)

Niedrige Steuersätze schlagen Sie zwar vor,

(Frank Schäffler [FDP]: Ja! Das hat doch die Union vor der Wahl auch gesagt!)

zur Gegenfinanzierung äußern Sie sich aber nicht. Aufden ersten Blick erscheint Ihr Vorschlag, das Steuersys-tem zu vereinfachen, spannend. Das ist bei unseremSteuersystem allerdings keine große Schwierigkeit. IhrSteuerkonzept ist schlicht und einfach weder gerechternoch realistischer.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Dr. Volker Wissing [FDP]: Wir waren immerkonkreter als die Union! Wer hat denn denBierdeckel vorgeschlagen?)

Erklären Sie den Bürgerinnen und Bürgern bitte ein-mal, wie, wenn man Ihr Steuerkonzept umsetzen würde,die Entlastung in Höhe von 15 bis 19 Milliarden Eurogegenfinanziert werden soll. Ich kann nur festhalten: ImRahmen des „Liberalen Sparbuchs“, das Sie heute schongar nicht mehr dabei haben, haben Sie Einspar- und Um-schichtungsvorschläge von rund 8,3 Milliarden Euro ge-macht. Das bedeutet, dass Sie die Hälfte der Gegenfinan-zierung nicht aufbringen. Daher besteht nicht dieMöglichkeit, Ihre Steuerpolitik umzusetzen.

Abschließend möchte ich gerne noch einmal den Kol-legen Lindner aus dem Berliner Abgeordnetenhaus zitie-ren.

(Frank Schäffler [FDP]: Ich kann für Sie gerne einmal einen Gesprächstermin arrangieren!)

Er sagte:

Wenn es nach den drei Bedingungen

– Sie erinnern sich: Unternehmensteuerreform, Subven-tionskürzungen und Abbau von Steuervergünstigungen –

höheren Finanzbedarf wegen der enormen Haus-haltsnotlage bei Bund und Ländern sowie des not-

wendigen Umbaus der sozialen Sicherungssystemegibt, brauchen wir eine höhere Mehrwertsteuer.

Dem ist nichts hinzuzufügen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zum Abschluss der Debatte gebe ich das Wort der

Kollegin Gabriele Frechen für die SPD-Fraktion.

Gabriele Frechen (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zu Beginn: Herr Dr. Wissing, seien Sie so nettund richten dem Herrn Kollegen Niebel aus, der dieseDebatte wohl auch nicht für so interessant hält, dass seitdem Ende Ihrer Rede mit Frau Barbara Hendricks eineStaatssekretärin aus dem Finanzministerium selbst-verständlich anwesend ist.

(Frank Schäffler [FDP]: Niebel war wenigs-tens bei Herrn Wissing da!)

– Er war bei der Rede von Herrn Dr. Wissing anwesend,aber dann nicht mehr. Ich wollte Sie nur bitten, das aus-zurichten.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wis-

sing zulassen?

Gabriele Frechen (SPD): Von Herrn Dr. Wissing immer gerne. Sagt er mir jetzt,

wo sich der Herr Kollege Niebel aufhält? Das möchteich gar nicht wissen.

Dr. Volker Wissing (FDP): Frau Kollegin, Sie haben gerade betont, dass die

Staatssekretärin des Finanzministeriums seit dem Endeder Eröffnungsrede der Opposition an der Debatte teil-nimmt. Sind Sie mit mir der Auffassung, dass es, geradein Zeiten einer großen Koalition, sinnvoll wäre, dassschon zu Beginn der Debatte Regierungsvertreter dasind, um die Meinung der Opposition zur Kenntnis zunehmen?

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Gabriele Frechen (SPD): Herr Dr. Wissing, ich denke, dass sich die Frau

Staatssekretärin sicherlich in voller Absicht, dieser De-batte beizuwohnen, aus dem Finanzministerium hierherbegeben hat, völlig unerheblich, ob hier Sie sprechenoder ob hier die Kollegin Scheel von den Grünen oderder Herr Kollege Schui von der Linken spricht. Da gibtes keine Wertung, Herr Dr. Wissing. Frau Dr. Hendricksist da und das sollten Sie bitte Herrn Niebel ausrichten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derCDU/CSU – Frank Schäffler [FDP]: Wirfreuen uns auch!)

Zu Ihrem Antrag fällt mir ein Zitat von WilhelmBusch ein:

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Gabriele Frechen

Wofür sie besonders schwärmt,Wenn er wieder aufgewärmt.

Die Witwe Bolte meinte damit den Sauerkohl – was ichnachvollziehen kann –, Sie meinen damit die Mehrwert-steuererhöhung. In so ziemlich jeder Debatte, die hiergeführt wird, bringen Sie dieses Thema unter, heute so-gar mit einem eigenen Antrag. Das erinnert mich auchein bisschen an Cato den Älteren, der jede Rede im Se-nat beendete mit: Im Übrigen bin ich der Meinung, dassKarthago zerstört werden muss. – So ungefähr machenSie das mit der Mehrwertsteuererhöhung. Hier befindenSie sich in guter Gesellschaft mit Ihren – und unseren –Kollegen von der Linken, über deren Antrag wir vor kur-zem in diesem Haus beraten haben. Unabhängig davon,wer von wem abschreibt, bleibt es purer Populismus.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Haben Sie eigent-lich auch Flugblätter gegen die Mehrwertsteu-ererhöhung verteilt?)

– Sie werden es gleich hören, Herr Dr. Wissing. Ein biss-chen Geduld oder eine Zwischenfrage, so viel Fairnessmuss sein: wegen meiner Redezeit.

Ich nehme das Thema sehr ernst. Ich weiß, dass dieMenschen unsicher sind, dass überall Kassandras undUnken alles tun, damit diese Verunsicherung bleibt.

(Frank Schäffler [FDP]: Haben Sie Flugblätter verteilt?)

Es stimmt – darüber können, dürfen und sollen wir unsfreuen –: Die Konjunktur brummt, Deutschland gilt wie-der als Wachstumsmotor, und die Steuereinnahmen spru-deln. Aber reicht das? Während die einen glauben, aufdie Mehrwertsteuererhöhung verzichten zu können, undder Vermögensteuer neues Leben einhauchen wollen,versuchen es die anderen auf dem Rücken der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer.

(Frank Schäffler [FDP]: Wer erhöht denn die Mehrwertsteuer?)

Eine Wiedereinführung der Vermögensteuer ist ein un-realistischer Wunsch; das wissen Sie selber. Sie könnendas zwei, drei Mal fordern und bekommen vielleichtauch Applaus dafür. Doch Sie werden sich beim drittenMal eingestehen müssen, dass es wieder gescheitert ist.Dann mag auch der Letzte merken, dass es sich bei die-sem durchsichtigen Manöver um Populismus handelt.

Die FDP fordert in ihrem Antrag, stattdessen den Ar-beitsmarkt zu deregulieren und beschäftigungsfeindlicheRegelungen abzubauen. Das hört sich gar nicht so wildan, so verklausuliert, wie das geschrieben ist. Aber manmuss dahintersehen: Sie wollen einen Abbau des Kündi-gungsschutzes, eine Einschränkung der Tarifautonomie,die Versteuerung von Sonn-, Feiertags- und Nachtzu-schlägen und eine Aufkündigung der Flächentarifver-träge. Herr Westerwelle bezeichnet ja gerne die Gewerk-schafter als die wahre Plage Deutschlands. Das heißt, Siewollen im Sog Ihres Antrags Ihr eigentliches Anliegenumsetzen, nämlich die Rechte der Arbeitnehmer zuschleifen. Sie haben dazu kein Wort gesagt. Ich ver-schweige diese beiden Punkte in Ihrem Antrag nicht. Ihrdritter Punkt bedeutet, dass Sie die Sozialsysteme nach

Ihrem Gusto reformieren wollen. Was das heißt, kannman in Ihrem Wahlprogramm nachlesen. Dort steht: Wirwollen, dass jeder sich gegen sein eigenes Risiko der Ar-beitslosigkeit versichert und entsprechend passgenaueBeiträge zahlt. Dazu gehört auch die eigenverantwortli-che Einschätzung, ob man eine Zeit lang mit einer bei-tragsmindernden – ich wiederhole: beitragsmindernden –Karenzzeit ohne Leistung auskommen kann.

Das bedeutet doch wohl: Wer genug Geld auf der ho-hen Kante hat, muss weniger Beitrag bezahlen, wer sichdagegen eine Zeit ohne Einkommen nicht leisten kann,also zum Beispiel ein allein verdienender Facharbeitermit Kindern, muss höhere Beiträge bezahlen.

(Frank Schäffler [FDP]: Aber 19 Prozent Mehr-wertsteuer können wohl alle bezahlen!)

Also: Diejenigen mit weniger Geld müssen mehr bezah-len, damit diejenigen mit mehr Geld weniger bezahlenmüssen. Man muss sich schon sehr konzentrieren, umdas richtig auszusprechen. Wenn man darüber nach-denkt, wird es ganz absurd.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Dr. Volker Wissing [FDP]:Das, was Sie sagen, ist absurd!)

Bei Ihnen heißt Reform: Wenn jeder an sich denkt, ist analle gedacht. Das lassen wir so nicht stehen.

Im Haushalt des Landes NRW, dem ja immerhin rund20 Prozent von einem Mehrwertsteuerpunkt zustehen,wurde die Einnahme wie selbstverständlich verfrüh-stückt. Falls es jemand verdrängt haben sollte: Dort istdie FDP mit am Ruder. Trotz der Mehreinnahmen wur-den Zuschüsse in fast allen sozialen Bereichen extremgekürzt oder gänzlich gestrichen. Allein in meiner Ge-meinde waren dies rund 50 000 Euro bei der Kindergar-tenfinanzierung.

(Ute Kumpf [SPD]: Überall!)

Ich muss schon sagen, das ist die komfortabelste Situa-tion überhaupt: Aus Populismus im Bundesrat dagegensein, das Geld natürlich einsacken und am Ende auchnoch die Kommunen und die Eltern schröpfen. DiesesVerhalten ist nicht schlüssig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Hermann Otto Solms hat in seiner Haushaltsredegesagt:

Denn die Steuereinnahmen, die aufgrund der kon-junkturellen Entwicklungen in diesem Jahr stärkersprudeln, kompensieren das erwartete Mehrauf-kommen bereits.

Bei aller Wertschätzung für den Herrn KollegenDr. Solms: Das nenne ich Politik von der Hand in denMund. Wir haben ein strukturelles Defizit von rund40 Milliarden Euro und Sie meinen, wir könnten das mit8 Milliarden Euro durch sprudelnde Mehreinnahmen än-dern? Was ist das für eine schwache Rechnung?

Die Mehreinnahmen aus der Erhöhung gehen zu glei-chen Teilen an den Bund, an die Länder und an die Ar-

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beitslosenversicherung, deren Beitrag 2007 insgesamtum 2,3 Prozentpunkte gesenkt wird. Die Belastungdurch die Mehrwertsteuererhöhung liegt bei rund0,8 Prozent. Somit wird trotz einer Erhöhung der ande-ren Beiträge eine weitgehende Entlastung der Arbeit-nehmerhaushalte stattfinden; da kann mir niemand et-was anderes sagen. Keine Entlastung – auch das weißich – erhalten Rentnerhaushalte, Studenten und Men-schen, die Arbeit suchen. Das ist mir wohl bewusst.Aber alle profitieren mittelfristig von höheren Ausgabenin Bildung und von mehr Arbeitsplätzen.

Ich verschweige auch nicht, dass es zu einer Konjunk-turdelle kommen kann. Aber die führenden Wirtschafts-institute, die sich im Frühjahr noch eher skeptisch ge-zeigt haben, sagen voraus, dass es eben nicht zu einemKonjunktureinbruch kommen wird.

Auch ich habe mich mit dieser Erhöhung schwer ge-tan. Aber wir haben zuvor ein Konjunkturprogrammmit Entlastungen und Impulsen in Höhe von 25 Milliar-den Euro bis 2009 verabschiedet, das Wirkung auch aufdem Arbeitsmarkt zeigt. Wer zu diesem auf Vorschuss,auf Pump finanzierten Programm Ja gesagt hat, dermusste auch zur Mehrwertsteuererhöhung Ja sagen. Al-les andere wäre feige und unehrlich gewesen.

(Frank Schäffler [FDP]: Was war vor der Wahl?)

Dieses Programm umfasst: Investitionen in For-schung und Entwicklung; verbesserte Abschreibungsbe-dingungen; ein Programm zur energetischen Gebäude-sanierung, was bisher zu Investitionen in Höhe von20 Milliarden Euro geführt hat; die Fortsetzung der Zah-lung der Investitionszulage in den neuen Bundesländern;die Aufstockung der Verkehrsinvestitionen; die steuerli-che Förderung von haushaltsnahen Dienstleistungen,von Kinderbetreuungskosten und von Kosten für dieModernisierung der eigenen Wohnung. Durch die Ein-führung des Elterngeldes stehen den Familien3 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung. Betreuungvon Kindern unter drei Jahren, 100-prozentige Bedarfs-deckung bei Kindertageseinrichtungen, offene Ganztags-schulen und staatliche finanziellen Hilfen sind der rich-tige Weg, sowohl Eltern als auch Kinder optimal zufördern. Ich denke, dieses Konzept ist schlüssig. Fami-lien, Handwerksbetriebe und Dienstleistungsunterneh-men bekommen mehr Geld in die Hand, um die zuneh-mende Binnennachfrage weiter zu stärken.

Das Anziehen der Konjunktur bewirkt die Schaffungneuer Arbeitsplätze, was gleichzeitig zu weniger Ausga-ben aus den sozialen Sicherungssystemen und mehr Ein-nahmen in die sozialen Sicherungssysteme führt. Es gibtgute Chancen dafür, dass sich der eingeschlagene Kursso positiv auswirkt, dass wir die Konjunkturbremse ver-kraften können. Das Mehr an Arbeitsplätzen kommtdann den Menschen zugute, die heute keine Arbeit ha-ben. Ich denke, das muss unser vorrangiges Ziel sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich wird einTeil auch in den Schuldenabbau bzw. – besser gesagt –

in eine niedrigere Neuverschuldung gesteckt. Auch dashalte ich für lauter.

(Frank Schäffler [FDP]: Das ist aber ein Unter-schied! Den Unterschied kennen Sie doch?)

– Aber selbstverständlich.

Ich möchte mit einer Beurteilung der Schweizer Kon-junkturexperten von BAK Basel Economics schließen.In der „NZZ Online“ steht dazu: „Schweizer Wirtschaftsoll nächstes Jahr um 2,1 Prozent wachsen“. Jetzt wer-den Sie fragen, warum ich ausgerechnet die Schweizerheranziehe. Ich sage es Ihnen. Es heißt nämlich weiter:

Den grösseren Optimismus für 2007 erklärt BAKmit höheren Wachstumserwartungen für die deut-sche Wirtschaft, dem wichtigsten Schweizer Han-delspartner. Die Konjunkturindikatoren seien dort

– also hier bei uns –

„unerwartet gut“, und die Zeichen für einen „selbsttragenden Aufschwung“ verdichteten sich.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Gabriele Frechen (SPD): Wir sollten uns dem Schweizer Optimismus anschlie-

ßen; denn Wirtschaft hat ja bekanntlich auch etwas mitZutrauen und mit Gefühl zu tun.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache.

Zwischen den Fraktionen ist vereinbart worden, dieVorlage auf Drucksache 16/2520 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Damitsind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist die Über-weisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärmin der Umgebung von Flugplätzen

– Drucksache 16/508 –

aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-torsicherheit (16. Ausschuss)

– Drucksache 16/3813 –

Berichterstattung:Abgeordnete Ulrich Petzold Marko Mühlstein Michael Kauch

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Eva Bulling-Schröter Winfried Hermann

bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 16/3814 –

Berichterstattung:Abgeordnete Steffen Kampeter Petra Hinz (Essen)Dr. Claudia Winterstein Roland Claus Anna Lührmann

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten MichaelKauch, Horst Friedrich (Bayreuth), BirgitHomburger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP

Das Fluglärmgesetz unverzüglich und sach-gerecht modernisieren

– zu dem Antrag der Abgeordneten WinfriedHermann, Peter Hettlich, Cornelia Behm, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Den Schutz der Anwohner vor Fluglärmwirksam verbessern

– Drucksachen 16/263, 16/551, 16/3813 –

Berichterstattung:Abgeordnete Ulrich Petzold Marko Mühlstein Michael Kauch Eva Bulling-Schröter Winfried Hermann

Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen einÄnderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie je einEntschließungsantrag der Fraktion der FDP, der FraktionDie Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-nen vor. Es ist verabredet, hierzu eine Stunde zu debat-tieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist sobeschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenMarko Mühlstein, SPD-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Marko Mühlstein (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Verehrte Gäste auf den Besuchertribünen! Ichfreue mich, dass wir in dieser letzten Sitzungswoche vorWeihnachten die Beratung der Gesetzesnovelle zumFluglärmschutz mit der zweiten und dritten Lesung end-lich abschließen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Wir haben den Gesetzentwurf unserer rot-grünen Vor-gängerregierung in ganz wesentlichen Punkten verbes-sern können. Um dies zu erreichen, haben wir sowohlmit Vertretern der Lärmschutzverbände als auch mit Ver-tretern der Luftverkehrswirtschaft diskutiert. Wir saßenmit Vertretern der Länder, mit Sachverständigen und mitbetroffenen Bürgerinnen und Bürger aus der ganzen Re-publik zusammen. Dabei sind die unterschiedlichstenVorstellungen heftig aufeinander getroffen.

Es war ein hartes Stück Arbeit, dies alles so unter ei-nen Hut zu bekommen, dass nicht der kleinste gemein-same Nenner, sondern ein belastbarer Interessenaus-gleich herausgekommen ist. Niemand weiß dies besserals meine Kolleginnen und Kollegen Berichterstatter ausallen Fraktionen, bei denen ich mich an dieser Stelle fürdie hervorragende Zusammenarbeit ausdrücklich bedan-ken möchte. Insbesondere möchte ich mich bei meinemKollegen Petzold recht herzlich bedanken.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

In vielen Punkten – naturgemäß nicht in allen – habenwir uns einigen können. Deshalb kann ich die Ableh-nung der beiden Anträge von FDP und Bündnis 90/DieGrünen für meine Fraktion auch mit gutem Gewissenvertreten und um Ihrer aller Zustimmung zum vorliegen-den Gesetzentwurf werben.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Auchwenn Weihnachten ist, können wir das leidernicht gewähren!)

Ich meine, mit den intensiven Beratungen der letztenWochen sind wir der Bitte unseres Bundesumweltminis-ters Sigmar Gabriel um Sorgfalt und Kompromissbereit-schaft, die er bei der Einbringung der Novelle vor beinahegenau zehn Monaten hinsichtlich der Ausschussberatunggestellt hat, vorbildlich nachgekommen.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wo ist er denn?)

Ebenso vorbildlich war dabei die Unterstützung durchdie Mitarbeiter des Bundesumweltministeriums. Mei-nen herzlichen Dank dafür.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, beim Lärm– seiner Entstehung, seiner Wahrnehmung und seinenAuswirkungen – haben wir es mit einer ausgesprochenkomplexen Materie zu tun.

Dennoch werden wir auf Schritt und Tritt damit kon-frontiert. Sind wir in einem Moment noch Erzeuger vonLärm, sind wir im nächsten Moment schon wieder selbstdavon betroffen.

Zweifellos ist in unserer modernen, auf Mobilität undwirtschaftliche Flexibilität existenziell angewiesenenGesellschaft Lärm nicht immer und überall vermeidbar.Wenn wir davon ausgehen, dass Schall erst in dem Au-genblick zu Lärm wird, wenn er unangenehm, störendund gesundheitsschädigend wirkt, dann haben wir esnicht mit einem physikalischen, sondern vielmehr mit ei-nem psychologisch-medizinischen Phänomen zu tun.

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Marko Mühlstein

Obwohl die Wahrnehmung von Lärm daher stark vomsubjektiven Empfinden abhängt, ist dennoch objektivnachgewiesen, dass Lärm krank macht. Darüber hinauslassen sich auch im psychischen, ökonomischen und so-zialen Bereich negative Auswirkungen belegen.

Was bedeutet das nun alles ganz konkret für den Flug-lärm? Die dynamische Entwicklung des Flugverkehrshat zu einer immens gestiegenen Anzahl der Flugbewe-gungen geführt. Die Dauerschallpegel konnten bis heutenur konstant gehalten werden, weil die technischen Ver-besserungen an den Flugzeugen den Pegelanstieg imDurchschnitt noch kompensierten. Die ermittelten Pe-gelwerte geben allerdings keine Auskunft über die emp-fundenen Lärmbelastungen und erheblichen materiellenVerluste infolge des Wertverlustes von Grundstücken.Dies tun aber die vielen Eingaben, Petitionen und Pro-teste gegen Fluglärm, die uns regelmäßig erreichen. DieBerichte der von Fluglärm betroffenen Menschen und ei-gene Erfahrungen machen deutlich, dass das Leben unterFluglärm zu gravierenden Verschlechterungen der Le-bensqualität führt.

Wie ich bereits vorhin angedeutet habe, bewegen wiruns mit der Novellierung des Fluglärmschutzgesetzes in-nerhalb eines Spannungsfeldes unterschiedlicher Interes-sen. So sind wir uns selbstverständlich darüber im Kla-ren, dass wir den wirtschaftlichen Aufschwung unseresLandes unter anderem auch dem hervorragend aufge-stellten Luftverkehrsstandort Deutschland verdanken.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Exportweltmeisterwird man nicht zu Fuß. Von Flughäfen und deren Infra-struktur hängen zudem viele tausend Arbeitsplätze direktund indirekt ab. Ein wohlüberlegter Ausgleich zwischenden Bedürfnissen lärmgeplagter Menschen auf der einenSeite und einer der dynamischsten Wachstumsbranchenunseres Landes auf der anderen Seite ist eine große He-rausforderung. Deren Bewältigung ist nichtsdestotrotzunsere Pflicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vor diesem Hintergrund lassen Sie mich, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, darauf eingehen, was das Flug-lärmschutzgesetz denn nun künftig leisten wird, und vorallem, wo die Verbesserungen gegenüber dem ursprüng-lichen Gesetzentwurf, ganz zu schweigen von dem bis-her noch gültigen Gesetz von 1972, liegen.

Grundsätzlich ermöglicht das neue Gesetz mehr pas-siven Schallschutz für Anwohner durch eine Auswei-tung der Schutzzonen. Erstmals wird auch eine Nacht-schutzzone eingeführt und damit dem Schutz desSchlafes besonders Rechnung getragen. Konkret heißtdas: Mit der Neufassung des Fluglärmschutzgesetzeswerden künftig wesentlich mehr Menschen in der Umge-bung der Flughäfen Ansprüche auf Schallschutz haben.

Definiert werden die beiden Tagschutzzonen 1 und 2und die Nachtschutzzone durch die Lärmgrenzwerte.Erfreulicherweise ist uns die Absenkung der bisherigenGrenzwerte um 10 bis 15 dB(A) – ich wiederhole: 10 bis15 dB(A) – gelungen.

(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Wenn wir dabei berücksichtigen, dass die Senkung desSchallpegels um 10 dB(A) die subjektive Wahrnehmungdes Lärms um die Hälfte reduziert, ist dies, denke ich,ein großer Schritt in die richtige Richtung.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Die neuen Grenzwerte gelten künftig für alle Ver-kehrsflughäfen mit regelmäßigem Fluglinien- und Pau-schalreiseverkehr. Grundlage des Berechnungsverfah-rens ist die so genannte Drei-Sigma-Regelung. Dasbedeutet: Drei Sigma am Tag, drei Sigma in der Nacht.

Ich habe vorhin von der subjektiven Schallwahrneh-mung gesprochen. Die Aufgabe war, einen subjektivenEindruck, der nicht zuletzt von psychologischen Fakto-ren abhängt, mittels eines physikalischen Berechnungs-verfahrens abzubilden.

Wir haben uns die Diskussion um die Berechnungs-grundlage wahrlich nicht einfach gemacht, hängt dochdavon die Gesundheit vieler Menschen ab. Im Übrigenmuss die Berechnungsgrundlage auch für Flughafenbe-treiber wirtschaftlich darstellbar sein.

Im Zusammenhang mit der Festsetzung der Grenz-werte gilt es zu berücksichtigen, dass zwischen denneuen bzw. wesentlich baulich erweiterten zivilen sowiemilitärischen Flugplätzen unterschieden wird. Dies istdem bereits beschriebenen Unterschied in der Wahrneh-mung von Schallereignissen unterschiedlichen Charak-ters geschuldet. Die Lärmsituation eines Militärflugha-fens unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von dereines zivilen Flughafens. So findet beispielsweise an ei-nem Militärflughafen in den lärmsensiblen Zeiten wiemorgens oder abends, in der Nacht und am Wochenendekein Flugverkehr statt.

Ich freue mich ganz besonders, dass es gelungen ist,im Interesse der Anwohner eine wesentliche baulicheErweiterung eines Flugplatzes so zu definieren, dasseine Erweiterung dann gegeben ist, wenn diese zur Erhö-hung des äquivalenten Dauerschallpegels an der Grenzezur Tagschutzzone 1 oder des LAeq Nacht an der Grenzeder Nachtschutzzone um mindestens 2 dB(A) führt.Durch das Instrument der vorausschauenden Siedlungs-planung wird überdies von vornherein Konflikten vorge-beugt. In einem Lärmschutzbereich dürfen keine Kran-kenhäuser, Altenheime, Erholungsheime und ähnlicheEinrichtungen gebaut werden. In den Tagschutzzonendes Lärmschutzbereiches gilt das beispielsweise auch fürSchulen und Kindergärten. Ich denke, das ist besonderswichtig.

Die Bedenken, dass Einrichtungen wie Alten- undPflegeheime in Lärmschutzbereichen künftig keine bau-lichen Erweiterungen vornehmen dürfen und damit vonder Schließung bedroht wären, sehe ich nicht, HerrKauch. Denn im Bedarfsfall können Ausnahmen durchdie zuständige Landesbehörde genehmigt werden. Ände-rungen ohne Kapazitätserweiterungen fallen zudemnicht unter das Bauverbot. Des Weiteren werden An-sprüche auf passiven Schallschutz für Wohngebäude inhochgradig fluglärmbelasteten Gebieten festgesetzt.

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Marko Mühlstein

Um Missverständnissen von vornherein vorzubeugen,möchte ich nochmals ausdrücklich darauf hinweisen,dass im Fluglärmschutzgesetz Fragen zum aktivenLärmschutz nicht geregelt werden sollten.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiedes Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Lutz Heilmann [DIELINKE]: Warum?)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Marko Mühlstein (SPD): Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Ver-

kehrslärm entsteht von selbst. Ruhe und damit derSchutz lärmgeplagter Menschen müssen hingegen ge-wollt und bewusst herbeigeführt werden. Ich habe denEindruck, dass wir unsere Handlungsfähigkeit in dieserAngelegenheit erfolgreich unter Beweis gestellt und beidieser schwierigen Ausgangssituation ein belastbaresEtappenziel erreicht haben.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege.

Marko Mühlstein (SPD): Dennoch meine ich: Aktiven Lärmschutz auch im

Flugbetrieb umzusetzen, bleibt eine wichtige Forderung,der die Politik zukünftig gerecht werden muss.

Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Michael Kauch (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr

lange – man könnte auch sagen: zu lange – haben dieAnwohnerinnen und Anwohner auf ein neues Fluglärm-gesetz gewartet.

(Ute Kumpf [SPD]: Sie haben 16 Jahre nichts gemacht!)

Seit der ersten Ankündigung durch das BMU hat essechs Jahre gebraucht, um den Gesetzentwurf heute zurAbstimmung im Deutschen Bundestag vorzulegen. Esist aber zu begrüßen, dass es endlich so weit ist. Denndas alte Gesetz verdiente den Titel „Fluglärmschutzge-setz“ schon lange nicht mehr; die Anforderungen, die anden Lärmschutz gestellt wurden, gehen in der Regelnicht mehr auf dieses Gesetz, sondern auf Betriebsge-nehmigungen und Richterrecht zurück.

Insofern möchte ich vor den Erwartungen warnen, dieauch durch die Rede von Herrn Mühlstein geweckt wer-den. Dass die Grenzwerte um 15 dB(A) gesenkt werden,ist nach dem Gesetzentwurf theoretisch zwar richtig;aber an den Flughäfen wird sich kaum etwas ändern. An

den allermeisten Flughäfen wird sich zumindest kurz-fristig und im Bestandsfall nicht viel ändern, weil diesesSchutzniveau bereits erreicht wird. Es wird allerdingsStandorte geben, an denen es tatsächlich zu erheblichenVerbesserungen kommt. Das erkennen wir ausdrücklichan; denn nun liegt der Entwurf eines Gesetzes zur Ver-besserung des Schutzes vor Fluglärm vor, das – das kannman mit Fug und Recht sagen – einen Ausgleich zwi-schen den Interessen der Anwohner auf der einen Seiteund den Interessen der Nutzer und der Betreiber derFlughäfen auf der anderen Seite schafft.

(Beifall bei der FDP – Marko Mühlstein [SPD]: Dann stimmen Sie doch zu!)

Es ist ein ausgewogener Kompromiss zum Lärmschutzan zivilen Flughäfen. Auch wir haben uns – das sage ichan die Adresse der anderen Oppositionsfraktionen – ander einen oder anderen Stelle sicherlich mehr ge-wünscht. Aber im Ergebnis stellt das Gesetz eine deutli-che Verbesserung im Vergleich zur jetzigen Rechtslagedar. Deshalb stimmen wir – Sie hätten sich also IhrenZuruf sparen können – dem Gesetzentwurf in der Konse-quenz zu.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Neue niedrige Schutzzonengrenzwerte werden ein-geführt. Insbesondere erhalten Anwohner neuer oderauszubauender Flughäfen – das ist interessant, auch mitBlick auf die Rechtssicherheit – ein besseres Schutzni-veau. Für die Anwohner von Flughäfen mit Nachtbetriebwird es eine Regelung geben, die sehr stark auf Einzeler-eignisse abstellt. Das sind in der Tat diejenigen, die fürdas Aufwachen in der Nacht verantwortlich sind. Auchhier ist man im parlamentarischen Verfahren zu einemvernünftigen Kompromiss gekommen. Ich sage aus-drücklich: Wir, die Liberalen, haben immer ein klaresBauverbot – gerade für Wohnungen – in den Schutzzo-nen gefordert. Dieses Verbot war bislang sehr löchrig. Esgibt zwar noch immer ein paar Hintertüren. Aber das hatsich im Vergleich zum bisherigen Fluglärmschutzgesetzdeutlich verbessert.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Wir sind dafür, dass schutzwürdige Einrichtungenin diesen Zonen nicht gebaut werden. Nun komme ichauf den Fall zu sprechen, der hier schon angesprochenwurde. Um es gleich vorweg zu sagen: In meinem Wahl-kreis ist das Problem gelöst. Dort liegt eine Baugeneh-migung bereits vor. Uns geht es darum, dass die Alten-heime, die vor der Entscheidung stehen, ausgebaut odergeschlossen zu werden, aufgrund pflegerechtlicher Vo-raussetzungen, die der Gesetzgeber geschaffen hat, auchnach dem In-Kraft-Treten des novellierten Fluglärm-schutzgesetzes die Möglichkeit haben, ihren Bestand zusichern. Hier reicht es nicht aus, das in das Ermessen derBehörden zu legen. Vielmehr muss man an dieser Stelleein Rechtsanspruch auf eine Baugenehmigung vorsehen.Das haben wir im parlamentarischen Verfahren gefor-dert. Das wurde von der Koalition aber leider abgelehnt.

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Michael Kauch

Ich denke, an dieser Stelle ist das Gesetz noch nachbes-serungsbedürftig.

(Beifall bei der FDP)

Das Gesetz muss noch in einem anderen Punkt ver-bessert werden, und zwar im Bereich der Militärflughä-fen. Ich finde, das hier gewählte Verfahren ist ausgespro-chen ärgerlich. Sie von der Koalition setzen für zivileFlughäfen bestimmte Grenzwerte an, weil von da an eineGesundheitsschädigung nicht auszuschließen ist. AberSie sind nicht bereit, die Anwohner von Militärflughä-fen, also dort, wo nicht die Bundesländer, die Kommu-nen oder Private zahlen müssen, sondern Sie selber, mitdem gleichen Schutz auszustatten. Vielmehr wollen Siediesen Bürgern ein deutlich höheres Lärmniveau zumu-ten, bevor Sie die Kosten für den Schallschutz erstatten.Das finde ich ehrlich gesagt unanständig.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Hier kann man nicht argumentieren, die Lärmbilder anden Militärflughäfen seien anders. Das stimmt zwar. IhreZahl ist geringer. Dafür ist es aber lauter. Deshalb mussder Schutz aus meiner Sicht eher höher sein als niedri-ger. Die Argumentation der Koalition ist daher völlig ab-strus.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In dem von uns in den Bundestag eingebrachten Ent-schließungsantrag weisen wir darauf hin, an welchenStellen der vorliegende Gesetzentwurf nicht optimal istund wo wir noch einmal darüber nachdenken müssen, obdas, was hier entschieden wurde, richtig ist.

Dennoch stimmen wir heute zu, denn wir müssenendlich Rechtssicherheit für die Anwohner, für die Flug-häfen und für die Menschen, die den Flugverkehr nut-zen, schaffen. Wir dürfen nicht weiterhin über Jahre eineunendliche Diskussion führen, sondern wir müssen zueiner Entscheidung kommen, die zumindest für die An-wohner an den Verkehrsflughäfen ein Fortschritt ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als Nächster hat das Wort der Kollege Ulrich Petzold,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ulrich Petzold (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Kollege Kauch, Sie müssen uns

zugestehen, dass wir die Möglichkeit für Ihr Alten- undPflegeheimprojekt eröffnet haben. Aber wir wollen ebennicht die Scheunentore öffnen.

Zu den Militärflughäfen bzw. Bestandsflughäfenkomme ich später. Es ist allerdings anders, als Sie ausge-führt haben.

Im Jahre 1997 hat sich der Deutsche Bundestag in ei-ner Anhörung erstmalig mit der Novellierung des Flug-lärmgesetzes befasst. Lassen Sie mich deshalb mit Be-friedigung feststellen, dass sich diese Koalition erneutals handlungsfähig erwiesen hat und dass sie es geradenicht zu einem zehnten Jahrestag einer Anhörung hatkommen lassen, ohne eine Gesetzesnovelle vorzulegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Zu-rufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Wir waren nun einmal zwischendurch sieben Jahrelang leider nicht an der Regierung.

(Winfried Hermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN: Aber 16 Jahre vorher!)

Wir haben einen Konsens zum Schutz vor Fluglärmnicht nur zwischen den Regierungsfraktionen und denMinisterien, sondern auch mit den Bundesländern undden kommunalen Spitzenverbänden hinbekommen, so-dass sich die Ministerpräsidenten, die sich noch vor we-nigen Wochen gegen den Gesetzentwurf ausgesprochenhaben, heute mit Vehemenz für die Verabschiedung die-ses Gesetzentwurfes einsetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie wissen, das war nicht von vornherein so. Noch inder ersten Lesung musste ich davor warnen, dass das Ge-setz am Bundesrat scheitern könnte; denn leider fühltesich eine ganze Reihe von Landesregierungen bei der ur-sprünglichen Formulierung des Gesetzentwurfes mit ih-ren Bedenken etwas außen vor gelassen. Nun könnteman davon ausgehen, dass der Kompromiss dadurch er-zielt wurde, dass wir an dem eingebrachten Gesetzent-wurf Abstriche gemacht haben. Mitnichten, das Gegen-teil ist der Fall. In jedem der neun Punkte des CDU/CSU-SPD-Antrages, der mit dem heutigen Tag Teil desGesetzes wird, ist eine Ausweitung des Lärmschutzesbzw. der Rechte der Lärmbetroffenen formuliert, wie ichim Rahmen der Berichterstattung Punkt für Punkt nach-gewiesen habe. Ich möchte jetzt nur kurz einige Bei-spiele nennen.

Es wurde das Wesentlichkeitskriterium für denAusbaufall am Rande der Nachtschutz- und Lärmschutz-zone 1 auf 2 Dezibel herabgesetzt. Der Geltungsbereichdes Fluglärmgesetzes wurde auf alle Flughäfen mitLinien- und Pauschalreiseverkehr ausgeweitet. Die Sied-lungsentwicklung in den Lärmschutzzonen wurde aufein vernünftiges Maß begrenzt. Die Erstattungsverfahrenfür Lärmschutzaufwendungen der Lärmbetroffenen wer-den wesentlich vereinfacht und verkürzt. Der Bestandvon freiwilligen Vereinbarungen zum Lärmschutz ist ge-sichert.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, eines ist mirjedoch besonders wichtig: Lärmmedizinische Gutach-ten zur Feststellung von zulässigen Lärmpegeln im Rah-men von luftrechtlichen Zulassungsverfahren stelltenbisher immer eine große Unwägbarkeit für alle Seitendar. Durch unser Fluglärmgesetz werden die Pegelwertedes Gesetzes als echte Grenzwerte eingeführt, sodassdiese zeit- und nervenaufreibenden Gutachten nicht mehrerforderlich sind. Allerdings werden lärmmedizinische

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Ulrich Petzold

Gutachten, die sich speziellen Problemen im Rahmenvon lufttechnischen Zulassungsverfahren widmen, auchweiterhin gesondert in diese Verfahren eingeführt wer-den können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Unter der Maßgabe der großen Vorbehalte, die es zuVerhandlungsbeginn gegenüber den höheren Anforde-rungen des Gesetzentwurfes an die Flugplatzbetreibergab, muss das in langen Verhandlungen erzielte Ergebnisin jedem Fall als Erfolg für den Lärmschutz gewertetwerden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Erlauben Sie mir noch einige grundsätzliche Anmer-kungen aufgrund der Diskussionen in den letzten Tagenund Wochen. Da ist zum einen die Frage: Ist auf Dauerdie Unterscheidung zwischen Bestandsflughäfen aufder einen Seite und neuen und ausgebauten Flughäfenauf der anderen Seite bei der zugemuteten Lärmbelas-tung haltbar? Dazu muss man rechtssystematisch bemer-ken, dass bei allen Verkehrsträgern bei der zulässigenLärmbelastung der Anwohner eine Unterscheidung zwi-schen Neu- und Ausbau auf der einen Seite und Bestandauf der anderen Seite gemacht wird.

Auch die unterschiedliche Behandlung von zivilenund militärischen Flugplätzen bei den zulässigen Schall-pegelwerten kann nur mit den sich wesentlich unter-scheidenden Bewegungszahlen in den einzelnen Tages-abschnitten und Wochenabschnitten gerechtfertigtwerden.

Auf militärischen Flugplätzen sind die Flugbewe-gungen stark an Dienstzeiten gebunden, die eher eineAbend-, Nacht- und Wochenendruhe gewährleisten. Au-ßerdem kann ich hier auf ein Urteil des Oberverwal-tungsgerichts Nordrhein-Westfalen verweisen, welchesdiese unsere Auffassung bestätigt.

Dem Gesetzgeber ist es im Jahr 2015 unbenommen,diese Fragen erneut aufzugreifen; denn dann muss er un-ser Gesetz auf seine Wirksamkeit überprüfen. MeineFraktion erwartet jedoch, dass auch in Zukunft Flug-platzbetreiber im Sinne des nachbarschaftlichen Frie-dens weiterhin freiwillige Leistungen des aktiven undpassiven Lärmschutzes erbringen. Ganz besonders er-warten wir dieses bei der Erstattung von Aufwendungenfür bauliche Schallschutzmaßnahmen und bei der Ent-schädigung für die Beeinträchtigung des Außenwohnbe-reichs im Hinblick auf die so genannten Bestandsflug-plätze.

Grundsätzlich ist zu dem Gesetz anzumerken, dass esgegenüber dem bisher geltenden Gesetz aus dem Jahr1971 zu einer deutlichen Reduzierung der zulässigenSchallpegelwerte kommt, wie es mein KollegeMühlstein schon ausgeführt hat. Zusätzlich werden flug-lärmbedingte Maximalpegel mit einem Häufigkeitsfak-tor gesetzlich eingeführt, mit denen der Tatsache Rech-nung getragen wird, dass insbesondere dieMaximalpegel als besonders belästigend empfundenwerden.

Die Ausweitung von ursprünglich nur einer Schutz-zone auf jetzt zwei Tagschutz- und eine Nachtschutz-zone trägt der Entwicklung in der Rechtsprechung Rech-nung. Es ist in aller Deutlichkeit festzustellen, dass wirmit den im Gesetz gefassten Schallschutzwerten insbe-sondere für den Neu- und Ausbaufall nicht hinter derjüngsten Rechtsprechung zum Schutz vor Fluglärm zu-rückbleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Bei der Außenwohnbereichsentschädigung gehen wirsogar deutlich über alles, was bisher in der Rechtspraxisexistiert, hinaus.

Die Forderung einiger Fluglärmschutzverbände, imFluglärmgesetz auch den aktiven Schallschutz zu re-geln, läuft rechtssystematisch ins Leere. Das Fluglärm-gesetz bezieht sich ausdrücklich auf den so genanntenpassiven Schallschutz. Der so genannte aktive Schall-schutz, zu dem technische Anflugregelungen, aber auchRegelungen zum Flugverkehr zu festgelegten Tageszei-ten gehören, wird im Luftverkehrsgesetz erfasst, dasaber nicht Teil dieser Gesetzesinitiative sein kann.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Lassen Sie mich aber bitte feststellen: Es bleibt einer Ge-nehmigungsbehörde auch nach unserer Novellierung desFluglärmgesetzes im Rahmen eines luftrechtlichen Zu-lassungsverfahrens unbenommen, begründet höhere An-forderungen auch an den aktiven Schallschutz festzu-schreiben.

Dieses Gesetz ist mit Sicherheit nicht der Schluss-punkt für den Schutz gegen den Fluglärm, aber es ist einwesentlicher Schritt, der deutlich mehr Rechtssicherheitfür alle Seiten schaffen wird. Lassen Sie uns diesenSchritt heute gehen.

Auch ich möchte noch einige Worte des Dankes los-werden. Am Anfang gab es einige Irritationen. Wir ha-ben aber dann mit dem Umweltministerium eine hervor-ragende Zusammenarbeit gefunden. Lieber KollegeMühlstein, ich glaube, es war ein hartes Stück Arbeit,das wir gemeinsam geleistet haben. Ich danke auch allenanderen Berichterstattern. Auch sie haben sich einge-bracht, sodass wir ein Gesetz geschaffen haben, das zwarnicht allen Bedenken Rechnung trägt. Aber es bestehtdoch so weit Konsens zwischen uns, dass wir als Bun-destag ein bisschen stolz auf dieses Gesetz sein können.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Es ist ja Weihnachten!)

Den Vorwurf – der in einigen Medien gegen das Mi-nisterium erhoben worden ist –, dass die Luftverkehrs-wirtschaft einen unzulässigen Einfluss auf dieses Gesetzgenommen habe, weise ich nachdrücklich zurück. Wasbehauptet wurde, zeugt von Unwissenheit, Ignoranz;man könnte fast sagen: von Böswilligkeit. Deswegenglaube ich, dass wir hier durchaus einmal hinter diesemMinisterium stehen können.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Lutz

Heilmann für Die Linke das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Lutz Heilmann (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Werte Gäste! Wir beraten heute in zweiter und dritter Le-sung die Novellierung des Fluglärmgesetzes. Herr Kol-lege Mühlstein, Sie sprachen davon, dass wir uns in derletzten Sitzungswoche vor Weihnachten befinden. Ichhabe Ihren Ausführungen entnommen, dass Sie der Mei-nung sind, dass dieses Fluglärmgesetz für die Anwohne-rinnen und Anwohner sozusagen ein Weihnachtsge-schenk sei. Wenn wir jetzt vor Ostern stünden, würde icheher sagen, es ist ein komisches Osterei, das Sie denLeuten ins Osternest legen wollen.

(Christian Carstensen [SPD]: Aber wir sind nicht vor Ostern!)

Als Weihnachtsgeschenk würde ich das wahrlichnicht bezeichnen; denn ein effektiver Schutz der Anwoh-nerinnen und Anwohner vor Fluglärm ist mit diesem Ge-setz nicht möglich.

(Christian Carstensen [SPD]: Ach!)

Kein Flughafen – das haben Sie selbst gesagt – wirdleise. Aktiver Lärmschutz – Fehlanzeige.

Da muss ich auch an die FDP einmal ein paar Worterichten. Herr Kauch, bei der Bahn sind Sie nicht so zö-gerlich, für aktiven Lärmschutz zu sorgen. Warum tunSie das nicht auch beim Flugverkehr?

(Michael Kauch [FDP]: Das ist ein anderes Gesetz! Eine völlig andere Basis!)

– Das ist ein anderes Gesetz. Dann haben Sie ja dieMöglichkeit, dem Änderungsantrag unserer Fraktion,der ebenfalls vorliegt, zuzustimmen. Dann können wiraktiven Lärmschutz in dieses Gesetz integrieren.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist eine völlig andere Basis!)

Fluglärm wird ebenso wie der Flugverkehr zunehmenund somit einen noch größeren Beitrag zum weltweitenKlimawandel leisten. Wir debattieren in diesem Hausemomentan ja auch viel über den Klimawandel. BeimThema Fluglärm können wir aktiv etwas gegen den Kli-mawandel tun; zumindest können wir versuchen, ihn zumeistern.

Dieses Gesetz bietet allenfalls den Flughäfen Schutzvor den Anwohnerinnen und Anwohnern; denn diesewerden mit Peanuts abgespeist.

(Beifall bei der LINKEN – Winfried Hermann[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt übertrei-ben Sie aber!)

Erlauben Sie mir einen kurzen Exkurs. Wir reden indiesem Hause viel davon, mehr für unsere Kinder tun zumüssen. Aber wenn unsere Kinder, nachdem sie bis zumMittag in geschlossenen Räumen gesessen haben, am

Nachmittag, wenn sie zu Hause sind, vielleicht auf dieIdee kommen, im Garten zu spielen, wird ihnen durchIhr Gesetz zugemutet, dass dort eine 747 über sie hin-wegrauscht. Damit wird ihnen das Spielen ordentlichverdorben.

Doch nun noch ein paar Gedanken zu dem Gesetzent-wurf. Er hat eine lange Geschichte. Es gab vier rot-grüneEntwürfe, von denen jeder letztendlich schlechter warfür die Anwohnerinnen und Anwohner als sein Vorgän-ger. Das ist auch kein Wunder; denn – eine Frage meinesKollegen Roland Claus an die Bundesregierung brachtees ans Licht und am 19. Oktober war es in einem „Moni-tor“-Bericht in der ARD zu sehen – einige Mitarbeitervon Fraport und des Flughafens Köln sind im Verkehrs-ministerium tätig, und zwar in der Abteilung, die für denFlugverkehr zuständig ist. Ein Schalk, der Schlechtes da-bei denkt.

Nun habe ich nichts gegen Lobbyarbeit. Wir alle ho-len uns auf parlamentarischen Abenden Rat von Sach-verständigen, von Leuten, die tiefere Kenntnisse habenals wir. Aber die Vorgehensweise, dass Vertreter derFlugwirtschaft Gesetzentwürfe schreiben, halte ich ganzeinfach für skandalös. Forderungen, das Gesetz komplettneu zu kodifizieren, sind nicht unbegründet.

Nun zu dem Änderungsantrag der Koalition – auf denÄnderungsantrag meiner Fraktion komme ich gleich zusprechen –: Die Verkürzung der Fristen zur Zahlungvon Erstattungen und Entschädigungen begrüßen wir.Jedoch sind die vorgesehenen fünf Jahre ganz einfach zulang. Lieber Kollege Petzold, es gibt eine ganze MengeLeute, die schon seit zehn, 15 oder 20 Jahren darauf war-ten, dass überhaupt etwas passiert. Sie jetzt noch einmalfünf Jahre warten zu lassen, wäre nicht richtig.

Die Definition der baulichen Erweiterung ist in Ord-nung. Aber die Lex Fraport haben Sie nicht gestrichen.Das wäre ein echter Fortschritt gewesen. Sie wollten mitIhrem Änderungsantrag für mehr Rechtssicherheit sor-gen. Das begrüßen wir ausdrücklich. So sollen gemäߧ 8 Abs. 1 des Luftverkehrsgesetzes Grenzwerte desFluglärmgesetzes beachtet werden. In der vorhergehen-den Fassung hieß es aber, dass diese Werte zugrunde zulegen sind. Was ist nun die schärfere Regelung: „zu be-achten“ – dann muss man nicht so genau hinschauen –oder „zugrunde zu legen“? Nach unserer Meinung ist derzweite Fall die schärfere Regelung. Sie haben also IhrGesetz wesentlich entschärft. Somit kann ich nur sagen:Die Änderungen, die Sie im letzten halben Jahr vorge-nommen haben, reichen nicht aus. Es fehlen klare Vorga-ben zur Begrenzung von Lärm und es fehlt insbesondereder aktive Lärmschutz.

Nun möchte ich Ihnen die wichtigsten Punkte aus un-serem Änderungsantrag vorstellen. Wir plädieren für dieAufnahme des aktiven Lärmschutzes in das Gesetz.Wir sind in diesem Lande der Gesetzgeber und wir ha-ben jederzeit die Möglichkeit, Gesetze so zu gestalten,wie wir es für richtig halten. – Herr Kollege Petzold, esist unhöflich, dass Sie jetzt nicht zuhören. Drehen Siesich doch bitte um! – Wenn wir es für notwendig halten,den aktiven Lärmschutz in das Gesetz aufzunehmen,dann sollten wir das auch tun. Wir sind der Souverän und

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Lutz Heilmann

können eine entsprechende Maßnahme beschließen. Soweit meine staatsrechtliche Bemerkung.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Georg Nüßlein[CDU/CSU]: Das brauchen wir gerade voneuch!)

Als zweiten wichtigen Punkt möchte ich noch einmaldie Frist ansprechen. Wir fordern, dass die Frist für Er-stattungs- und Entschädigungsansprüche auf zwei Jahreverkürzt wird.

Kollege Kauch, Sie haben richtigerweise die Privile-gierung der Militärflughäfen angesprochen, die wirgenauso wie Sie für absurd und für nicht gerechtfertigthalten. Deswegen ist dieser Punkt in unserem Ände-rungsantrag enthalten. Neben der Aufnahme des aktivenLärmschutzes wäre die Ablehnung der Privilegierungder Militärflughäfen der zweite Grund für Sie, unseremÄnderungsantrag zuzustimmen. Wir kommen uns alsorelativ nahe.

(Lachen des Abg. Michael Kauch [FDP])

Des Weiteren fordern wir, die Grenzwerte zu senken.Denn die Grenzwerte, die Sie in dieses Gesetz hineinge-schrieben haben, richten sich beileibe nicht an den aktu-ellen Ergebnissen der Lärmwirkungsforschung aus. Siemüssen gesenkt werden; so können sie nicht bleiben.

Der letzte Punkt, den ich nennen will, ist die Berichts-pflicht der Bundesregierung. Da die Forschung schnellvoranschreitet, fordern wir, dass die Bundesregierungalle fünf Jahre und nicht alle zehn Jahre Bericht erstattenmuss.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, unse-rem Änderungsantrag zuzustimmen. Denn nur so kön-nen wir den Anwohnerinnen und Anwohnern einen ef-fektiven Lärmschutz gewährleisten. Ansonsten könntenwir das alte Fluglärmgesetz beibehalten, frei nach demshakespeareschen Motto: Viel Lärm um nichts.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche einfrohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Syl-via Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege

Winfried Hermann.

Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Auch wir Grüne begrüßen es, dass es nach35 Jahren heute wohl gelingen wird, das Fluglärmgesetzzu novellieren.

(Zuruf von der SPD: Prima!)

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, will ich sagen,dass dieses Gesetz schon 1998, als es 27 Jahre alt war,veraltet war. Wir haben damals unter Rot-Grün eine Alt-last übernehmen müssen. Es ist mir leider nicht vergönntgewesen – das bedaure ich; ich habe es schon einmal öf-

fentlich bekundet –, in den sieben Jahren rot-grüner Re-gierung ein neues Gesetz durchzubringen. Dieses Gesetzhätte viel früher kommen müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der CDU/CSU – Christian Carstensen[SPD]: Aber heute beschließen wir es gemein-sam!)

Ich muss aber auch sagen, dass ich immer wieder vonder Leistung der großen Koalition überrascht bin. Insbe-sondere überraschen mich die Genossinnen und Genos-sen, weil sie nämlich erst die CDU/CSU brauchen, umdas zu machen, was sie schon sieben Jahre vorher mituns hätten machen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Im Wesentlichen, was die Grundzüge betrifft, stammtdieser Gesetzentwurf aus der Zeit der rot-grünen Regie-rung und insbesondere aus dem Hause Trittin. Damit ister nicht per se gut. Ich will aber deutlich sagen: Ich binfroh, dass Sie nicht hinter dieses Projekt zurückgefallensind. Ich will Ihnen durchaus zugestehen, dass Sie dasGesetz im parlamentarischen Verfahren nicht schlechtergemacht haben, sondern an verschiedenen Stellen sogarnoch nachgebessert haben. Dafür mein Kompliment.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zu Recht weisen Sie darauf hin, dass es eine deutlicheAbsenkung der Grenzwerte um 10 Dezibel gibt. Aberes ist natürlich keine Kunst – an dieser Stelle fängt diekritische Betrachtung an –, nach 35 Jahren einen Grenz-wert um 10 Dezibel abzusenken, wenn die Technologiein derselben Zeit die Verringerung der Lärmemissionenbei Verkehrsflugzeugen um 20 Dezibel möglich gemachthat. Das heißt, im Grunde genommen hinken auch dieserGesetzentwurf und damit seine Grenzwerte der techni-schen Entwicklung hinterher. Er ist auf keinen Fall sehrambitioniert. Sie tun aber Folgendes: Sie retten sozusa-gen die Ehre des deutschen Parlaments, damit wiederGesetzesrecht des Parlaments und nicht Richterrechtgilt, wie es in den vergangenen Jahren geschehen ist.

(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: So ist es!)

Aus Sicht der Grünen ist der Gesetzentwurf nicht op-timal und an einzelnen Stellen nicht wirklich ausgewo-gen. Ich will dies an drei Punkten aufzeigen. ErsterPunkt: die Grenzwerte. Ich halte es für nicht gut, dassSie der Besonderheit der Nachtschutzzonen und derSchlafbedrohung durch Fluglärm nicht angemessenRechnung tragen. Alle Experten sagen, dass aus gesund-heitlichen Gründen in der Nacht ein Grenzwert von45 Dezibel festgelegt werden muss. Sie sind deutlichdarüber geblieben. Sie hatten nicht den Mut, so weit zugehen.

Sie haben meines Erachtens unnötigerweise eine LexFraport beschlossen. Sie führen zwar neue Grenzwerteein, lassen aber genügend Zeit, damit die geplanten Aus-baumaßnahmen noch im Rahmen der alten Grenzwerteerfolgen können. Das ist nicht ausgewogen. Da haben

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Winfried Hermann

Sie die Interessen eines bestimmten Flughafens einseitigberücksichtigt.

Zweiter Punkt: der Charakter von Grenzwertfestset-zungen. Wir können anhand der Geschichte dieses Ge-setzes erkennen, dass es kein modernes Umweltrecht ist,wenn man Grenzwerte auf ewig festsetzt. Man muss sicheinmal übertragen vorstellen, was wäre, wenn heute fürAutos die gleichen Emissionsgrenzwerte wie vor35 Jahren gelten würden. Da gibt es selbstverständlicheine dynamische Fortschreibung der Grenzwerte, alsoalle fünf Jahre eine neue Euronorm mit deutlich abge-senkten Werten. In diesen Zeiträumen geht es nicht umeine Senkung um 10 Dezibel, sondern um die Absen-kung der Werte um 80 bis 90 Prozent.

Wir müssen also auch im Lärmbereich zu einer regel-mäßigen kritischen Überprüfung und Anpassung derGrenzwerte kommen. In Ihrem Gesetzentwurf wird nurdie Überprüfung festgelegt, aber keine sichere Konse-quenz formuliert. Wir fordern, dass es eine regelmäßigeAnpassung im Sinne der Lärmwirkungsforschung gibt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dritter Punkt: Auch wir schätzen es so ein – dieswurde von meinen Kollegen von der Opposition schonangesprochen –, dass die besondere Privilegierung desmilitärischen Fluglärms und damit die Benachteiligungder Anwohner von Militärflughäfen nicht zu rechtferti-gen ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie brauchen mir da nichts vorzumachen; denn schon zuunserer Regierungszeit hat sich sofort der Verteidigungs-minister gemeldet und gesagt, das koste zu viel Geld.Das war auch jetzt wieder ein Argument. Weil man dieKasse des Verteidigungsministers nicht quälen und demMinisterium nichts zumuten wollte, obwohl es sich, ge-messen an diesem großen Etat, um eine kleine Summehandelt, müssen die Anwohner von Militärflughäfen aufSchallschutzmaßnahmen verzichten. Das ist nicht fair;das ist nicht gerecht. Das finden wir nicht gut und das istkorrekturwürdig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Ich will zum Ende meiner Rede deutlich machen, dassdas Fluglärmgesetz natürlich nicht das Ende des Lärm-schutzes an Flughäfen sein kann. Kollege Heilmann, dasist ein Konzept des passiven Lärmschutzes; das ganzeGesetz ist so konzipiert. Man soll es nicht überfordern,sondern klar sehen, dass es andere Gesetzesfelder gibt,wo man den aktiven Lärmschutz angehen muss, etwa beider europäischen Richtlinie zur lärmbedingten Betriebs-beschränkung, die nicht ambitioniert in deutsches Rechtumgesetzt wird. Hier gibt es Spielräume, aktiv einzu-grenzen und zu sagen: Wenn zu viel Lärm entsteht, dannkönnen Flughäfen anders als bisher eingreifen und Ein-schränkungen vornehmen.

Ein weiteres Feld ist schon eröffnet. Wir werden dem-nächst europaweit Daten darüber sammeln, wie sichLärm in Ballungsräumen ausbreitet, und sie kartieren.Dabei müssen natürlich die Zonen um Flughäfen in be-

sonderer Weise berücksichtigt werden. Wir werden dannwahrscheinlich sehr beeindruckende Lärmkarten bekom-men und daraus abgeleitet die Aufforderung, aktiveLärmschutzpläne auszuarbeiten und Maßnahmen bzw.Strategien vorzuschlagen, damit es in diesem Bereichinsgesamt zu weniger Lärm kommt.

Sie sehen, es ist noch viel zu tun. Wir sollten uns nichtgleich auf die Ruhebank setzen und sagen: Jetzt wartenwir 35 Jahre. Es wäre bedauerlich, wenn erst im Jahre2040 kurz vor Weihnachten wieder einmal ein DeutscherBundestag über ein solches Gesetz beraten würde. Ichhoffe, wir kommen zu einer früheren Novellierung undzu einer rechtzeitigen Anpassung der Grenzwerte an das,was die Forschung uns immer wieder sagt.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Georg Nüßlein,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Man

merkt, dass Weihnachten bevorsteht. Sehr geehrter HerrHermann, ich möchte in diesem Stil weitermachen undmich bei Ihnen für die Anerkennung der Leistungen dergroßen Koalition auf der einen Seite und die Ehrlichkeitauf der anderen Seite, mit der Sie dieses Thema eben be-handelt haben, bedanken.

Bevor es zu diesem Fluglärmgesetz kommen konnte,gab es einen langen Landeanflug, stellenweise etwas Ge-töse, einige Turbulenzen. Das liegt natürlich an den vie-len Piloten und Fluglotsen, die an diesem Prozess betei-ligt waren. Herr Heilmann, wenn man das, was Sie unsgerade gesagt haben, auch noch berücksichtigen wollte,wäre die Angelegenheit nebulös geworden und die ganzeAngelegenheit wäre zu einem Blindflug geworden.

Ich möchte das aufgreifen, was Herr Hermann gerademit seinem Wort von der Lex Fraport angedeutet hat,nämlich dass der eine oder andere behauptet hat, es habebei diesem Prozess auch noch ein paar blinde Passagiere,nämlich Lobbyisten, gegeben, die an entscheidenderStelle ihren Einfluss ausgeübt hätten. Wenn wir im Deut-schen Bundestag einer solchen Behauptung das Wort re-den, dann begehen wir einen entscheidenden Fehler,

(Beifall des Abg. Ulrich Petzold [CDU/CSU])

weil wir uns selber damit bei dem infrage stellen, waswir hier, unabhängig und nur unserem Gewissen unter-worfen, tun.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Weil ich selber nicht zu den Berichterstattern gehöre,möchte ich an der Stelle – wie es viele Vorredner auchgetan haben – den Berichterstattern nicht nur für dieviele Arbeit, sondern auch ganz entscheidend dafürdanken, dass sie diese Arbeit in großer Unabhängigkeit

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Dr. Georg Nüßlein

und in der Abwägung verschiedener Interessen getan ha-ben.

(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: HerzlichenDank! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ja,ist denn heute schon Weihnachten?)

Wir sind mit der zweiten und dritten Lesung diesesGesetzentwurfs heute auf dem Boden der Tatsachen ge-landet. Tatsache ist: Der Verkehrslärm nimmt zu. DieBelastung, die die Bevölkerung trägt, muss man beach-ten und man muss als Gesetzgeber etwas dagegen tun.Als Umweltpolitiker sage ich Ihnen auch auf die Gefahrhin, missverstanden zu werden, ganz klar: Umweltschutzist in erster Linie auch Menschenschutz.

(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Richtig!)

Tatsache ist: Es wollen viele fliegen; die wenigstenwollen aber einen Flughafen vor der Haustür. Auch da-für habe ich Verständnis. Aber wir müssen auch Folgen-des sehen: Wir sind eine Exportnation. Güter und Men-schen müssen wir wettbewerbsfähig transportierenkönnen.

Ich möchte auch noch hinzufügen: Dieses Gesetz bür-det – je nachdem, wie man es berechnet – den zivilenFlughäfen, den Kommunen und den Ländern Kosten biszu einer Höhe von 738 Millionen Euro auf. Das sage ichnur, damit wir wissen, um welche Größenordnung essich hier handelt. Ich möchte noch eine weitere Zahlnennen: Es sind 400 Millionen Euro in diesen Bereichals Vorleistungen auf Basis des alten Gesetzes und auffreiwilliger Basis geflossen. Auch das sollte man einmalanerkennen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Tatsache ist natürlich: Es handelt sich um einen Kom-promiss, um keine Punktlandung. Das ist aber sehr vielbesser, als dieses Thema permanent in der Luft zu hal-ten, wie wir es über Jahre und Jahrzehnte getan haben.

(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Wohl wahr!)

Ich möchte jetzt etwas zum Thema Richterrecht sa-gen. Wir haben im Unterschied zum anglofonen Bereichkein „case law“, es also nicht mit der Situation zu tun,dass mithilfe von Präzedenzfällen für Rechtssicherheitgesorgt wird. Deshalb sind wir als Gesetzgeber aufgeru-fen, diesen Sachverhalt nicht schleifen zu lassen undRechts- und Planungssicherheit zu schaffen. Das tun wirmit diesem Gesetz.

Eines ist aus meiner Sicht ganz klar: Wir schaffenMindeststandards – ich möchte das noch einmal aus-drücklich betonen, weil viele ja sagen, das sei alles kri-tisch zu sehen –, über die man hinausgehen kann. Denje-nigen, die Bau- bzw. Ausbaumaßnahmen durchführen,sei geraten, über diese Mindeststandards hinauszugehen.Das verbessert die Akzeptanz. Es gibt ja auch nicht nurden passiven Lärmschutz, sondern auch den aktivenLärmschutz. Das sollte man entsprechend berücksichti-gen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Von uns wurde die Tatsache kritisch gewürdigt – ins-besondere in der CSU wurde darüber diskutiert –, dasswir ohne zeitliche Begrenzung zwischen zwei Klassendifferenzieren, nämlich zwischen denjenigen, die an be-stehenden Flughäfen wohnen, und denjenigen, die anneu zu errichtenden Flughäfen wohnen. Das ist unbefrie-digend.

(Beifall des Abg. Winfried Hermann [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir akzeptieren hier Unterschiede von 5 dB(A), undzwar über die im Gesetz vorhandene Schwelle desJahres 2011 hinaus. Das ist bedauerlich. Wir haben aberfür das Jahr 2015 eine Überprüfung geregelt. Es ist imÜbrigen eine gute Idee, das in einem Gesetz festzu-schreiben. Solche Regelungen sollten wir immer wiedertreffen. In diesem Rahmen haben wir die Chance, dieseDifferenzierung zu korrigieren. Aus der Sicht der CSUwäre das wünschenswert.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die SPD-Fraktion spricht der Kollegen Christian

Carstensen.

(Beifall bei der SPD)

Christian Carstensen (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es schon gemerkt:Das Thema Fluglärm und die damit verbundene Diskus-sion über den notwendigen Schutz der Anwohnerinnenund Anwohner bewegt die Gemüter heute ebenso wiefrüher.

Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden verzeich-nete für das damals geteilte Deutschland im Jahr 1970rund 8,8 Millionen Fluggäste bei rund 630 000 Flugbe-wegungen. Der Umweltschutz war in dieser Zeit geradeerst auf der bundespolitischen Tagesordnung aufge-taucht.

(Michael Kauch [FDP]: Bei der FDP!)

Der damals zuständige Bundesinnenminister Genscher– ein eigenes Umweltressort war damals noch gar nichtdenkbar – brachte eine Grundgesetzänderung auf denWeg, die dem Bund erstmals volle Gesetzgebungskom-petenz für den Umweltbereich bringen sollte.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Und mit was? Mit Recht!)

– Mit Recht natürlich und mit einem sozialdemokrati-schen Koalitionspartner. – Gleichzeitig wurde ein Ge-setzentwurf zum Schutz vor Fluglärm in der Umgebungvon Flughäfen eingebracht. Der Bundestag brauchtezwei Legislaturperioden, um das Gesetz um 16. Dezem-ber 1970 endlich in dritter Lesung beschließen zu kön-nen.

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Christian Carstensen

Heute, in der letzten Sitzungswoche des Jahres 2006,also bis auf zwei Tage genau 36 Jahre später, kommt esendlich zu einer umfassenden Erneuerung des Gesetzes.Viel hat sich seitdem verändert. Auf manchen Felderngibt es aber überraschende Parallelen. Die Zahl derFluggäste und -bewegungen im zum Glück längst ver-einten Deutschland hat sich dramatisch verändert. 2005wurden nicht mehr wie damals 8,8 Millionen, sondernrund 146 Millionen Fluggäste gezählt. Die Zahl derFlugbewegungen erhöhte sich von den genannten630 000 auf über 2 Millionen. Es wird also wirklich Zeit,die gesetzlichen Regelungen für den Schutz vor Flug-lärm auf eine neue Grundlage zu stellen.

Aber auch diesmal hat der Bundestag – das ist ange-sprochen worden – lange dafür gebraucht. Da die nach-folgende Generation ja immer steigerungsfähig ist, ha-ben wir nicht zwei, sondern drei Wahlperiodengebraucht. Umso besser ist es, dass wir uns dieses Maldarauf verständigt haben, die Bundesregierung schonjetzt auf eine Überprüfung nach zehn Jahren zu ver-pflichten. Damit legen wir bereits heute die Grundlagedafür, dass nicht erst wieder dreieinhalb Jahrzehnte insLand gehen müssen, ehe das Gesetz den aktuellen Gege-benheiten angepasst wird. Kollege Hermann, aus dieserRegelung folgt, dass, wenn Bedarf besteht, nach zehnJahren entsprechend gehandelt wird.

(Zuruf von der SPD: Genau!)

Herr Kollege Nüßlein, das ist im Übrigen ein Grund,warum wir heute noch keine Vereinbarung für dasJahr 2020 – Sie und einige andere haben das angespro-chen bzw. gefordert – in das Gesetz hineinschreibenmüssen. Für Versprechungen gegenüber den Anwohne-rinnen und Anwohnern, die sich bei einer Überprüfungin zehn Jahren möglicherweise als unerfüllbar heraus-stellen werden, sind jedenfalls wir Sozialdemokratennicht zu haben; das sollte aber für uns alle gelten.

Nach den Diskussionen der letzten Wochen liegt unsein Gesetzentwurf vor, der sich sehen lassen kann. DasGesetz wird den notwendigen und wichtigen Schutz derAnwohnerinnen und Anwohner verbessern und denFlughäfen Planungs- und Rechtssicherheit bieten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

An dieser Stelle möchte ich allen Beteiligten herzlichdanken. Dieser Dank richtet sich natürlich an die Kolle-ginnen und Kollegen von der Koalition für die gute undvertrauensvolle Zusammenarbeit, aber eben auch an dieVertreter der Opposition für kritische Anmerkungen undFragen, die dann koalitionsintern für konstruktive Dis-kussionen gesorgt haben. Kollege Hermann hat das ge-rade von dieser Stelle aus noch einmal ausdrücklich ge-würdigt.

Nicht nur deswegen geht bei dem Dank an die Oppo-sition ein besonderer Dank an die Grünen, weil – Sie er-wähnten das schon – wichtige Vorarbeit in der letztenWahlperiode für den letztendlich rot-grünen Gesetzent-wurf geleistet wurde. Daher wussten Sie – das haben Sieim Februar bei der Debatte zur ersten Lesung erwähnt –um die vorhandenen Schwächen. Aber ich hoffe, dass

Sie heute auch um die Stärken des Gesetzentwurfs wis-sen und es am Ende so machen werden wie die FDP unddem Gesetzentwurf gemeinsam mit uns zustimmen.

(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Nein!)

– Sie haben noch ungefähr zehn Minuten Zeit zumNachdenken.

Der Dank geht – das Umweltministerium wurde ganzoft angesprochen – an den Umweltminister, aber auch anden Bundesverkehrsminister und die entsprechendenHäuser für die Begleitung der parlamentarischen Arbeitund nicht zuletzt an die Vertreter der Anwohnerinnenund Anwohner und auch der Luftverkehrswirtschaft fürihre – es war nicht anders zu erwarten – höchst unter-schiedlichen Hinweise. Natürlich konnten wir nicht alleaufgreifen; denn es galt, einen fairen Interessenaus-gleich herzustellen. Aber alle Hinweise wurden sehrernst genommen und ausführlich beraten. Mein KollegeMühlstein hat schon auf zahlreiche Verbesserungen imInteresse der Anwohnerinnen und Anwohner hingewie-sen.

Nun werden Sie sicherlich Verständnis dafür haben,dass ich als Verkehrspolitiker mich auf die Situation undBedeutung der Luftverkehrswirtschaft konzentrierenmöchte. Das tue ich, nicht obwohl, sondern gerade weilich selbst vom Lärm betroffener Anwohner – in diesemFall des Flughafens Hamburg – bin. Ich weiß nicht, obhier noch der eine oder andere Flughafenanwohner an-wesend ist.

(Michael Kauch [FDP]: Hier!)

Wir Flughafenanlieger kennen nicht nur den Lärm,sondern wir kennen fast alle auch Freunde, Nachbarnoder Verwandte, die am Flughafen oder im unmittelba-ren Umfeld arbeiten. Zurzeit sind das rund 770 000Menschen. Glücklicherweise gehen die Erwartungen da-hin, dass diese Zahl noch steigt. Das geschieht aber nichtautomatisch. Die neuen Arbeitsplätze entstehen nur,wenn unsere Luftverkehrswirtschaft im internationalenWettbewerb bestehen kann. Einen wichtigen Schritt zurVerbesserung der Wettbewerbssituation gehen wir heutemit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzent-wurfs.

Denn wir schaffen damit die seit langem von allenSeiten geforderte Rechts- und Planungssicherheit. Eswar einfach ein unhaltbarer Zustand, ein so altes Gesetzzu haben, dass Richterrecht das geschriebene Rechtlängst korrigierte. Gleichzeitig sichern wir letztlich imInteresse aller durch abgestufte Bauverbote und -be-schränkungen den Flughäfen notwendige Freiräume undvermeiden zukünftige Nachbarschaftskonflikte.

Natürlich reicht das nicht aus. Gerade im Bereich derLuftfahrt sind weitere Anstrengungen notwendig, um dieZukunft dieser Wachstumsbranche zu sichern. Die not-wendigen Ausbauvorhaben in München und Frankfurtzeigen, wie wichtig die Verkürzung der Planungszeit-räume in unserem Land ist. Zahlreiche EU-Vorhaben unddie allgemeine Entwicklung in der Branche – nicht zu-letzt mit neuen Konkurrenten im Nahen Osten – bedürfen

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Christian Carstensen

der Begleitung. Auch im industriellen Bereich ist zumBeispiel bei der Ingenieurausbildung regelmäßige Unter-stützung wichtig.

Ein neuer Luft- und Raumfahrtkoordinator könnte da-bei ausgesprochen hilfreich sein. Ich hoffe sehr, dass,nachdem wir die Einführung der neuen maritimen Koor-dinatorin erleben konnten, hier nun bald ein entspre-chender Ansprechpartner für die Luft- und Raumfahrtzugegen sein wird.

Sicherlich ist nicht jeder mit diesem Gesetz rund-herum zufrieden. Es bleibt die Frage, ob es nicht auf dereinen oder anderen Seite etwas weniger und auf der ei-nen oder anderen Seite etwas mehr hätte sein können.Tatsächlich – das haben wir gerade schon wieder erlebt –versuchen einige, einen derartigen Wettbewerb zu star-ten. Sie fordern die Überprüfung schon nach fünf stattnach zehn Jahren, hier ein paar Dezibel weniger und dortein paar Ausnahmen bei den Siedlungsbeschränkungenmehr.

(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Sagen Sie, wo-her aus Hamburg Sie kommen!)

Wir werden uns – das sage ich Ihnen ganz deutlich – andiesem Spiel nicht beteiligen. Zur Begründung möchteich Sie noch einmal kurz zu den Anfängen des Fluglärm-schutzgesetzes entführen.

(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Wo in Ham-burg wohnen Sie denn?)

Vor 36 Jahren fasste der SPD-Abgeordnete Konrad dieBeratungen laut Protokoll wie folgt zusammen:

Das Fluglärmgesetz berücksichtigt in seiner heuti-gen Form die Gesichtspunkte, die ein solches Ge-setz nun einmal berücksichtigen muß. Die gesund-heitspolitischen und die wirtschaftspolitischenInteressen sind vernünftig koordiniert, was poli-tisch durchsetzbar und finanziell möglich ist, habenwir beschlossen.

Vieles hat sich geändert, aber diese Zusammenfassunggalt damals und gilt heute. Deswegen bitte ich Sie alle:Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zum Abschluss dieser Debatte erteile ich das Wort

dem Kollegen Norbert Königshofen, CDU/CSU-Frak-tion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Norbert Königshofen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man

könnte sagen: Was lange währt, wird endlich gut. Wirhaben lange, 35 Jahre lang, praktisch seit der letzten ge-setzlichen Regelung, immer wieder über dieses Themadiskutiert und in den letzten Monaten hart miteinander

gerungen, galt es doch, die Quadratur des Kreises schaf-fen zu müssen.

Ich glaube, dass sich das Ergebnis unserer Beratungensehen lassen kann. Es ist ein vernünftiger Kompromiss,ein fairer Ausgleich zwischen dem Anliegen der Men-schen nach Schutz vor übermäßigem Fluglärm und denlegitimen ökonomischen Interessen der Luftverkehrs-wirtschaft. Herr Kollege Carstensen hat schon daraufhingewiesen, dass immerhin mehr als eine dreiviertelMillion Menschen direkt oder indirekt in der Luftver-kehrswirtschaft beschäftigt sind. Auch das ist ein wichti-ger Gesichtspunkt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Drei zentrale Ziele werden wir mit dieser Gesetzesno-velle erreichen: Das 35 Jahre alte Fluglärmgesetz – zu-letzt Richterrecht – wird grundlegend modernisiert, derSchutz der Menschen vor Fluglärm wird erheblich ver-bessert und es wird Rechts- und Planungssicherheit fürzukünftige Neu- und Ausbaumaßnahmen geschaffen.Die Kollegen Dr. Nüßlein und Carstensen haben bereitsdarauf hingewiesen, dass wir weg vom Richterrechtwollten.

Ich will nicht all das wiederholen, was bereits vorge-tragen worden ist, sondern zwei Aspekte ansprechen, diein dieser Diskussion, wie ich glaube, von besonderer Be-deutung sind. Zum einen geht es um die vielfach kriti-sierte Ungleichbehandlung von bestehenden und neu ge-bauten bzw. wesentlich ausgebauten Flughäfen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)

Hier gelten unterschiedliche Lärmgrenzwerte.

Richtig ist – das muss man sehen –: Die Lärmbelas-tung der Menschen ist in beiden Fällen gleich groß.Wenn dennoch unterschiedliche Werte gelten, dann mussman berücksichtigen, dass Flughäfen, die neu gebautoder wesentlich erweitert werden, die Möglichkeit ha-ben, sich auf die damit verbundenen Kosten einzustellenund diese Gelder zu erwirtschaften. Für bestehendeFlughäfen ist das aufgrund der Kapazitätsgrenze, die esnun einmal gibt, so schnell nicht möglich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Diese unterschiedliche Ausgangslage rechtfertigt eineunterschiedliche Behandlung.

Bei Straßen und Schienen herrschen – auch das istschon gesagt worden – ähnliche Unterschiede: Der Neu-bau von Autobahnen und Schienenwegen erfolgt mitLärmschutz, an bestehenden Straßen und Schienen ha-ben die Bürger darauf keinen Anspruch. Wir haben dazuein freiwilliges Programm aufgelegt. Im Übrigen sinddie Grenzwerte bei Schienenwegen und Straßen erheb-lich höher als die, die demnächst für bestehende Flughä-fen gelten werden.

(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Das ist ja wohlauch etwas anderes! Man kann doch nichtÄpfel mit Birnen vergleichen!)

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Norbert Königshofen

– Herr Kollege, ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie wie ichneben einem alten Schienenweg wohnen würden, aufdem nachts ein Güterzug fährt, dann hätten auch SieSpaß.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – LutzHeilmann [DIE LINKE]: Ja! Aber Fluglärm istdoch etwas anderes als Schienenlärm, oder?Fragen Sie die Wissenschaftler!)

Der zweite Gesichtspunkt, den ich erwähnen möchte,wurde in der letzten Zeit schon häufig angesprochen: Esgeht um die Frage, ob die Verlängerung einer bereits be-stehenden Nachtfluggenehmigung als neues Kriteriumfür eine weitere Verschärfung der Lärmgrenzwerte ein-geführt werden sollte.

Man muss in der Tat sagen: Der entsprechende Vor-schlag ist bedenkenswert. Denn Nachtflugverkehrbringt, was ja niemand leugnen kann, zusätzliche Belas-tungen. Wenn man das durch schärfere Grenzwertemildern könnte, wäre das mehr als einen Gedanken wert.Nur, wir haben auch zu sehen, dass diese Verschärfungwegen der notwendigen Maßnahmen zu erheblichenMehrkosten führen würde. In Hannover-Langenhagenwerden diese Kosten auf 50 Millionen Euro geschätzt. InKöln wäre der Betrag mit Sicherheit gleich hoch. DieFolge wären höhere Gebühren und wegen der Kosten-steigerungen bestünde die Gefahr einer Abwanderungvon Logistik- und anderen Unternehmen. Wir haben hiereine schwierige Abwägung zu treffen. Nachtflugverboteund -erlaubnisse sind Ländersache. Wir haben die Minis-terpräsidenten gefragt. Ihr Votum war, sich für dieArbeitsplätze zu entscheiden, gegen eine zusätzlicheVerschärfung der Grenzwerte. Das haben wir dann auf-gegriffen und berücksichtigt. Aber ich gebe gerne zu,das ist ein Thema, das auf der Tagesordnung bleibt.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege.

(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Ja, ist besser!)

Norbert Königshofen (CDU/CSU): Ich kann es ganz kurz machen, Frau Präsidentin: Ich

bin mir sicher, dass wir dieses Thema weiter verfolgenund spätestens in zehn Jahren erneut eine Diskussion ha-ben werden. Wir werden in diesem Hause mit Sicherheitnoch viel über Lärm sprechen, vielleicht demnächst überden Lärm an bestehenden Schienensträngen, der dieBürger ähnlich quält. Ich hoffe, dass wir genauso koope-rativ und konstruktiv zusammenarbeiten, und möchtemeine Rede beschließen mit einem Dank an alle, diemitgearbeitet haben in der großen Koalition: HerrMühlstein und Herr Carstensen natürlich, bei uns FrauDött und Herr Dr. Lippold.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege!

Norbert Königshofen (CDU/CSU): Auch ein Dank an das Ministerium! Mein letzter

Dank geht an die Präsidentin, dass sie mit mir so vielGeduld gehabt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit sind wir am Ende dieser Debatte.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurVerbesserung des Schutzes vor Fluglärm in der Umge-bung von Flugplätzen auf Drucksache 16/508.

Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit empfiehlt unter Nr. I seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/3813, den Gesetzentwurf in derAusschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Ände-rungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zu-erst abstimmen, Drucksache 16/3863. Wer stimmt fürdiesen Änderungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Der Änderungsantrag ist bei Prostimmen derLinksfraktion, Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünenund Ablehnung durch die übrigen Mitglieder des Hausesabgelehnt.

Zum Gesetzentwurf liegen persönliche Erklärungennach § 31 unserer Geschäftsordnung vor von MichaelHartmann (Wackernheim), Elisabeth Winkelmeier-Becker, Ute Granold, Josef Göppel und Siegfried Kau-der.1)

Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die-sem Gesetzentwurf zugestimmt haben die Abgeordnetender SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und die überwie-gende Mehrheit der Abgeordneten der CDU/CSU-Frak-tion. Abgelehnt haben den Gesetzentwurf die FraktionenDie Linke und Bündnis 90/Die Grünen und einige Abge-ordnete der CDU/CSU-Fraktion. Damit ist der Gesetz-entwurf in zweiter Beratung angenommen.

(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Eine Enthal-tung!)

– Bei Enthaltung eines Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge-setzentwurf mit dem gleichen Abstimmungsverhältnisangenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-ßungsanträge.

Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-tion der FDP auf Drucksache 16/3862? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag derFDP-Fraktion ist bei Zustimmung der FDP-Fraktion undEnthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak-tion Die Linke abgelehnt.

1) Anlagen 2 und 3

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-tion Die Linke auf Drucksache 16/3860? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag derFraktion Die Linke ist bei Zustimmung der Fraktion DieLinke und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der FDP-Fraktion abgelehnt.

Wir kommen jetzt zum Entschließungsantrag derFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache16/3861. Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltun-gen? – Damit ist dieser Entschließungsantrag bei Zu-stimmung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenund Enthaltung der Linksfraktion mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion abgelehnt.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 7 b. Wir set-zen die Abstimmungen zur Beschlussempfehlung desAusschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit auf Drucksache 16/3813 fort.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. II seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion der FDP auf Drucksache 16/263 mit dem Titel „DasFluglärmgesetz unverzüglich und sachgerecht moderni-sieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Diese Beschluss-empfehlung ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktionund bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/DieGrünen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen undder Linksfraktion angenommen.

Unter Nr. III empfiehlt der Ausschuss die Ablehnungdes Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenauf Drucksache 16/551 mit dem Titel „Den Schutz derAnwohner vor Fluglärm wirksam verbessern“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Diese Beschlussempfehlung istbei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/DieGrünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktionangenommen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus-schuss) zu der Unterrichtung durch den Wehrbe-auftragten

Jahresbericht 2005 (47. Bericht)

– Drucksachen 16/850, 16/3561 –

Berichterstattung:Abgeordnete Anita Schäfer (Saalstadt)Hedi Wegener Elke Hoff Paul Schäfer (Köln)Winfried Nachtwei

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazuhöre ich keinen Widerspruch.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbe-auftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe.

Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des DeutschenBundestages:

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Ich hoffe, die Präsidentin sieht esmir nach, wenn ich ausnahmsweise auch die Soldatenauf der Zuschauertribüne herzlich willkommen heiße.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

Seit meinem Amtsantritt im vergangenen Jahr bin ichhäufiger gefragt worden, was die gravierendsten Pro-bleme bei der Bundeswehr seien. Anders gefragt: Wodrückt den Soldatinnen und Soldaten unserer Bundes-wehr am meisten der Schuh? Manche erwarten auf der-artige Fragen eine Zusammenfassung dessen, was ausden etwa 6 000 Eingaben hervorgeht, die ich als Wehr-beauftragter Jahr für Jahr auf den Tisch bekomme. Einesolche Zusammenfassung würde zumindest aus meinerSicht aber nur einen Teil der Realität widerspiegeln.

Meine Antwort auf diese doch recht komplizierteFrage nach der Stimmung in der Truppe sieht sehr vieleinfacher und schlichter aus. Aus meiner Sicht bewegtdie Soldatinnen und Soldaten am meisten die Tatsache,dass im soldatischen Alltag Anspruch und Wirklich-keit nicht selten weit auseinander klaffen. Zum Beispielwird bei der mit aller Kraft vorangetriebenen Transfor-mation der Bundeswehr nicht ausreichend im Auge be-halten, welche enormen Folgewirkungen sich aufgrundder zusätzlichen Einsatznotwendigkeiten in den letztenzehn Jahren für das Personal, für das Material und vorallen Dingen für die Finanzausstattung ergeben haben.

Anspruch und Wirklichkeit liegen auch dann einStück auseinander, wenn von den Verantwortlichen inPolitik und Bundeswehr die Leistungen der Soldatin-nen und Soldaten zwar in höchsten Tönen gelobt wer-den, auf der anderen Seite gerade diese hoch gelobtenSoldatinnen und Soldaten aber immer weniger im Porte-monnaie haben und außerdem die Tatsache unerwähntbleibt, dass zwei Drittel aller Soldatinnen und Soldatenzu den unteren Einkommensgruppen in unserer Gesell-schaft gehören.

Der frühere Bundespräsident Johannes Rau hat ein-mal den ebenso schlichten wie eindrucksvollen Satz ge-sagt: „Sagen, was man tut, und tun, was man sagt“. Dasist nicht nur eine Aufforderung zu mehr Glaubwürdig-keit in Politik und Gesellschaft, das ist im Grunde aucheine wichtige Säule der so genannten inneren Führung– „so genannt“ sage ich nur für diejenigen, die nicht je-den Tag mit der Bundeswehr zu tun haben –; denn ausGlaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit erwächst Ver-trauen. Vertrauen ist eine unverzichtbare Grundlage fürdie Menschenführung, für die Motivation, für die Ein-satzbereitschaft und auch für die soldatische Kamerad-schaft.

Das Prinzip, sein Denken und Handeln immer an derGlaubwürdigkeit auszurichten, gilt selbstverständlichund in ganz besonderer Weise auch für mich als Wehrbe-auftragten. Deshalb habe ich mir unmittelbar nach mei-ner Vereidigung einige Grundsätze vorgenommen, diefür meine Amtsführung bestimmend sein sollen und aus

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Wehrbeauftragter Reinhold Robbe

meiner Sicht auch dazu beitragen können, Vertrauen undGlaubwürdigkeit zu stärken.

Zu diesen Grundsätzen gehört, dass ich möglichstnahe bei unseren Soldatinnen und Soldaten sein möchte.Deshalb habe ich die Zahl der Truppenbesuche ausge-weitet und bin ich zwischenzeitlich dazu übergegangen,in den Heimatstandorten fast nur noch unangemeldeteTruppenbesuche durchzuführen.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

Darüber hinaus bin ich darum bemüht, einmal im Jahralle Einsatzgebiete aufzusuchen. Dies entspricht meinemVerständnis von Basisnähe. Vor allem aber entsprichtdas auch den Erwartungshaltungen der Soldatinnen undSoldaten.

Daneben möchte ich als „Hilfsorgan des Bundesta-ges“, wie es im Grundgesetz heißt, sehr gerne dabei hel-fen, die besonderen Themen der Bundeswehr in unserParlament hineinzutragen. Der Bundespräsident hat dan-kenswerterweise mehr Anteilnahme für die Soldatinnenund Soldaten eingefordert, die ihre Gesundheit und ihrLeben für unser Land einsetzen. Ich finde, das gilt erstrecht für den Deutschen Bundestag. Insofern versteheich meine Aufgabe durchaus auch als eine Art Dienst-leister, dessen Auftraggeber das Parlament ist. Meine ge-wonnenen Erkenntnisse, meine Erfahrungen und meineEinschätzungen stehen deshalb selbstverständlich nichtnur dem Fachausschuss und den Mitgliedern des Vertei-digungsausschusses, sondern auch allen anderen Parla-mentariern in sämtlichen Bereichen zur Verfügung.

Meine Damen und Herren, dem Plenum liegt heutemein Jahresbericht für das Jahr 2005 zur abschließendenBeratung vor. Im Juni dieses Jahres konnte ich Ihnendiesen ersten von mir verfassten Bericht bereits vorstel-len. Das Aufzeigen der Mängel und Probleme in demBericht stützt sich unter anderem auf Erkenntnisse ausrund 60 Truppen- und Informationsbesuchen.

Zum anderen liegen dem Bericht aber auch rund5 600 Eingaben von Soldatinnen und Soldaten der Bun-deswehr zugrunde. Das sind etwa 10 Prozent weniger alsim Jahr zuvor, also als im Jahr 2004. Heute, wenige Wo-chen vor dem Jahreswechsel, kann ich Ihnen berichten,dass sich die Gesamtzahl der Eingaben im laufendenJahr deutlich erhöht hat; sie wird sich wieder bei etwa6 000, auf das ganze Jahr bezogen, einpendeln.

Welche besonderen Probleme sich aus den Einschät-zungen und der Transformation für die Truppe imJahr 2005 ergeben haben, konnte ich bereits im Rahmender ersten Beratungsrunde schildern. Ich erinnere an die-ser Stelle nur kurz an einige wichtige Stichworte wie Be-förderungsprobleme, Defizite in der Personalbearbei-tung, Ausbildungs- und Ausrüstungsmängel oder an diedienstlichen Belastungen im Inland, insbesondere im Sa-nitätsdienst.

Abgerundet hatte ich die Zusammenfassung meinesBerichtes mit dem notwendigen Hinweis, dass es denStreitkräften nach wie vor an Finanzmitteln fehle. Vordiesem Hintergrund registrieren es die Soldatinnen undSoldaten mit Dankbarkeit, dass natürlich der Verteidi-

gungsminister, aber insbesondere auch die Bundes-kanzlerin und der Bundesminister der Finanzen in derHaushaltsdebatte die Notwendigkeit einer besseren fi-nanziellen Ausstattung der Streitkräfte unterstrichen ha-ben. Für die Angehörigen unserer Streitkräfte wäre es zubegrüßen, wenn das sowohl im nächsten Verteidigungs-haushalt wie auch in der mittelfristigen Finanzplanungseinen Niederschlag finden würde.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Meine Damen und Herren, sehen Sie es mir bittenach, wenn ich an dieser Stelle nicht auf aktuelle The-men eingehen möchte, die sich in jüngster Zeit oder imLaufe dieses Jahres ereignet haben. Damit werden wiruns im Rahmen des Jahresberichts 2006 naturgemäß zubeschäftigen haben. Trotzdem mache ich keinen Hehlaus meiner Freude über die Tatsache, dass alle Soldatin-nen und Soldaten der jüngsten Kongomission bis zumWeihnachtsfest wieder bei ihren Familien sein werden.

(Beifall im ganzen Hause)

Die Soldatinnen und Soldaten dürfen wirklich stolzauf ihren geleisteten Beitrag zur Friedenssicherung imZusammenhang mit den durchgeführten Wahlen imKongo sein. Das darf aber aus meiner Sicht nicht da-rüber hinwegtäuschen, dass es mit Blick auf die Planung,Errichtung und auch auf den Betrieb der Feldlagersowohl in Kinshasa wie auch in Libreville in Gabun er-hebliche Probleme gab, die es jetzt aufzuarbeiten gilt.Deshalb bin ich außerordentlich froh, dass der Verteidi-gungsausschuss des Hohen Hauses sich gleich am An-fang des kommenden Jahres mit diesem Thema ausführ-lich beschäftigen wird.

Meine Besuche in den Einsatzgebieten haben aberauch etwas anderes noch einmal sehr deutlich gemacht:Die notwendige Debatte über den Sinn und Zweck derEinsätze und die Transformation der Streitkräfte darf unsnicht den Blick für die Sorgen und Nöte des einzelnenSoldaten verstellen. Jede Entscheidung, die die Bundes-regierung und das deutsche Parlament im Hinblick aufdie Streitkräfte treffen, hat am Ende ganz konkrete Aus-wirkungen auf den Auftrag und den Einsatz eines jedeneinzelnen Soldaten. Diese Auswirkungen ständig imBlick zu behalten, ist Pflicht von uns allen. Wer hättemehr Grund, immer wieder darauf hinzuweisen, als derWehrbeauftragte, der nun einmal zum Schutz der Rechteder Soldatinnen und Soldaten berufen ist.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse)

Ganz ausdrücklich bedanken will ich mich an dieserStelle bei allen Mitgliedern des Verteidigungsausschus-ses für die ausgezeichnete Kooperation, beim Bundes-tagspräsidenten für seine persönliche Unterstützung undeigentlich beim gesamten Parlament, bei Ihnen allen,meine Damen und Herren, für die zumindest aus meinerSicht beispielhaft gute Zusammenarbeit und das ausge-zeichnete Zusammenwirken. Mein Dank geht natürlichauch an den Bundesminister der Verteidigung, Dr. Jung.Der Dank geht ebenso an die politische und militärischeFührung seines Hauses und an alle nachgeordneten

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Wehrbeauftragter Reinhold Robbe

Dienststellen des BMVg. Nicht zuletzt danke ich allenMitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Amtes für diehervorragende Unterstützung, ohne die ich meine Arbeitüberhaupt nicht tun könnte.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In wenigen Tagen können wir das Weihnachtsfest fei-ern. Etwa 9 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten wer-den das Fest nicht bei ihren Lieben zu Hause, sondern ir-gendwo in der Welt, im Einsatz am Horn von Afrika, inAfghanistan oder sonst wo, verbringen müssen. LassenSie mich deshalb abschließend die Gelegenheit nutzen,allen unseren Soldatinnen und Soldaten, die in allen Tei-len der Welt und auch an den Heimatstandorten für unserVaterland ihren wichtigen und oftmals auch gefährlichenDienst leisten, an dieser Stelle ganz herzlich Dank sagen.Ich wünsche ihnen und ihren Angehörigen in der Heimatein friedvolles und gesegnetes Weihnachtsfest und fürdas vor uns liegende Jahr das notwendige Soldatenglückund stets eine gesunde Rückkehr in die Heimat. Ich bindavon überzeugt, dass ich dies auch in Ihrer aller Namentun darf.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Anita Schäfer, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Wehrbeauftragter, im Namen meiner Fraktion danke ichIhnen und Ihren Mitarbeitern für Ihre wichtige Arbeit,die Sie im Interesse unserer Soldatinnen und Soldatenleisten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Medien-berichten der vergangenen Wochen musste die Bundes-wehr viel Kritik über sich ergehen lassen. Es wäre je-doch falsch und verhängnisvoll, die Bundeswehr unterGeneralverdacht zu stellen. Die Vorgänge sind konse-quent aufzuklären und nach individueller Verantwortungzu beurteilen. Das Fehlverhalten Einzelner darf nichtdazu führen, dass die überwiegende Zahl von Bundes-wehrsoldaten, die höchst beachtliche Leistungen erbrin-gen, diskreditiert wird.

Trotzdem zeigen uns die bedauerlichen Vorfälle inAfghanistan, wie wichtig der Wehrbeauftragte als Früh-warnsystem ist. Seine Aufgabe gewinnt im Zeichen vonTransformation und Auslandseinsätzen erheblich an Be-deutung. Sie verlangt deswegen – auch und gerade in derZusammenarbeit mit den Mitgliedern des DeutschenBundestages – Fingerspitzengefühl.

Bedenken und Anregungen des Wehrbeauftragtensollten zuerst in die parlamentarischen Gremien einge-bracht werden, bevor es zu öffentlichen Stellungnahmenkommt. Diese Reihenfolge sollte künftig wieder einge-

halten werden. Ich denke, dass wir alle uns darüber einigsind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Herr Wehrbeauftragter, Ihr Jahresbericht 2005 zeigteindringlich auf, unter welchem enormen Druck die Sol-daten durch den Transformationsprozess und die wach-sende Zahl an Einsätzen stehen. Maßstäbe für menschli-ches Verhalten, wie sie die innere Führung setzt,müssen für eine Armee im Einsatz Leitprinzip bleiben.Die innere Führung ist unerlässlich, um den Soldaten einethisches Rüstzeug zu vermitteln und sie für Fehlverhal-ten zu sensibilisieren. Sie ist ein dynamisches Konzept,das den Soldaten unter sich wandelnden BedingungenOrientierung für menschliches Verhalten gibt. Ich be-grüße deshalb ausdrücklich die Ankündigung von Minis-ter Dr. Jung, dass die bundeswehrinterne Dienstvor-schrift zur inneren Führung an die Herausforderungenunserer Zeit angepasst werden soll.

Gerade im Auslandseinsatz brauchen wir mitden-kende und verantwortungsbewusst handelnde Soldaten.Deswegen müssen den Soldaten rechtzeitig und gezieltdie politischen Hintergründe eines Einsatzes vermitteltwerden. Vor allem müssen sie mit den kulturellen, sozia-len und religiösen Besonderheiten des jeweiligen Ein-satzlandes vertraut gemacht werden.

Wir haben aber auch dafür Sorge zu tragen, dass dieinnere Führung im multinationalen EinsatzverbundHandlungsmaxime für die Bundeswehr bleibt. Sie darfnicht auf Druck verbündeter Staaten ausgehöhlt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auf diese Verantwortung hat insbesondere die DeutscheBischofskonferenz in ihrer Denkschrift „Soldaten alsDiener des Friedens“ eindringlich hingewiesen.

Der EUFOR-Einsatz der Bundeswehrsoldaten imKongo geht fristgerecht zu Ende. Die ersten Soldatensind bereits heimgekehrt. Die Zielsetzung der Kongo-mission konnte bislang erreicht und ein neuer Bürger-krieg verhindert werden. Für diese Leistung sind wir un-seren Soldaten zu Dank verpflichtet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

In Afghanistan, auf dem Balkan, am Horn von Afrikaund an den Küsten des Libanon stehen deutsche Einhei-ten weiterhin in schwierigen Einsätzen. Gerade inAfghanistan ist die sicherheitspolitische Situation ge-fährlich und unkalkulierbar. Das gilt auch für den Nord-sektor und die Hauptstadt Kabul. Die Bundeswehr erfülltdort ihren Auftrag professionell und engagiert. Deswe-gen brauchen wir uns in Sachen Leistungsfähigkeit vorkeinem Verbündeten zu verstecken.

Der Bericht des Wehrbeauftragten macht allerdingsdeutlich, dass der Sinn von Auslandseinsätzen den Sol-daten besser vermittelt werden muss. Nur wenn die Sol-daten von einem Einsatz überzeugt sind, bringen sie dasentsprechende Engagement mit. Wir müssen deswegenvor jeder Entsendung transparent machen, für welche

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Anita Schäfer (Saalstadt)

Werte, Ziele und Interessen unsere Soldaten notfallsLeib und Leben zu riskieren haben. Dies haben Sie, HerrVerteidigungsminister, in Ihrer Rede vor dem ZentrumInnere Führung noch einmal klar herausgestellt:

Wir müssen die politischen Begründungen für Aus-landseinsätze für den Staatsbürger mit und ohneUniform so einleuchtend wie möglich formulieren.Denn die Überzeugungskraft der Begründung hatunmittelbare Auswirkungen auf die Auftragserfül-lung.

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wo er Recht hat, hat er Recht!)

Wir sollten alles dafür tun, dass die Kommunikation mitunseren Soldaten, aber auch mit der Bevölkerung diesemAnspruch künftig gerecht wird.

Wenn die Entsendung in einen Einsatz beschlosseneSache ist, müssen Ausrüstung, Versorgung und Schutz-niveau der Soldaten stimmen. Das sollte an sich selbst-verständlich sein.

(Beifall bei der FDP)

Trotzdem sind in dem Bericht des WehrbeauftragtenBeispiele für Ausstattungsmängel im Einsatz aufgelistet.Darauf habe ich schon in meiner letzten Plenarrede deut-lich hingewiesen. Die Stellungnahme des BMVg zu die-sen Punkten wird dem Problem allerdings nicht immergerecht. Ich nenne exemplarisch die Verschleißerschei-nungen am viel genutzten Einsatzfahrzeug Wolf und dieKlagen über die unzureichende Materialausstattung vonKräften der NATO Response Force. Dieser Zustand istbedenklich. Ich hoffe, dass sowohl die politische alsauch die militärische Führung hier konsequenter Verbes-serungsmaßnahmen treffen.

Auch mit Blick auf die EUFOR-Mission im Kongomüssen wir die Kritik von Soldaten bezogen auf Unter-bringungs-, Versorgungs- und Ausrüstungsmängel ernstnehmen. Deshalb begrüße ich sehr, dass nach Beendi-gung dieses Einsatzes ein umfassender Evaluierungsbe-richt für den Verteidigungsausschuss erstellt wird. Nurwenn wir die Schwachpunkte klar erkennen und die be-rechtigte Kritik unserer Soldaten aufgreifen, sind wir fürkünftige Einsätze dieser Art gewappnet. So können wirauch einem Vertrauensverlust bei den Soldaten entge-genwirken.

Der Bericht des Wehrbeauftragten lässt es an warnen-den Hinweisen auf die Kluft zwischen Auftrags- undMittellage der Bundeswehr nicht fehlen. Ja, er sieht so-gar die Bundeswehr an den Grenzen ihrer Leistungsfä-higkeit angelangt. Der Bericht liegt damit leider in Tra-ditionslinie zu den Vorgängerberichten in den letztenJahren. Selbst im aktuellen Weißbuch ist von einem„Spannungsverhältnis zwischen den verteidigungspoliti-schen Erfordernissen und dem finanziellem Bedarf fürandere staatliche Aufgaben“ die Rede. Dieses Span-nungsverhältnis droht zu einem strukturellen Problem zuwerden. Wir sind, was die Haushaltslage angeht, keineIllusionisten. Doch eines müssen wir klar herausstellen:Es wäre fatal, wenn die deutsche Sicherheitspolitik ihrePrioritäten nicht nach der Bedrohungslage, sondern nach

der Kassenlage setzt. Ich begrüße deswegen sehr, dassdie jetzige Regierung die knappe Mittellage bei derTruppe erkannt hat und schon im Haushaltsjahr 2008deutlicher gegensteuern will. Wir werden die Bundes-kanzlerin hier beim Wort nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Die mittelfristige Finanzlinie ist sicherlich ein ersterwichtiger Schritt hin zur Stabilisierung des Einzel-plans 14. Sie wird aber den vielfältigen Anforderungeneiner modernen Einsatzarmee nicht gerecht. Hier sindneben dem Verteidigungsminister die Verteidigungspoli-tiker aller Fraktionen gefordert, konstruktive Vorschlägeeinzubringen und gemeinsam mit den Haushaltspoliti-kern umzusetzen.

Die Einsatzrealität der Bundeswehr ist auch für dieNachwuchssituation der Streitkräfte von zentraler Be-deutung. Im Bericht des Wehrbeauftragten wird ein-dringlich festgestellt:

Insbesondere der Mangel an personellen Ressour-cen erweist sich in zunehmendem Maße als Pro-blem. Es betrifft den Bereich des Sanitätswesensebenso wie den der Operativen Information, derHeeresfliegertruppe, der Feldjäger, Fernmelder oderPioniere.

Betroffen sind also gerade die Spezialisten, die dasRückgrat bei Stabilisierungsoperationen bilden und ge-genwärtige wie künftige Einsätze der Bundeswehr maß-geblich prägen.

Dies ist auch dem Weißbuch zu entnehmen. Dort wirdeine Zielgröße von maximal 14 000 Soldaten angegeben,die gleichzeitig für Stabilisierungsoperationen einsetzbarsein sollen. Angesichts der knappen Personalressourcenbei Spezialisten wird diese Vorgabe nicht leicht zu errei-chen sein. Fest steht: Das BMVg ist in der Personalfragesensibilisiert und leistet im Bereich der Nachwuchsarbeitbereits Erhebliches.

Im Übrigen zeigt sich hier, meine Damen und Herrenvon der Opposition, wie töricht Ihre Forderung nach Ab-schaffung der Wehrpflicht ist; denn ohne Wehrpflichtmüssten wir erhebliche Einbußen bei dem Gewinnenvon qualitativ hochwertigem Personal hinnehmen. Al-lein ein Drittel des länger dienenden Personals wird überWehrpflichtige gewonnen. Für die Qualitätsbasis derStreitkräfte ist die Wehrpflicht also unverzichtbar. In die-sem wichtigen Punkt schafft das neue Weißbuch endlichPlanungssicherheit für unsere Soldatinnen und Soldaten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Dabei ist allerdings für mich klar: Wir müssen nochmehr in die Nachwuchswerbung und Möglichkeiten derWeiterbildung bei den Streitkräften investieren. Sonstkann die Bundeswehr in Konkurrenz zum zivilen Ar-beitsmarkt nicht mithalten. Es wäre keine gute Entwick-lung, wenn künftig die Truppe Abstriche bei ihrem Per-sonal machen müsste, weil sie für Bewerber zu wenigattraktiv ist. Gerade eine professionelle Einsatzarmee er-fordert mehr denn je einen intelligenten, belastungs- undleistungsfähigen Soldatentypus.

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Aus diesen Gründen ist es absolut inakzeptabel, dasszwei Drittel der Soldatinnen und Soldaten zu den unte-ren Lohn- oder Einkommensgruppen gehören. Für einattraktives und konkurrenzfähiges Berufsbild Bundes-wehr ist eine moderne Besoldungsordnung unverzicht-bar. Am Ende der Debatte muss eine materielle Verbes-serung der Soldaten stehen. Darüber hinaus müssen wirdie soziale Absicherung der Realität einer Einsatzarmeeanpassen. Dazu gehört insbesondere, im Einsatz ver-sehrte Soldaten beruflich weiterzubeschäftigen. Selbst-verständlich müssen wir auch eine Familienbetreuungauf hohem Niveau gewährleisten. Herr Verteidigungsmi-nister Dr. Jung, ich danke Ihnen im Namen unserer Frak-tion ausdrücklich dafür, dass Sie in diesen wichtigenPunkten beharrlich voranschreiten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Soldat sein ist eben nicht irgendein Job. Wer für dieSicherheit unseres Landes in gefährlichen Missionen denKopf hinhält, der verdient mindestens ein hohes Maß anmaterieller und sozialer Absicherung. Er verdient da-rüber hinaus die besondere Anerkennung von Politik undGesellschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Gerade wir Parlamentarier stehen hier in der Pflicht, unsfür ein neues Ethos des Soldatenberufes stark zu ma-chen.

Meine Damen und Herren, all unseren Soldatinnenund Soldaten wünsche ich an dieser Stelle ein gesegnetesund vor allem ein friedvolles und friedliches Weih-nachtsfest und ein gesundes, gutes neues Jahr 2007.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Elke Hoff, FDP-Frak-

tion.

(Beifall bei der FDP – Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Weisen Sie das mitder Wehrpflicht zurück!)

Elke Hoff (FDP): Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Jah-resbericht 2005 des Wehrbeauftragten abschließend imPlenum. Deswegen, Herr Wehrbeauftragter Robbe, darfich Ihnen und besonders Ihren Mitarbeitern sehr herzlichfür die hervorragende Arbeit danken, die weit über dieVorlage dieses Jahresberichts hinausgeht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Ihr Amtsverständnis als ein öffentlich agierender Hü-ter der Interessen unserer Soldatinnen und Soldaten tutzwar manchem in der Koalition hin und wieder weh,aber bleiben Sie unbeirrt. Denn Ihr Kontrollauftrag und

Ihr Bericht sind auch deshalb glaubwürdig, weil Sie sichdurch zahlreiche unangekündigte Truppenbesuche einauthentisches Bild verschaffen konnten.

Ich möchte diese Debatte am Ende des Jahres wiemeine Vorredner auch dazu nutzen, den Soldatinnen undSoldaten zu danken, die für den Schutz unserer Freiheitihren hochverantwortlichen Dienst verrichten. Wir soll-ten den heutigen Tag auch zum Anlass nehmen, an dieje-nigen Soldatinnen und Soldaten zu denken, die dasWeihnachtsfest fern von der Heimat verbringen müssen.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Robbe, Sie haben einen Brief an den Verteidi-gungsausschuss geschrieben, in dem Sie erneut aufschwere Ausrüstungsmängel im Rahmen des Kongoein-satzes aufmerksam gemacht haben. Die Bundesregie-rung müsste daraus Konsequenzen ziehen. Das Problemscheint aber zu sein, dass sich der Verteidigungsministerhinsichtlich der Ausbildungs- und Ausrüstungssitua-tion in einer anderen Realität wähnt. Herr Jung, Sie ha-ben mir gegenüber am 22. November behauptet, dasswir unseren Soldatinnen und Soldaten, die sich in riskan-ten Auslandseinsätzen befinden, eine optimale Ausbil-dung gewähren und eine optimale Ausrüstung mitgeben.Glauben Sie das wirklich? Es müsste doch inzwischenbekannt sein, dass gerade Personenschäden bei Anschlä-gen auf deutsche Soldaten hätten verhindert werden kön-nen, wenn Ihr Ministerium beispielsweise die am Marktvorhandenen Jammer gegen Sprengfallen rechtzeitig be-schafft hätte. Insofern waren die Ausrüstungsdefizite imKongo zwar ärgerlich, anderswo aber hatten sie unmit-telbare Auswirkungen auf die Gesundheit unserer Solda-ten. Auch der nun endlich in Gang gesetzte beschleu-nigte Zulauf von 100 Dingo 2 im nächsten Jahr ist hiernur ein nächster Schritt.

Sie schützen immer wieder fehlende Haushaltsmittelvor. Aber wer A sagt, muss auch B sagen. Die Bundesre-gierung muss endlich deutlich machen, was ihr die zahl-reichen Einsätze der Bundeswehr als Instrument der Au-ßenpolitik wert sind. Die große Koalition hat imKoalitionsvertrag vereinbart, dass sichergestellt werdenmüsse, künftige Auslandseinsätze aus dem Einzel-plan 60 zu finanzieren. Was haben Sie davon bisher um-gesetzt? Nichts. Ähnlich inkonsequent zeigt sich dieBundeskanzlerin: Ja, man brauche mehr Geld für dieBundeswehr. Nein, 2007 gebe es noch keines. Wanndenn, bitte schön? Wie viel und wofür?

Besonders groß ist der Unmut derzeit im zentralenSanitätsdienst. Hier ist die Personalsituation derart an-gespannt, dass sich die Betroffenen auch öffentlich deut-liches Gehör verschaffen. Die Bundesregierung verkauftes schon als einen Erfolg, wenn die Beschaffung einerGrundbefähigung geschützter Sanitätsfahrzeuge bis2010 geplant ist. Andere Projekte muss sie sogar überzehn Jahre hinweg strecken. Ich darf daran erinnern,dass die Grundbefähigung lediglich die materielle Min-destanforderung für den Einsatz darstellt. Nach den eige-nen Kriterien der Bundeswehr wäre der zentrale Sani-tätsdienst nur bedingt einsatzfähig. Auch die personelleBesetzung lässt bestenfalls diese Einschätzung zu: Le-

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Elke Hoff

diglich 55 Prozent der Truppenärzte stehen der truppen-ärztlichen Versorgung tatsächlich zur Verfügung. Stattjedoch einzuräumen, dass es Probleme gibt und dieseausgeräumt werden müssen, werden diejenigen, die denBetrieb aus jahrelanger eigener Erfahrung gut kennenund die Probleme artikulieren, als Einzelfälle gebrand-markt, bei denen – wie es dann heißt – Inhalt und Zielder Transformation noch nicht in allen Köpfen ange-kommen sind.

Es muss beim Umgang mit der Bundeswehr bald zueinem Paradigmenwechsel kommen; denn sonst verliertsie als Arbeitgeber immer mehr an Attraktivität. Schonheute müssen die Kriterien für diejenigen freiwillig län-ger Wehrdienst Leistenden herabgesetzt werden, dienicht im Auslandseinsatz verwendet werden. Ich binfroh, dass zumindest mit dem Weiterverwendungsge-setz nun hoffentlich der Anspruch auf Weiterbeschäfti-gung für im Einsatz zu Schaden gekommene Soldatengeschaffen wird.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich hoffe, dass sich das Verteidigungsministerium hiergegenüber dem Justizministerium durchsetzen wird. Deraus diesem Bereich vorgebrachte Einwand, das Gesetzverstoße gegen das Leistungsprinzip, ist aus meinerSicht unerträglich.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, es bleibt für Sieund uns alle im nächsten Jahr viel zu tun, um die Bun-deswehr auf ihrem schwierigen Weg durch die Transfor-mation zu begleiten. Dafür wünsche ich Ihnen und auchuns weiterhin eine gute Hand. Bei allen Kollegen, insbe-sondere bei den Kolleginnen und Kollegen des Verteidi-gungsausschusses, darf ich mich für die gute Zusam-menarbeit sehr herzlich bedanken.

(Zurufe von der CDU/CSU: Gleichfalls!)

Ich wünsche Ihnen ein frohes, ein glückliches, ein be-sinnliches Weihnachtsfest, einen guten Rutsch ins neueJahr und viel Gesundheit. Ich freue mich auf die weitereZusammenarbeit im nächsten Jahr.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPDund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu-rufe von der CDU/CSU: Wir auch!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Hedi Wegener, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hedi Wegener (SPD): Herr Präsident! Herr Wehrbeauftragter! Herr Minis-

ter! Meine Herren und Damen! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Soldaten auf der Tribüne! Herr Wehrbe-auftragter, recht herzlichen Dank Ihnen und Ihren Mitar-beitern für den Bericht und für die Arbeit. Aus der Fülle

der Themen, die in Ihrem Bericht auftauchen, werde ichnur zwei oder drei Punkte herausgreifen.

Zitat:

Ohne die jungen Frauen ist in keiner Laufbahn eineBedarfsdeckung mehr zu erreichen.

Ein erstaunlicher Satz. Das war eine Feststellung, die wirim Unterausschuss „Innere Führung“ zu hören bekom-men haben;

(Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Ja!)

siehe Protokoll vom 27. September 2006. Wer hätte sichdas vor einigen Jahren vorstellen können? Deshalb istdie Frage des Umgangs mit Frauen und ihrer Integrationin die Bundeswehr immer ein besonderes Thema.

Nun kann man sagen: Immer das Gleiche; das habenwir schon zigmal durchgekaut. – Aber so ist es eben undauch im Bericht des Wehrbeauftragten ist das immerwieder Thema.

Ich begrüße es ausdrücklich, dass der Prozess derIntegration von Frauen in die Bundeswehr weiterhindurch das Sozialwissenschaftliche Institut untersuchtund begleitet wird. Ich bin sehr gespannt auf den Be-richt, der nächstes Jahr vorliegen soll.

Grundsätzlich geschieht die Integration von Frauen indie Bundeswehr problemlos und störungsfrei. Das hatder Wehrbeauftragte festgestellt und das ist auch unserEindruck, wenn wir die Truppe besuchen. Auch die Bun-deswehr selber stellt es so dar.

Dennoch sind immer wieder auch Verbesserungen nö-tig, zum Beispiel beim Sprachgebrauch. Aus meinerSicht kommt es viel zu häufig zu verbalen Entgleisungenund auch zu sexuellen Übergriffen, nicht nur von gleich-rangigen Kameraden, sondern ebenso von Vorgesetzten.Mangel in der Sprachdisziplin und im Führungsverhal-ten treten nicht nur im Umgang mit Frauen auf, was unsder Bericht deutlich macht. Das Ministerium räumt hierHandlungsbedarf ein. Ich erwarte allerdings, dass dasMinisterium nicht nur die Mängel, die im Bericht desWehrbeauftragten aufgeführt werden, einräumt, sondernauch Vorschläge unterbreitet, wie diese abzustellen sind.

Zum Führungsverhalten noch ein Aspekt. Die Ein-richtung, die Aufgaben, die Stellung und die Funktiondes Wehrbeauftragten finden meine volle Unterstützung.Viele Länder holen sich Rat und Anregung zu dieser In-stitution. Trotzdem frage ich mich oft: Warum gehen diePetenten mit ihren Problemen eigentlich nicht zu denVorgesetzten? Warum ist das Verhältnis offensichtlichnicht so, dass sie davon ausgehen, ihre Vorgesetztenwürden sie anhören und etwas für sie tun?

Heute Morgen haben uns im Unterausschuss „InnereFührung“ fünf Generäle zu dem Problem der grundsätz-lichen Ausbildung und der einsatzbezogenen Ausbil-dung Rede und Antwort gestanden. Sie sind zu dem Ver-trauensverhältnis gegenüber den Vorgesetzten und zuAusbildung und Supervision befragt worden. Der Gene-ralinspekteur hat gesagt, die Persönlichkeitsbildungmüsse verbessert werden. Wir nehmen das so auf undhoffen auf Besserung.

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Hedi Wegener

Darüber hinaus werfen natürlich die jüngst aufge-tauchten Fotos von Soldaten Fragen auf: Sind unsereSoldaten den psychischen Anforderungen und Belastun-gen gewachsen? Wären solche Vorkommnisse zu verhin-dern gewesen? Bestehen Defizite in der inneren Füh-rung? Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass es sich hierum Einzelfälle handelt. Nichtsdestotrotz müssen wir dieFragen beantworten und gegebenenfalls Abhilfe schaf-fen.

Die Diskussion hat aber auch gezeigt, dass wir nichtvorschnell Urteile fällen dürfen. Die Einstellung desVerfahrens belegt, dass kein Straftatbestand vorliegt. Ge-schmacklos und blöde war diese Handlung trotzdem.Mir haben die Bilder noch etwas gezeigt: Kameradschafthin oder her, wenn es einigen passt, geben sie Bilderweiter, von denen man vorher gedacht hat, dass sie nurein Kamerad hat, dass es ein Jux ist und das Ganze unterden Kameraden bleibt.

Meine Herren und Damen, wir Abgeordneten sinduns der wachsenden Belastung durch Transformationund eine steigende Zahl von Auslandseinsätzen durch-aus bewusst. In unseren Wahlkreisen müssen wir unsDiskussionen über Sinn und Unsinn, Zweck und Hinter-gründe von Auslandseinsätzen stellen. Viele, sehr vieleBürger wollen diese Einsätze nicht. Sie verstehen sienicht und unterstellen uns Abgeordneten, dass wir leicht-fertig und ohne uns der Konsequenzen bewusst zu seindarüber entscheiden.

Wegen der Belastung liegt uns die psychologischeBetreuung während und nach dem Einsatz besondersam Herzen. Der Einsatz von Truppenpsychologen ge-winnt immer stärker an Bedeutung. Wir haben auch ei-nige Psychologen in unserem Unterausschuss „InnereFührung“ angehört.

Ich habe aber bedauerlicherweise den Eindruck, dasswir es mit einem Verschiebebahnhof zu tun haben. Denndie Gesamtzahl der dringend benötigten Psychologennimmt nicht zu; sie werden nur von einer Stelle zur an-deren versetzt. Es ist sicherlich richtig, die Truppen imEinsatz verstärkt zu betreuen. Gleichzeitig kann es abernicht sein, dass die psychologische Beurteilung zumBeispiel bei der Einstellung von Zeitsoldaten wegfällt,weil die Psychologen im Auslandseinsatz sind. So ver-schieben wir nur ein mögliches Problem und müssennachher unangenehme Folgen beklagen.

Hier sind wir Abgeordneten, insbesondere die Haus-hälter gefragt – ich sehe eine Haushälterin in unserenReihen –, sich des Problems anzunehmen. Vielfach han-delt es sich um Probleme bei der Finanzierung.

Lassen Sie mich noch einmal zum Thema Frauen inder Bundeswehr zurückkommen. Ich zitierte eingangsdie bemerkenswerte Feststellung, dass wir die Frauen inder Bundeswehr brauchen. Eine ebenso bemerkenswerteErkenntnis ist, dass die Frauen bei ihrer Einstellungnicht so ergebnisoffen sind, weil sie genau wissen, wassie wollen. Dass Zielstrebigkeit ein Problem sein könnte,ist schon ein bemerkenswerter Wandel in der Wahrneh-mung. Ich weiß aber sehr wohl, wie das gemeint ist,nämlich dass Frauen offensichtlich nicht jede Verwen-

dung wollen. Die Aussage hat einen zweiten Aspekt,nämlich dass Frauen bei der Bewerbung zurückhaltendersind, weil sie bestimmte Vorstellungen hinsichtlich An-gebot und Nachfrage haben.

Die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Berufstellt sich immer wieder. Viele junge Frauen haben ganzklare Vorstellungen von Teilzeit und Kinderbetreuung.Wir wünschen uns natürlich, dass das nicht nur einThema für Frauen ist. Wir wissen auch, dass sich vieleMänner über die Vereinbarkeit von Familie und BerufGedanken machen.

Mit dem Attraktivitätsprogramm haben wir versucht,die Lage zu verbessern. Es bleibt jetzt abzuwarten, ob esWirkung zeigt.

Zum Schluss noch ein Wort an Sie, Herr Wehrbeauf-tragter. Herzlichen Dank für den Bericht! Wir danken fürdie Empathie und die Hinweise. Aber ein Hinweis warüberflüssig. Denn Beschlüsse und Entscheidungen desBundestages hat der Wehrbeauftragte eigentlich nicht zukommentieren. Sie, Herr Robbe, waren immer ein sehrautarker und unabhängiger Abgeordneter. Sie könnensich sicherlich in unsere Lage versetzen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Katrin Kunert, Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Katrin Kunert (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Gäste! Sehr geehrter Herr Robbe! Bundes-präsident Köhler beklagt, dass die Deutschen ihrer Bun-deswehr mit einem freundlichen Desinteresse begegnen.Er wünscht sich eine breite gesellschaftliche Debatte –nicht über die Bundeswehr, sondern über die Außen-,Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes.Das wünschen wir uns auch.

Sie, Herr Robbe, wollen diese Debatte fördern. Ichdarf Sie zitieren:

Die Soldatinnen und Soldaten sollen nicht allein ge-lassen werden mit ihrem unverzichtbaren Auftrag,unser Land zu verteidigen sowie für Frieden, Frei-heit und Menschenrechte auch außerhalb Deutsch-lands einzutreten.

Viele Menschen in unserem Land wollen mit Sicher-heit eine solche Debatte führen. Aber wie, frage ich Sie,soll das gehen, wenn sich diese Regierung ständig gegendie Interessen der Mehrheit der Menschen im Land ver-hält?

(Beifall bei der LINKEN)

So beschließt die übergroße Mehrheit von Rot-Schwarzständig mehr Auslandseinsätze, obwohl die Mehrheit derMenschen mehr Sinn in humanitärer Hilfe sieht. Wer de-finiert eigentlich, was unverzichtbare Aufträge sind?

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Katrin Kunert

Ich stelle nach zwei Berichten des Wehrbeauftragtenfest: Nichts Neues in der Bundeswehr. Jahr für Jahr gibtes die gleichen Probleme. Trotz eines Gesamtvolumensin Höhe von 28 Milliarden Euro für den Verteidigungs-etat im Bundeshaushalt gibt es erhebliche Defizite in derAusstattung und in der Betreuung der Soldatinnen undSoldaten.

Skandalös ist für uns nach 16 Jahren deutscher Ein-heit die immer noch unterschiedliche Besoldung in Ostund West,

(Beifall bei der LINKEN)

die schrittweise bis 2009 aufgehoben werden soll. Ent-scheidungen für Auslandseinsätze werden in diesemHaus schneller getroffen.

Die Kürzung des Weihnachtsgeldes wurde nicht zu-rückgenommen. Die Kasernen, insbesondere im Westen,sind in einem schlechten Zustand. Hier braucht es einenAufbau West. Der Beförderungsstau macht immer nochjedem Ferienstau Konkurrenz.

Schaut man sich die Stellungnahme des Verteidi-gungsministeriums zum Bericht an, findet man dehnbareFormulierungen wie „geeignete Maßnahmen“, „sindfortwährend bemüht“ oder „verstärkt einfordern“.

Einschätzungen des Wehrbeauftragten, dass Erhebun-gen der Bundeswehr über das Gesamtausmaß des Syn-droms der posttraumatischen Erkrankungen von Sol-datinnen und Soldaten im Einsatz fehlen, müssen wir lei-der bestätigen. Das Verteidigungsministerium wider-spricht dieser Aussage und verweist auf Daten aus demJahre 1999. Diese Daten seien Grundlage für die umge-setzten Betreuungs- und Versorgungskonzepte.

Den wiederholten Hinweis, dass diese Erkrankungauch bei der Feuerwehr und der Polizei auftrete, nehmenwir nicht hin. Posttraumatische Erkrankungen treten inder Bundeswehr seit Beginn der Auslandseinsätze auf.Das ist genau der Punkt. Es darf nicht sein, dass ein jun-ger Mann aus Afghanistan zurückkommt und ein halbesJahr nicht mehr spricht. Wissen Sie wirklich um die Be-dingungen und Gefahren, wenn Sie deutsche Soldatin-nen und Soldaten ins Ausland schicken? Wir bezweifelndas sehr stark.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Der Wehrbeauftragte hat eine Bundesstiftung zur Ent-schädigung von Strahlenopfern angeregt. Das unterstüt-zen wir.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Das Verteidigungsministerium hingegen hält dies fürnicht vertretbar. Warum nicht? Das werden wir noch ein-mal auf die Tagesordnung setzen.

Ich meine, dass die im Bericht immer wieder aufge-zeigten Mängel ein Beleg dafür sind, dass nicht ernsthaftan der Beseitigung der Mängel gearbeitet und so mancheBeschwerde bagatellisiert wird.

Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, der geradein der heutigen Zeit für uns sehr wichtig ist. Nach Ein-

setzung des Verteidigungsausschusses als Untersu-chungsausschuss „Kurnaz“ wurde vorgeschlagen, dieArbeit des Unterausschusses „Innere Führung“ we-gen der Arbeitsbelastung nach dem Frühjahr 2007 einzu-stellen. Ausgerechnet der Ausschuss, der solche Vor-kommnisse wie die in Afghanistan aufzuarbeiten hat,soll eingestellt werden? Der Ausschuss, der die Fragender Nachwuchswerbung begleiten muss, der sich mit denKriterien der Eignungsprüfung stärker zu befassen hatund der in besonderem Maße Verantwortung für die poli-tische Bildung und Vermittlung gesellschaftlicher Werteträgt, muss weiterarbeiten – und dies in einer besserenQualität.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn man eine Sitzung dieses Ausschusses in letzterMinute auf 7.30 Uhr ansetzt und man verkehrstechni-sche Probleme hat, dann ist es wirklich schwierig, daranteilzunehmen. Man muss diese Termine auch richtig pla-nen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Früher aufstehen! –Hedi Wegener [SPD]: Jeder Arbeiter fängt um7 Uhr an!)

Die im Bericht des Wehrbeauftragten aufgelistetenMängel stehen auch im Zusammenhang mit Auslands-einsätzen. Das wiederholte Versagen der Verantwortli-chen in der Bundeswehr im Rahmen der Ausbildung undder Vorbereitung auf Auslandseinsätze sowie der psychi-sche Stress für die Soldatinnen und Soldaten bei Aus-landseinsätzen bestärken die Fraktion Die Linke in ihrerForderung, den sofortigen Abzug der Bundeswehr ausAfghanistan einzuleiten.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Nachtwei,

Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Reinhold Robbe! Kollegin Kunert, eineKlarstellung, was das weitere Tagen des Unteraus-schusses „Innere Führung“ angeht: Schon vor Einset-zung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungs-ausschuss hatten wir vereinbart, dass der Unterausschussan sein Beratungsende gekommen ist. Wir stellen ihnalso nicht zugunsten des Untersuchungsausschusses ein,sondern haben intensiv genug beraten und kommen jetztzu einem Ergebnis.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

In diesem Jahr wird das Amt des Wehrbeauftragten50 Jahre alt. Da trifft es sich sehr gut, dass vor wenigenTagen hierzu ein etwas weniger trockener Bericht, als eseine Bundestagsdrucksache ist, vorgestellt wurde. Es istein wirklich ansehnliches Büchlein über das Amt desWehrbeauftragten und nicht so voluminös wie manch

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Winfried Nachtwei

andere Bände aus diesem Hause, die möglicherweisewaffenscheinpflichtig sind. Es ist sehr zu empfehlen.

Ihm ist einiges über die Entstehung des Amts desWehrbeauftragten zu entnehmen. Die Idee ist von demSPD-Abgeordneten Ernst Paul in den Bundestag einge-bracht worden. Man hat sich damals das entsprechendeAmt in Schweden als Vorbild genommen. Dort heißt es:„Militie-Ombudsman“. Der damalige BundeskanzlerAdenauer war massiv dagegen. Der Bundestag hat eshinbekommen, diese Einrichtung zu installieren. Offen-sichtlich waren die meisten Fraktionen dafür.

Es wird in diesem Buch auch richtig festgestellt, dassdieses Amt in der deutschen Verfassungs- und Militärge-schichte ohne Beispiel ist. Inzwischen ist es längstselbstverständlich und unverzichtbar. Es ist also gut,dass es dieses Amt gibt, und sehr gut, dass es so gut aus-gefüllt wird. Danke schön Ihnen, Herr Robbe, sowie Ih-ren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP so-wie bei Abgeordneten der LINKEN)

Seit der Vorlage des letzten Berichtes im März habensich einige Grundprobleme verschärft. Dieser Bericht istja überwiegend ein Mängelbericht. Es wird unter demKapitel „soldatisches Fehlverhalten“ vermerkt, dasses in diesem Bereich eine nicht unerhebliche Dunkelzif-fer gebe. Diese Aussage hat sich dann ja in unerwarteterWeise mit den berühmt-berüchtigten Skandalfotos undihrer Veröffentlichung bestätigt. Die dort gezeigten ma-kaber-obszönen „Spiele“ wurden vor sieben Wocheneinhellig verurteilt; ihnen wurde sehr genau nachgegan-gen und in der Sache wurde entschieden ermittelt. Diebefürchteten gefährlichen Reaktionen in Afghanistanblieben glücklicherweise aus. Zugleich wurde aber auchFolgendes deutlich, nämlich dass es in der Tat offen-sichtlich einzelne Fälle waren, dass es sich dabei alsonicht um die Spitze eines Eisbergs handelte.

Auch etwas anderes wurde hoffentlich noch etwasdeutlicher, dass nämlich die Anforderungen, die heutzu-tage an Soldaten in solchen Einsätzen gestellt werden,enorm groß sind. So genannte Robustheit wird erwar-tet, auch Sensibilität und Verhaltenssicherheit – und dasalles von jungen Soldaten. Das sind Anforderungen, diehierzulande so in normalen Berufen nicht gestellt wer-den. Eine enorme Herauforderung besteht darin, in derAusbildung darauf vorzubereiten und durch Menschen-führung dazu anzuhalten. Ich habe den Eindruck – erwird von den verteidigungspolitischen Kollegen bzw.Kolleginnen weitestgehend geteilt –: Diese Herausforde-rung wird von der Bundeswehr insgesamt bemerkens-wert gut gemeistert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie der Abg. Elke Hoff[FDP])

Verschärft haben sich in diesem Jahr die Zweifel amSinn von Einsätzen. In diesem Zusammenhang sind zunennen: die krisenhafte Entwicklung in Afghanistan, derneue, zuerst sehr umstrittene Dauereinsatz vor der Küstedes Libanon und schließlich der EU-Einsatz im Kongo,

der ganz besonders umstritten war und dessen Rahmen-bedingungen – Stichworte: Unterbringung, Feldlager –auch wirklich unzumutbar waren. Umso erfreulicher ist,dass der Eufor-Einsatz in der waghalsig knappen Zeitvon vier Monaten erfolgreich abgeschlossen werdenkonnte. Zur Erinnerung: Der andere Kongoeinsatz, andem sich die Bundeswehr beteiligt hat – das war „Arte-mis“ im Jahre 2003 –, war ebenfalls sehr erfolgreich, al-lerdings ist er kaum in das öffentliche Bewusstsein ge-langt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Umso dringlicher ist es vor diesem Hintergrund, dassendlich eine Gesamtbilanzierung und Auswertung vonAuslandseinsätzen geleistet werden. Es ist gut, abernicht ausreichend, wenn die grüne Partei auf ihrem Par-teitag beschlossen hat, das selbst vorzunehmen. Wir tundas gern. Aber das sollte auch vom Parlament insgesamtund von der Regierung geleistet werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dass der Wahlprozess im Kongo so gut vonstattenging – manche sprechen hier sogar von einem irdischenWunder –, ist ein Gemeinschaftswerk von vielen. Eswäre angemessen, öffentlich den Deutschen zu danken,die dazu beigetragen haben, den Wahlbeobachterinnenund Wahlbeobachtern, den Soldaten, Diplomaten, dendeutschen MONUC-Mitarbeitern. Das sollte, so meineich, im nächsten Jahr mit einer gemeinsamen öffentli-chen Veranstaltung von Bundesregierung und Parlamentgeschehen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Gert Winkelmeier.

Gert Winkelmeier (fraktionslos): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der

Bericht des Wehrbeauftragten veranlasst mich, zunächsteinige grundsätzliche Anmerkungen zur Außen- und Si-cherheitspolitik Deutschlands zu machen, die von derMehrheit dieses Hauses gebilligt wird. Es ist eine Poli-tik, die seit 1990 zunehmend auf die Bundeswehr alsInstrument zur Gestaltung der Außenpolitik setzt.Dabei gerät total in Vergessenheit, dass die außenpoliti-schen Erfolge vor der Wende mit diplomatischen Mittelnerrungen wurden: nach Westen durch die europäische In-tegration, nach Osten durch die Politik Willy Brandtsund den KSZE-Prozess.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Beides basierte übrigens auf einem klaren Konzept.

Davon kann heute keine Rede mehr sein. Wie ihreVorgängerregierungen schwankt auch die große Koali-tion zwischen Großmannssucht und Vasallentreue zurUSA. Altkanzler Helmut Schmidt sieht das anscheinendähnlich – ich zitiere –:

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Gert Winkelmeier

Die NATO ist ein militärisches Verteidigungsbünd-nis,

– hören Sie gut zu –

dem der potenzielle Feind abhanden gekommen ist.Und jetzt suchen die militärischen und diplomati-schen Bürokraten des Bündnisses neue Aufgaben… Die Aufgabe der Verteidigung im Notfall mussbestehen bleiben. Aber deswegen muss ich michnicht verpflichtet fühlen, im Irak oder Syrien dieDemokratie zu verwirklichen …

(Beifall bei der LINKEN)

Da würde ich zurückhaltend sein, auch bei den sogenannten friedenserhaltenden militärischen Missio-nen … Ich habe mich nie als politischer Zwerg ge-fühlt, aber auch keinen Sitz im UN-Sicherheitsratangestrebt.

Zitiert nach „Focus“-Interview, 24. Kalenderwoche 2005.

(Jörg Tauss [SPD]: Helmut Schmidt und Die Linke!)

– Ja, das ist eine Schande. Herr Tauss, wir müssen unsaber auf ihn berufen, weil Sie sich von seiner Politikvollkommen abgekehrt haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese Haltung stünde auch der Bundesregierung gutzu Gesicht; stattdessen erklärt sich die Merkel-Regie-rung zum Hilfsweltpolizisten, wie man dem jüngstenWeißbuch entnehmen muss. Hat diese Regierung ausdem sich abzeichnenden Desaster in Afghanistan nichtsgelernt? Offensichtlich nicht. Sonst würde der Verteidi-gungsminister nicht öffentlich über einen Einsatz im Su-dan nachdenken.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dafür müssen wir den Verteidigungs-minister loben, nicht kritisieren! Dem ist dasnicht egal!)

Die Soldaten unseres Landes müssen in nicht weni-gen Auslandseinsätzen ihr Leben riskieren. Ihnen dafürauch noch das Weihnachtsgeld um 70 Prozent zu kürzen,halte ich für unverschämt. Das zeigt die Wertschätzung,die diese Regierung ihren Soldaten entgegenbringt, amdeutlichsten.

Was ich im Jahresbericht 2005 vermisse, sind klareAussagen zum Prinzip der inneren Führung und zumLeitbild des Staatsbürgers in Uniform. Ich sage das,weil ich mit Sorge sehe, dass im Kopf des einen oder an-deren Spitzenmilitärs seit Jahren ganz andere Leitbilderherumspuken. Immerhin wünscht sich der Inspekteurdes Heeres den „archaischen Kämpfer“ und den High-techkrieger. Offensichtlich soll das Leitbild des Staats-bürgers in Uniform entsorgt werden, weil es einigen ineiner Einsatzarmee lästig geworden ist.

(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)

Ich fordere den Wehrbeauftragten auf, diesen gefährli-chen Tendenzen in der Bundeswehrführung mit größt-möglicher Schärfe entgegenzutreten; andernfalls könn-

ten Bilder, wie wir sie seit Jahren aus dem Irakkriegkennen, zur Regel werden, allerdings dann mit Beteili-gung deutscher Soldaten. Das kann niemand wollen.

Selbst auf die Gefahr hin, dass ich gleich unterbro-chen werde, wünsche ich allen Zuhörerinnen und Zuhö-rern ein friedvolles Weihnachtsfest, einen guten Rutschins neue Jahr. Insbesondere wünsche ich den Mitgliederndes Verteidigungsausschusses, dass ihrem Weihnachtsur-laub nicht durch irgendeinen unsinnigen militärischenAuslandseinsatz unterbrochen wird.

Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Gabriele Fograscher,

SPD-Fraktion.

Gabriele Fograscher (SPD): Herr Präsident! Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolle-

ginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließendden Jahresbericht 2005 des Wehrbeauftragten. Eine Viel-zahl von Problemen, die darin aufgelistet ist, wird unsim kommenden Jahr und darüber hinaus beschäftigenmüssen.

Der Bericht zeigt auf, wo Handlungsbedarf besteht.Vieles lässt sich nur lösen – das ist schon angesprochenworden –, wenn die Bundeswehr in Zukunft die finanzi-elle Ausstattung erhält, die sie ihren Aufgaben entspre-chend braucht. Dazu gehört neben der besten Ausrüs-tung – das haben die Vorrednerinnen und Vorrednerbereits angesprochen – auch die angemessene Besol-dung und gute Aufstiegsmöglichkeiten für Soldatinnenund Soldaten.

Auch 16 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die un-terschiedliche Besoldung in Ost und West immer nochnicht beseitigt. Beim täglichen Dienst im In- oder Aus-land spielt es keine Rolle, ob jemand aus den neuen oderaus den alten Bundesländern kommt. Die Angleichungder Besoldung im einfachen und mittleren Dienst soll bisEnde 2007, für höhere Dienstgrade bis 2009 vollzogensein. Da es sich laut Stellungnahme der Bundesregierungum eine überschaubare Anzahl von Betroffenen handelt,wäre es ein gutes und richtiges Signal, diesen Zeitrah-men nicht auszuschöpfen.

Ein weiterer Punkt, der in der Truppe Frustrationenund Enttäuschungen verursacht, sind die unzureichendenBeförderungschancen. Es gibt in allen Dienstgradgrup-pen zu wenige Planstellen. Überall entstanden in derVergangenheit Wartezeiten, die je nach Teilstreitkraftunterschiedlich ausfallen.

Das Attraktivitätsprogramm hat eine Verbesserungbei Beförderung und Besoldung geschaffen. Allein inden Jahren 2002 bis 2005 gab es zusätzliche Besoldungs-verbesserungen für 34 600 Mannschaftsdienstgrade undzusätzlich 35 100 Beförderungen für alle Laufbahnen,davon allein rund 26 700 für Feldwebeldienstgrade. Na-türlich löst das Attraktivitätsprogramm den langjährigenBeförderungsstau nicht in kürzester Zeit auf. Aber es ist

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Gabriele Fograscher

notwendig – darüber freue ich mich –, dass das Attrakti-vitätsprogramm mit den im Haushalt 2007 vorgesehenenVerbesserungen fortgesetzt wird. Damit werden rund3 400 zusätzliche Beförderungen ermöglicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Weitere Probleme bei Besoldung und Laufbahn müs-sen im Rahmen der Novellierung des ÖffentlichenDienstrechts unter Federführung des BMI gelöst werden.Hier gilt es, sich rechtzeitig in die Diskussion einzu-schalten, damit den besonderen Bedürfnissen der Solda-tinnen und Soldaten Rechnung getragen wird. Wir habenes vorhin schon gehört: Zwei Drittel von ihnen sind imunteren und mittleren Dienst. Auch dem muss Rechnunggetragen werden.

Neben diesen und vielen anderen Problemen, die nurzu lösen sein werden, wenn mit den Aufgaben auch diefinanzielle Ausstattung wächst, zeigt der Bericht auchandere Missstände in der Truppe auf. Probleme der Ge-sellschaft machen auch vor der Bundeswehr nicht Halt.Die Bundeswehr ist ein Spiegel der Gesellschaft undhat ähnliche Probleme wie die Zivilgesellschaft.

Der Bericht zeigt Beispiele von respektlosem Verhal-ten bis hin zu Körperverletzungen und Misshandlungen.Missbrauch von legalen und illegalen Drogen wirdebenso geschildert wie rechtsextremistische Vorkomm-nisse. Zwar ist die Zahl der Taten im Verhältnis zur Ge-samtzahl der Bundeswehrangehörigen gering und in denvergangenen Jahren fast gleich geblieben, doch jede ein-zelne rechtsextremistisch oder fremdenfeindlich moti-vierte Tat – sei es auch nur ein Propagandadelikt – isteine zu viel. Rechtsextremismus und Fremdenfeind-lichkeit dürfen weder in der Bundeswehr noch in derGesellschaft Platz haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Hier gilt es, weiterhin wachsam zu bleiben und präven-tive und erzieherische Maßnahmen zu ergreifen. Wo esnötig ist, muss auch mit disziplinarrechtlichen Maßnah-men bis hin zum Ausschluss aus der Truppe reagiertwerden.

Bei Übergriffen und Fehlverhalten haben die Solda-tinnen und Soldaten das Recht, sich an den Wehrbeauf-tragten zu wenden. Sie nutzen es auch. Ich will sie auchdazu ermutigen, Vorkommnisse direkt an den Vorgesetz-ten zu melden.

Der Bericht des Wehrbeauftragten ist eine Auflistungvon Problemen und Mängeln in der Truppe. Ich möchteIhnen, Herr Robbe, dafür danken, dass Sie auch Positi-ves in den Bericht aufgenommen haben. Kamerad-schaft und Solidarität sind vor allem in den Auslands-einsätzen unverzichtbar. Sie haben diese Eigenschaftender Soldatinnen und Soldaten an anschaulichen Beispie-len in Ihrem Bericht eindrucksvoll beschrieben.

Ich möchte zum Schluss allen Soldatinnen und Solda-ten für ihren Einsatz danken. Mein Dank gilt auch demWehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mit-arbeitern, die immer ein offenes Ohr für die Sorgen undNöte der Truppeangehörigen haben.

Ich darf Ihnen das Buch „Zum Schutz der Grund-rechte …“, das in dieser Woche vorgestellt wurde, emp-fehlen. Es enthält interessante Details zur Historie desWehrbeauftragten.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Vertei-digungsausschusses zum Jahresbericht 2005 des Wehr-beauftragten, Drucksachen 16/850 und 16/3561. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist einstimmig angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Oskar Lafon-taine und der Fraktion der LINKEN

Aufhebung der Steuerfreiheit von Veräuße-rungsgewinnen

– Drucksache 16/2523 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenAxel Troost, Fraktion Die Linke, das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über Nacht

aus dem Nichts zu Geld zu kommen, das ist – ich sage esganz vorsichtig – eine angenehme Vorstellung. Für diemeisten Menschen bleibt das ein unerreichbarer Wunsch,bei einigen klappt es aber sehr gut, zum Beispiel beim Fa-milienunternehmen Merck, das um 400 Millionen Euroreicher geworden ist, als im Sommer dieses Jahres dieÜbernahmeschlacht um die Schering AG tobte.

Was war passiert? Der Vorstand der Schering AGhatte sich für eine Übernahme durch die Bayer AG aus-gesprochen. Diese Situation nutzte das Familienunter-nehmen Merck aus und kaufte, ganz im Stile einesHedge-Fonds, massiv Schering-Aktien an der Börse. Umdie Übernahme wie geplant durchführen zu können,musste die Bayer AG diese Aktien dann von Merck zu-rückkaufen, freilich zu einem deutlich höheren Preis.Das Ergebnis dieses Spekulationsgeschäfts war ein Er-trag in Höhe von rund 400 Millionen Euro – über Nacht,aus dem Nichts und vor allem steuerfrei.

(Jörg Tauss [SPD]: Aha! Da hat der Troost also Merck-Aktien gekauft!)

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Dr. Axel Troost

Diese 400 Millionen Euro wurden, steuertechnischgesprochen, als Veräußerungsgewinn verbucht. Veräuße-rungsgewinne sind seit der rot-grünen Unternehmensteu-erreform aus dem Jahre 2000 steuerfrei. Das, meine Da-men und Herren, ist eine der größten steuerpolitischenUngerechtigkeiten, die den Bürgerinnen und Bürgern inden letzten Jahren zugemutet wurde.

(Beifall bei der LINKEN)

Dazu sagt die Fraktion Die Linke: Das muss geändertwerden und das kann auch geändert werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir müssen Veräußerungsgewinne wieder besteuern,wie es auch in den meisten anderen westeuropäischenStaaten üblich ist. Dadurch würde nicht nur mehr Steu-ergerechtigkeit geschaffen, sondern dadurch könntenwir auch noch zwei weitere Ziele erreichen:

Erstens würden wir dafür sorgen, dass wir wieder mehrGeld in die öffentlichen Kassen bekommen, nämlich rund2 Milliarden Euro pro Jahr. Ich will daran erinnern: Die-ser Betrag entspricht in etwa der Größenordnung, diedurch die Abschaffung der Entfernungspauschale ab demJahr 2007 für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerals Belastung bzw. für die öffentlichen Kassen als Mehr-einnahmen entsteht.

Die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen zeigt:Leere öffentliche Kassen sind kein Naturgesetz. Leereöffentliche Kassen sind das Ergebnis einer Steuerpolitik,durch die an Unternehmen und Besserverdienende Steu-ergeschenke verteilt wurden.

(Beifall bei der LINKEN – Jörg Tauss [SPD]:Wir haben aber gleichzeitig auch höhere Steu-ereinnahmen! Erklären Sie mir einmal, wie daskommt!)

Die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen zeigt aberauch: Diese Steuerpolitik kann geändert werden. Dafürbräuchte man aber den politischen Mut, Entscheidungenzu treffen, die die Besserverdienenden und die Unterneh-men Geld kosten.

(Beifall bei der LINKEN)

Würden wir Veräußerungsgewinne besteuern, könn-ten wir – das ist das zweite Ziel unseres Antrags – auchden Einfluss von Hedge-Fonds und Private-Equity-Firmen zurückdrängen. Eine Strategie dieser Finanz-marktakteure besteht darin, Firmen billig aufzukaufen,sie anschließend zu „sanieren“ – so wird Arbeitsplatz-vernichtung in den Chefetagen genannt – und dann teuerzu verkaufen. Genau diese Strategie wird durch denSteuerzahler bezuschusst, und zwar dadurch, dass dieentstehenden Gewinne steuerfrei sind.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, mankann nicht immer wieder – auch auf sehr populistischeWeise –, fordern, dass das Problem der Heuschreckengelöst werden muss, und gleichzeitig darauf verzichten,Steuern auf Veräußerungsgewinne zu erheben.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen eine Politik, die andere Schwerpunktesetzt. Wenn man sich die Aussagen der Bundesregierungvor Augen führt – wahrscheinlich werden diese Argu-mente auch in dieser Debatte angeführt –, dann stelltman fest – ich zitiere aus der Antwort der Bundesregie-rung auf unsere Kleine Anfrage –, dass

durch die Steuerbefreiung von Veräußerungsgewin-nen … althergebrachte Beteiligungsstrukturen deut-scher Unternehmen aufgebrochen

werden sollen.

(Jörg Tauss [SPD]: Wenn Sie es wissen, wa-rum sagen Sie es dann nicht?)

Natürlich besteht in Einzelfällen, zum Beispiel beiUmstrukturierungen und bei Entflechtungen von Unter-nehmen, die Notwendigkeit dazu; das stelle ich nicht in-frage. Aber ich sage: Die Steuerbefreiung von Veräuße-rungsgewinnen ist ein untaugliches Instrument, um diesesZiel zu erreichen.

(Beifall bei der LINKEN)

Denn es wird eben nicht im Einzelfall geprüft, wasgefördert werden sollte und was nicht. Stattdessen wirdnach dem Gießkannenprinzip verfahren: Jeder Veräuße-rungsgewinn wird subventioniert, auch wenn dahinterkein sinnvolles Umstrukturierungsinstrument steht.

Dies heißt, in der Regel sind die Verlierer die Be-schäftigten. Deswegen sind wir der Ansicht: Hier musseine Veränderung durchgeführt werden. Eine Steuerpoli-tik, die solche Praktiken auch noch subventioniert, istnicht nur sozial ungerecht, sondern auch wirtschaftspoli-tisch falsch und finanzpolitisch abenteuerlich. Wir bittenSie daher, unserem Antrag zuzustimmen. Wir brauchendie Aufhebung der Steuerbefreiung von Veräußerungs-gewinnen.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Ulrich Krüger,

SPD-Fraktion.

Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die rot-grüne Bundesregierung hat imJahre 2000 mit dem Steuersenkungsgesetz ein moder-nes und international wettbewerbsfähiges Unternehmen-steuerrecht für Deutschland auf den Weg gebracht, wel-ches heute, unter der großen Koalition, fortbesteht undden Bürgern und den Unternehmen in unserem Landeviele finanzielle Erleichterungen verschaffen konnte.Dieses Steuersenkungsgesetz hat einen wichtigen Bei-trag zum heutigen Aufschwung geleistet und hat – daranbesteht für mich kein Zweifel – auch zu den jetzt spürba-ren Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt beigetragen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

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Dr. Hans-Ulrich Krüger

Mit diesem in der Geschichte der Bundesrepublik bisdahin größten Steuerreformpaket mit einer Absenkungder Steuerbelastung in Höhe von sage und schreibe75 Milliarden DM ist der Grundstein für eine dringendbenötigte Finanzreform gelegt worden. Der Mittelstandwurde mit 14 Milliarden DM entlastet. Die wichtigsteund für jeden Einzelnen spürbare Auswirkung diesesGesetzes war die Senkung der Steuersätze. So wurdender Spitzensteuersatz auf 42 Prozent, der Körperschaft-steuersatz auf 25 Prozent und der Eingangssteuersatz, inmehreren Stufen, von 26 Prozent auf gerade noch15 Prozent abgesenkt, mithin um ein Drittel reduziert;dieses Beispiel ist schon mehrfach angeführt worden.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das hätten wir schon 1998 haben können!)

Wenn wir heute sagen können, dass ein Familienvater,verheiratet, mit zwei Kindern, bis zu einem Jahresein-kommen von 37 500 Euro bei Einbeziehung des Kinder-geldes keine Steuern zahlt, dann ist das nach wie vor er-wähnens- und bemerkenswert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das waren aber keine irrationalen Steuergeschenke;das war vielmehr der notwendige Beitrag, die Steuernbei Unternehmen und die Steuern bei Privaten gleich-wertig zu senken. Dazu gehörten allerdings auch derWechsel zum so genannten Halbeinkünfteverfahren und,logisch konsequent, die Steuerfreiheit von Dividendeninnerhalb der Unternehmensebene und von Gewinnenaus der Veräußerung von Anteilen bei Kapitalgesell-schaften. Diesen Zusammenhang bitte ich zur Kenntniszu nehmen; davon steht nämlich nichts in Ihrem Antrag.

Das Halbeinkünfteverfahren trat notwendigerweisean die Stelle des eben nicht europatauglichen Vollan-rechnungsverfahrens. Es bewirkt, dass nach Vorbelas-tung auf der Unternehmensebene auf der Ebene des An-teilseigners Einnahmen aus Beteiligungen nur zur Hälftein die Bemessungsgrundlage für die Einkommensteuereingestellt werden. Insgesamt ergab sich bzw. ergibt sichdurch diese Maßnahme eine Belastung der ausgeschütte-ten Gewinne, die der steuerlichen Belastung bei anderenEinkunftsarten angenähert ist. Anders ausgedrückt: DieGleichbehandlung von Dividenden mit anderen Einkünf-ten lässt sich nur erreichen, wenn Ausschüttungen zwi-schen Körperschaften nicht besteuert werden.

Für den vollzogenen Systemwechsel zum Halbein-künfteverfahren sprachen und sprechen diverse Vorteile:Das Halbeinkünfteverfahren ist klar und transparent,weil die Ebene der Kapitalgesellschaft klar von derEbene der Anteilseigner getrennt wird. Das Halbein-künfteverfahren ist wettbewerbsneutral und europataug-lich. Demgegenüber war das Vollanrechnungsverfahrennur ein nationales Mittel; es beseitigte lediglich die steu-erliche Doppelbelastung bei einem Anteilseigner undseiner Gesellschaft innerhalb Deutschlands. Last notleast: Das Halbeinkünfteverfahren hat gezeigt, dass eskonsequent kumulative Mehrfachbelastungen innerhalbvon Konzernen und Beteiligungsstrukturen vermeidet.

Wirtschaftlich gesehen stellt der Veräußerungsgewinnden Wert der Rücklagen der veräußerten Kapitalgesell-schaft dar. Diese setzen sich aus offenen Rücklagen undstillen Reserven zusammen. Hier wird dann unterschie-den: Offene Rücklagen sind mit 25 Prozent Körper-schaftsteuer belastet, stille Reserven nur dann, wenn dasentsprechende Wirtschaftsgut, beispielsweise ein Grund-stück, veräußert wird.

Damit eine Doppelbesteuerung vermieden wird, sindbei der Anteilsveräußerung zwischen Kapitalgesell-schaften im neuen System der Körperschaftsteuer Veräu-ßerungsgewinne konsequenterweise steuerfrei. Eine Be-steuerung bereits bei der Anteilsveräußerung, wie hiergefordert wird, würde im aktuellen System eine nicht ge-rechtfertigte Doppelbesteuerung der offenen und stillenReserven auslösen.

Wir haben erreicht, dass durch die Steuerbefreiungvon Veräußerungsgewinnen althergebrachte Beteiligungs-strukturen deutscher Unternehmen aufgebrochen wordensind,

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Hier rein, da raus!)

dass die Positionierung dieser Unternehmen im interna-tionalen Wettbewerb optimiert wurde und dass das Steu-eraufkommen in Deutschland gesichert wurde. Wenn imJahre 2006, nach dem Systemwechsel, Kapitalertrag-steuer in Höhe von 11 Milliarden Euro anfallen wird,wenn wir nach der Senkung des Körperschaftsteuersat-zes von 40 Prozent auf 25 Prozent heuer Einnahmen inHöhe von 23 Milliarden Euro, also in gleicher Höhe wieseinerzeit bei dem höheren Steuersatz haben werden, istdies ein Beweis dafür, dass der Ansatz, der beim Steuer-senkungsgesetz 2000 gewählt wurde, in die richtigeRichtung ging und geht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derCDU/CSU sowie der Abg. Christine Scheel[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – ChristineScheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da-mals hatten wir 3 Prozent Wachstum!)

– Ich danke für den Zwischenruf, Frau Kollegin. Dieswird leider vielfach vergessen, auch in diesem Antrag.Stattdessen wird ausgeführt, es gäbe Fälle, in denen reinspekulative Faktoren den Beteiligungswert bestimmtenund nach erfolgreicher Spekulation unversteuerte Ge-winne gemacht würden. Dem ist entgegenzuhalten:Ebenso wie ein erhöhter Börsenkurs eine Entsprechungin den stillen Reserven des Firmenwerts haben kann undeben nicht in einer Spekulation, ist es möglich, dass eineentsprechende Spekulation nicht mit einem Veräuße-rungsgewinn, sondern mit einem Veräußerungsverlustendet. Das heißt: Die rein spekulativ erhöhten Kurse sin-ken; die Beteiligung kann nur mit Verlust veräußert wer-den. Selbst wenn man dem Antrag der Linken folgenund alle Schwierigkeiten des Einzelfalles hintanstellenwollte, müsste man folgerichtig die Einnahmesituationdes Staates auch mit Veräußerungsverlusten behaften.Damit wäre jedoch der Zockerei auf Unternehmens-ebene und auf Kosten des Staates Tür und Tor geöffnet,also der berühmte „Schuss nach hinten“ vollzogen.

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Dr. Hans-Ulrich Krüger

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Gleiches gilt für die Idee, eine Mindestbeteiligungs-grenze oder Mindesthaltedauer bzw. ein umfassendesVerbot des Betriebsausgabenabzugs für Aufwendungenfür Beteiligungen einzuführen. All diese Dinge sind ge-staltungsanfällig und damit unpraktikabel. Sie würdenzu einem Nebeneinander von steuerfreien und steuer-pflichtigen Beteiligungsveräußerungen führen und Un-ternehmen dazu ermuntern, Verluste in den steuerpflich-tigen und Gewinne in den steuerfreien Bereich zuverlagern. Im Übrigen gilt seit 1999 respektive seit 2004die 5-Prozent-Klausel, sprich: ein pauschales Be-triebsausgabenabzugsverbot.

Gerade im Zuge der Überlegungen zur Unterneh-mensteuerreform 2008 müssen wir uns auf die Fahneschreiben, dass alles, was wir entwerfen, nicht miss-brauchsanfällig und nicht gestaltungsanfällig ist. Wirsollten gemeinsam nach Lösungen suchen – ich ladeauch Sie von der Linken dazu ein –, wie wir das Steuer-substrat des Staates sichern können. Wir sollten abernicht ein Verfahren diskreditieren, das in die richtigeRichtung gewiesen hat. Ich lade Sie daher herzlich ein,die Umsetzung der Steuerreform konstruktiv zu beglei-ten.

Hierzu gehört auch die weitere Senkung der Körper-schaftsteuer auf 15 Prozent und die Senkung der Gewer-besteuermesszahl von 5 Prozent auf 3,5 Prozent. Wiralle wollen, dass zukünftig mehr von den Gewinnen, diein diesem Staate erwirtschaftet werden, der Besteuerungin diesem Staate zugeführt werden. Es geht darum, diesohne eine Komplizierung des ohnehin schon hinreichenddifferenzierten Steuerrechtes zu schaffen.

Die Ansätze, die wir hierbei gefunden haben, sind er-mutigend. Daher appelliere ich an Sie: Lassen wir unsnicht von scheinbaren Argumenten der Steuergerechtig-keit verführen, vorschnell den Kopf auszuschalten, son-dern überlegen wir, wie wir unser Steuerrecht aufGrundlage des Steuersenkungsgesetzes 2000 vernünftigfortentwickeln können. Dabei spielt sicherlich auch dieAbgeltungsteuer gelegentlich eine Rolle.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowieder Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile Kollegen Hermann Otto Solms, FDP-Frak-

tion, das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es war schon eine große Überraschung für unsOppositionspolitiker – dazu gehörte damals auch dieCDU/CSU –, als wir im Jahre 2000 die Vorschläge derdamaligen rot-grünen Regierung zur Steuerfreiheit vonVeräußerungsgewinnen bei Beteiligungsverkäufen zur

Kenntnis genommen haben. Das hatten wir nicht erwar-tet.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das war kurz vor Weihnachten! Dasweiß ich noch!)

In den Diskussionen, die wir vorher in unserer Koalitiongeführt hatten, hatten wir als FDP eine völlige Steuer-freiheit immer ausgeschlossen, weil das steuersystema-tisch nicht gerechtfertig war und auch bis heute nicht ge-rechtfertigt ist.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist es!)

In diesem Punkt stimme ich dem Antrag der Linken zu.Allerdings gilt das nicht für die Begründung, die Sie vor-gebracht haben.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Gott sei Dank! – Leo Dautzenberg[CDU/CSU]: Das wäre aber auch erstaunlichgewesen, Herr Dr. Solms!)

Der reine Appell an den Neidkomplex führt uns nichtweiter. Die Frage lautet, was steuersystematisch richtigist.

(Beifall bei der FDP)

Ich habe die Diskussion damals hier im DeutschenBundestag, bei der ich sogar die Ehre hatte, einen Bei-trag zu leisten, noch einmal nachgelesen. Ich habe da-mals gesagt:

Das … führt zu einer einseitigen Begünstigung derKapitalgesellschaften gegenüber den Personenge-sellschaften und den Einzelkaufleuten.

Genau das ist der steuersystematisch entscheidende Ge-genangriff. Es war nicht in Ordnung, dies nur für Kapi-talgesellschaften einzuführen und die Personengesell-schaften davon auszuschließen. Im Übrigen hat dieSteuerfreiheit natürlich dazu beigetragen, dass die so ge-nannte Deutschland AG stärker entflochten worden ist.Insofern hatte das volkswirtschaftlich auch einen positi-ven Effekt. Steuersystematisch aber war es nicht richtig,die Kapitalgesellschaften auf diese einseitige Weise zubegünstigen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Deswegen haben wir als FDP hinsichtlich einer Re-form der Einkommen- und Körperschaftsteuer einensteuersystematisch einwandfreien Vorschlag gemacht.

(Frank Schäffler [FDP]: So etwas bekommt die große Koalition gar nicht hin!)

Nach unserem Entwurf sind Veräußerungsgewinne beiBeteiligungsverkäufen grundsätzlich steuerpflichtig. DerSteuertarif ist dabei natürlich deutlich abgesenkt. DieseGewinne können aber in eine steuerfreie Reinvestitions-rücklage eingestellt werden, die für entsprechende In-vestitionen innerhalb von vier Jahren aufgelöst werdenmuss. Wenn das nicht geschieht, dann muss die Besteue-rung endgültig nachvollzogen werden. – Das ist ein steu-ersystematisch richtiger Ansatz.

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Dr. Hermann Otto Solms

Ein anderer richtiger Ansatz ist der, der in anderenLändern gefunden worden ist, beispielsweise in den Ver-einigten Staaten, wo Veräußerungsgewinne mit einem ei-genen Steuertarif belastet werden, der sehr viel niedrigerist. Er lag einmal bei 12 Prozent und 15 Prozent; ichweiß nicht, wie hoch er im Moment ist. Mir geht es aberauch nur um das System.

Es stellt sich die Frage, was die Bundesregierung jetzttut.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Da bin ich auch einmal gespannt!)

Sie hat ja angekündigt, eine Unternehmensteuerreformeinzubringen. Noch im Januar wird sie einen Regie-rungsentwurf vorlegen.

Herr Krüger, ich habe mich etwas darüber gewundert,dass Sie das Halbeinkünfteverfahren so gerühmt ha-ben, obwohl Sie gerade dabei sind, es wieder abzuschaf-fen. Das macht ja wenig Sinn.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender LINKEN – Christine Scheel [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist komisch; dasstimmt! – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dasehen Sie einmal, welche Überzeugungsarbeitwir geleistet haben, Herr Solms! – Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Ich musste es den Kolle-gen von der Linken erst einmal erklären!)

Nach dem, was bis jetzt von Ihren Vorschlägen undÜberlegungen bekannt ist, bleibt § 8 b Körperschaftsteu-ergesetz – also diese Ausnahme – erhalten.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das stand in der Zeitung! Das habe ichauch gesehen!)

Dadurch würden Sie den steuersystematischen Fehlerfortschreiben. Das wäre bedauerlich.

(Beifall bei der FDP)

Sie haben aber noch Zeit, diese Frage zu überdenken undeinen steuersystematisch einwandfreien Vorschlag zumachen.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Diese Über-zeugungsarbeit müssen wir in der Koalitionnoch leisten!)

Wenn es Ihnen hilft, stelle ich Ihnen unseren Entwurf zurVerfügung. Sie müssen ihn nur abschreiben. Sie könnensich darauf verlassen, dass das sauber durchdacht, steu-ersystematisch konsequent und einwandfrei ist.

(Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Abschreiben war schon in der Schule verboten!)

Sie brauchen sich also nicht mehr den Kopf darüber zuzerbrechen und auch über das Halbeinkünfteverfahrennicht mehr nachzudenken.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP – Christine Scheel[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Denkenhaben viele schon eingestellt; das stimmt!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Peter Rzepka, CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Peter Rzepka (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Erst vor kurzer Zeit, nämlich im Juli dieses Jah-res, hat die Bundesregierung der Fraktion Die Linke dasSystem der deutschen Körperschaftsbesteuerung erklärt,

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie hat es versucht!)

und zwar in der Antwort auf eine Kleine Anfrage, diedas Thema des heute vorliegenden Antrages zum Inhalthatte. Deshalb habe ich die Vermutung, dass unsere Kol-legen von der Linksfraktion nicht verstehen wollen odernicht verstehen können. Ich denke, beides ist gleichschlimm. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es letzt-lich nur darum geht, die Komplexität des Unternehmen-steuerrechts durch unzulässige Vereinfachung zu einempopulistischen Antrag zu nutzen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein, nein!)

Falsches, Herr Kollege Troost, wird nicht dadurchrichtig, dass es wiederholt wird.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Stimmt! Das sehen wir auch so!)

Das gilt für die Ausführungen der Linken zur Unterneh-mensbesteuerung im Allgemeinen und zur Körperschaft-steuerbefreiung von Gewinnen aus Beteiligungsverkäu-fen im Besonderen.

Im so genannten Halbeinkünfteverfahren, das hierschon angesprochen worden ist und das seit dem1. Januar 2001 gilt, werden Gewinne von Körperschaf-ten mit einem einheitlichen Steuersatz definitiv besteu-ert, unabhängig davon, ob sie ausgeschüttet oder einbe-halten werden. Solange die Gewinne im Unternehmenverbleiben, bleibt es bei diesem Steuersatz. Im Fall derAusschüttung an natürliche Personen als Anteilseignerkommt es zur Nachbelastung. Dabei werden die Divi-denden beim Anteilseigner nur zur Hälfte in die Bemes-sungsgrundlage seiner Einkommensteuer einbezogen.Dies geschieht, um eine übermäßige Belastung ausge-schütteter Gewinne im Vergleich zu anderen Einkünftenzu vermeiden.

Diesem gleichen Ziel dient die Steuerfreiheit bei Aus-schüttungen von Körperschaften an andere Körperschaf-ten. Die gewollte steuerliche Gesamtbelastung wird da-durch hergestellt, dass die Gewinne einmal bei derKörperschaft, die sie erzielt, und zum anderen bei derWeiterausschüttung an natürliche Personen als Anteils-eigner besteuert werden. Eine zusätzliche Besteuerungder Dividenden innerhalb einer Beteiligungskette würdezu einer mehrfachen Besteuerung des gleichen Gewinnsführen und kann deshalb nicht ernstlich gefordert wer-den.

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Peter Rzepka

Der Gewinn, den eine Körperschaft durch Veräuße-rung einer Beteiligung an einer anderen Körperschaft er-zielt, wird wie eine Gewinnausschüttung in der Beteili-gungskette steuerfrei gestellt. Das gilt sowohl fürBeteiligungen an inländischen als auch für solche anausländischen Gesellschaften. Diese Freistellung be-rücksichtigt, dass der Veräußerungsgewinn auf offenenund stillen Reserven sowie auf zukünftigen Gewinnaus-schüttungen und Gewinnaussichten der Beteiligungsge-sellschaft beruhen kann. ^

Offene Reserven sind bei der Beteiligungsgesellschaftbereits versteuert. Stille Reserven sind bei ihr steuerlichverhaftet und müssen bei Aufdeckung besteuert werden.Gewinnaussichten unterliegen bei ihrer Realisierung na-turgemäß auch in der Gesellschaft der Besteuerung.Trotz der Freistellung der Gewinne aus Beteiligungsver-käufen ist also gesichert, dass alle Gewinne in vollemUmfang im Halbeinkünfteverfahren besteuert werden,einmal in der Gesellschaft, die sie erzielt, zum anderenbei Weiterausschüttungen an natürliche Personen als An-teilseigner.

Die Steuerfreiheit dieser Veräußerungsgewinne korre-spondiert mit der Steuerfreiheit von Dividenden in Kapi-talgesellschaftskonzernen – das ist hier angesprochenworden –; denn man kann die Veräußerung einer Beteili-gungsgesellschaft mit Gewinn auch als Vollausschüttungaller Gewinne betrachten.

Bei einer weiteren zusätzlichen Steuerpflicht des Ver-äußerungsgewinns käme es zu einer Doppelbesteue-rung; da unterscheiden wir uns auch, Herr KollegeDr. Solms. Wer das will – Sie von der Linksfraktion wol-len es ausweislich Ihres Antrages –,

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir wollen den Zustand von vor 2000!)

legt die Axt an die Besteuerung nach der Leistungsfähig-keit – ein Grundsatz, der sich wie ein roter Faden durchunsere Steuersystematik zieht und dessen Nichtbeach-tung regelmäßig vom Bundesfinanzhof und vom Bun-desverfassungsgericht gestoppt wird.

Aus der Steuerbefreiung der Veräußerungsgewinnefolgt, dass auch Veräußerungsverluste und Teilwertab-schreibungen nicht berücksichtigt werden dürfen. Das istsozusagen die andere Seite der Medaille. Wer die Steuer-befreiung wieder abschaffen will, muss auch Veräuße-rungsverluste und Teilwertabschreibungen wieder aner-kennen.

Nicht so die Linksfraktion: Sie will nur die süßenTrauben der Gewinnsteuern für den Fiskus, vergisst da-bei aber die sauren Trauben der Verluste. Führende Ver-treter der PDS/Die Linke haben denn auch die Kehrseiteder Medaille bekämpft, das heißt die vor dem System-wechsel im Körperschaftsteuerrecht bestehende Mög-lichkeit zu Teilwertabschreibungen. Sie ging Hand inHand mit der damaligen Besteuerung der Veräußerungs-gewinne.

Ich darf in diesem Zusammenhang an die Rede derAbgeordneten Dr. Gesine Lötzsch in diesem Hause an-lässlich der Debatte über den Bundeshaushalt 2005 erin-nern. Sie sagte damals:

Sie nehmen es … einfach hin, dass der weltgrößteMobilfunkkonzern Vodafone 50 Milliarden Euro au-ßerplanmäßig abschreiben will,

– es ging um die zuvor erworbene Beteiligung an Man-nesmann –

um 20 Milliarden an Steuern zu sparen.

Das wurde damals gegeißelt.

Ich will nicht entscheiden, ob die damalige Abschrei-bung von Vodafone steuerrechtlich zulässig war. Daskann hier dahingestellt bleiben. Darüber werden letztlichdas zuständige Finanzamt und gegebenenfalls dieFinanzgerichte zu entscheiden haben.

Jedenfalls ist mit dem Übergang vom Anrechnungs-verfahren zum Halbeinkünfteverfahren in diesem Punktgehandelt worden. Mit dem Systemwechsel bei der Kör-perschaftsteuer ist die steuerliche Geltendmachung vonVeräußerungsverlusten und Teilwertabschreibungen beiBeteiligungen abgeschafft worden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Damit ist genau das geändert worden, was die KolleginLötzsch damals angeprangert hat. Systemgerecht wur-den dann allerdings auch die entsprechenden Veräuße-rungsgewinne freigestellt.

Noch einmal: Man kann nicht zugleich für die Be-steuerung von Veräußerungsgewinnen und gegen dieGeltendmachung von Veräußerungsverlusten sowie dieMöglichkeit zu Teilwertabschreibungen sein. Das ver-letzt nach meiner Auffassung wichtige steuersystemati-sche Grundsätze und widerspricht dem gesunden Men-schenverstand.

(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])

Der Standort Deutschland würde unattraktiver für großeKapitalgesellschaften. Gewinner wären die Länder, diedem geltenden deutschen Körperschaftsteuerrecht ver-gleichbare Regelungen hinsichtlich der Veräußerungsge-winne haben. Ich darf in diesem Zusammenhang Schwe-den, Irland, Belgien, die Niederlande und Luxemburgnennen. Frankreich übrigens will 2007 diese in unseremKörperschaftsteuerrecht geltende Regelung bei sich ein-führen. So falsch kann sie dann wohl nicht sein, HerrKollege.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Schweden ist ja immer das große Bei-spiel für die Linkspartei!)

Zu Beginn meiner Rede bin ich auf die Dividenden-freistellung eingegangen und habe erklärt, warum Divi-dendenzahlungen von einer Körperschaft an eine anderesteuerfrei sind. Wenn die Fraktion Die Linke in ihremAntrag behauptet, Beteiligungsaufwendungen dürftensystemwidrig von der Steuerschuld abgezogen werden,dann irrt sie erneut oder – was noch schlimmer ist – un-terschlägt einen Teil der Wahrheit, Herr Troost.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

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Peter Rzepka

Denn zum einen sind die Dividenden, die eine Körper-schaft erhält, zwar nicht bei der empfangenden, aber beider ausschüttenden Gesellschaft besteuert worden, undzwar entweder mit inländischer oder – bei Auslandsbe-teiligungen – mit ausländischer Steuer. Zum anderenwerden die Aufwendungen, die mit diesen Dividendenin unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang ste-hen, in pauschalierter Form nicht zum Abzug zugelas-sen.

Ursache für diese Regelung der Pauschalierung warendie in der Praxis bestehenden Schwierigkeiten, Aufwen-dungen im Zusammenhang mit Beteiligungen diesen zu-zuordnen. Wer die Praxis kennt, weiß, dass die Problemein diesem Zusammenhang unlösbar erschienen.

Deshalb ist es zu der Pauschalierungsregelung ge-kommen, die im Übrigen auch der Mutter-Tocher-Richt-linie der Europäischen Union entspricht. – Übrigens stel-len viele Länder Dividenden gänzlich frei, Herr Troost,ohne Betriebsausgabenabzugsverbote vorzusehen.

Nach all dem wird es Sie nicht überraschen, dass dieUnionsfraktion den Antrag der Linken ablehnen wird. Erist unsystematisch, führt zur Übermaßbesteuerung, schä-digt den Standort Deutschland – insbesondere den Hol-dingstandort, den es dann nämlich nicht mehr gäbe – undgefährdet das Vertrauen in die Beständigkeit und Bere-chenbarkeit des deutschen Steuergesetzgebers. Letztlichist er ein Programm zur Vernichtung von Arbeitsplätzenund zur Verhinderung von Investitionen in Deutschland.Wir werden den Antrag ablehnen.

Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort nun Kollegin Christine Scheel,

Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich weiß, dass das Thema „Steuerfreiheit von Veräuße-rungsgewinnen“ sehr sensibel ist. Es ist vor allem dazugeeignet, bei Veranstaltungen Neiddebatten zu führen

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

und mit einem gewissen Populismus so zu tun, als ob dieUnternehmen gänzlich steuerfrei wären, Arbeitsplätze inDeutschland abbauten und auch sonst nur Unfug treibenwürden.

(Peter Rzepka [CDU/CSU]: Das wollen siedoch nicht verstehen, Frau Kollegin! –Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Was ist dennseit 2001 passiert?)

– Ich sage jetzt, was seit 2001 passiert ist.

Banken und Versicherungen zum Beispiel nehmen dieSteuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen bei ihrenHandelsbeständen gar nicht in Anspruch. Das heißt, sieversteuern ihre Veräußerungsgewinne, und zwar deswe-gen, weil sie – sie haben damals die Option bekommen,sich nach altem Recht steuerlich behandeln zu lassen –

die Veräußerungsverluste steuerlich geltend machen.Die Kehrseite der Steuerfreiheit von Veräußerungsge-winnen ist die Nichtabziehbarkeit der Verluste. Manmuss sehen: Entweder geht beides oder es geht garnichts. Es gibt nicht das eine oder das andere. Wenn mandas eine zulässt, muss man auch das andere tun; das isteine klare Linie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehrkonsequent!)

Ein Blick zurück zeigt, welche gravierenden fiskali-schen Auswirkungen Beteiligungsverluste haben kön-nen. Ich erinnere an den Börsencrash 2001 und die da-mit einhergehenden hohen Beteiligungsverluste. Daswar der Hauptgrund, warum das Körperschaftsteuerauf-kommen völlig zusammengebrochen ist. Wir habenheute noch Altfälle – und zwar aus der Zeit, bevor wirdas Gesetz geändert haben –, die vor Gericht ausgetra-gen werden. Vodafone zum Beispiel macht – das wurdebereits angesprochen – 50 Milliarden Euro Buchverlusteaus dem Jahr 2001 steuerlich geltend. 50 MilliardenEuro Buchverluste! Das wären umgerechnet circa20 Milliarden Euro, die der Fiskus diesem Unternehmennachzahlen müsste, wenn sich Vodafone vor Gerichtdurchsetzt. Solche Probleme gibt es heute nicht mehr,weil es nicht mehr zulässig ist, solche Verluste steuerlichgeltend zu machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin gottfroh, dass wir damals die Entscheidung sogetroffen haben. Wenn ich an die Börsensituation imJahr 2001 und daran denke, wie die internationalen Fir-men damals am Steuerstandort Deutschland aufgestelltwaren, und mir vorstelle, welche Verlustvorträge wirheute noch hätten, wenn wir die Verlustverrechnungnicht abgeschafft hätten, dann wird mir schlecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

Es ist daher richtig, Vor- und Nachteile sehr sorgsamgegeneinander abzuwägen. Herr Dr. Solms, man kann si-cherlich über die Steuersystematik reden; das halte ichfür eine richtige und wichtige Debatte. Aber man darf esnicht so platt, wie vorgeschlagen, machen und sagen:Wenn die Veräußerungsgewinne besteuert werden, dannhaben wir 2 Milliarden Euro Mehreinnahmen und dieWelt wird schön. – So einfach ist es leider nicht. Ich bittedaher darum, im Ausschuss eine differenzierte Debattedarüber zu führen, was Sinn macht.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/2523 an die in der Tagesordnung aufge-

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Wohnungseigentumsgeset-zes und anderer Gesetze

– Drucksache 16/887–

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/3843 –

Berichterstattung:Abgeordnete Norbert Geis Dirk Manzewski Mechthild Dyckmans Wolfgang NeškovićHans-Christian Ströbele

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-tarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun-desministerin der Justiz:

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! In Deutschland gibt es rund 5 Millionen Wohnungs-eigentümer. Für sie alle ist heute ein guter Tag. Mit demvorliegenden Gesetz verbessern wir ihre Handlungs- undEntscheidungsfähigkeit und wir vereinfachen das ge-richtliche Verfahren, wenn es einmal zu Streitigkeitenkommen sollte.

Das geltende Wohnungseigentumsgesetz aus demJahre 1951 zeigte an einigen Punkten Reformbedarf. Wirhaben deshalb wesentliche Änderungen vorgenommen.Die drei wichtigsten Ergebnisse will ich kurz aufzeigen:

Erstens. Wir verbessern die Willensbildung in derEigentümergemeinschaft. Wenn es um die Verteilungvon Betriebs- und Verwaltungskosten geht oder umMaßnahmen der Modernisierung des gemeinschaftlichenEigentums, dann ersetzen wir das bisherige Einstimmig-keitsprinzip durch das Mehrheitsprinzip. Wir kommendamit einer alten Forderung aus der Praxis nach. Denn eskam immer wieder vor, dass objektiv notwendige Bau-maßnahmen von einzelnen Eigentümern blockiert wor-den sind. Allerdings stellen wir sicher, dass auch in Zu-kunft nicht unsachgemäß über den Kopf Einzelnerhinweg entschieden wird. Im Interesse des Minderhei-tenschutzes bleibt es dabei, dass Beschlüsse bei Gerichtangefochten werden können, und zwar insbesonderedann, wenn sie einer ordnungsgemäßen Verwaltung desGemeinschaftseigentums widersprechen.

Die zweite wesentliche Änderung betrifft das gericht-liche Verfahren. Künftig gilt die Zivilprozessordnungauch für die Wohnungseigentumssachen. Damit kom-men wir wiederum einem Wunsch vieler Praktiker nach,

der Richterschaft und nunmehr sogar auch der Bundes-rechtsanwaltskammer. 1951 hatte man die WEG-Sachender freiwilligen Gerichtsbarkeit zugewiesen, und zwarmit der Erwartung, dass dadurch die Verfahren zügigererledigt würden. Man muss ganz deutlich sagen: Geradediese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Die Praxis hat bis-lang versucht, Schwächen des Verfahrens durch dieÜbernahme einzelner Elemente aus der ZPO wenigstensteilweise auszugleichen. Aber diese Anwendung zahlrei-cher Normen im Wege der Analogie hat zu einer ganzbeträchtlichen Rechtsunsicherheit geführt. Deshalb isthier der Gesetzgeber gefordert. Seit der ZPO-Reform imJahre 2002 hat sich auch der Zivilprozess verändert. Diematerielle Prozessleitung des Gerichts und die Mitwir-kungsrechte und -pflichten der Verfahrensbeteiligtensind erweitert worden. Es werden mehr Vergleiche ge-schlossen und weniger Rechtsmittel eingelegt. Wir glau-ben, dass sich hier das WEG-Verfahren nahtlos einfügenlässt.

Mit der dritten Änderung greifen wir eine wegwei-sende Entscheidung des Bundesgerichtshofs auf. Er hatim Juni letzten Jahres die Gemeinschaft der Wohnungs-eigentümer als teilrechtsfähig anerkannt, wenn sie beider Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums amRechtsverkehr teilnimmt. Ich halte es deshalb für richtigund geboten, dass wir das Richterrecht jetzt in Gesetzes-recht überführen und dabei zugleich eine praktikable Re-gelung für die Haftung der Wohnungseigentümer schaf-fen.

Dieses Gesetz ist damit ein gutes Beispiel dafür, wieRechtsprechung und Gesetzgebung bei der Weiterent-wicklung des Rechts konstruktiv zusammenwirken.Konstruktiv zusammengearbeitet haben bei diesem Pro-jekt auch alle Fraktionen. Der Rechtsausschuss hat die-sen Gesetzentwurf in einer sehr guten Sachverständigen-anhörung und weiteren guten Berichterstattergesprächenweiterentwickelt. Ich danke allen, die am Zustandekom-men dieses guten Gesetzentwurfs engagiert mitgearbei-tet haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD –Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Du lässt unskeine Zeit zum Applaudieren!)

– Ich muss so schnell sein, weil Dirk Manzewski sonstkeine Zeit mehr hat.

Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung sorgenwir für eine praktikable Modernisierung des Gesetzes.Wir stellen sicher, dass es den Bedürfnissen der Praxisbesser gerecht wird, und wir stärken zugleich die Attrak-tivität des Wohnungseigentums in Deutschland. Wennwir jetzt alle gemeinsam dem Gesetzentwurf zustimmen,dann können wir sagen: Fröhliche Weihnachten!

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort der Kollegin Mechthild Dyck-

mans, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

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7318 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

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Mechthild Dyckmans (FDP): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Die Geschichte des Wohnungseigentumsgesetzesist eine Erfolgsgeschichte. Wir wollen, dass es dabeibleibt. Das sind wir allen jetzigen und allen künftigenWohnungseigentümern schuldig. Ich bin optimistisch,dass das Gesetz, das wir heute verabschieden werden,diesem Anspruch gerecht wird. Die Änderungen werdendas Wohnungseigentum praktikabler und vielleicht auchein Stück gerechter machen. Sie werden helfen, die At-traktivität des Wohnungseigentums auch für die Zukunftzu sichern. Das ist gerade in Anbetracht der Tatsache,dass Wohnungseigentum immer mehr zur Alterssiche-rung dient, sehr wichtig.

(Beifall bei der FDP)

Zu den entscheidenden Verbesserungen gehört – dashat der Herr Staatssekretär schon gesagt – die Erleichte-rung der Willensbildung. Hier bestand spätestens seit derEntscheidung des Bundesgerichtshofs zum so genanntenZitterbeschluss dringender Handlungsbedarf; denn diedurch diese Rechtsprechung erzwungene Rückkehr zumstarren Einstimmigkeitsprinzip ging an den Bedürfnissender Praxis vollkommen vorbei. Die Folge war, dass eineinziger Wohnungseigentümer eine Maßnahme verhin-dern konnte, die alle anderen für gut und richtig hielten.Die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip, die wirheute beschließen – wir machen das meines Erachtensvorsichtig und sinnvoll –, wird dazu beitragen, solcheBlockaden aufzubrechen. Sie wird in vielen Fällen denWeg für Modernisierungs- und Energieeinsparungsmaß-nahmen freimachen. Hiervon profitieren nicht nur dieWohnungseigentümer, sondern das ist auch gut für dasHandwerk und für die Umwelt.

Als juristisch anspruchsvoll erweist sich der Versuch,die rechtlichen Verhältnisse zwischen Eigentümerge-meinschaft, Wohnungseigentümern und Gläubigern kla-rer zu fassen. Auch hier bestand Handlungsbedarf. DieEntscheidung des Bundesgerichtshofs zur Teilrechtsfä-higkeit hatte in der Praxis zu einer Reihe von Folgefra-gen geführt. Der Gesetzentwurf versucht, hierauf eineAntwort zu geben. Ob dies in allen Punkten überzeugendgelungen ist, kann heute noch niemand mit Gewissheitsagen. Hier wird die Rechtsprechung noch einiges zu tunhaben. Gegebenenfalls wird auch der Gesetzgeber, wer-den wir nachsteuern müssen. Es wäre aber auch keineLösung gewesen, zum jetzigen Zeitpunkt vollständig aufeine Regelung zu verzichten, wie dies von einigen Ver-tretern aus der Wissenschaft empfohlen wurde. Der Zu-stand der Rechtsunsicherheit hätte so möglicherweisenoch Jahre angedauert und die Eigentumswohnung alsbesondere Rechtsform des Wohnens hätte Schaden ge-nommen. Das wollten wir nicht.

(Beifall bei der FDP)

Hingegen war es richtig, die Wohnungseigentümerge-meinschaft für nicht insolvenzfähig zu erklären. Daswäre die falsche Schlussfolgerung aus der Teilrechtsfä-higkeit gewesen.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Die Gründe dafür sind in der Anhörung vorgetragenworden. Wir hätten es aber begrüßt, wenn der Gesetzge-ber den Weg zu Ende gegangen wäre und dem Gläubigerdie Möglichkeit gegeben hätte, einen unfähigen Verwal-ter durch einen fähigen zu ersetzen. Leider hat unser da-rauf gerichteter Änderungsantrag keine Mehrheit gefun-den. Ich wage vorauszusagen, dass hier in absehbarerZeit gesetzgeberische Korrekturen vorgenommen wer-den müssen.

Kein Problem haben wir damit, dass sich das Verfah-ren in Wohnungseigentumssachen in Zukunft nach derZivilprozessordnung richten soll. Dies wird zu einerBeschleunigung von Verfahren führen und dazu beitra-gen, dass Prozesshanseln die Lust am Streit vergeht. DieGefahr einer Überforderung einzelner Wohnungseigen-tümer sehen wir nicht. Auch im Anwendungsbereich derZivilprozessordnung hat das Gericht durch Hinweisedarauf hinzuwirken, dass sich die Parteien rechtzeitigund vollständig erklären.

Erfreulich ist, dass es uns fraktionsübergreifend ge-lungen ist, den Gesetzentwurf um eine Vorschrift zu er-gänzen, durch die die Bestellungsdauer für den erstenVerwalter auf höchstens drei Jahre beschränkt wird. Aufdiese Weise wird der Gleichlauf von Bestellungsdauerund Verjährungsfrist durchbrochen und die Gefahr vonInteressenkonflikten reduziert.

(Beifall bei der FDP)

Wir hätten uns auch gefreut, wenn unser Vorstoß, dieÜbertragung bestimmter Aufgaben auf Sachverständigeunmittelbar im Wohnungseigentumsgesetz zu regeln,ebenfalls Unterstützer gefunden hätte. Auf diese Weisehätte die damit verbundene Erleichterung für die Praxissofort eintreten können. So bedarf es erst der Umsetzungdurch die Länder, die sich hiermit möglicherweise Zeitlassen werden.

Auch ich habe die unaufgeregte und an der Sache ori-entierte Beratung des Gesetzentwurfs als sehr wohltuendempfunden und ich finde, dass wir zu guten Ergebnissengekommen sind. Dass unsere Änderungsanträge keineMehrheit gefunden haben, wird uns als FDP nicht daranhindern, diesem guten Gesetzentwurf zuzustimmen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und derSPD sowie des Abg. Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Jürgen Gehb[CDU/CSU]: Oh, ein Weihnachtsgeschenk! –Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wir haben nochPlatz in der Koalition! – Gegenruf des Abg.Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das wäredann die größte Koalition!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Norbert Geis, CDU/

CSU-Fraktion.

Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Weihnachtsstimmung breitet sich aus. Ichhoffe, dass die Grünen nachher ebenfalls feststellen, dasssie dem Gesetzentwurf eigentlich zustimmen sollten,

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Norbert Geis

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verraten wir noch nicht, Herr Geis!)

zumal er bereits in der letzten Legislaturperiode grund-gelegt

(Joachim Stünker [SPD]: Das haben die Grünen al-les vergessen! Die vergessen so schnell!)

und die Fachwelt schon einbezogen worden ist. Nur istes so gewesen, dass durch die Entscheidung des Bundes-gerichtshofs vom 2. Juni 2005 ein nochmaliges Über-denken dieses Gesetzentwurfes notwendig geworden ist,und zwar vor allem aufgrund der Teilrechtsfähigkeit derWohnungseigentümergemeinschaft, die der BGH festge-stellt hat.

Diese Teilrechtsfähigkeit ist juristisch gesehen einnicht ganz einfaches Feld. Schon der Name ist schwie-rig: Man meint, dass es sich hier nur um ein Teilrecht,also nicht um eine Vollrechtsfähigkeit handelt. In Wirk-lichkeit ist dies aber nicht der Fall. Wir haben die Rege-lung so getroffen, dass – das wollte auch der BGH – dieWohnungseigentümergemeinschaft da, wo sie verwal-tend tätig wird, vollrechtsfähig ist, sich also voll ver-pflichten und Forderungen stellen kann. Der Verwalterkann zum Beispiel selbstständig Öl kaufen, ohne vorheralle Miteigentümer zu fragen. Er kann am Gesamteigen-tum Reparaturen vornehmen lassen, die dringend not-wendig sind. Für das Wohnungseigentum des Einzelnenbleibt der Eigentümer selbst zuständig. Aber für das Ge-meinschaftseigentum kann die Wohnungseigentümerge-meinschaft, weil sie vollrechtsfähig ist, selbst handeln,durch den Verwalter. Dieser ist insoweit gesetzlicherVertreter.

Das ist zweifellos ein großer Vorteil; denn dadurchwird die Verwaltung insgesamt leichter werden. Letzt-endlich, nach einer gewissen Zeit, wird Wohnungseigen-tum dadurch attraktiver. Das haben auch Sie gesagt, FrauDyckmans, und das war auch unser Wunsch, derWunsch der Koalition. Das Wohnungseigentum soll fürden einfachen Bürger eine Möglichkeit der Vermögens-bildung darstellen. Darüber, dass es auch zur Altersvor-sorge dienen kann, sind wir uns ebenfalls einig.

Dieses Gesetz will nun einen Beitrag dazu leisten. Ichmeine, das ist, soweit uns das im juristischen Bereichmöglich ist, auch gelungen.

Aber zurück zur Teilrechtsfähigkeit. Dieser Punkt istnicht ganz einfach. Es gibt und gab Stimmen, die dage-gen sind, Stimmen aus der Wissenschaft und vor allenDingen von der Anwaltschaft, die davor gewarnt haben,die Teilrechtsfähigkeit einzuführen. In der Tat ist es nichtganz einfach, eine Unterscheidung zwischen dem Ver-waltungsbereich und dem übrigen Rechtsbereich, in demdie Eigentümergemeinschaft immer noch als Bruchteils-gemeinschaft auftritt, zu treffen. Diese Unterscheidung,die ja getroffen werden musste, ist nach meiner Auffas-sung in dem Regierungsentwurf nach den Beratungen inder Koalition und mit allen Berichterstatterinnen undBerichterstattern gut gelungen. Nun ist, so meine ich je-denfalls, klar geworden, was zum Verwaltungsbereichund was zum übrigen Bereich gehört.

Dennoch glaube ich, dass wir in der Praxis Problemebekommen werden, weil mit diesem Gesetz nicht jedereinzelne Fall so konkret geregelt werden kann, dasskeine Schwierigkeiten mehr auftauchen. Also werdendie Gerichte das am Ende glatt bügeln müssen und eswird in den Einzelfällen eine gemeinsame Rechtspre-chung zustande kommen, zumal wir im Gesetz vorsehen,dass die Berufungsinstanz für Urteile des Amtsgerichtsnicht das gewöhnliche Landgericht ist, sondern dasLandgericht am Sitz des Oberlandesgerichtes.

(Joachim Stünker [SPD]: Sie haben der Drei-zügigkeit zugestimmt!)

– Ja, das habe ich schweren Herzens getan. Aber in die-sem Fall macht das Sinn; denn so gelingt es, wenigstensin einem Oberlandesgerichtsbezirk eine gemeinsameRechtsprechung herauszukristallisieren. Das war einwichtiger Punkt.

Eine weitere Neuerung ist die Stellung des Verwal-ters. Der Verwalter wurde eine Zeit lang als Zwitterfigurdargestellt, als Mann mit einer Doppelfunktion. Er bleibtnach wie vor der Verwalter der gesamten Wohnungsei-gentümergemeinschaft; das heißt, er ist bezogen auf dasRechtssubjekt im Bereich der Verwaltungstätigkeit ge-setzlicher Vertreter. Im übrigen Bereich ist er geschäfts-führend tätig, bleibt aber für die gesamte Gemeinschaftzuständig. Ich meine daher, dass es ebenfalls gelungenist, diese Zwitterstellung des Verwalters aus dem Zwie-licht zu holen, seine Stellung gesetzlich eindeutig zu re-geln und seine Kompetenzen klar abzugrenzen.

Ein weiterer Punkt, der nach meiner Meinung gere-gelt werden musste, betrifft die Insolvenzfähigkeit.Frau Dyckmans hat es schon angesprochen. Wir habendarüber lang beraten, auch koalitionsintern und zusam-men mit der Regierung. Ich möchte an dieser Stelle diegute Zusammenarbeit mit dem Staatssekretär und seinenMitarbeitern ausdrücklich loben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Sie hat dazu beigetragen, dass wir gemeinsam zu ver-nünftigen Ergebnissen gekommen sind.

Die Insolvenzfähigkeit war ursprünglich im Gesetz-entwurf vorgesehen. Wir haben sie aber aus den Grün-den, die Frau Dyckmans schon erwähnt hat, wiederherausgenommen. Letztendlich soll die Insolvenz zurAuflösung eines Rechtssubjektes führen. Das ist aber indiesem Fall nicht vorgesehen und wird vom Gesetz ver-hindert. Schon deshalb kann man hier keine Insolvenzvorsehen.

Im Übrigen ist es ohne weiteres möglich, dass dieWohnungseigentümer selbst so lange Geld zuschießen,bis die Ansprüche der Gläubiger befriedigt sind. Weildas Insolvenzverfahren eine anteilsmäßige Befriedigungder Ansprüche der Gläubiger vorsieht, es hier aber einevollständige Befriedigung der Ansprüche der Gläubigergibt, passt nach unserer Auffassung das Instrument derInsolvenzfähigkeit an dieser Stelle nicht. Deswegen ha-ben wir es gestrichen.

Ein weiterer wichtiger Punkt war die Umstellung derVerfahrensregeln von der Freiwilligen Gerichtsbarkeit

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Norbert Geis

auf die ZPO. Dieser Punkt war ebenfalls nicht unumstrit-ten. Es gab durchaus Stimmen, die die Meinung äußer-ten, dass hier der einzelne Wohnungseigentümer in dasetwas stringentere Verfahren der ZPO gezwungen wird.Aber ich glaube, hier liegt ein Irrtum vor. Denn schonjetzt ist in einem Verfahren nach der Zivilprozessord-nung ein Richter in der ersten Instanz gehalten, die Par-teien aufzufordern, ihren Vortrag zu bringen. Eine Be-nachteiligung eines Wohnungseigentümers, der sichnicht durch einen Rechtsanwalt vertreten lässt, kann ichalso nicht erkennen.

Ein wichtiges Argument betraf noch die Frage derKosten. Denn beim FGG-Verfahren, also bei einem Ver-fahren nach der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, ist es mög-lich, die Kosten variabel zu gewichten und nicht nachdem Alles-oder-nichts-Prinzip der ZPO festzulegen.Auch aufgrund der Beratungen im Rechtsausschuss ha-ben wir hier eine wichtige Sperre eingezogen. Wir sehennämlich eine Sperre bei den Gerichtskosten und bei derErrechnung des Streitwertes vor. Zum Schluss haben wirnoch die Regelung eingeführt, dass von einem Woh-nungseigentümer, der gegen die anderen Wohnungsei-gentümer klagt, nur ein Rechtsanwalt bezahlt werdenmuss, sodass die Gerichts- und Anwaltskosten nicht zuhoch ausfallen.

Der letzte Punkt betrifft den Mehrheitsbeschluss beider Durchführung von Modernisierungsmaßnahmen. Esstellte sich die Frage, ob nicht derjenige Wohnungsei-gentümer, der nicht das Geld hat, um große Modernisie-rungsmaßnahmen bezahlen zu können, benachteiligtwird. Unser Anliegen war es, dass der Wohnungseigen-tümer, der für sein Wohneigentum sozusagen seinenletzten Pfennig ausgegeben hat, bei einer Modernisie-rungsmaßnahme nicht allzu sehr ins Hintertreffen gerät.Dieses ist gelungen. Wir haben die Unbilligkeit einersolchen Forderung eingeführt; außerdem haben wir dieDreiviertelmehrheit vorgesehen.

Ich glaube, man kann diesem Gesetz alles in allemwohl zustimmen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Heidrun Bluhm, Frak-

tion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! 1951 dankte der belgische König abund die USA und die UdSSR sondierten Möglichkeitenfür einen Waffenstillstand in Korea. In diesem Jahr,1951, verabschiedete der Deutsche Bundestag auch dasWohnungseigentumsgesetz, ein Gesetz, das dieses Hausseitdem nur ganz unwesentlich geändert hat.

Der heutige Entwurf bezweckt dafür nun umso grö-ßere Änderungen. In all den langen Jahren seit 1951 wa-ren es die Richterinnen und Richter, die das gute, alte

WEG auf dem Wege der Rechtsfortbildung stets an dieErfordernisse der Gegenwart angepasst haben. Sie küm-merten sich also um die Lebenstauglichkeit eines Geset-zes, das der Gesetzgeber deshalb seit 1951 nicht mehranzufassen brauchte.

Genau aus diesem Grund hatte Ihnen meine FraktionHerrn Dr. Schmidt-Räntsch, einen amtierenden BGH-Richter, in die Beratungen des Rechtsausschusses zumWEG eingeladen. Herr Dr. Schmidt-Räntsch hatte inseiner Stellungnahme ausdrücklich klargestellt, dass ernicht nur für sich, sondern für den gesamten Senat, beidem die Zuständigkeit in WEG-Sachen liegt, sprechenmöchte. Die klare und detaillierte Stellungnahme des Se-nats aber kümmerte den Ausschuss in seiner Mehrheitnicht.

(Joachim Stünker [SPD]: Das ist nicht richtig!)

Seine klare und detaillierte Stellungnahme wurde damitauch nicht zum Maßstab Ihrer Gesetzgebung.

Für uns bleibt sie aber der Maßstab für die Fehlerhaf-tigkeit dessen, was Sie heute zur Änderung des WEG be-schließen werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie werden ohne sinnvollen Grund beschließen, dass dieRegelung von Streitigkeiten in der Eigentümergemein-schaft zukünftig der ordentlichen anstelle der Freiwilli-gen Gerichtsbarkeit obliegt. Sie bürden damit den Woh-nungseigentümern höhere Verfahrenskosten und einhöheres Verfahrensrisiko auf,

(Dirk Manzewski [SPD]: Nein, das haben wir geklärt!)

nur weil Sie den Landeshaushalten deutlich höhere Ein-nahmen bescheren wollen.

(Dirk Manzewski [SPD]: Das ist geregelt worden, Frau Kollegin!)

Sie nehmen den Wohnungseigentümern eine Gerichts-barkeit weg und erschweren ihnen damit den Weg, ihrRecht unbürokratisch durchzusetzen.

(Dirk Manzewski [SPD]: Das stimmt nicht!)

Vor allem schwächen Sie damit solche Menschen, dieihr Wohnungseigentum unter großer Anstrengung zurErleichterung der Altersvorsorge erworben haben undnun im Streitfall vor allen finanziellen Hürden des or-dentlichen Rechtsweges stehen. Wieder einmal, meinesehr verehrten Damen und Herren insbesondere von derSPD, vergessen Sie Ihre Wurzeln.

(Beifall bei der LINKEN – Joachim Stünker [SPD]: Was? Jetzt reicht es aber wirklich!)

Sie haben es so weit gebracht, dass ein konservativerBGH-Senat Ihnen die Vernachlässigung des Schutzesder Schwachen vorwirft. Ich zitiere aus der erwähntenStellungnahme des BGH-Richters Dr. Schmidt-Räntsch:

Dieser Schutz Schwacher ist gerade bei größerenWohnungseigentümergemeinschaften unbedingt er-forderlich und gerade deshalb auch [ursprünglich]

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Heidrun Bluhm

vorgesehen worden. Wohnungseigentum ist für die„kleinen Leute“ gedacht.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Wohnungseigentum wird nach Ihrem Willen aberzunehmend zu einer Privilegierung der gehobenenSchichten werden.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Na, na, na! Sieschließen ja jeden aus, der bei Ihnen Wohn-eigentum hat!)

Sie werden heute festlegen, dass Beschlüsse der Ei-gentümergemeinschaft in einem Beschlussbuch zu füh-ren sind. Das macht ja sogar ein wenig Sinn angesichtsder durch den Entwurf zusätzlich eingeräumten Mög-lichkeiten der Eigentümergemeinschaft, den konkretenInhalt des Eigentums außerhalb des Grundbuches ändernzu wollen. Ein wenig Sinn sorgt allerdings stets auch fürwenig Sinnvolles.

Richtig wäre es gewesen, die Wirksamkeit der Be-schlüsse von der Aufnahme in das Beschlussbuch ab-hängig zu machen. Dann erst könnte sich die Gemein-schaft darauf verlassen, dass nur solche Beschlüssegelten, die auch dokumentiert sind. Da haben Sie alsodas Richtige gemeint und doch das Falsche geschrieben.Warum Ihnen dieses Missgeschick passierte, können Sienur selbst verstehen; denn Dr. Schmidt-Räntsch hat Ih-nen in seiner Stellungnahme einen Formulierungsvor-schlag geschenkt. Den hätten Sie nur abzuschreibenbrauchen.

Ich erinnere zum Abschluss daran, dass das ursprüng-liche WEG im Jahre 1951 als echter Fraktionsentwurf indie Beratungen gelangte und man viel Abgeordnetenver-stand auf die Ausgestaltung des Wohnungseigentumsund dessen soziale Funktion verwandte. Das war seiner-zeit ein zeitgemäßer und sehr moderner Entwurf.

Auch der aktuelle Entwurf ist zeitgemäß. Denn es ent-spricht leider den heutigen Gepflogenheiten der parla-mentarischen Mehrheit, Entwürfe der Ministerien ohneeigenen Gestaltungsanspruch gedankenlos durchzuwin-ken, selbst wenn der größte Unsinn dabei herauskommt.Ist das aber auch modern? Ich sagte es schon: Es ist sehrviel Zeit vergangen seit 1951.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Peter Hettlich, Fraktion

des Bündnisses 90/Die Grünen.

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich habe schon in meiner Rede zur ersten Le-sung dieses Gesetzentwurfes darauf hingewiesen: Derdeutsche Wohnimmobilienmarkt steht in den nächstenJahren vor sehr großen Herausforderungen. Zwar scheintzumindest die Frage der Einbeziehung von Wohnimmo-bilien in REITs – übrigens auch in meinem Sinne – ge-löst zu sein; aber trotzdem gibt es eine ganze Menge

Druck auf die Kommunen und ihre Wohnungsbaugesell-schaften. Die Begehrlichkeiten der Kämmerer auf eineschnelle Mark durch die Veräußerungen ihrer Beständesind groß.

Wenn wir Verkäufe an Investoren vermeiden wollen,dann müssen wir darüber diskutieren, ob und wie wir imRahmen von Privatisierungen von Mietwohnungen einegangbare Alternative sehen.

Zudem fordern viele die Einbeziehung der Wohnim-mobilie in die geförderte Altersvorsorge. Die große Ko-alition hat dies auch in ihrem Koalitionsvertrag festge-schrieben. Dann müssen wir uns konsequenterweiseauch mit den Problemen beschäftigen, die Wohnungs-eigentümergemeinschaften und ihre rund 15 MillionenWohnungseigentümer seit vielen Jahren bewegen. Un-sere Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, begrüßt dieseGesetzesänderung. Wir hatten sie schon in der letztenLegislaturperiode gefordert und unterstützt. Ein entspre-chender Gesetzentwurf wurde auch noch unter der rot-grünen Koalition am 25. Mai 2005 im Kabinett be-schlossen.

Für uns ist es wichtig, für bestimmte Fälle das Ein-stimmigkeitsprinzip durch einen qualifizierten Mehr-heitsbeschluss abzulösen. Das Einstimmigkeitsprinzipermöglichte bisher einzelnen Miteigentümern die Blo-ckade von sinnvollen Modernisierungsmaßnahmen undführte letztlich zu Ersatzvereinbarungen, den so genann-ten Zitterbeschlüssen, die nach der Rechtsprechung desBGH auch ohne gerichtliche Anfechtung von Anfang anunwirksam waren. In dem vorliegenden Gesetzentwurfwird das Quorum für bestimmte Fälle auf drei Viertel derEigentümerstimmen abgesenkt. Das ist zwar immernoch eine hohe, aber nicht unüberwindliche Hürde. Sieerschwert auf jeden Fall Blockaden, sie erleichtert dieWillensfindung und sie stärkt die Handlungsfähigkeitvon Wohnungseigentümergemeinschaften.

Auch die getroffenen Regelungen zur Teilrechtsfähig-keit und zur Insolvenzfähigkeit finden unsere Zustim-mung.

Wir hätten gerne noch einige Änderungen – aus unse-rer Sicht Verbesserungen – an dem Gesetzentwurf vorge-nommen, die wir auch in unserem Änderungsantrag auf-geführt haben. Zum Beispiel hätten wir es für dringendgeboten gehalten, eine gesetzliche Verpflichtung zur Er-richtung einer angemessenen Instandhaltungsrücklagein das Gesetz aufzunehmen. Gerade die mangelndeHöhe der Instandhaltungsrücklagen führt in vielen Fäl-len zu Streitigkeiten und kann gelegentlich sogar zuZwangsvollstreckungsmaßnahmen, ja sogar zu Insolven-zen und Zwangsversteigerungsverfahren führen. UnserVorschlag, sich an § 28 der II. Berechnungsverordnungzu orientieren, war sehr praktikabel und hätte hier einedeutliche Klarstellung ermöglicht. Schade, dass Sie daunserem Vorschlag nicht gefolgt sind.

Es ist positiv – Herr Geis hat es eben auch ange-merkt –, dass eine Formulierung aufgenommen wurde,die unbillige Belastungen von wirtschaftlich schwäche-ren Wohneigentümern abwenden soll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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Peter Hettlich

Die interne Diskussion in unserer Fraktion über dieFrage „FGG oder ZPO?“ hat uns letztlich doch zu demEntschluss kommen lassen, dass wir die Freiwillige Ge-richtsbarkeit einer Regelung in der ZPO vorziehen; dennwir sehen durchaus mit Sorge, dass durch die vorge-schlagene Regelung in der Zivilprozessordnung Verfah-ren aufgrund von Kapazitätsengpässen bei den Gerichtenin die Länge gezogen werden. Ich glaube, das ist nichtim Sinne des Erfinders und dieser Gesetzesinitiative.

Unsere Fraktion wird dem Gesetzentwurf dennoch zu-stimmen, auch wenn Sie – was zu erwarten sein dürfte –unseren klugen Änderungsanträgen nicht zustimmenwerden; denn wir halten den überwiegenden Teil des Ge-setzes für gelungen und im Sinne der Wohneigentümerfür eine deutliche Verbesserung.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dem Kollegen Dirk Manzewski,

SPD-Fraktion.

Dirk Manzewski (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat-

tieren hier heute abschließend über den Entwurf derBundesregierung zur Änderung des Wohnungseigen-tumsgesetzes.

So sehr sich das WEG in der Vergangenheit grund-sätzlich bewährt hat, so hat sich im Laufe der Zeit dochein zunehmender Bedarf nach praktikableren Regeln ge-zeigt. Insbesondere die bereits angesprochene Entschei-dung des Bundesgerichtshofs vom Juni 2005, mit derder BGH zum ersten Mal klargestellt hat, dass die Woh-nungseigentümergemeinschaft im Rahmen der Verwal-tung des gemeinschaftlichen Eigentums selbst rechtsfä-hig ist, hat uns veranlasst, dies auch so ins Gesetz zuschreiben.

Frau Kollegin Bluhm, es ist natürlich ärgerlich, wennman ins kalte Wasser geworfen wird, ohne vorher beiden Debatten, insbesondere den Anhörungen, dabei ge-wesen zu sein.

(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: War ich doch! In einem anderen Ausschuss!)

Trotzdem, es ist schon ein bisschen traurig, wenn mandann im Grunde genommen nur das abliest, was einemvorgefertigt wird, und sich keine eigenen Gedankenmacht;

(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Das ist eine Unterstellung! Das ist meine Meinung!)

denn das, was Sie gesagt haben, war in den wesentlichenPunkten falsch.

Wenn nämlich verlangt wird, dies nicht gesetzlich zuverankern, Frau Kollegin Bluhm, dann bedeutet dasnichts anderes – das habe ich schon beim Kollegen

Nešković nicht so richtig verstanden –, als dass man dieRechtsprechung des BGH ignoriert.

(Joachim Stünker [SPD]: Richtig!)

Dies wiederum hätte die Konsequenz, dass auch die ausder Entscheidung des BGH weiter resultierenden Folgennicht vom Gesetz hätten aufgegriffen werden können.Das neue WEG wäre damit im Grunde genommen schonvom ersten Tag seiner Gültigkeit an veraltet und die Ge-richte würden vermutlich aufgrund der dann herrschen-den unsicheren Rechtslage von Verfahren über-schwemmt werden.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

Insbesondere waren in diesem Zusammenhang auchdie Rechte und Pflichten sowie das Verwaltungsvermö-gen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer ebensowie die Stellung ihres Verwalters völlig neu zu definie-ren. Ich meine, dass das in diesem Gesetzentwurf gut ge-löst wurde.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass wir zumindest ineinem Bereich die Stringenz verlassen haben, und zwarin dem Punkt der Insolvenzfähigkeit der Wohnungs-eigentümergemeinschaft; denn eigentlich beinhaltetRechtsfähigkeit auch Insolvenzfähigkeit. Nur, liebe Kol-leginnen und Kollegen, dies hätte einfach keinen Sinngemacht; denn das Insolvenzrecht passt hier einfachnicht. Das gilt insbesondere für das Ende eines Insol-venzverfahrens; denn eine Wohnungseigentümergemein-schaft kann zum Beispiel nicht aufgelöst werden.

Problematisch wären aber auch die Regelungen hin-sichtlich des Anfangs eines Insolvenzverfahrens gewe-sen. Eigentlich hätte man nämlich den Verwalter ver-pflichten müssen, den Insolvenzeröffnungsantrag zustellen. Der Zeitpunkt hierfür ist bei einer Wohnungsei-gentümergemeinschaft aber relativ unklar. Die Bundes-regierung hatte laut ihrer Gegenäußerung vor, den Ver-walter deswegen von dieser Pflicht zu entbinden. ImGesamtkontext wäre das aber nicht schlüssig gewesen.Aus all diesen Gründen ist es deshalb meiner Auffassungnach richtig gewesen, von einer Insolvenzfähigkeit derWohnungseigentümergemeinschaft Abstand zu nehmen.

Ich persönlich halte es im Grundsatz für richtig unddringend notwendig, dass in Teilbereichen eine Be-schlusskompetenz und damit das Mehrheitsprinzip stattder bisher erforderlichen Einstimmigkeit für Entschei-dungen der Wohnungseigentümergemeinschaft einge-führt werden soll. Denn, Frau Kollegin Bluhm, das bis-lang geltende Einstimmigkeitsprinzip hat in der Praxissehr häufig wichtige, gebotene Entscheidungen zulastender anderen verhindert und Wohnungseigentum damitunattraktiv gemacht. Der Einzelne ist im Übrigen – dasist eine Kritik an Ihnen, Frau Bluhm – dadurch abernicht rechtlos gestellt. Es wurde nämlich ein Korrektiveingebaut, und zwar dergestalt, dass die einzelnen Mehr-heitsentscheidungen für den Einzelnen nicht unbillig er-scheinen dürfen. Ich meine, das ist ausreichend.

Die Einführung einer aktuellen Beschlusssammlungzu einer umfassenden Information potenzieller Erwerber

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Dirk Manzewski

wird weiterhelfen, weil diese sich über die von der Ge-meinschaft gefassten Beschlüsse informieren können.Begrüßt wird von mir auch, dass wir eine kürzere Fristfür die Berufung des Erstverwalters eingeführt haben.

Aufgrund der Entscheidung des BGH halte ich es fürfolgerichtig, die Wohnungseigentümer nun nicht mehrfür die Verbindlichkeiten der Gemeinschaft gesamt-schuldnerisch haften zu lassen. Zwar soll auch weiterhindie Möglichkeit bestehen, nicht nur gegen die Gemein-schaft, sondern auch unmittelbar gegen den einzelnenWohnungseigentümer vorzugehen. Dessen Haftung sollsich aber nunmehr – ich glaube, das ist ziemlich ver-nünftig – auf seinen Anteil am Gemeinschaftseigentumbeschränken.

Ich erachte es für gut, dass wir eine Verlagerung derVerfahren vom FGG zur ZPO vornehmen. Abgesehendavon, dass bereits bisher Grundsätze der ZPO im Woh-nungseigentumsverfahren gegolten haben, bietet dieZPO meiner Ansicht nach die effizientere und stringen-tere Verfahrensführung. Kollegin Bluhm, da ich Richterbin, kann ich sagen: Da Gerichte stets auf Ausgleich be-dacht sind, erwarte ich kein Nachlassen bei der Suchenach einvernehmlichen Lösungen.

Dem Interesse des Einzelnen, sein Recht zu suchen– auch das ist von Ihnen im Zusammenhang mit demKostenrisiko kritisiert worden; ZPO-Verfahren sind tat-sächlich in der Regel etwas teurer als FGG-Verfahren –,wird aber durch die Beschränkung von Streitwert undKostenerstattung Rechnung getragen. Diese Verände-rung ist an Ihnen offensichtlich vorbeigegangen.

Ich komme zum Schluss. Ich bin mir natürlich durch-aus bewusst, dass wir in absehbarer Zeit vermutlich nocheinige Justierungen am WEG vornehmen werden; derKollege Geis hat das angesprochen. Nun aber alles aufdie lange Bank zu schieben und die weitere Rechtspre-chung abzuwarten, halte ich aber wie die große Mehr-zahl der Sachverständigen nicht für richtig.

(Beifall des Abg. Peter Hettlich [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich finde, dass uns ein guter Vorschlag zur Änderung desWEG vorliegt. Ich bitte Sie hierfür um Ihre Zustim-mung.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg.Mechthild Dyckmans [FDP])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-rung des Wohneigentumsgesetzes und anderer Gesetze,Drucksache 16/887. Der Rechtsausschuss empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3843,den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-

chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen allerFraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linkeangenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichemStimmenverhältnis angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,Ulrike Höfken, Ute Koczy, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Den Hunger in Entwicklungsländern wirksambekämpfen – das Recht auf Nahrung umsetzenund ländliche Entwicklung fördern

– Drucksachen 16/3019, 16/3835 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Wolf Bauer Dr. Sascha Raabe Dr. Karl Addicks Hüseyin-Kenan Aydin Thilo Hoppe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Dr. Sascha Raabe von derSPD-Fraktion.

Dr. Sascha Raabe (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Wir befinden uns in der Adventszeit, inder Weihnachtszeit. Wenn wir durch die Straßen Berlinsgehen, dann sehen wir viele Menschen, deren größteSorge derzeit ist, wie sie noch schnell Weihnachtsge-schenke für ihre Kinder und ihre anderen Liebsten kau-fen können. Es ist etwas Schönes und Gutes, andereMenschen zu beschenken. Weihnachten ist ein schönerBrauch. Aber wir sollten bei alldem nicht aus den Augenverlieren, dass jeden Tag 30 000 Menschen, vor allemKinder, an den Folgen von Hunger und Armut sterben.Jeder Einzelne von ihnen hätte das Recht, zu leben. Die-jenigen, die nicht verhungern, hätten das Recht, einensolchen Tag mit Geschenken, Wärme, Liebe und einemsatten Bauch begehen zu können.

Deswegen finden wir die Zielsetzung des Antrags derGrünen mit dem Titel „Den Hunger in den Entwick-lungsländern wirksam bekämpfen – das Recht auf Nah-rung umsetzen und ländliche Entwicklung fördern“ gut.Wir alle sind uns, glaube ich, parteiübergreifend über dieMillenniumsentwicklungsziele, zu denen auch dieHalbierung der Zahl der Hungernden gehört – wir wol-

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Dr. Sascha Raabe

len den Hunger schnellstmöglich ganz beseitigen – ei-nig.

(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Also wollt ihr zustimmen?)

Dreiviertel der Ärmsten leben auf dem Land. Deswegenhat ein Antrag, der sich auf den ländlichen Raum be-zieht, große Bedeutung.

Aber trotzdem ist es so, dass der Antrag der Grünenneben der guten Zielrichtung ein Verständnis von ländli-cher Entwicklung hat, das unserer Auffassung nach zueng gefasst ist. Denn wir in der SPD-Bundestagsfrak-tion, aber auch unser Ministerium verstehen mehr darun-ter, als nur Traktoren zu kaufen und technische Hilfe fürdie Landwirtschaft anzubieten. Wir haben einen umfas-senderen Ansatz, der deutlich macht, dass wir Entwick-lungszusammenarbeit und die Entwicklung ländlicherRäume in Entwicklungsländern unter anderem als glo-bale Strukturpolitik verstehen. Denn was nützt derKauf von Traktoren, wenn der Landwirt seine Warenicht verkaufen kann?

Der Grund dafür, warum viele Geberländer sich mitihren Investitionen zurückgezogen haben, liegt eher da-rin, dass es sich oft nicht lohnt, in Regionen zu investie-ren, in denen die Bauern ihre Produkte nicht mehr aufden Märkten verkaufen können, weil sie mit agrarsub-ventionierten Dumpingprodukten der Industrieländerkonkurrieren müssen. Deswegen richten wir den Fokusauf die globale Handelspolitik. Wir sind der Auffassung,dass im Antrag der Grünen zu wenig darauf eingegangenwird.

Die Punkte zum Ökolandbau im Antrag der Grünenhaben sicherlich ihre Berechtigung. Auch wir wollen,dass Landwirtschaft nachhaltig betrieben wird. Sie mussnachhaltig und standortgerecht betrieben werden. Es istder falsche Weg, eine Nischenproduktion in Entwick-lungsländern besonders fördern zu wollen. Denn hiergeht es erst einmal darum, Menschen mit Nahrung zuversorgen. Dabei kann es auch notwendig sein, die Men-schen mithilfe von konventioneller Agrarwirtschaft – sowie wir es tun – zu versorgen.

Der Antrag der Grünen fordert uns auf, den Entwick-lungsländern keinerlei Hilfestellungen im Bereich derGentechnologie zu geben, zum Beispiel wie sie verant-wortungsvoll damit umgehen können, sodass sich Saat-gut nicht unkontrolliert verbreitet und Menschen in Ent-wicklungsländern nicht abhängig von Saatgut werden,das von den Agrarmultis und den Chemiemultis der In-dustrieländer angeboten wird. Ich glaube, es ist wichtig,dass mit der Gentechnologie in Entwicklungsländernverantwortlich umgegangen wird und wir den Entwick-lungsländern Hilfestellung geben und uns nicht zurück-ziehen, wie es der Antrag der Grünen fordert. Man mussden Willen der Länder respektieren, auch wenn wir inDeutschland dieses Thema anders handhaben. Jederkann seine eigene Meinung dazu haben. Aber man mussrespektieren, was die Entwicklungsländer wollen.

Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass guteRegierungsführung in den Entwicklungsländern wich-tig ist. Wir unterstützen in einem Umfang von 350 Mil-

lionen Euro in 30 Ländern Programme zur ländlichenEntwicklung. Diese und andere Programme beinhaltenallerdings auch die Förderung der Menschenrechte, vondemokratischen Strukturen und von Rechtssicherheit,die Transparenz staatlichen Handelns, die Korruptions-bekämpfung, die Durchführung von marktwirtschaftli-chen Reformen und von Landreformen sowie die Bil-dungs- und Gesundheitspolitik.

Da ich gerade über gute Regierungsführung spreche,möchte ich betonen: Ich denke, es ist richtig, dass diedeutsche Entwicklungszusammenarbeit bei diesemThema einen Schwerpunkt setzt. Denn es gibt viele Län-der, die über einen ländlichen Raum verfügen. Aller-dings leben in diesem ländlichen Raum häufig Arme undHungernde. Diese Länder wären durchaus in der Lage,diese Menschen zu ernähren und ihnen ein gutes Ein-kommen bzw. Auskommen zu ermöglichen.

Aus besonderem Anlass möchte ich ein Land hervor-heben, von dem ich glaube, dass es durchaus wohlhabendsein könnte, nämlich Kuba. Kuba ist eine Karibikinsel,die nahe an den USA liegt. Die dortigen klimatischenVerhältnisse sind für die landwirtschaftliche Produktiongut. Eigentlich könnte diese Insel blühen und gedeihenund alle Menschen könnten in Wohlstand leben. AberKubas Regierung nimmt ihre Bevölkerung in Geiselhaftund will von Demokratie und Menschenrechten nichtswissen.

An dieser Stelle muss ich auf etwas hinweisen, dasmich sehr empört hat: Eine Delegation des DeutschenBundestages, die Deutsch-Mittelamerikanische Parla-mentariergruppe, wollte aus Solidarität mit der kubani-schen Bevölkerung nach Kuba reisen, um einen Beitragzu Verständigung, Dialog und Demokratisierung zu leis-ten und den Menschen eine Perspektive zu geben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Weil wir bei dieser Gelegenheit auch mit Oppositionel-len reden wollten, hat die kubanische Regierung der De-legation des Deutschen Bundestags den Stuhl vor dieTür gesetzt. Das darf sich dieses Haus nicht gefallen las-sen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gute Regierungsführung ist eine Aufgabe, der sichdie Entwicklungsländer selbst stellen müssen. Nur dann,wenn sie das tun, können wir auch im ländlichen Raumden Hunger überwinden.

Als Industrienation müssen wir auch unsere eigenenHausaufgaben machen. Wie ich bereits vorhin sagte,geht es dabei auch um die globalen Rahmenbedingungenim Handelsbereich. In dieser Woche jährt sich das Schei-tern der WTO-Konferenz in Hongkong. Damals ging esbei der festgefahrenen Doha-Entwicklungsrunde da-rum – das steht nach wie vor im Mittelpunkt –, den Ent-wicklungsländern für ihre Produkte, auch für ihre Agrar-produkte, einen fairen Marktzugang zu ermöglichen.Wir dürfen nicht weiterhin mit enormen SubventionenExportdumping betreiben, sodass die Bauern ihre Warennicht verkaufen können, weil zum Beispiel tiefgefrore-

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nes Geflügelfleisch aus der EU in afrikanischen Regalenliegt. Man kann die Hühnerfarm eines Bauern noch sosehr unterstützen, auch mit Mitteln der Entwicklungszu-sammenarbeit. Aber wenn man diese Situation nicht än-dert, hat er davon nichts.

Das Europaparlament hat heute den Haushalt fürdas Jahr 2007 beschlossen. Den größten Haushaltsposten– er beträgt fast 50 Prozent; das entspricht knapp 55 Mil-liarden Euro – bilden die Subventionen für die Landwirt-schaft. Ich begrüße ausdrücklich, dass sich in der De-batte, die wir heute Morgen geführt haben, nicht nurunsere Entwicklungsministerin, sondern auch die Bun-deskanzlerin für gerechte Handelsbedingungen stark ge-macht hat. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück hat dieenormen Agrarsubventionen der EU und der USA vehe-ment kritisiert. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dassdie Länder des Südens keine fairen Handelsbedingungenvorfinden, und betont, dass er das ändern will. Ich denke,hier hat er Recht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

– Ja. Wo er Recht hat, hat er Recht. Das müssen auch wirunterstützen.

Ich glaube, wir müssen auch bei den Verhandlungenim Rahmen der Economic Partnership Agreements, alsoder Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit den afrika-nischen und karibischen Staaten, einfordern, dass denEntwicklungsländern wirklich faire Handelschanceneingeräumt werden.

Letztlich hilft die ländliche Entwicklung nicht nurden Menschen in den Entwicklungsländern. Wie die Ver-leihung des Friedensnobelpreises am Sonntag letzterWoche an Herrn Yunus gezeigt hat, besteht auch ein sehrstarker Zusammenhang zwischen Frieden und Entwick-lung. Das eine bedingt das andere. Meiner Meinung nachgibt es aber nicht nur einen Zusammenhang zwischenEntwicklung und Frieden, sondern auch einen Zusam-menhang zwischen Entwicklung und Freiheit. Dahermöchte ich mit einem Zitat von Willy Brandt schließen.Er hat gesagt:

Satte Menschen sind nicht notwendigerweise frei,hungernde Menschen sind es in jedem Fall nicht.

Lassen Sie uns in diesem Sinne für die Freiheit kämpfen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Karl Addicks von

der FDP-Fraktion.

Dr. Karl Addicks (FDP): Danke. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-

men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dawir alle das Ziel verfolgen, den Hunger wirksam zu be-kämpfen und die ländliche Entwicklung zu fördern, hät-ten wir wirklich einen interfraktionellen Antrag formu-lieren können.

Leider haben wir heute nicht über die Überschrift ab-zustimmen – wenn es so wäre, könnten Sie unserer Zu-stimmung sicher sein.

Es ist vieles richtig, was die Grünen in ihrem Antragschreiben und fordern. Doch leider ist es nicht so viel,dass wir einfach so zustimmen könnten; ich habe dasgestern im Ausschuss begründet und ich will gleich nochein bisschen dazu sagen.

Es ist richtig: Es ist ein Riesenskandal, dass es aufdiesem Planeten immer noch Menschen gibt, die hun-gern müssen, dass Kinder wegen Nahrungsmangelskrank werden und sterben. Dieser Nahrungsmangel be-steht nicht nur in qualitativer Hinsicht, er besteht ebensoin quantitativer Hinsicht. Nach den Berichten der Welt-gesundheitsorganisation haben 852 Millionen Men-schen auf diesem Planeten nicht genügend Nahrung unddiese Zahl steigt sogar noch – und das, obwohl die Mittelfür die Entwicklungszusammenarbeit weltweit erhöhtwerden. Offensichtlich geht die Gleichung „Mehr Geldgleich mehr Hilfe gleich weniger Hunger“ nicht auf.Gibt es etwas, was wir in der Entwicklungszusammen-arbeit nicht richtig machen? Was können wir besser ma-chen? Diese Fragen müssen immer wieder gestellt wer-den.

Damit komme ich zu den Punkten im Antrag der Grü-nen, die absolut nicht unsere Zustimmung finden kön-nen. Die Beseitigung des Hungers ist und bleibt eine dergrößten Herausforderungen; da sind wir völlig einerMeinung. Doch die Frage lautet: Warum hungern dieMenschen ausgerechnet in den ländlichen Gebieten, wo-her die Nahrung doch kommt? Hat das vielleicht etwasmit der Verteilung des Agrarlandes zu tun? Ja, sicher.Aber das ist es nicht allein; es sind auch Krieg, Krank-heit und Korruption. Kollege Raabe hat gerade schonviele andere Gründe genannt; ich will das nicht noch ein-mal aufzählen. Jedenfalls gibt es dafür viele Ursachen.Deshalb nutzen isolierte Nahrungsmittelprogramme al-lenfalls punktuell. Natürlich helfen wir in akuten Notla-gen, etwa bei Hungerkrisen. Aber auf die Dauer nutzennur Maßnahmen, die die Entwicklungsländer auf denWeg von Freiheit, Demokratie, Marktwirtschaft und Plu-ralismus bringen. So lassen sich die Ursachen des Hun-gers bekämpfen. Das sind die Maßnahmen, die wir inerster Linie fördern und fordern müssen.

(Beifall bei der FDP)

Es ist nicht so, dass wir das nicht schon täten. Aberwir können diese Maßnahmen besser bündeln, bessersynchronisieren und effizienter gestalten. Wir sind da aneinigen Punkten anderer Auffassung als die Grünen,übrigens gemeinsam mit der Bundesregierung. WerAfrika kennt, der weiß, dass dieses Land – zumindest inden tropischen und subtropischen Zonen – auch2 Milliarden Menschen ernähren könnte. Gehen Sie hinund stecken Sie eine Banane in die Erde – stecken Sie ir-gendetwas in die Erde! –, und Sie werden ohne viel Da-zutun in kürzester Zeit die Ernte einfahren.

Allerdings fruchten diese Maßnahmen nur, wenn sieineinander greifen, wenn sie miteinander verzahnt sind –sonst bleibt alles Stückwerk. Deshalb sollten wir in der

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EZ nicht den großen Wurf versuchen, sondern den Län-dern ganz kontinuierlich bei der Entwicklung helfen,sprich: den Beginn der Wertschöpfungsketten stärken.Da liegen Sie mit Ihrer Forderung, die ländliche Ent-wicklung und die Landwirtschaft zu fördern, sehr rich-tig. Aber das ist es nicht allein. Wichtig sind auch Klein-handel, Handwerk, Kleingewerbe und viele anderekleine Dinge. Wir haben bei unseren Besuchen in Nami-bia und in anderen afrikanischen Ländern gesehen, wiees funktioniert, Leute zum Beispiel mit Mikrokrediten indie Selbstständigkeit zu bringen, wie Arbeitsplätze ge-schaffen werden und Menschen dadurch letztlich vonHilfe unabhängig gemacht werden. Das ist die beste Ent-wicklungszusammenarbeit, das ist die Entwicklungszu-sammenarbeit aus einem Guss, die wir brauchen.

(Beifall bei der FDP – Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Bananen in die Erdestecken? Sie wollen die Menschen ernähren,indem Sie Bananen in die Erde stecken?)

– Auch eine Form der Landwirtschaft; es gibt viele For-men.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Eine interessante Form der Landwirt-schaft! Wissen Sie, wie man Bananenanbaut? – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Der Trittin pflückt Erdbeeren mit derLeiter!)

Aber ich will darauf jetzt nicht näher eingehen. HabenSie schon einmal längere Zeit in Afrika gelebt, Herr Trit-tin?

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ich weiß, wie Bananen angebaut wer-den!)

Ich war jahrelang da, ich weiß genau, wovon ich rede.Kommen Sie mir bitte nicht mit solch trivialen Zwi-schenrufen!

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!)

Die Forderung der Grünen, mit westlichem Bürokra-tismus die Dinge zu regulieren, mit Labels und Stan-dards, das passt überhaupt nicht; so etwas können wirirgendwann später einführen. Das brauchen die Entwick-lungsländer jetzt nicht.

(Beifall bei der FDP)

Sie brauchen eine Liberalisierung, einen Abbau vonHandelshemmnissen und Zöllen; Herr Raabe hat das ge-rade schon gesagt.

(Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

– Herr Trittin, also bitte! – Nur so erreicht man die Wert-schöpfung in den Entwicklungsländern, die – –

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie reden sich in einen Zustand, wo Sieam Ende ohne Kopf und Kragen dastehen!)

– Herr Präsident, jetzt müssen Sie aber langsam unter-brechen.

(Heiterkeit)

Verabschieden Sie sich bitte von den Dogmen, auchvom Dogma der Ablehnung der Grünen Gentechnik.Das ist nicht das Teufelszeug, als das Sie es immerbrandmarken. Die Grüne Gentechnik bringt auch sehrsegensreiche Dinge mit sich – das haben übrigens auchLeute von Greenpeace erkannt –, sie eröffnet durchausChancen und beinhaltet nicht nur hypothetische Risiken.Herr Hoppe, auch Düngemittel können für die Landwirt-schaft in der Dritten Welt eine sehr große Bedeutung ha-ben. Man sollte das nicht einfach ablehnen. Die Pflanzenbrauchen nun einmal bestimmte Mineralien; fehlendeMineralien begrenzen ihr Wachstum. Lassen Sie dieDogmen hinter sich! Dann kommen wir zu gemeinsa-men zustimmungsfähigen Anträgen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Dr. Wolf Bauer von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Meine

lieben Kolleginnen und Kollegen! In vielen Ländernrund um den Globus ist die Bekämpfung des Hungersdie wichtigste Voraussetzung für eine positive Entwick-lung. Letztendlich wollen wir alle eine positive Entwick-lung erreichen; darum müssen wir kämpfen. Wir habendie Zahl schon gehört: 850 Millionen Hungernde. Das istnatürlich viel zu viel. Diese Zahl muss sinken. Wir ha-ben auch von dem Millenniumsziel gehört: Bis 2015wollen wir die Zahl der Hungernden halbieren. Das istein hochgestecktes Ziel; aber wir müssen es erreichen.

Dabei stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, dassauf der einen Seite in Ländern wie Ghana, Mosambikund Brasilien erfreulicherweise beachtliche Fortschrittebei der Bekämpfung des Hungers erzielt werden konn-ten, während auf der anderen Seite die Situation in gan-zen Regionen unverändert dramatisch ist. Wir müssenzunächst nach den Ursachen fragen und diese analysie-ren.

Bei der Sicherung der Ernährung sind drei Ele-mente von entscheidender Bedeutung:

Erstens: eine ausreichende Produktion guter Nah-rungsmittel. Sie kann durch Veränderungen in vielen Be-reichen erreicht werden.

Zweitens: der Zugang zu Nahrung. Damit meine ichauch die fehlende Kaufkraft in vielen Ländern.

Drittens: die Verwertung der Nahrungsmittel.

Daraus wird ersichtlich, dass in den einzelnen Ent-wicklungsländern je nach Problemlage unterschiedlicheHandlungsfelder gewählt werden müssen. Wenn man

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sich beispielsweise Afrika anschaut, stellt man fest, dassim Unterschied zu anderen Regionen die Erträge proKopf der Bevölkerung in den letzten Jahren dramatischzurückgegangen sind. Hier muss man mehr in die land-wirtschaftliche Produktion investieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

So können wir etwas erreichen.

In anderen Ländern, beispielsweise in Lateinamerika,haben wir ein Problem mit der Kaufkraft. Dort müssenwir der Bevölkerung eine ganz andere Form der Hilfezukommen lassen. Sozialprogramme wie „Fome Zero“in Brasilien sind dabei sicherlich ein guter Ansatzpunkt.

Oftmals scheitert eine ausreichende Versorgung mitNahrungsmitteln am fehlenden Zugang von Bauern zuLand und an mangelhaft durchgeführten Landreformen.Eine umverteilende Landreform allein ist in den meistenFällen aber nicht ausreichend, um eine nachhaltige länd-liche Entwicklung zu erreichen. Auch hier müssen wirindividuelle Lösungen finden.

Die Implementierung von Agrarreformen führt nichtnur zu einer Umverteilung von Land, sondern auch dazu,dass Bauern und Landlose in die Lage versetzt werden,nachhaltig zu produzieren. Sie müssen am Markt und da-mit am Wettbewerb teilhaben können. Natürlich müssensie entsprechende Ressourcen wie auch Kapital zur Ver-fügung haben. Hierbei sind Aus- und Fortbildung mit Si-cherheit ganz wichtige Punkte; beides müssen wir wei-terhin fördern.

Die Bundesregierung – das muss man anerkennen –unterstützt Agrar- und Bodenreformen, indem sie impolitischen Dialog mit den Regierungen der Partnerlän-der hierfür eintritt. Hierbei spielen die finanzielle Förde-rung des Aufkaufs von Land im Zuge von Landreformen,das Angebot zur Beratung bei Landverfassungsrefor-men, die Hilfe bei Fragen sozialverträglicher Landver-teilung, aber auch der Zugang von Frauen zu Ressourcenneben vielen anderen Dingen eine wichtige Rolle.

In dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/DieGrünen „Den Hunger in Entwicklungsländern wirksambekämpfen – das Recht auf Nahrung umsetzen und länd-liche Entwicklung fördern“ wird kritisiert, dass sich dieinternationale Agrarforschung zu sehr auf die Gebietekonzentriert, die ertragsstark sind bzw. bewässert wer-den können. Ich kann das so nicht sehen und ich meine,die Kritik ist nicht angebracht, weil dadurch auch wich-tige Impulse und Beiträge geliefert werden, um geradedieses Problem bewältigen zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Auch durch die in dem Antrag geforderte Ausrich-tung auf die ökologische Landwirtschaft allein – dashaben wir eben schon gehört – kann nicht entscheidendzur Linderung des Hungers beigetragen werden. Hiermüssen wir ebenfalls alle Möglichkeiten ausschöpfen,die sinnvoll sind und uns weiterhelfen.

Meine Damen und Herren, wir müssen uns von ideo-logischen Präferenzen lösen

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!)

und nach vernünftigen, standortgerechten und nachhalti-gen Lösungen suchen, sie finden und dann auch umset-zen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir den Entwick-lungsländern – sozusagen unseren Partnerländern – nichtvorschreiben können und wollen, was sie zu tun und wassie zu lassen haben. Wir können nur gemeinsam und aufgleicher Augenhöhe mit ihnen vernünftige Lösungenfinden, Programme entwickeln und die sozialen, politi-schen, wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungenvor Ort mit einbauen. Nur dadurch werden wir eine sinn-volle Arbeit leisten können.

Es ist auch schon angeklungen, dass die Partnerlän-der selbst natürlich ebenfalls in der Verantwortung sind.Ich bin froh darüber – Sie von den Grünen verweisen inIhrem Antrag ja auch darauf –, dass es die freiwilligenLeitlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung gibt.Sie sind ein großer und wichtiger Beitrag zur Bekämp-fung des Hungers. Die jeweiligen nationalen Regierun-gen werden durch sie in die Pflicht genommen, dafürSorge zu tragen, dass die Bevölkerung einen ausreichen-den Zugang zu Nahrung hat. Von dieser Verantwortungwerden wir die Regierungen auch nicht entbinden. Un-sere Entwicklungszusammenarbeit kann nur subsidiärsein. Daran müssen wir entsprechend arbeiten und dasmüssen wir unterstützen.

Wir sollten dabei allerdings auch überlegen, wie wirdas bereits angesprochene Instrument der freiwilligenLeitlinien weiterentwickeln können, damit dadurch nochbesser zur Bekämpfung des Hungers beigetragen werdenkann. Vorstellbar wäre ein effektives Monitoring-Instru-ment, um die Erfolge und auch Probleme der nationalenRegierungen bei der Bekämpfung des Hungers zu doku-mentieren und zu analysieren. Dazu liegt ja bereits eineentsprechende Studie vor, die als Grundlage für die Be-ratung dienen kann.

Darüber hinaus ist die Erweiterung des Pakts für wirt-schaftliche, soziale und kulturelle Rechte um die Mög-lichkeit eines Individualbeschwerdeverfahrens zu dis-kutieren. Derzeit arbeitet bereits eine Arbeitsgruppe desUN-Menschenrechtsrates daran. Vielleicht gelingt es unsja, die Möglichkeit einer Individualbeschwerde hinsicht-lich des Rechts auf Zugang zu Nahrung auf internationa-ler Ebene vor dem entsprechend zuständigen UN-Aus-schuss zu schaffen.

(Beifall des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

So könnten die Regierungen besser in die Verantwortunggenommen werden, die Verpflichtungen aus den jeweili-gen freiwilligen Leitlinien einzuhalten und umzusetzen.

Dass wir all dies nicht im Alleingang bewältigenkönnen, liegt auf der Hand. Die Notwendigkeit einer

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besseren internationalen Absprache und Arbeitstei-lung wird von niemandem bestritten.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!)

Ich befürchte aber, dass die FAO allein mit dieser Auf-gabe möglicherweise überfordert ist. Ich hätte mir ge-wünscht, dass in dem Antrag auch auf andere wichtigeinternationale Gremien, wie beispielsweise die GlobalDonor Platform for Rural Development, verwiesen wor-den wäre.

Des Weiteren ist in dem vorgelegten Antrag zu lesen,dass wir die marktverzerrenden Agrarsubventionensenken sollen. Ich glaube, dass wir hier mutiger seinmüssen und auch wollen. Daher ist es unser Ziel, dieAgrarexportsubventionen nicht nur zu senken, sondernlangfristig ganz abzuschaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Meine Damen, meine Herren, bei all diesen kritischenAnmerkungen zu dem Antrag der Fraktion des Bündnis-ses 90/Die Grünen, die ich jetzt gemacht habe, möchteich ausdrücklich festhalten, dass er in vielen wichtigenTeilen richtige Vorschläge enthält und dass wir seitensder CDU/CSU-Bundestagsfraktion wesentliche Teileauch unterstützen. Trotzdem ist uns der Antrag an vielenStellen – dies ist bereits kritisiert worden – zu pauschalund zu tendenziös. Aus diesem Grunde müssen wir ihnleider ablehnen.

Ich hoffe nur, dass wir bald zu einem gemeinsamenAntrag kommen – das ist ja auch bereits mehrmals ange-sprochen worden – und dass wir hier einen vernünftigenund guten Antrag verabschieden, mit dem wir alle un-sere Ziele verwirklicht sehen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Aydin von der

Fraktion Die Linke.

(Zurufe von der LINKEN: Kollege!)

– Kollege Aydin. Entschuldigung.

(Beifall bei der LINKEN – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das sieht man doch!)

Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): So sieht eine Kollegin aus. – Meine Damen und Her-

ren! Herr Präsident! 1996 gab es das Versprechen derRegierenden, den Hunger auf der Welt bis zumJahr 2015 zu halbieren. Die Bilanz ist erschütternd.Nach Angaben der FAO hat sich die Zahl der Hungern-den von 840 auf 854 Millionen erhöht. Ein Antrag, derdie Hungerbekämpfung ins Zentrum der Politik stellt,findet selbstverständlich unsere Zustimmung.

Als zentrale Maßnahme zur Umsetzung des Rechtsauf Nahrung definieren die Antragsteller den Zugang zuproduktiven Ressourcen und Einkommensmöglichkei-

ten. Das ist richtig. Ein Beispiel: Im Sommer 2005 er-reichten uns aus Niger Nachrichten über eine dramati-sche Hungerepidemie. Dürre und Heuschreckenbefallsollen die Ursache gewesen sein. Tatsächlich betrug derRückgang des Ernteertrages aber nur 10 Prozent. Dochdas reichte aus, um die Preise für Getreide hochzutrei-ben, und das in einem Land, in dem die Hälfte der Be-völkerung pro Tag nicht mehr als einen Dollar zur Verfü-gung hat. Eine Katastrophe!

Während die Menschen im Niger hungerten, expor-tierten Nahrungsmittelhändler ihr Getreide ins Nachbar-land Nigeria, wo mehr Menschen über das notwendigeGeld verfügen. Die Hungerepidemie von 2005 im Nigerwar Ergebnis einfacher Marktmechanismen.

Der Hunger in der dritten Welt ist auch unser Pro-blem.

(Beifall bei der LINKEN)

Denn wer hungert, hat nichts mehr zu verlieren. Es istvollkommen verständlich, dass Menschen aus vielenLändern Afrikas dem Elend entfliehen wollen. Und wasmacht die EU? Sie stellt Gelder für die Aufrüstung derGrenzpolizei zur Flüchtlingsabwehr zur Verfügung.Die Linke sagt Nein zu dieser Politik.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Übel muss an der Wurzel gepackt werden. DieMenschen müssen einen Arbeitsplatz haben, der dieExistenz ihrer Familien sichert. Beschäftigung ist dasbeste Mittel gegen Armut und Hunger. Dies erfordert invielen Ländern der Dritten Welt den Wiederaufbau staat-licher Strukturen, die seit den 80er-Jahren unter demDruck von IWF oder Weltbank systematisch zerstörtworden sind.

Die Antragsteller verweisen außerdem zu Recht aufdas Landproblem. Nach UN-Angaben sind die Hälfteder weltweit Hungernden Kleinbauern und ihre Fami-lien. Ein weiteres Viertel stellen Landlose. Es brauchtdringend Landreformen. Nur wenn Großgrundbesitzerzugunsten der Landlosen enteignet werden, kann die ex-trem ungleiche Verteilung als eine der Hungerursachenbeseitigt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Linke sagt: Wir müssen eine Politik der systema-tischen Armutsbekämpfung in den Ländern der DrittenWelt unterstützen. Armutsbekämpfung heißt für uns dieZurückdrängung ungesicherter Jobs in der Schattenwirt-schaft durch die Schaffung staatlich garantierter Arbeits-plätze mit angemessenen Löhnen,

(Beifall bei der LINKEN)

eine Umverteilung von Land zugunsten der Landlosenund Kleinbauern in den Ländern der Dritten Welt, staat-liche Eingriffe in den Markt, zum Beispiel zur Subven-tionierung von Getreide- und Milchprodukten.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Wie jetzt? Wollt ihr auf einmal Subventionierung?)

Dies muss welthandelspolitisch flankiert werdendurch die Senkung der Zinslast durch Streichung illegiti-

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Hüseyin-Kenan Aydin

mer Schulden, die Stärkung von Zollschutzmechanismenfür die Landwirtschaft der Entwicklungsländer, um sievor der ruinösen Konkurrenz durch die großen Nah-rungsmittelkonzerne der Industrieländer abzuschirmen.

Wenn Sie ernsthaft daran interessiert sind, den Hun-ger zu bekämpfen, müssen Sie diese Vorschläge anneh-men. Ihre Argumentation, Sie könnten 80 Prozent desAntrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen folgen,aber da 20 Prozent nicht Ihre Zustimmung finde, müss-ten Sie ihn ablehnen, ist heuchlerisch.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Thilo Hoppe von

Bündnis 90/Die Grünen.

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

wird schwierig, in vier Minuten auf all die Argumenteund Unterstellungen einzugehen. Ich möchte am Endedieser Debatte noch einige Zahlen und klare Fakten all-gemeinverständlich darlegen.

Es gibt acht Millenniumsziele. Bei sieben Millen-niumszielen gibt es – wenn auch bescheidene – Fort-schritte. Bei dem wichtigsten Ziel – die Halbierung derZahl der Hungernden bis 2015 – gibt es aber keinerleiFortschritte, die Kurve verläuft vielmehr in die falscheRichtung – das haben schon einige Redner festgestellt –:Die Zahl der Hungernden steigt.

Das müsste doch zu einem Aufschrei und einer kriti-schen Selbstreflexion führen. Woran liegt das?

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Gute Frage!)

Zur kritischen Reflexion müssten die Regierungen dervom Hunger betroffenen Staaten, aber auch die Akteureder Entwicklungszusammenarbeit eigentlich einen Son-derkrisengipfel durchführen.

Es gibt noch eine zweite Kurve. Das hat heute nochniemand deutlich gesagt. Herr Addicks, Sie haben fest-gestellt, dass die Mittel für die Entwicklungshilfe unddie Zahl der Hungernden zunehmen. Daraus haben Siegeschlossen, dass die Entwicklungshilfe womöglich so-gar eine Ursache dafür ist oder zumindest das Problemnicht verbessert.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Das habe ich nicht gesagt!)

Erlauben Sie mir eine genauere Betrachtung. Nachden neuesten Zahlen von UNDP – dem Entwicklungs-programm der Vereinten Nationen – ist der Anteil derEntwicklungshilfemittel, die für den ländlichen Raumbzw. den Agrarbereich gedacht sind, von 1990 bis 2005von 12 Prozent auf etwas mehr als 3 Prozent zurückge-gangen.

Wir haben in der letzten Wahlperiode und in dieserWahlperiode im Entwicklungsausschuss zwei Anhörun-gen durchgeführt. Alle Sachverständigen aus den wis-senschaftlichen Instituten haben übereinstimmend fest-gestellt, dass der Bereich ländliche Entwicklung

– speziell der Agrarsektor – sträflich vernachlässigtwird. Das ist doch absolut widersinnig: Die Zahl derHungernden steigt, aber die Gelder für die Betroffenenwerden in diesem Bereich gekürzt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Auf diesen Missstand – um nicht zu sagen: Skandal –machen wir mit unserem Antrag aufmerksam.

Es reicht nicht aus, als Reaktion eine Träne darüberzu vergießen, dass 30 000 Menschen pro Tag verhun-gern. Ich gebe zu, dass auch ich viele Reden mit Betrof-fenheitspädagogik oder mit aufrüttelnden Einzelschick-salen begonnen habe, die ich in den Notaufnahmelagernin Niger selber kennen gelernt habe. Das allein reichtaber nicht.

Es ist jetzt notwendig, auf den Missstand zu reagie-ren. Dazu fordern alle kirchlichen Hilfswerke und NGOswie Brot für die Welt, Misereor oder FIAN mehr Geldund neue Konzepte für die ländliche Entwicklung,und zwar besonders für die Landwirtschaft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich begreife nicht, dass zwar in den Anhörungen vieleFachpolitiker dieser Forderung zustimmen, dass aber imEtat dieser Bereich nach wie vor in zunehmendem Maßevernachlässigt wird.

(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Das ist die Heuchelei!)

Diesen Skandal prangern wir an. Ich bitte Sie, das end-lich anzugehen.

Es gab einen Beitrag – und zwar von Herrn Dr. Bauer –mit sehr viel Substanz auch zum Thema Recht auf Nah-rung. Dafür möchte ich mich bedanken.

Damit komme ich zu meinem nächsten Punkt. Wasdas Recht auf Nahrung angeht, müssen drei Vorausset-zungen geschaffen werden. Erstens sind mehr Geld undneue Konzepte für den ländlichen Raum in der Ent-wicklungszusammenarbeit notwendig. Aber das Gegen-teil ist der Fall, und zwar nicht nur in Deutschland, son-dern international. Das muss zu einem Aufschrei führen.

Zweitens muss das Recht auf Nahrung einen sehr gro-ßen Stellenwert bekommen. Das stößt manchmal an dieGrenzen einer überstrapazierten Ownership. Wenn unserMinisterium beispielsweise in Verhandlungen mit derRegierung von Niger darauf hinweist, dass die Entwick-lungszusammenarbeit auf drei Bereiche beschränkt wer-den muss, um sich nicht zu verzetteln, und der Regie-rung die Auswahl dieser Bereiche überlässt, darf eseinem Land mit extrem vielen Hungertoten nicht mög-lich sein, dass die Regierung in diesem Fall der ländli-chen Entwicklung eine geringere Bedeutung beimisstund sich für andere Sektoren entscheidet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

In einem Land, in dem Menschen verhungern, dürfennicht andere Sektoren den ländlichen Bereich verdrän-gen.

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Drittens. Wie der Kollege Sascha Raabe zu Rechtfestgestellt hat, reicht eine Senkung der Agrarexport-subventionen nicht aus. Wir sind gerne bereit, den An-trag in diesem Punkt noch radikaler zu formulieren. Wirfordern die Abschaffung aller marktverzerrenden Agrar-subventionen. Das ist völlig klar.

Wir brauchen gerechte Strukturen im Welthandel. Dashat auch Herr Bauer festgestellt. Aber in einem Punktmöchte ich ihm deutlich widersprechen. Es wurde dasBild gemalt, dass mit einem freien Welthandel, mit Han-delsliberalisierung und einem verbesserten Marktzugangfür die Entwicklungsländer das Problem des Hungersüberall gelöst werden kann.

Es gibt zwei weitere Kurven, die eigentlich kaum zu-sammenpassen. Es gibt Länder, die auf dem Papier Wirt-schaftswachstum durch die Ausweitung der Plantagen-exportwirtschaft haben. Trotzdem steigt dort die Zahlder Hungernden. Warum? Wenn es keine flankierendeSozialpolitik, kein progressiv gestaffeltes Steuersystemund keine Umweltgesetzgebung in den betreffendenLändern gibt, dann führt eine Ausweitung der Planta-genwirtschaft zur Verdrängung von Kleinbauern, Fami-lienbetrieben und Indigenen. Das kann man in vielenLändern mit einer starken Weltmarktintegration sehen.Diese kann unter anderen Voraussetzungen sehr segens-reich sein. Wir vertreten keine Abschottungstheorie.Wenn es aber keine flankierende Gesetzgebung gibt,dann führt die Weltmarktintegration zu noch mehr Hun-gernden, als wir heute bereits haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Hoppe, kommen Sie bitte zum Schluss.

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auf die genannten drei Säulen gehen wir in unserem

Antrag ein. Es war in der alten Regierung mit der SPDleichter, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.Unser heutiger Antrag ist zu 80 bis 90 Prozent identischmit alten Anträgen betreffend die Bekämpfung des Hun-gers. Ich finde es schade, dass wir nun damit alleine ste-hen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Hoppe, Sie haben Ihre Redezeit weit

überschritten.

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielleicht wird die Anregung aufgegriffen und wir

unternehmen den Versuch eines fraktionsübergreifendenAntrags.

Danke sehr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-

menarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/3835 zudem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenmit dem Titel „Den Hunger in Entwicklungsländernwirksam bekämpfen – das Recht auf Nahrung umsetzenund ländliche Entwicklung fördern“. Der Ausschussempfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/3019 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen undder FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen DieLinke und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie den Zu-satzpunkt 6 auf:

12 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien(22. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten ReinhardGrindel, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), PeterAlbach, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenJörg Tauss, Monika Griefahn, Martin Dör-mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD

Die Schaffung eines kohärenten europäi-schen Rechtsrahmens für audiovisuelleDienste zu einem Schwerpunkt deutscherMedien- und Kommunikationspolitik inEuropa machen

– zu dem Antrag der Abgeordneten ChristophWaitz, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), JensAckermann, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP

Für einen zukunftsfähigen europäischenRechtsrahmen audiovisueller Medien-dienste – den Beratungsprozess der EU-Fernsehrichtlinie aktiv begleiten

– zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje Bet-tin, Dr. Uschi Eid, Ekin Deligöz, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN

Für eine verbraucherfreundliche und Quali-tät sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelleMediendienste

– Drucksachen 16/3297, 16/2675, 16/2977,16/3791 –

Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard Grindel Jörg Tauss Christoph Waitz Dr. Lukrezia Jochimsen Grietje Bettin

ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien(22. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joa-chim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz,

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDP

Keine Rundfunkgebühr für Computer mitInternetanschluss – die Gebührenfinanzie-rung des öffentlich-rechtlichen Rundfunksgrundlegend reformieren

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. LotharBisky, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derLINKEN

Moratorium für PC-Gebühren – sofortigeNeuverhandlung des Rundfunkgebühren-staatsvertrages

– zu dem Antrag der Abgeordneten MatthiasBerninger, Grietje Bettin und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

PC-Gebühren-Moratorium verlängern

– Drucksachen 16/2970, 16/3002, 16/2793,16/3792 –

Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard Grindel Jörg Tauss Hans-Joachim Otto (Frankfurt)Dr. Lukrezia Jochimsen Grietje Bettin

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Reinhard Grindel von derCDU/CSU-Fraktion.

Ich bitte die Kollegen, die dieser Aussprache nichtfolgen wollen, den Saal zu verlassen, damit die anderendem Redner folgen können.

(Jörg Tauss [SPD]: Alle wollen folgen!)

Bitte schön, Herr Kollege Grindel.

Reinhard Grindel (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Gestern hat das Europaparlament in erster Lesung dieNeuregelung der EU-Fernsehrichtlinie beschlossen.Heute verabschieden wir einen umfassenden Beschlussdes Deutschen Bundestages mit unseren Erwartungen andie Beratungen im EU-Ministerrat. Ich finde, das ist einrichtiges Signal auch an unseren KulturstaatsministerBernd Neumann. Wir wollen als nationales ParlamentEU-Richtlinien nicht nur umsetzen, sondern auch Ein-fluss nehmen und mitgestalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dabei verkennen wir nicht die Zuständigkeit der Bun-desländer. Aber auch uns, dem Bundestag, kann es nichtegal sein, wie sich das Fernsehen in Deutschland weiter-entwickelt. Angesichts zunehmend schwieriger werden-der politischer Prozesse brauchen wir ein qualitativ gutesFernsehen als Mittler zu unseren Wählern. Wir brauchen

das Fernsehen als ein Medium für den öffentlichen Dis-kurs. Es geht beim Fernsehen um ein Programmange-bot zur Information, Bildung und Unterhaltung. Fernse-hen ist für uns sowohl Kultur- als auch Wirtschaftsgut.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD – Jörg Tauss [SPD]: Aber in dieserReihenfolge!)

– Richtig, in dieser Reihenfolge, lieber Kollege Tauss.Das verbindet uns in der großen Koalition.

Ich sage es einmal zugespitzt: Ziel des Fernsehenskann es nicht sein, dass alle Zuschauer zu einer Infoelitewerden. Sie dürfen aber auch nicht in einem Unterhal-tungsprekariat versinken – um es einmal so zu formulie-ren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Demzufolge müssen wir mit der Umsetzung der EU-Fernsehrichtlinie beide Säulen unseres dualen Rund-funksystems stärken. Die große Koalition will so vielFlexibilisierung wie möglich und so viel Regulierungwie nötig. Beispiel Werbezeiten: So wie in unserem frak-tionsübergreifenden Antrag grundsätzlich gefordert, hatnun das Europäische Parlament eine Ausweitung derWerbeunterbrechungen auf alle 30 Minuten beschlossen.Gleichzeitig werden Einzelspots bei Sportsendungen zu-gelassen. Das ist ein sachgerechter Kompromiss. Dabeiweise ich darauf hin, dass sich die europäischen Libera-len, lieber Herr Kollege Otto, gerade gegen die Aufhe-bung des Blockwerbegebots ausgesprochen haben. Dassage ich nur für den Fall, dass die FDP im Bundestag aufdieses Thema näher eingehen sollte.

Zur Produktplatzierung wird unser Kollege Krum-macher einiges sagen. Anders als von der EU-Kommis-sion gewollt, beschränkt das EU-Parlament die Produkt-platzierung auf Fernsehfilme und Serien. Das ist gut. Gutist vor allem, dass Dokumentationen, Ratgebersendun-gen und Kinderprogramme von Produktplatzierung freibleiben sollen

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und dass es hier alle 20 Minuten zu einem Warnsignalkommen soll, um die Zuschauer aufzuklären und zu in-formieren. Das geht in die richtige Richtung. Trotzdem,Herr Staatsminister, haben Sie im Ministerrat unsere Un-terstützung, wenn es darum geht, ganz auf Produktplat-zierungen zu verzichten und damit auf eine klare Tren-nung von Werbung und Programm hinzuwirken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Im Europaparlament haben die Versuche, das Fernse-hen in Zukunft als reines elektronisches Wirtschafts-gut einzuordnen, keine Mehrheit gefunden, weil Infor-mationsfreiheit und Meinungsvielfalt nicht allein durchdas Wirtschaftsrecht geändert werden können.

Das Bekenntnis zu den zwei starken Säulen des dua-len Rundfunksystems erfordert aber auch, dem – ichsage es zugespitzt – Populismus zum Thema PC-Ge-bühren entgegenzutreten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

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Reinhard Grindel

Das ist ja das zweite Thema dieser Debatte; deswegenauch einige Anmerkungen dazu. Es geht mitnichten da-rum, für zusätzliche Gebühren oder für eine Belastungder Wirtschaft in dreistelliger Millionenhöhe zu sorgen.Es geht darum, dass nach dem Rundfunkrecht inDeutschland für jedes Gerät, mit dem man Rundfunkempfangen kann, eine Gebühr zu entrichten ist. Mit ei-nem internetfähigen PC kann man Radio empfangen,und rund 15 Prozent der Hörer machen das auch schon,vor allem jüngere Leute. Nun ist aber nicht zu bestreiten– das ist der entscheidende Punkt –, dass selbstverständ-lich die PCs nicht zum Radiohören angeschafft wurden.Aber das hat die Rundfunkkommission der Länder auchgesehen. Entscheidend ist deshalb – das ist seitens man-ches Wirtschaftsvertreters verschwiegen worden –, dassfür die neuartigen Geräte gerade im gewerblichen Be-reich eine umfassende Zweitgerätefreiheit gilt, wie wirsie für normale Radios und Fernseher aus dem privatenBereich kennen. Wenn also irgendwo – das muss manverdeutlichen – in der Werkstatt, im Auto des Betriebs-leiters oder im Ladengeschäft bereits ein Radio existiert,dann braucht sich niemand über eine Gebühr für den PCGedanken zu machen, vorausgesetzt natürlich, dass dasGerät angemeldet ist. Das bedeutet auch, wenn im ge-werblichen Bereich mehrere Radios angemeldet waren,dann können diese jetzt getrost abgeschafft und dannkann Hörfunk über PCs gehört werden, und zwar für nurnoch eine Gebühr.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Grindel, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Otto?

Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ja.

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Lieber Herr Kollege Grindel, verstehe ich Sie richtig,

Sie halten die PC-Gebühr trotz aller Proteste für richtigund widersprechen damit Ihrem in dieser Sache sehr vielweiteren Kulturstaatsminister und dem Bundeswirt-schaftsminister, der sich kritisch mit dieser Gebühr be-schäftigt hat?

(Jörg Tauss [SPD]: Das werden wir im Laufe des Abends noch hinreichend erklären!)

Reinhard Grindel (CDU/CSU): Das Entscheidende bei der Diskussion, lieber Kollege

Otto – ich will Ihnen das erklären –, war die Frage, ob esangesichts der öffentlichen Debatte und des Umstands,dass es hier um Gebühreneinnahmen von etwa5 Millionen Euro geht – das ist ja keine große Summe –,

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Lä-cherlich!)

notwendig war, mehr oder weniger aus strategischenGründen jetzt diese Entscheidung in der Ministerpräsi-dentenkonferenz zu fällen. Da kann man unterschiedli-cher Meinung sein. Mit einem Stimmenverhältnis von15 : 1 hat man sich in der Ministerpräsidentenkonferenz

für die Linie, die mit dem Rundfunkstaatsvertrag einge-schlagen worden ist, entschieden.

(Jörg Tauss [SPD]: Inklusive der FDP-Län-der!)

Ich halte das für richtig und habe die Anmerkungendes Staatsministers auch nicht dem Grunde nach verstan-den, sondern mehr formell, ob es notwendig ist, zu die-sem Zeitpunkt diese Entscheidung zu treffen oder dafürzu sorgen, mehr über die wahren Sachverhalte aufzuklä-ren, dass es um keine zusätzliche Gebühr geht, sondernum die Umsetzung des Rundfunkstaatsvertrags und einerRegelung, die klar macht: Wenn man mit einem GerätRadio oder später einmal Fernsehen empfangen kannund kein anderes Gerät angemeldet hat, dann muss maneine Gebühr dafür zahlen. Um nicht mehr und nicht we-niger ging es. Da sind der Kulturstaatsminister und un-sere Fraktion völlig einer Meinung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Grindel, der Herr Kollege Börnsen

möchte auch eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sieauch diese?

Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ja, aber mit Bedenken.

(Jörg Tauss [SPD]: Herr Börnsen, Sie müssennicht die PC-Gebühr zahlen, wenn Sie einenFernseher haben!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Börnsen.

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Herr Kollege Grindel, trifft es nicht zu, dass die Frage

um die Fernseh- und Rundfunkgebühr einen bestimmtenProzesscharakter gehabt hat, nämlich dass erst am24. Oktober 2006 die Ministerpräsidenten eine Entschei-dung gefällt haben, die dazu geführt hat, dass man in derZweitgerätebesteuerung einen ganz neuen Weg beschrit-ten hat und am Ende der Diskussion der Wirtschaftsse-nator von Hamburg, Gunnar Uldall, gesagt hat: DieseZweitgerätelösung ist ein Vorteil für alle Beteiligten, be-sonders für Mittelstand, Handwerk und Gewerbe?

Reinhard Grindel (CDU/CSU): Herr Kollege Börnsen, überraschenderweise kann ich

Ihnen das bestätigen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich will auf einen Punkt hinweisen, weil das, was Sie ge-sagt haben, völlig richtig ist und meines Erachtens auchden vielen besorgten Unternehmern im Land gesagt wer-den muss. Um das noch einmal ganz klar zu machen:Wer herkömmliche Fernseher und Radios in größererZahl hatte, musste jedes einzelne Gerät anmelden unddafür eine Gebühr zahlen. Das wird jetzt anders sein.Wegen der Regelung über die Zweitgerätefreiheit wird

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Reinhard Grindel

es so sein, dass man für ein Gerät zahlt und alle anderenGeräte von der Gebühr befreit sind.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das ist ja toll!)

Was der Kollege Uldall meint, ist, dass dann, wenn manzehn oder 15 Radios oder Fernsehgeräte in seinem Be-trieb hat – in manchen Betrieben werden das noch mehrsein –, man all diese Geräte getrost abschaffen und dannüber Internet jetzt schon Radio und, wenn es in Zukunfttechnisch möglich ist, Fernsehen empfangen kann.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Gilt das auch für Abgeordnetenbüros?)

Insofern wird es in diesem Bereich eine gewisse Entlas-tung für die Wirtschaft geben. Da haben der KollegeUldall und auch Sie völlig Recht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir sollten jetzt die Empfehlung der Rundfunkkom-mission der Länder abwarten. Deshalb werden wir denAnträgen, die es dazu gegeben hat, nicht zustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Ich will aber eines deutlich sagen. Wir sollten den jetzteingeschlagenen Weg noch präzisieren und zu der Lö-sung kommen: GEZ-Gebühr plus umfassende Zweitge-rätebefreiung. Denn die manchmal sehr schneidig vorge-tragenen Alternativen haben ihre Probleme. Denken Siean die personenbezogene Medienabgabe, die von Ih-nen, Herr Kollege Otto, empfohlen wird. Die ist verfas-sungs- und abgabenrechtlich ausgesprochen problema-tisch und die Familien zahlen die Zeche. Auch das istwahr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowieder Abg. Grietje Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Eine haushaltsbezogene Abgabe ist in einer mobilenGesellschaft schwer zu kontrollieren. Eine Rundfunk-steuer verstößt gegen das Gebot der Staatsferne.

Eines wird völlig übersehen. Das sage ich mit Hin-weis auf die Diskussion, die wir gerade in diesen Tagenüber ARD und ZDF und die EU-Wettbewerbshüter ha-ben. Jede Alternative zur herkömmlichen Rundfunkge-bühr würde EU-rechtlich zu erheblichen Problemen füh-ren. Die Rundfunkgebühr gibt es seit 1953. Das war vorunserem EG-Beitritt. Sie ist eine Altbeihilfe. Würdenwir jetzt etwas ändern, würde es sich bei einer neuen Ab-gabe um eine Neubeihilfe handeln. Jede Gebührenerhö-hung müsste in Brüssel notifiziert werden. Da kann ichangesichts der Debatten, die wir in diesen Tagen haben,Neugierige nur warnen. Eine Regelung auf der Basis ei-ner großzügigen Zweitgerätefreiheit – das ist mein per-sönlicher Vorschlag – wäre dagegen europafest und rela-tiv einfach zu machen. Dabei könnten – das will ichbetonen – Ungerechtigkeiten im Bereich des Hotelge-werbes oder bei Filialbetrieben angepackt werden.

Schlussgedanke: Ich habe ein Bekenntnis zum dualenSystem und zur Qualität auch und besonders des öffent-lich-rechtlichen Fernsehens abgelegt. Gerade die ARD

kann man aber auch von dieser Stelle aus – das möchteich tun – bitten, es den Unterstützern des öffentlich-rechtlich Systems nicht schwerer zu machen, als es oh-nehin manchmal schon ist. Wenn man auf Unterscheid-barkeit gegenüber den Privaten Wert legt und wenn mander These der Konvergenz der öffentlich-rechtlichen undder privaten Sender immer widerspricht, dann – das sageich ganz offen – passen Verträge wie die mit Jan Ullrichund auch mit Günther Jauch nicht in die Medienland-schaft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir können auf die Qualität unseres dualen Rundfunk-systems in Deutschland stolz sein und wir sollten fürRahmenbedingungen sorgen, damit das so bleibt. Mit ih-rem Antrag zur EU-Fernsehrechtlinie leistet die großeKoalition, so glaube ich, einen überzeugenden Beitrag.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Waitz von

der FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Christoph Waitz (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Mit der gestrigen Entscheidung zur Fernseh-richtlinie im Europaparlament wird die Produktplatzie-rung aus der Schmuddelecke der Schleichwerbung he-rausgeholt. Eine geregelte Produktplatzierung ist für denVerbraucher transparent und beseitigt Zweifel, wie Film-produktionen zusätzlich finanziert werden können. Deranrüchige Umweg über Produktbeistellung kann künftigerspart bleiben. Außerdem ist in der letzten Minute er-reicht worden, dass der Abstand für Werbeunterbrechun-gen auf 30 Minuten gesenkt werden konnte, wie es imursprünglichen Berichtsentwurf vorgesehen war.

(Jörg Tauss [SPD]: Das ist natürlich ein riesi-ger Fortschritt! – Hans-Joachim Otto [Frank-furt] [FDP]: Das ist gut so!)

Die im Kulturausschuss des Europaparlamentes ge-wünschte 45-Minuten-Regelung war zum Glück nichtdurchsetzbar.

(Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wäre doch gut gewesen!)

Dieser Ansatz wäre ein fatales Signal

(Jörg Tauss [SPD]: Was? Bitte?)

an die Wirtschaft und die Rundfunkanbieter gewesen.Anstatt die Werberegelungen zeitgemäß zu liberalisie-ren, hätte die Richtlinie zu einer Verschärfung der Wer-beabstandsregelungen geführt und die wirtschaftliche Si-tuation der Rundfunkveranstalter unnötig verschlechtert.

Insgesamt müssen wir allerdings feststellen, dass diejetzt im Europäischen Parlament verabschiedete

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Christoph Waitz

Fernsehrichtlinie leider ein ziemliches Flickwerk gewor-den ist. Das Parlament in Straßburg hat die Chance ver-tan, die Regelung der Werbezeit noch weiter zu liberali-sieren und den Gegebenheiten eines verändertenWerbemarktes anzupassen.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das haben die europäischen Liberalen aber mitgemacht!)

Die Bundesregierung muss jetzt die Ratpräsident-schaft nutzen, um hier noch Änderungen zu erreichen.

(Jörg Tauss [SPD]: Wir wären mit dem Klam-merbeutel gepudert!)

Denn starre Werberegelungen im audiovisuellen Bereichbenachteiligen die Rundfunkanbieter gegenüber den üb-rigen Medien, die im Wettbewerb um Werbekunden ste-hen. Ganz zwangläufig wird sich die Werbewirtschaftimmer stärker anderen Medien zuwenden. Damit wirddie finanzielle Basis der Rundfunkanbieter geschwächtund die Qualität werbefinanzierter Programminhalte ge-fährdet.

Heute stehen zusätzlich drei Anträge zur Rundfunk-gebühr für internetfähige Computer auf der Tagesord-nung. Neben der absurden Rundfunkgebührenpflicht fürUniversitäten ist die Computerrundfunkgebühr das deut-lichste Anzeichen dafür, dass die Finanzierung des öf-fentlich-rechtlichen Rundfunks auf eine neue Grundlagegestellt werden muss. Wir Liberale treten für einen Para-digmenwechsel bei der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein.

(Beifall bei der FDP)

Die personenbezogene Medienabgabe ist das Modell,das wir seit langem favorisieren.

Herr Grindel, natürlich kann man da über vieles dis-kutieren. Aber wir können nicht, wie es in der Vergan-genheit der Fall war, dieses Problem ausblenden und sotun, als ob nichts wäre. Wir müssen uns schon um dieDinge kümmern. Das war im Zusammenhang mit demMoratorium über internetfähige PCs eigentlich auch an-gedacht. Das war der Grund für das Moratorium; daswissen Sie. Deswegen finde ich es nicht in Ordnung, wasSie hier von sich geben.

Wir dürfen bei der Diskussion um die Rundfunkge-bühren jedoch nicht Halt machen. Wir müssen im Inte-resse qualitativ hochwertiger Angebote im Fernsehenund Hörfunk die eigentlichen Probleme anpacken. Dazumüssen wir neu bestimmen, wie der Rundfunkbegriff ineiner digitalisierten Medienwelt bestimmt und die Aus-gestaltung des Grundversorgungsauftrages des öffent-lich-rechtlichen Rundfunks geregelt werden kann.

In einschlägigen Aufsätzen ist von einer „Revolutionin der Medienwelt“ die Rede. Selbst wenn der Begriff„Revolution“ zu drastisch sein mag, so glauben wirdoch, dass sich das System des deutschen Rundfunks aneinem Scheideweg befindet, an einer Stelle, die unszwingt, Stellung zu der Frage zu beziehen, wie derRundfunk in Deutschland zukünftig ausgestaltet werdensoll. Welche Aufgaben soll der öffentlich-rechtlicheRundfunk zukünftig tatsächlich noch wahrnehmen?

Eines ist dabei ganz klar: Wenn es das Ziel des öffent-lich-rechtlichen Rundfunks sein sollte – da bin ich völligbei Ihnen, Herr Grindel –, im Kampf um Quoten die Pri-vaten zu überflügeln, dann wäre das das Ende der Exis-tenzberechtigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

(Beifall bei der FDP)

Einschaltquoten dürfen nicht die Messlatte für die Pro-grammgestaltung sein. Dabei werden wir uns auch mitder Frage auseinander setzen müssen, ob die Qualitäts-kontrolle bei ARD und ZDF von den internen Gremienüberhaupt geleistet werden kann oder ob wir nicht einSystem der externen Bewertung der Qualität der Pro-gramme benötigen und auf Basis dieser Bewertung zueiner Verteilung der Gebührengelder kommen sollten.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wie soll das denn gehen?)

Wir Liberale meinen, Grundversorgung in derneuen Medienwelt muss nicht bedeuten, dass der öffent-lich-rechtliche Rundfunk sämtliche Aufgaben erfüllen,sämtliche Geschmacksrichtungen abdecken und aufsämtlichen Verbreitungswegen präsent sein muss.

(Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Auf welchem Verbreitungsweg nicht?)

– Herr Tauss, Sie kommen auch noch dran. – Wir den-ken, dass sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk insbe-sondere unter Verzicht auf Werbeeinnahmen und dendamit notwendig verbundenen Blick auf werberelevanteZielgruppen darauf konzentrieren sollte,

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Dagegen ist ja sogar die werbende Wirtschaft!)

eine erhebliche Qualitätsverbesserung des Programmszu erzielen.

Meine Damen und Herren, lieber Herr Grindel, dieÜberlegungen sollten noch weiter gehen. Wir dürfennicht hinnehmen, dass wichtige kulturelle Inhalte undBildungsangebote aus dem öffentlich-rechtlichen Fern-sehen in so genannte Spartenkanäle abwandern

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

und nur noch mit zusätzlichem Kostenaufwand für denZuschauer zu beziehen sind.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie desAbg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU])

Es sollte für den öffentlich-rechtlichen Rundfunknicht selbstverständlich sein, dass in einer beträchtlichenAnzahl von Formaten das Niveau eines Boulevardjour-nalismus gepflegt wird. Damit wird der Unterhaltungs-auftrag, für den auch ein Qualitätsmaßstab gilt, in mise-rabler und verantwortungsloser Weise erfüllt. Damitsage ich nichts gegen Sendungen wie „Wetten, dass …“am Samstagabend. Aber es wäre an der Zeit, dass sichdie Verantwortlichen in den Sendeanstalten und Rund-funkräten einer Aufgabenkritik sowie einer externen und

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Christoph Waitz

staatsfernen Qualitätskontrolle ihrer Sendungen stellenwürden.

Ich lade Sie und auch die Medienpolitiker in den Län-dern ein, mit uns über diese Fragen zu diskutieren. Eswird dafür höchste Zeit.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Griefahn von

der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Herr Waitz, jetzt gut aufpassen!)

Monika Griefahn (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich finde es immer wieder erschreckend– das muss ich ganz ehrlich sagen –, wie viel Unver-ständnis nicht nur auf europäischer Ebene, sondernselbst bei uns in Deutschland herrscht, wenn es um dieBedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geht.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dabei wird sein Wert spätestens dann deutlich, wenn wiruns andere Länder wie Italien, Polen und Russland an-schauen, in denen es keine oder nur eine stark einge-schränkte Unabhängigkeit des Rundfunks gibt.

Aus den Gründen unserer eigenen Geschichte wurdeder öffentlich-rechtliche Rundfunk nach dem Krieg inDeutschland zu einem Garanten für unabhängigen Jour-nalismus gemacht. Damit ist er zu einem Grundpfeilerunserer demokratischen Ordnung geworden, den wirschützen müssen – auch vor übermäßigen Liberalisie-rungsbestrebungen in Europa.

Mit unserem heute vorliegenden Antrag unterstützenwir grundsätzlich den gestern vorgelegten Vorschlag derEU-Kommission für eine Neufassung der Richtlinie„Fernsehen ohne Grenzen“. Ich will hier nur einigePunkte herausgreifen; Herr Grindel hat schon viele an-dere erwähnt.

Wir begrüßen, dass die Kommission plattformunab-hängige Regelungen formuliert hat und das mit einerUnterscheidung von linearen und nicht linearen Medien-diensten verknüpft. Es sollen eben Inhalte und nicht dieÜbertragungswege im Vordergrund stehen. Wir unter-stützen ebenso das geplante europaweite Gegendarstel-lungsrecht und die Harmonisierung der Jugendschutz-vorschriften, allerdings ohne dass die Standards gesenktwerden. Darauf werden wir bestehen müssen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ganz grundlegend bleibt uns aber wichtig, dass dieVorschriften zur Werbung möglichst stark formuliertwerden. Das bedeutet: Zumindest für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wollen wir keine Produkt- undThemenplatzierung. Schleichwerbung muss hier ausge-schlossen werden, damit sich die Programmgestaltungallein an publizistischen Kriterien orientiert und die Pro-grammfreiheit gewährleistet bleibt. Kollege Otto, ich

schlage vor, dass Sie sich in den USA einmal drei Stun-den vor den Fernseher setzen. Danach werden Sie frei-willig aufhören, Fernsehen zu schauen. Denn die vielenWerbeunterbrechungen sind nicht zu ertragen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-JoachimOtto [Frankfurt] [FDP]: Warum sprechen Siemich da an?)

– Weil Sie davon gesprochen haben, dass Sie mehr Frei-heit haben wollen.

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Frei-heit will ich in der Tat! – Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Freiheit zum Abschal-ten!)

Überhaupt scheint das der Knackpunkt der langenKontroverse mit der EU-Kommission zu sein. Immerwieder wird die Unabhängigkeit der Sender angegriffen.Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss eigenständigsein und muss selbst entscheiden, und zwar unabhängigvon Wirtschaft und Staat. Dieser Knackpunkt wird andem laufenden Beihilfeverfahren deutlich. Mit der Artund Weise, wie hier mit unserem Rundfunksystem alszentralem Bestandteil unserer Demokratie umgegangenwird, überschreitet die Kommission meiner Ansichtnach ihre Kompetenz.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Aber sehr deutlich!)

Außerdem halte ich das für einen äußerst schlechtenUmgang. Denn es gab über zwei Jahre einen langen Pro-zess und sehr konstruktive Gespräche zwischen Bundes-regierung, den Ländern und der Kommission. Wie ichgehört habe, wurde am Montag nach achteinhalb Stun-den Verhandlungen ein Konsens erreicht. Was aber istnun? Ärgerlicherweise stellt die Kommission am nächs-ten Tag in der Person von Frau Kroes neue Nachforde-rungen, was wirklich unerträglich ist.

(Jörg Tauss [SPD]: So sind die Neoliberalen! – Lachen bei der FDP)

Im Kern wird von der Kommission in diesem Fallbeispielsweise die unabhängige digitale Weiterentwick-lung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk kritisiert.Das heißt, alle bestehenden und zukünftigen digitalenAngebote sollen genehmigungspflichtig werden. Daskönnen wir doch nicht zulassen.

(Jörg Tauss [SPD]: Unglaublich!)

Wenn die Kommission in diesem Punkt mit ihrer Forde-rung durchkäme, hätten wir faktisch einen Staatsrund-funk. Das ist genau das, was wir eben nicht wollen.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Zudem ist es nicht nur eine Frage nach dem, was wirwollen; wir dürfen es auch gar nicht. Das Bundesverfas-sungsgericht hat seit 45 Jahren in seinen Urteilen immerwieder deutlich gemacht, dass der öffentlich-rechtlicheRundfunk einen Grundversorgungsauftrag hat und fürdiesen Programmautonomie genießt. Es ist spätestensseit dem Rundfunkurteil aus dem Jahr 1991 klar, dass

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Monika Griefahn

dieses auch für die Übertragungswege gilt. Wir brauchendie neuen digitalen Übertragungswege, wenn wir jungeLeute ansprechen wollen. Ansonsten gibt es für die äl-tere Generation das analoge Fernsehen und für die jun-gen Leute gibt es die privaten Sender. So kann es nichtsein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin der Meinung, im Notfall müssen wir für die Ver-teidigung der Rundfunkautonomie, und zwar auch fürdie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, bis zum Euro-päischen Gerichtshof gehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dass unsere Ministerpräsidenten beim Abschluss desletzten Rundfunkstaatsvertrags einerseits die autonomeEntscheidung der Kommission zur Ermittlung des Fi-nanzbedarfs, der KEF, unterlaufen haben und anderer-seits festlegten, dass für den Bereich des Internets maxi-mal 0,75 Prozent des Etats ausgegeben werden dürfen,ist natürlich ein Problem. Damit spielen sie der Kommis-sion in die Hand. Ich denke, wir müssen von den Minis-terpräsidenten eine eindeutig übereinstimmende Positionverlangen. Einzelne Ministerpräsidenten dürfen nichtausscheren. Dies wäre ein Problem im Hinblick auf dieGlaubwürdigkeit gegenüber der EU-Kommission.

(Beifall bei der SPD)

Ich stimme Herrn Grindel unbedingt zu, wenn er sagt:Wir dürfen bei den Öffentlich-Rechtlichen nicht Konver-genz in Bezug auf die private Konkurrenz und die Quoteanstreben. Darin stimme ich mit ihm vollkommen über-ein. Wir alle müssen bei den Programmräten und denMinisterpräsidenten anmahnen, dass Programmautono-mie und Programmvielfalt das sind, was den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auszeichnet.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Wir müssen die bestehende Vielfalt erhalten – das habenwir in unserem Antrag deutlich gemacht –, zum Beispielin Form des Rechts auf Kurzberichterstattung.

(Beifall bei der SPD)

Es ist uns wichtig, dass im öffentlich-rechtlichen Rund-funk weiterhin über alle Ereignisse, an denen ein öffent-liches Interesse besteht, berichtet werden kann. Wir wol-len keine Einschränkungen. Ich glaube, das ist etwas,wofür wir gemeinsam streiten sollten. Dies ist schon inunserem Antrag formuliert worden.

Wie gesagt, die Rundfunkanstalten müssen sich sel-ber in die Pflicht nehmen. Sie müssen sich auf ihrenAuftrag besinnen. Da denke ich an einen weiteren Be-reich, den wir hier vor fast exakt zwei Jahren besprochenhaben. Am 17. Dezember 2004 haben wir nämlich imBundestag beschlossen, dass im Rahmen der Veröffentli-chung von populärer Musik im Rundfunk Fördermaß-nahmen für deutsche Produkte,

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Du meine Güte! Jetzt wieder der Ladenhüter!)

also für deutsche Sänger und deutsche Produktionen,vorgesehen werden. Auch das haben die öffentlich-rechtlichen Sender zugesagt. Aktuelle Zahlen zeigenaber, dass die ersten Anstrengungen nicht von langerDauer waren und sich strukturell nichts geändert hat. Damüssen die Öffentlich-Rechtlichen nachlegen, wenn siezeigen wollen, dass sie Wert darauf legen, von uns vehe-ment verteidigt zu werden. Denn das ist für uns inDeutschland auch ein Wirtschaftsfaktor.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Lothar Bisky von

der Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Koa-

litionsantrag zur EU-Fernsehrichtlinie tragen wir Linkenaus inhaltlichen Gründen weitgehend mit. Maßgeblichfür unsere Zustimmung ist, dass Sie bei aller Notwendig-keit, die neuen Entwicklungen im Medienbereich aufEU-Ebene zu revidieren, anerkennen, dass die Mitglied-staaten weiterhin ihren Rundfunk in den für sie zentralenBereichen selbstbestimmt regulieren können. Das ist unsausgesprochen wichtig.

Lassen Sie mich das anhand von zwei Punkten er-läutern. Erstens. Die Fernsehrichtlinie harmonisiertzuallererst Geschäftsbeziehungen. Sie dereguliert Wer-bebeschränkungen und definiert Bedingungen der kom-merziellen Kommunikation, also auch der Werbung, fürdie Anbieter von audiovisuellen Dienstleistungen aufdem europäischen Binnenmarkt.

In einem dürften wir uns alle einig sein: Den Anbie-tern geht es primär ums Geldverdienen und um Renditeund zuvörderst nicht um den Jugendschutz, nicht umVerbraucherrechte,

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Gilt das auch für die Öffentlich-Rechtlichen?)

nicht um ein vielfältiges kulturelles Programmangebotund schon gar nicht darum, die Autonomie journalis-tisch-redaktioneller Arbeit abzusichern.

(Beifall bei der LINKEN)

Das aber sind für uns als Linke Kernpunkte einer gu-ten Medienpolitik.

Deshalb gehören insbesondere der Jugend- und Ver-braucherschutz, aber auch das Gebot der Trennung vonWerbung und Programm in den Verantwortungsbereichder Politik. Diese sollten nicht nach dem Herkunfts-landprinzip bewertet werden, sondern nach den jeweilsnationalen Schutzbestimmungen der Mitgliedstaaten.Das Herkunftslandprinzip wird nämlich in den Ansied-lungsbemühungen um Medienunternehmen schnell zu

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Dr. Lothar Bisky

einem medienrechtlichen Unterbietungswettbewerb füh-ren. Den lehnen wir eindeutig ab.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Verbraucherzentrale und andere Interessenver-bände – darunter übrigens auch das Zentralkomitee derdeutschen Katholiken – befürchten zu Recht, dass Ju-gend- und Verbraucherschutz in Europa mit der Fernseh-richtlinie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner redu-ziert würden. Darum unterstützen wir ihre Forderung,die etablierten Qualitätsstandards zu erhalten und dasHerkunftslandprinzip aus dem Richtlinienentwurf he-rauszunehmen. Dazu haben Sie sich leider nicht durch-ringen können.

Zweitens. Wir sind für den Erhalt eines öffentlich-rechtlichen Medienangebots. Sicherlich müssen wir unsdie zentrale Frage stellen, wie dieses Angebot organi-siert und finanziert werden soll, ohne beständig Gegen-stand von Beihilfeverfahren der Europäischen Kommis-sion zu sein und ohne sich den Privaten in Inhalt undForm immer mehr anzunähern.

Was die Finanzierung betrifft, so sind wir gegen daseinfallslose „Weiter so“ der Ministerpräsidenten. Die be-schlossene Ausweitung der Gebührenpflicht auf inter-netfähige PCs und Handys wird daher von uns abge-lehnt. Für eine trag- und zukunftsfähige Grundlage isteine grundsätzliche Revision des Gebührensystems er-forderlich.

Davon unbestritten bedarf es Regulierungen, die aufder Ebene der Mitgliedstaaten angesiedelt sind und dieunterschiedliche nationale Verfassungen, kulturelle Tra-ditionen und medienpolitische Konzepte nicht missach-ten. Gleiches gilt für die Deregulierungsbemühungen,die die Bedingungen weiter zugunsten des privatenRundfunks und der kommerziellen Medienanbieter ver-schieben. Unsere Auffassung ist: Product Placementsoll die Ausnahme sein und nicht zur Regel werden. Inbestimmten Programmformaten, in denen es die Zu-schauer und Zuschauerinnen erkennen können, wie etwabei Fernsehfilmen und -serien, sollte es maßvoll erlaubtsein, als Themenplacement allerdings nicht. Themenbei-träge als bezahlte Marketingmaßnahmen lehnen wirprinzipiell ab.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumSchluss. Wir brauchen ein vielfältiges und kulturelles öf-fentlich-rechtliches Medienangebot, das durch Werbungangemessen begleitet sein kann. Darüber, wie dies kon-kret ausgestaltet werden muss, haben wir in diesemHause unterschiedliche Auffassungen. Darüber, dass wires erhalten sollten, hoffentlich nicht.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN – Hans-Joachim Otto [Frank-furt] [FDP]: Temperamentvolle Rede!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Grietje Bettin vom

Bündnis 90/Die Grünen.

(Jörg Tauss [SPD]: Herr Berninger geht! Sie können Ihren Antrag zurückziehen!)

Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kolle-

gen! Die meisten von Ihnen kennen wahrscheinlich dieGeschichte von Robinson Crusoe,

(Jörg Tauss [SPD]: Aber ja!)

einem Seemann, der einige Jahre auf einer Insel alsSchiffbrüchiger verbringt. Vielleicht haben einige vonIhnen aber auch den Film „Cast Away“ mit Tom Hanksin der Hauptrolle gesehen.

(Jörg Tauss [SPD]: Sogar „Die Schatzinsel“!)

Er spielt darin Robinson Crusoe, allerdings nicht im18. Jahrhundert, sondern im Heute. Sein Freund Freitagist in diesem Film kein Mensch, sondern ein Ball. DerBall hat den Namen Wilson, nicht Freitag. Warum ist dasso? Weil der Ball von einer Firma ist, die den NamenWilson trägt.

Ich bin mir sicher, dass einige Menschen diesen Filmüber alles lieben, vor allem die Vorstände des amerikani-schen Paketdienstes Fed-Ex; denn der Film „Cast Away“hebt vor allem die Pakete dieser Firma hervor. Ich weißnicht, wer von Ihnen sich daran erinnert, aber mir ist dassehr eindeutig vor Augen geblieben: Er ernährt sich vomInhalt dieser Pakete.

Dieser Kinofilm macht nur zu deutlich, was auf unszukommt, wenn wir Produktplatzierungen oder auchProduktionsbeihilfen ganz offiziell zulassen:

(Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!)

Das Fed-Ex-Logo zog sich durch den ganzen Film. Daskann nicht das sein, was wir uns wünschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ein anderes lustiges Beispiel ergab sich in einemFachgespräch zu dem Thema. Da sagte ein Produzent,ein Schauspieler wollte bei einer Nacktszene seine Uhrnicht abnehmen. Er hat sich die ganze Zeit gewundert,warum der Schauspieler seine Uhr nicht abnimmt.

(Jörg Tauss [SPD]: Besser als die Socken!)

Dieser Schauspieler hatte – das stellte sich am Ende he-raus – einen Werbevertrag mit der Uhrenfirma. Das warin der Sache nicht besonders dramatisch,

(Heiterkeit im ganzen Hause)

aber man kann sich natürlich andere Beispiele vorstel-len, wo das ein bisschen mehr Einfluss auf die Inhaltedes Programms nehmen kann.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wir Grünen wollen die Rahmenbedingungen so ge-stalten, dass auch in Zukunft ein qualitativ hochwertigesund unabhängiges Programm sichergestellt werdenkann. Deshalb wollen wir, dass die gezielte Platzierungvon Produkten, gleich welcher Art, nicht erlaubt wird.

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Grietje Bettin

Unserer Meinung nach ist die große Koalition auf halberStrecke stehen geblieben: Sie will zwar Produktplatzie-rungen verbieten, Produktionsbeihilfen aber nicht.

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Da hat sie Recht!)

Der Film „Cast Away“ zeigt ganz eindeutig, dass auchProduktionsbeihilfen das Bild und die Handlung domi-nieren können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine besondere Gefahr sehen wir bei journalistischenFormaten – zumindest hierbei sind wir uns, glaube ich,alle einig –; denn die Unabhängigkeit der Redaktionkann durchaus gefährdet sein. Die unzähligen Schleich-werbeaffären der letzten Monate zeigen, dass Produkt-platzierung durchaus attraktiv ist und definitiv Einflussauf Drehbücher nehmen kann.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen an der klaren Trennung von Werbungund Programm festhalten. Deshalb bedauern wir, dassim EU-Parlament gestern in erster Lesung für die Zulas-sung von Produktplatzierungen gestimmt wurde. Wirkönnen die Vorteile der Zuschauer durch Produktplatzie-rungen überhaupt nicht sehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir gehen davon aus, dass sich der Werbekuchen insge-samt nicht ausweiten würde, sondern die Stücke desWerbeetats insgesamt nur anders verteilt würden, dassdie Verbraucher vom Fernsehen nur noch genervter wä-ren und das Programm inhaltlich nicht besser würde, eszum Beispiel nicht – was wir uns alle wünschenwürden – mehr investigativen Journalismus oder mehrbessere Filme geben würde. Wir sehen da keinen direk-ten Zusammenhang und keine Verbesserung für die Ver-braucherinnen und Verbraucher.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD)

Für uns ist klar – das hat auch der Kollege Grindelschon angesprochen –, dass Medien nicht nur ein Wirt-schaftsgut, sondern auch Kulturgut sind.

(Jörg Tauss [SPD]: Zuvörderst Kulturgut!)

– Für uns sind sie sicherlich in erster Linie Kulturgut.Wir akzeptieren aber, dass es sich dabei natürlich auchum ein Wirtschaftsgut handelt.

(Jörg Tauss [SPD]: Auch! Richtig!)

Bei der Fernsehrichtlinie gibt es viele Punkte, diewir durchaus positiv finden. Im Zeitalter der Digitalisie-rung ist es natürlich notwendig, die Fernsehrichtlinie an-zupassen. Wir brauchen europaweit einheitliche Rege-lungen für Fernsehen und Internet. Wir unterstützen dasabgestufte Regulierungsverfahren und die Regulierungim Jugendschutzbereich. All das sehen wir sehr positiv.Wir hoffen, dass die Bemühungen des Kollegen Neu-mann Erfolg haben und es im Rahmen der EU-Ratspräsi-

dentschaft noch zu Veränderungen kommt. Allerdingshat das Hoffen bei der großen Koalition bisher meistsehr wenig genützt.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:Das stimmt nicht! Erfolgreiche Kultur- undMedienpolitik im ersten Jahr!)

Wischiwaschikompromisse werden wir in diesem Be-reich nicht unterstützen.

Leider habe ich nicht mehr viel Zeit. Deshalb zur PC-Gebühr nur so viel: Wir, die Grünen, haben hierzu eineigenes zukunftsfähiges Modell auf den Tisch gelegt,weil wir die Einführung einer PC-Gebühr zum1. Januar 2007 für nicht zukunftsfähig halten. Wir brau-chen endlich eine geräteunabhängige, haushaltsbezo-gene Mediengebühr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:Das ist eine Steuererhöhung! Das geht nicht!)

Für weitere Details reicht die Zeit hier und heute nichtaus. In die Debatte, die im nächsten Jahr mit den Län-dern geführt werden wird, werden wir uns natürlich kon-struktiv und kritisch einbringen.

Im Parlament werden wir in einigen zentralen Fragender Medienpolitik, nämlich bei der Vielfaltsicherung,dem Verbraucherschutz und der Qualitätssicherung, zu-sammenhalten müssen; sonst überrollt uns die EU-Kom-mission mit Verschlechterungen. Das können wir allenicht wollen. Deshalb hoffe ich, dass wir zu verschiede-nen Punkten Diskussionen führen und zu positiven Lö-sungen kommen werden.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Johann-Henrich Krum-

macher von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Johann-Henrich Krummacher (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

bestehende Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ istgegenwärtig die Grundlage der EU-Politik im audiovisu-ellen Bereich. Sie stammt aus dem Jahr 1989. Nicht nurdie politische, auch die technologisch-mediale Situationwar damals eine völlig andere. Auch der Nutzungs- undVerbreitungsgrad dieses Mediums ist gestiegen. In vie-len Haushalten läuft der Fernseher im Schnitt drei bisvier Stunden am Tag. Das mag man bewerten, wie manwill. Es zeigt aber, dass wir hier über einen gesellschaft-lich höchst relevanten Lebensbereich sprechen.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)

Durch den bislang erreichten Stand der Diskussiondarüber, wie die notwendige Neufassung der Richtlinie

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Johann-Henrich Krummacher

Gestalt annehmen könnte, ist – lassen Sie den StuttgarterAbgeordneten das so sagen – ein viel versprechendesPflänzle entstanden. Wir wollen dafür Sorge tragen, dassdies nun in die richtige Richtung wächst.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich darf nochmals unterstreichen: Fernsehen – egalin welcher Form – ist in erster Linie – das haben wirheute gewissermaßen zu einer gemeinsamen Überzeu-gung gemacht – ein Kulturgut.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Börn-sen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das kann mannicht oft genug hören!)

Man kann und muss mit Kulturgütern gut wirtschaften.Aber diese deswegen zu reinen Wirtschaftsgütern umzu-deuten oder sie so zu behandeln, wäre im wahrsten Sinnedes Wortes kurzsichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Das zu verstehen ist wichtig, weil sich bereits hierentscheidet, ob das Vorhaben richtig eingefädelt wird.Das hat Folgen für das, was letztlich entscheidend seinwird, nämlich das Kleingedruckte. Zum Wesenskern öf-fentlicher Leistungserbringung im so genannten Infor-mationszeitalter gehört, auch medial niemanden zurück-zulassen. Wie Lesen und Schreiben werden auchMedienkompetenzen immer mehr zur Res publica, zuröffentlichen Angelegenheit: je größer diese Kompeten-zen, desto besser für den Menschen selbst und desto bes-ser für unser Gemeinwesen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Um es etwas salopp, aber mit durchaus ernstem Kernzu formulieren: Von der „Sendung mit der Maus“ oderder ZDF-Produktion „Löwenzahn“ können auch vieleErwachsene noch etwas lernen, während durch zu vieleandere Angebote aus Kindern eher lethargische, nichtunbedingt lernbegierige Erwachsene werden.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Dies zeigt abermals die Notwendigkeit einer gutenBalance zwischen öffentlich-rechtlichen und privatenAnbietern. Wenn der freie Informationsfluss sozusagendas Öl im Getriebe unserer Demokratie ist, dann leistenbeide – öffentlich-rechtliche wie private Anbieter – ei-nen wichtigen Beitrag.

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist ja eine richtig vernünftige Rede!)

Aber durch die Privaten allein ist dieser Fluss nicht hin-reichend gewährleistet.

(Jörg Tauss [SPD]: Sie wollen es auch nicht! Das haben sie doch gesagt!)

Das heißt schlicht und einfach: ARD, ZDF und die drit-ten Programme der ARD-Familie senden auf sehr hohemNiveau, wenn nicht sogar höchstem Niveau. Dafür sindwir dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehendankbar.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deshalb gilt glasklar: Das muss auch im Rahmen einerneuen Richtlinie so bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ein weiterer wichtiger Punkt – er wurde bereits ange-deutet – ist das Thema Werbung. Es ist nicht überzeu-gend, Art und Umfang der Werbemöglichkeiten lockernzu wollen, aber den eigentlichen Kern, das heißt diequantitative Werberegulierung, an sich beizubehalten.

Noch weniger überzeugend ist es vor diesem Hinter-grund, bei einer anderen Art der Werbung die Schleusenzu öffnen, nämlich bei der Produktplatzierung. Einenpositiven Weg weisen beispielsweise die Transparenz-richtlinien des Zweiten Deutschen Fernsehens auf, beidenen die Zusammenarbeit mit anderen öffentlichen wieprivaten Kooperationspartnern ein Controllingverfahrendurchläuft.

(Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen[Bönstrup] [CDU/CSU] – Hans-Joachim Otto[Frankfurt] [FDP]: Wie wirksam ist das?)

– Das ist sehr wirksam und wird bereits jedes Jahr abge-fragt, dem Fernsehrat vorgetragen und von dort kontrol-liert.

Der Vorschlag der Kommission hingegen würde einegenerelle Öffnung für Produktplatzierung ermöglichen.Dass für bestimmte Sendungen wie Nachrichten oderKinderprogramme Ausnahmen gelten sollen, kann denWirkungsradius dieser fast schon als perfide zu bezeich-nenden Form der Werbung nicht seriös eingrenzen. Da-rum sind Produktplatzierungen schlicht und ergreifendabzulehnen. Sonst müsste es nach jeder Sendung heißen:Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Dreh-buchautor oder Produzenten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Gute Zeichen gibt es hingegen beim Jugendmedien-schutz. Die Ausdehnung des Jugendmedienschutzes aufnicht lineare, das heißt individuell abrufbare Dienste, istebenso richtig wie wichtig. Jugendschutz hat viele Fa-cetten. Eine solche Ausweitung des medialen Jugend-schutzes ist ein wichtiger Teil des Ganzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es macht wenig Sinn, Verrohungen und Orientie-rungslosigkeit bis hin zur Gefahr gewaltverherrlichenderComputerspiele zu beklagen und dann diese medialeFlanke zu öffnen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nochmals: Wir begrüßen die Ausweitung des medialenJugendschutzes auf die nicht linearen Medien.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Insgesamtgibt es mit Blick auf den bisherigen Diskussionsstandsowohl Licht als auch Schatten. Um dazu beizutragen,dass das Licht mehr wird und die Schatten weniger wer-den, sollte die Debatte über audiovisuelle Dienste zu

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Johann-Henrich Krummacher

einem Schwerpunkt der deutschen Medien- und Kom-munikationspolitik auf europäischer Ebene werden. So-wohl die Landesregierungen als auch Kulturstaatsminis-ter Neumann tragen dazu auf erfreuliche Weise bei.

Wenn dies dazu führt, dass ein kohärenter europäi-scher Rechtsrahmen geschaffen wird, dann ist das gut:für die Medienlandschaft, für die Medienkultur und fürden Medienstandort, und zwar in Europa und inDeutschland gleichermaßen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Krummacher, ich gratuliere Ihnen im

Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut-schen Bundestag.

(Beifall)

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hatdas Wort der Kollege Jörg Tauss von der SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Er hat dochseine Redezeit schon durch Zwischenrufe auf-gebraucht! – Heiterkeit bei der FDP)

Jörg Tauss (SPD): Das ist nicht wahr, Kollege Otto. Ich wurde heute so-

gar schon gefragt, warum ich so still bin.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Abend wur-den schon einige wichtige Punkte der vorliegenden An-träge angesprochen. Kollege Grindel hat auf die aktuel-len Entwicklungen im Beihilfeverfahren hingewiesen.Ich denke, es lohnt sich in der Tat, am Ende dieser De-batte noch auf einzelne Aspekte einzugehen und die eineoder andere Aussage aufzugreifen, die in dieser Diskus-sion gemacht worden ist.

Lieber Kollege Waitz, mit Ihnen möchte ich begin-nen. Sie haben gesagt, Sie wollen nicht, dass sich öffent-lich-rechtliche Sender jedes Verbreitungsweges bedie-nen können. Über diese Position kann man diskutieren.Aber Sie sollten in Ihrer Argumentation ehrlicher sein.Denn wenn man genau hinsieht, stellt man fest, dass das,was Sie eigentlich meinen, etwas anderes ist. Ihre Auf-fassung in dieser Frage entspricht übrigens nicht der Po-litik der Liberalen im Europaparlament,

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Genau! Die ist genau entgegengesetzt!)

die an dieser Stelle vernünftiger als die Liberalen in die-sem Hause

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und der Abg. Grietje Bettin[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

und vernünftiger als die eine oder andere Landesregie-rung sind, wie das Abstimmungsverhalten im Bundesratgezeigt hat.

Wenn Sie wollen, dass sich öffentlich-rechtliche Sen-der nicht jedes Verbreitungsweges bedienen können,müssten wir im Wege der Konvergenz dafür sorgen, dasssich der öffentlich-rechtliche Rundfunk des Verbrei-tungsweges Internet, des Rückgrats der Informationsge-sellschaft, nicht mehr bedienen kann.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Richtig!)

Man kann zu dieser Auffassung kommen. Ich aller-dings bin anderer Meinung – die Kollegin Griefahn hatin diesem Zusammenhang einige Argumente angeführt –;

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und der Abg. Grietje Bettin[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

denn genau diese Entwicklung würde auf eine Austrock-nung durch Nichtweiterentwicklung hinauslaufen.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)

Wir waren uns bereits in der Enquete-Kommission,die in der Legislaturperiode von 1994 bis 1998 einge-setzt worden ist, darüber einig, dass es auch in Deutsch-land die Möglichkeit zur Weiterentwicklung des öffent-lich-rechtlichen Rundfunks geben muss. Das gehört zurFairness und zur Grundversorgung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und der Abg. Grietje Bettin[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Zum zweiten Punkt, Kollege Waitz. Auch ich kenneSendungen im öffentlich-rechtlichen Bereich, die mirkeine große Freude bereiten. Die Zahl der Minuten, dieman mit Volksmusik gefoltert wird, nimmt auch im öf-fentlich-rechtlichen Bereich in erschreckendem Umfangzu. Aber auch dadurch wird versucht, auf das Bedürfniseines Teils der Bevölkerung einzugehen. Es darf nichtnur „Intellektuellenfernsehen“ geben, sondern es müs-sen auch solche Angebote gemacht werden, von denenein Teil der Bevölkerung sagt: Dabei kann ich mich ent-spannen. Ich glaube nicht, dass es in irgendeiner Formgerechtfertigt wäre, diese Menschen zu bevormunden.Wem eine Sendung nicht gefällt, der kann auf ein ande-res Programm, zum Beispiel auf Arte – übrigens auchein öffentlich-rechtlicher Sender – umschalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derCDU/CSU sowie der Abg. Grietje Bettin[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Sie haben den Rückgang der Zahl solcher Sendungenbeklagt, die sich mit Themen aus dem Bereich Wissen-schaft und Bildung beschäftigen. Ja, auch ich beklage,dass es den einen oder anderen Programmbeitrag, derfrüher gesendet wurde, nicht mehr gibt. Das gilt vor al-lem für den Rundfunk.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ja, aber auch für das Fernsehen!)

Wir sollten darüber nachdenken, ob wir in diesem Be-reich mehr tun können; das ist völlig klar.

Was Sendungen mit wissenschaftlichem Hintergrundbetrifft, erinnere ich mich an eine Sendung von Ranga

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Jörg Tauss

Yogeshwar, der damals in einer Nische des Dritten Pro-gramms begonnen hat.

Man hat gesagt: Das hat kaum eine Chance. – Eswurde ein Renner im WDR, ist in die Primetime geho-ben worden. Dem Yogeshwar gehört ein Bundesver-dienstkreuz verliehen: zum einen für seine Verdiensteum Wissenschaft und Forschung und Bildung in diesemLand und zum anderen für den Beweis dafür, dass dieLeute gar nicht so platte Sendungen sehen wollen, wie esder eine oder andere öffentlich-rechtliche Intendant gele-gentlich seinem Publikum unterstellt. Das sind erfolgrei-che Sendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Ichfinde das gut.

Sie haben die Grundversorgung angesprochen. Da-rüber muss man immer wieder reden, völlig klar. DieGrundversorgung ist die Voraussetzung dafür, dass wirüberhaupt Gebühren erheben können – so das Bundes-verfassungsgericht. Deswegen muss man sich sicherlichGedanken machen, wie die Grundversorgung in einerZeit, in der sich Entwicklungen gesellschaftlicher Art er-geben, möglicherweise neu zu definieren ist. Ich hätteüberhaupt kein Problem damit, eine solche Debatte zuführen, auch mit den verschiedenen gesellschaftlichenKräften. Nur, eines ist auch klar – das ist Ihr Denkfehler,Kollege Waitz –: Die Privaten haben deutlich erklärt,dass sie eine Grundversorgung nicht anbieten wollenund aus wirtschaftlichen Gründen auch nicht anbietenkönnen. Ich sage dies nicht als Vorwurf, nur als Feststel-lung. Die Privaten haben für sich einen anderen Auftragdefiniert, und zu diesem gehört nicht die Sicherstellungder Grundversorgung. Wenn aber der private, kommerzi-elle, werbefinanzierte Bereich die Grundversorgungnicht leisten kann, dann brauchen wir zur Sicherung derQualität von Hörfunk und Fernsehen in Deutschland pa-rallel zu den Privaten einen gebührenfinanzierten Grund-versorgungsauftrag.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zur Richtlinie, zur Trennung in lineare und nicht linea-re Dienste, ist das eine oder andere gesagt worden. Ichwill hier noch einmal unterstreichen, dass ich es für sehrwichtig halte, dass unabhängig von Verbreitungsweg, un-abhängig davon, wie das Programm abgerufen wird – seies programmorientiert oder individuell –, Mindeststan-dards im Jugendschutz, im Verbraucherschutz und imHinblick auf das Respektieren der Menschenwürde ein-gehalten werden. Das ist ein wichtiges Signal dieserRichtlinie; das sollten wir bei aller sonstigen Kritik wür-digen.

(Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD])

Ein Problem bleibt zweifellos die Schleichwerbung,bleibt das Productplacement. Kollegin Bettin, ich habehier ein paar Ausführungen dazu gemacht. Aber Ihr„nackter Schauspieler“ ist für mich nicht mehr zu top-pen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Deshalb will ich an dieser Stelle noch etwas anderes zurWerbung sagen. Ich würde raten, über die Kritik an den45 Minuten, die von Werbung nicht unterbrochen wer-den sollen, noch einmal nachzudenken. Auch ein Filmist ein Kulturgut; darüber sind wir uns doch im Kultur-ausschuss einig, selbst mit der FDP. Aber wenn ein Filmein Kulturgut ist, muss man einen Film ohne ständigeUnterbrechungen sehen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU)

Ich finde, schon eine Unterbrechung alle 45 Minuten istZumutung genug. Aber alle 30 Minuten, das ist proble-matisch.

Das Kurzberichterstattungsrecht ist gewährleistet.Ich habe mich an dieser Stelle übrigens sehr gewundertüber die eine oder andere Einlassung von großen Sport-verbänden in Deutschland, die sich dagegen gewandt ha-ben, die erklärt haben: Das wollen wir nicht. – Ichglaube, der Fußball tut sich keinen Gefallen damit. DerFußball lebt davon, dass freie Information über Fußball-spiele möglich ist. Ich bin froh, dass die Richtlinie ent-gegen dem, was der DFB will, an dieser Stelle ebenfallsklare Signale aussendet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zu den PC-Gebühren.

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sind Sie dafür?)

Wie gesagt, die Forderung nach der Abschaffung derGebühren, die demnächst auf PCs erhoben werden, istschon ein bisschen populistisch. Liebe Kollegin Bettin,ich habe heute Abend gelesen, der Kollege Berningergeht zu Mars. So weit dazu.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wir schicken ihn zum Mars!)

Außerdem stimmt nicht, was in eurem Antrag steht: dassdie Selbstständigen und die Hochschulen belastet wer-den. Denn Hochschulen, die schon bisher Gebühren zah-len, sind überhaupt nicht betroffen. Betroffen ist die eineoder andere Hochschule, wo in der Vergangenheitschwarzgesehen worden ist. Nur, die zu unterstützen,liebe Kolleginnen und Kollegen, kann unser Anliegenauch nicht sein; das wäre unfair gegenüber denen, dieGebühren gezahlt haben. Insofern gibt es kein riesengro-ßes Problem.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Chris-toph Waitz [FDP]: Schwarz? Pro Computer-monitor? Oder wie?)

Es heißt, die Wirtschaft, die Selbstständigen würden be-sonders belastet. Dazu sage ich: Nein. Der KollegeGrindel hat darauf hingewiesen, aber man muss es nocheinmal deutlich sagen: Es ist nicht die Wirtschaft, diehier mehr bezahlen muss. Sie zahlt, weil PCs andersbehandelt werden als Fernsehgeräte, die in Firmen– übrigens auch in Büros des Deutschen Bundestages –

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7342 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

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Jörg Tauss

aufgestellt worden sind, im Grunde genommen weni-ger als zuvor.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Zweitgeräte!)

Der Präsident weist mich auf das Ende meiner Rede-zeit hin. Ich will an dieser Stelle deutlich machen: Wirhaben, bei aller Kritik, das beste Rundfunk- und Fern-sehprogramm der Welt, und zwar weil es gebührenfinan-ziert ist. Kollege Waitz, Kollege Otto, ich würde Siegerne gelegentlich zu 24 Stunden amerikanischem Fern-sehen verurteilen. Ich glaube, dann kommen Sie zu eineranderen Position als der, die Sie heute Abend vorgetra-gen haben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/3791.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen derCDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/3297 mit demTitel „Die Schaffung eines kohärenten europäischenRechtsrahmens für audiovisuelle Dienste zu einemSchwerpunkt deutscher Medien- und Kommunikations-politik in Europa machen“ in der Ausschussfassung anzu-nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen undder Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Frak-tion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen an-genommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-nung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache16/2675 mit dem Titel „Für einen zukunftsfähigen euro-päischen Rechtsrahmen audiovisueller Mediendienste –den Beratungsprozess der EU-Fernsehrichtlinie aktivbegleiten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion mit denStimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.

Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache16/2977 mit dem Titel „Für eine verbraucherfreundlicheund Qualität sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelleMediendienste“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linkeund der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen undEnthaltung der FDP-Fraktion angenommen.

Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/3792.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-

tion der FDP auf Drucksache 16/2970 mit dem Titel„Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internetan-schluss – die Gebührenfinanzierung des öffentlich-recht-lichen Rundfunks grundlegend reformieren“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion DieLinke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und derFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 16/3002 mit dem Titel „Moratorium für PC-Gebühren – sofortige Neuverhandlung des Rundfunkge-bührenstaatsvertrages“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion DieLinke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenund Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-sache 16/2793 mit dem Titel „PC-Gebühren-Moratoriumverlängern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke undder Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthal-tung der FDP-Fraktion angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten RainerBrüderle, Birgit Homburger, Dr. Karl Addicks,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Mehr Wettbewerb im Schornsteinfegerwesen

– Drucksache 16/3344 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zuProtokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re-debeiträge von Lena Strothmann, CDU/CSU-Fraktion,Christian Lange, SPD-Fraktion, Birgit Homburger, FDP-Fraktion, Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke, undMatthias Berninger, Fraktion des Bündnisses 90/DieGrünen.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/3344 an den Ausschuss für Wirtschaftund Technologie vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszum Pfändungsschutz der Altersvorsorge undzur Anpassung des Rechts der Insolvenzan-fechtung

– Drucksache 16/886 –

1) Anlage 4

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/3844 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Günter Krings Dirk Manzewski Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Wolfgang NeškovićJerzy Montag

Es liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion der FDPsowie der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor.Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen wer-den. Es handelt sich um die Beiträge der Kolleginnenund Kollegen Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Fraktion,Dirk Manzewski, SPD-Fraktion, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion, Wolfgang Nešković,Fraktion Die Linke, und Irmingard Schewe-Gerigk,Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, sowie des Par-lamentarischen Staatssekretärs Alfred Hartenbach.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Pfän-dungsschutz der Altersvorsorge und zur Anpassung desRechts der Insolvenzanfechtung, Drucksache 16/886.Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 16/3844, den Gesetzentwurf inder Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen zweiÄnderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen.

Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion derFDP auf Drucksache 16/3865? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung derFDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktiondes Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt.

Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3864? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantragist wiederum mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenbei Zustimmung der FDP-Fraktion, der Fraktion DieLinke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenabgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit istder Gesetzentwurf in zweiter Lesung mit den Stimmender Koalitionsfraktionen bei Enthaltung aller anderenFraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Bera-tung mit gleichem Stimmverhältnis angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 sowie Zusatzpunkt 7auf:

1) Anlage 5

15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. AxelTroost, Dr. Barbara Höll, Oskar Lafontaine,Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der LINKEN

Für einen starken öffentlich-rechtlichen Spar-kassensektor – Keine Kompromisse beim Spar-kassen-Bezeichnungsschutz – Parlamentswil-len respektieren

– Drucksache 16/3797 –

ZP 7 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Eduard Os-wald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten ReinhardSchultz (Everswinkel), Bernd Scheelen, IngridArndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD

Bezeichnungsschutz für Sparkassen gesichert

– Drucksache 16/3805 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Dr. Axel Troost von der Fraktion DieLinke das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zum Sparkassen-Bezeichnungsstreit gibt es eine guteund eine schlechte Nachricht.

Die gute lautet: Das Vertragsverletzungsverfahrenwurde eingestellt und die privaten Markenrechte derSparkassen bleiben geschützt. Das ist sicherlich auch einErfolg unserer gemeinsamen Arbeit hier.

Die schlechte Nachricht lautet aber:

(Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Dass du unbedingt reden musst!)

Was die Bundesregierung der EU-Kommission als Preisfür diesen Erfolg im Gegenzug zugesagt hat, weiß nie-mand so richtig. Fakt ist, dass die EU-Kommission in ih-rer Presseerklärung zum Kompromiss schreiben kann:§ 40 Kreditwesengesetz wird stets so angewendet, dassEU-Recht nicht verletzt wird.

Das macht mich stutzig. Wir alle wissen doch: Für dieEU-Kommission heißt dieser Satz genau, dass auch pri-vaten Banken erlaubt werden muss, sich Sparkasse zunennen. Stutzig werde ich auch, wenn ich in der „Finan-cial Times Deutschland“ die Überschrift „Sparkassen –Sieg für Brüssel“ oder im „Handelsblatt“ lese, dass dieEU-Kommission in der Auseinandersetzung im Grund-satz gewonnen hat. Mit Verlaub: Erfolgsmeldungen se-hen anders aus.

Die entscheidende Frage ist: Hat die Bundesregierungder EU zugesagt, § 40 KWG so anzuwenden, dass dieEU sagen kann, EU-Recht wird nicht verletzt? Hat die

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Dr. Axel Troost

Bundesregierung also zugesagt, § 40 KWG so anzuwen-den, dass sich auch eine private Bank Sparkasse nennendarf? Das ist die entscheidende Frage. Da müssen wir alsParlamentarier sagen: Wir wissen es nicht. Wir kennennur die knappe gemeinsame Erklärung von Finanzminis-terium und EU-Kommission. Die entscheidenden Proto-kollnotizen und Interpretationshilfen haben wir schlichtund einfach nicht.

Während der gesamten Verhandlungen fuhr die Bun-desregierung einen undurchsichtigen Zickzackkurs. AmEnde erfahren wir als Bundestag nicht einmal, was imDetail vereinbart wurde. Das können wir uns doch nichtgefallen lassen. Das ist eine Missachtung des Parla-ments, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Bei allem, was wir nicht wissen und was die Öffent-lichkeit auch nicht weiß, ist aber eines sicher: Eine dau-erhafte und eindeutige Sicherung des Bezeichnungs-schutzes ist das nicht. Ganz offensichtlich lässt dieVereinbarung wichtige Fragen offen. Ganz offensichtlichbedarf die Vereinbarung weiterer juristischer Interpreta-tionen.

Weil das so ist, kann die Vereinbarung ein Einfallstorfür eine faktische Aufgabe des Sparkassen-Bezeich-nungsschutzes sein. Es ist doch unehrlich, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD, davor dieAugen zu verschließen und in Ihrem Antrag heile Weltzu spielen. Denn wir haben draußen auf den Finanz-märkten keine heile Welt. Draußen häufen sich dieAngriffe auf öffentlich-rechtliche Sparkassen. Die kom-merziellen Großbanken haben sich doch gerade zumZiel gesetzt, den Sparkassensektor zu knacken.

Deutsche Bank, Dresdner Bank, Commerzbank undviele andere stört es natürlich, wenn Sparkassen imMarkt sind, die nicht Renditeforderungen von 25 Pro-zent anstreben und damit die Gewinnmargen kleiner hal-ten. Genau diesen kommerziellen Großbanken habenSie, hat die Bundesregierung mit dem weichen Kompro-miss mit offenen Formulierungen potenziell ein riesigesGeschenk gemacht. Die kommerziellen Großbankensind mit ihrer Interpretation des Kompromisses dochschon vorgeprescht. Die ist eindeutig. So wird gesagt:Berlin ist kein Sonderfall. Dass sich auch Private künftigSparkasse nennen dürfen, gelte – ich zitiere den Haupt-geschäftsführer des Bankenverbandes – „auch in jedemanderen Fall, wenn eine Kommune ihre Sparkasse priva-tisieren will“.

Vor alledem dürfen wir doch nicht die Augen ver-schließen. Wir müssen Sparkassen durch klare Rahmen-bedingungen vor dem Zugriff kommerzieller Großban-ken schützen und nicht Steilvorlagen für weitereAngriffe liefern.

(Beifall bei der LINKEN)

Deswegen sage ich auch: Mit diesem Kompromisshat die Bundesregierung den Parlamentswillen nicht einszu eins umgesetzt, wie wir ihn gemeinsam im Septemberformuliert haben. Das heißt ganz klar: Wir müssen unsgemeinsam dafür einsetzen, hier keine faulen Kompro-

misse zu schließen. Deswegen fordere ich alle auf, sichauch diesmal für den Sparkassen-Bezeichnungsschutzstark zu machen. Sagen wir der Bundesregierung klar,dass sie ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht hat.Sagen wir ihr, dass sie noch einmal nachverhandeln soll.Sagen wir ihr, dass eine mutige Verteidigung diesesSparkassenkompromisses nicht ausreicht, sondern dasswir hier weitergehen müssen.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken[CDU/CSU]: Sie haben das Ergebnis nichtrichtig zur Kenntnis genommen!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Leo Dautzenberg von

der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD])

Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Die letzten Tage eines Jahressind die Zeit der Rückblicke und Resümees. Ein Themabeim Rückblick auf die Finanzmarkt- und Bankenthe-men dieses Jahres ist sicherlich die Auseinandersetzungzwischen der Bundesregierung und der EuropäischenKommission über den Bezeichnungsschutz der Sparkas-sen.

Seit einigen Tagen kennen wir das Resümee dieserThematik: Der Sparkassen-Namensstreit mit Brüssel,also der Streit über den Bezeichnungsschutz, kann mitRecht als ein Kapitel des Jahres 2006 bezeichnet wer-den, das sehr turbulent verlief, aber trotzdem letztendlichpositiv ausging. Diesen positiven Ausgang verdankenwir der Bundesregierung. In der letzten Woche hat sienach einem wochenlangen Verhandlungsmarathon eineerfreuliche Einigung mit der EU-Kommission über denBezeichnungsschutz der Sparkassen erzielt.

Entgegen Ihrer Auffassung, Kollege Troost undmeine Damen und Herren der Fraktion Die Linke, sindwir in der Union davon überzeugt, dass die Bundesregie-rung damit sehr wohl den Bundestagsbeschluss vomSeptember dieses Jahres umgesetzt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie hat in ihren Verhandlungen den Parlamentswillennicht nur respektiert, sondern sie ist ihm sogar ausdrück-lich gefolgt.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das weiß nur keiner!)

Gerne erläutere ich Ihnen unsere Überzeugung kurzanhand von drei Kernforderungen, die wir vor drei Mo-naten gemeinsam – Sie hatten sich daran beteiligt – imPlenum formuliert haben.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Erstens sollte – so steht es im Antrag – der Bezeich-nungsschutz der Sparkassen im Sinne des § 40 des Kre-

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Leo Dautzenberg

ditwesengesetzes grundsätzlich erhalten bleiben. Zwei-tens sollte in diesem Zusammenhang der Verkauf derBankgesellschaft Berlin als Sonderfall behandelt wer-den. Das ist die so genannte Insellösung. Drittens solltedas Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschlandeingestellt werden.

Alle drei Forderungen sind aufgrund der Verhandlun-gen erfolgreich umgesetzt worden.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Axel Troost[DIE LINKE]: Das sehen wir aber ganz an-ders!)

– Lieber Kollege Troost, wenn Sie nicht im Senat mitbe-teiligt gewesen wären, als wir uns den Berliner Fall ein-gehandelt haben, dann wäre es gar nicht zum Vertrags-verletzungsverfahren gekommen.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ich glaube, Ihre Partei hat das in Berlin verbrochen!)

– Nein, Sie waren mit anderen in Berlin zusammen, dieich als Koalitionspartner natürlich nicht ausdrücklich er-wähnen möchte.

Allen drei Forderungen entspricht die Einigung mitder EU-Kommission eindeutig. Ich sage daher sehr deut-lich, dass die Vereinbarung ein Erfolg ist. Sie ist ein Er-folg für die deutschen Verhandlungsführer und – das istnoch viel wichtiger – für den Sparkassensektor.

Ich kann daher nicht verstehen, warum diese Ver-handlungen nicht anerkannt werden und sich schon wie-der Nörgler und Kritiker aus der Deckung wagen.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist unglaublich!)

Sie haben festgestellt, die Verhandlungslösung sei nichtwasserdicht, und fragen, was passiert, wenn sich derBerliner Fall an anderer Stelle wiederholt. Dürfen dannwieder private Investoren den Namen Sparkasse fortfüh-ren? Wäre das nicht der Dammbruch für den öffentlich-rechtlichen Sparkassensektor?

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist es!)

Diese Argumentation enthält mir zu viel Wenn undAber.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das sieht der Bankenverband anders!)

Zu der Frage, was dann passiert, Herr Kollege Troost:Ehe private Investoren übernehmen können, muss zu-nächst einmal jemand bereit sein, zu verkaufen. So istdas in unserem Rechtsstaat, der noch dem Eigentum ver-pflichtet ist. Das steht am Anfang der Gesamtsituation.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist korrekt!)

In den meisten Fällen gelten politische Entscheidun-gen nur unter bestimmten Rahmenbedingungen. Ändernsich diese, dann muss auch die Politik reagieren. Solltesich – dies sei nur am Rande bemerkt – der Berliner Fallan anderer Stelle wiederholen, dann stehen wir in derPolitik und auch der Bankensektor – insbesondere diese

Organisation – vor schwerwiegenderen Fragen als derdes Bezeichnungsschutzes.

Zunächst einmal sehe ich aber unter den heutigenRahmenbedingungen nicht, dass der Bezeichnungs-schutz für die Sparkassen durch die Verhandlungslösungaufgeweicht wird. Vielmehr bin ich der Überzeugung,dass diejenigen, die die Verhandlungslösung jetzt zerre-den, die europäische Absicherung des Bezeichnungs-schutzes tatsächlich gefährden.

Warum ich diese Befürchtung habe, macht ein Blickauf den Verhandlungsverlauf in diesem Jahr sehr deut-lich. Nicht ohne Grund sprach ich eingangs von einemturbulenten Kapitel in Sachen Sparkassen-Bezeich-nungsschutz. Wir alle wissen, dass in den letzten Wo-chen und Monaten nicht immer zu erwarten war, dassDeutschland mit der EU-Kommission zu einer einver-nehmlichen Lösung im Sinne des öffentlich-rechtlichenSparkassensektors gelangen würde.

Im Sommer standen vielmehr folgende Szenarien imRaum: Ein Weg schien zwischenzeitlich darin zu beste-hen, den Forderungen der EU-Kommission nachzugebenund den § 40 KWG zu ändern, um die Einstellung desVertragsverletzungsverfahren zu erreichen. Die andereOption war eine Beendigung der Verhandlungen ohneeinvernehmliche Lösung. Die Konsequenz wäre ein Ver-fahren vor dem Europäischen Gerichtshof gewesen, des-sen Ausgang völlig offen gewesen wäre.

Beide Szenarien konnten abgewendet werden. § 40Kreditwesengesetz muss nicht geändert werden und dasVertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wirdeingestellt. Dass § 40 KWG nicht geändert werdenmuss, ist auch ein Verdienst des Deutschen Bundestages.Wir haben der Bundesregierung mit unserem Antrag imSeptember sehr deutlich gemacht, dass wir die zwi-schenzeitlich von ihr vorgeschlagenen Kompromiss-angebote zur Änderung des § 40 KWG für sehr proble-matisch halten und dass wir im Übrigen weder sachlichenoch europarechtliche Gründe für eine Änderung sehen.Das Ergebnis haben wir jetzt, Herr Kollege Troost.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das wissen wir ja eben nicht!)

Damit haben wir der Bundesregierung für die BrüsselerVerhandlungen letztlich den Rücken gestärkt. Mit Unter-stützung durch eine große Parlamentsmehrheit konntensich die deutschen Verhandlungsführer hartnäckig fürden Erhalt des § 40 KWG in seiner heutigen Fassungeinsetzen, und zwar mit Erfolg, wie wir seit der letztenWoche wissen.

Der Fraktion Die Linke reicht diese Lösung aber nochimmer nicht aus. Sie fordert eine Nachverhandlung mitdem Ziel der dauerhaften Sicherstellung des Bezeich-nungsschutzes. Das heißt, sie will eine Garantie für dieEwigkeit. Aus der Historie betrachtet man die Ewigkeitmeistens von unten. Das ist im Grunde kein progressiverAnsatz für die Zukunft.

(Frank Schäffler [FDP]: Ein schönes Bild! –Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Dannwächst Gras darüber!)

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Leo Dautzenberg

Wir müssen vielmehr die Entwicklungen in der Kredit-wirtschaft, der Landesgesetzgebung und der Europäi-schen Union weiterhin beachten. Wie absurd diese For-derung grundsätzlich ist und wie wenig sie mitRealpolitik zu tun hat, brauche ich hier wohl nicht näherzu erläutern.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD])

Meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke,wie bei so vielen Themen erliegen Sie auch beim ThemaSparkassen wieder einmal dem Irrglauben, dass wir aufeiner Insel der Glückseligen leben. Das tun wir abernicht. Wir sind in die Europäische Union eingebunden,ob wir das wollen oder nicht.

(Otto Fricke [FDP]: Wir wollen das!)

– Richtig, wir wollen das. – Die EU wird weiterhin – dasmuss uns bewusst sein – ein Auge auf die Drei-Säulen-Struktur der deutschen Kreditwirtschaft werfen.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir von derUnion wollen den Bezeichnungsschutz für öffentlich-rechtliche Sparkassen nicht nur kurzfristig retten. Wirsind vielmehr von ihrer Bedeutung gerade mit Blick aufdie Gemeinwohlorientierung sehr wohl überzeugt undhaben ein langfristiges Interesse daran.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist auch gut so!)

Aber wir sind als Realpolitiker vernünftig genug, um zuwissen, dass die jetzt erreichte Vereinbarung mit der Eu-ropäischen Union das bestmögliche Ergebnis ist, das zuerreichen war.

Deshalb lautet meine abschließende Bitte: Lassen Sieuns gemeinsam das Ergebnis der Verhandlungen derBundesregierung mit der Europäischen Union über denBezeichnungsschutz der Sparkassen würdigen!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie uns auch in Zukunft die Entwicklung derdeutschen Kreditwirtschaft aufmerksam verfolgen undpolitisch-konstruktiv begleiten! Richtschnur unseresHandelns sollte dabei immer die qualitativ gute und flä-chendeckende Versorgung der Unternehmen und der Be-völkerung mit Bankdienstleistungen sein.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von

der FDP-Fraktion.

Frank Schäffler (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn ein Wortan den Antragsteller richten. Herr Kollege Troost, Siemüssen sich schon entscheiden, was Sie von der Links-fraktion wollen. Ihre Partei ist in Berlin – eigentlich sindes hier noch zwei Parteien – in der Landesregierung.

Diese hat die Brüsseler Entscheidung ausdrücklich be-grüßt. Im Deutschen Bundestag wettern Sie aber nun ge-gen die Einigung im Sparkassenstreit. In der Begrün-dung Ihres Antrags verweisen Sie auf das in vielenBundesländern umgesetzte Girokonto für jedermann inden dortigen Sparkassengesetzen. In Berlin, wo Sie inder Landesregierung vertreten sind, gibt es kein Giro-konto für jedermann im Sparkassengesetz. Wenn Ihnendie Menschen, die kein Girokonto erhalten, wirklich amHerzen liegen würden, dann hätten Sie längst das Giro-konto für jedermann im Berliner Sparkassengesetz fest-schreiben können.

(Zuruf von der FDP, an die LINKE gewandt: Ihr seid herzlos und neoliberal!)

Sie brüllen in der Opposition, verkriechen sich aber inder Berliner Landesregierung in den Regierungsdienst-wagen. Das ist zutiefst verantwortungslos.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir als FDP können mit der Einigung im Sparkas-senstreit sehr gut leben. Anders als jedoch von der Bun-desregierung kurz nach der Einigung öffentlich verkün-det, hat sich die Bundesregierung in Brüssel nichtdurchgesetzt, weder im Fall des Beihilfestreites um dieBerliner Sparkasse noch in der Auslegung des§ 40 KWG. Insofern hat die Regierung tagelang die Öf-fentlichkeit über den wahren Inhalt der Einigung ge-täuscht:

Erstens. Das Land Berlin darf seine Landesbank Ber-lin Holding AG und damit seine Sparkasse auch an einenprivaten Investor verkaufen und dieser darf den Namen„Sparkasse“ im Rahmen des Berliner Sparkassengeset-zes weiter uneingeschränkt nutzen.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Unter dem Gesichtspunkt des Regionalprinzips!)

– Das ist ja Teil des Sparkassengesetzes in Berlin. – DieBaFin musste sogar ihre bisherige Untersagung auf Wei-sung des Finanzministeriums zurücknehmen.

Zweitens. § 40 KWG wird in der Europäischen Unionin einer Weise angewandt, die nicht gegen die Niederlas-sungsfreiheit und den freien Kapitalverkehr verstößt.Dem Schutz der Bezeichnung „Sparkasse“ gemäߧ 40 KWG geht das höherrangige, direkt anwendbareGemeinschaftsrecht vor und dies nicht nur im Beihilfe-streit um die Berliner Sparkasse. Damit hat die Bundes-regierung es nicht geschafft, die Auseinandersetzung aufdas Beihilfeverfahren zu reduzieren und Berlin als Son-derfall zu behandeln. Das war aber das eigentliche Ziel,auch das Ziel des Entschließungsantrages der KoalitionEnde September.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist das!)

Im Gegenteil: Nur weil die Bundesregierung akzep-tierte, dass das höherrangige Gemeinschaftsrecht bei derAnwendung des § 40 KWG generell gilt, konnte die EU-Kommission der Einstellung des Vertragsverletzungs-verfahrens zustimmen.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das fürchten wir auch!)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7347

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Frank Schäffler

§ 40 KWG ist nur noch eine formale Hülle, die in derPraxis nicht mehr angewandt wird. Der Antrag von derUnion und der SPD mogelt sich um den Inhalt der Eini-gung herum. Sie schreiben im Antrag: „Es besteht keinErfordernis zur Änderung des § 40 KWG“ und suggerie-ren damit, dass sich nichts verändert hat. Tatsache istaber, die Bundesregierung hat klein beigegeben. Sie istals Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet. Esbedarf keiner Änderung des § 40 KWG, weil er künftigkeine Rolle mehr spielen wird.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Schäffler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Hinsken?

Frank Schäffler (FDP): Ja.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Hinsken.

Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Schäffler, sind Sie bereit, dem Herrn

Kollegen Troost von der Linken zu sagen, dass die Ver-antwortlichen der Sparkassen in der BundesrepublikDeutschland mit dem gefundenen Kompromiss zufrie-den sind, weil sichergestellt ist, dass dort, wo Sparkassedraufsteht, auch Sparkasse drin ist?

(Heiterkeit – Hans-Joachim Otto [Frankfurt][FDP]: Sag’s ihm! – Otto Fricke [FDP]: Dasstimmt zwar nicht, aber sag es ihm! – Dr. AxelTroost [DIE LINKE]: Ich habe noch Schlim-meres befürchtet!)

Frank Schäffler (FDP): Es mag sein, dass die Verbände das so interpretieren.

Die können das so interpretieren, wie sie wollen. Siewerden die Einigung im Sparkassenstreit aber nicht ver-ändern können. Die ist zwischen Bundesregierung undEuropäischer Kommission so verabredet, wie ich es ge-rade dargestellt habe. Das ist ja auch im Internet öffent-lich einzusehen.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist eine klare Antwort!)

Natürlich können verschiedene Verbände unterschiedli-cher Meinung sein, aber tatsächlich zählt, was in dieserEinigung steht.

Damit sind die Länder in Deutschland künftig frei,ihre Sparkassengesetze nach ihren Vorstellungen zu än-dern, ohne dass der Bund über § 40 KWG dies verhin-dern kann. Aber auch die Kommunen können sich künf-tig auf europäisches Recht beziehen, ohne dass dieLänder ihnen die Veräußerung ihrer Sparkasse untersa-gen können. Von Bedeutung ist, dass in der Einigungnichts mehr von einer vollständigen gemeinnützigenGewinnverwendung steht. Die Länder können denSparkassen lediglich bestimmte gemeinwirtschaftlicheVerpflichtungen auferlegen. Eine Veräußerung durch

eine Kommune können auch die Länder künftig nichtverhindern.

Meine Damen und Herren, die FDP erkennt die Ver-dienste der Sparkassen für die Versorgung breiter Bevöl-kerungsschichten und des Mittelstandes mit Finanz-dienstleistungen ausdrücklich an.

(Beifall bei der FDP)

Gerade um dies auch zukünftig sicherzustellen, ist dieEinigung eine wichtige Grundlage für eine dynamischeWeiterentwicklung des Sparkassensektors und des Fi-nanzstandortes Deutschland. Es ist aber auch eine guteNachricht für den Wettbewerbsföderalismus und eineStärkung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutsch-land.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Schultz von

der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Manchmal glaubt man, man sei hier im falschen Film.Dass Sie, Herr Troost, versuchen, Leute aufzuwiegelnund in Angst zu versetzen, kann ich noch nachvollzie-hen,

(Zurufe von der LINKEN: Oh!)

aber Sie, Herr Schäffler, reden mit absolut gespaltenerZunge. Sie haben sich nicht konstruktiv an dem Kom-promiss des Bundestages beteiligt und Sie waren nichteinmal in der Lage, sich in der eigenen Fraktion auf eineHaltung zu verständigen, weil die eine Hälfte dafür war,das Sparkassenprivileg aufrechtzuerhalten, und die an-dere Hälfte dagegen. Jetzt machen Sie sich zum Chefin-terpreten der nun gefundenen Rechts- und Kompromiss-lage. Es ist geradezu albern und lächerlich, was Sie hierabgezogen haben, um das in aller Deutlichkeit zu sagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Verhältnis zur EU ist nicht nur im Fall der Spar-kassen, sondern auch auf anderen Gebieten, wie wir indiesen Tagen merken konnten, außerordentlich schwie-rig. Die EU-Kommissare und die zuständigen Generaldi-rektionen wandeln häufig stark am Rande des eigentlichgeltenden Europarechts und versuchen, es durch prakti-sches Handeln, durch Faktensetzen in eine andere Rich-tung zu verschieben.

(Otto Fricke [FDP]: Das wäre ja verfassungs-widrig!)

Dagegen muss man sich wehren, weil das Prinzip derRechtsstaatlichkeit für die EU-Kommission genauso wiefür unsere Bundesregierung und unser gesamtes politi-sches Handeln gilt.

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Reinhard Schultz (Everswinkel)

Darum ging es ausdrücklich bei der Findung einesSparkassenkompromisses. Es ist Einigung darüber er-zielt worden, dass der historische Verstrickungen auf-weisende Fall der Berliner Sparkasse isoliert behandeltwird. Das war anders nicht möglich, weil eine beihilfe-rechtliche Entscheidung der EU vorlag. Es sind öffentli-che Subventionen geflossen, die an die Bedingung ge-knüpft gewesen sind, dass das Institut danachdiskriminierungsfrei verkauft werden kann.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das war so!)

Damit ist die Geschichte natürlich noch nicht zuEnde. Ich bin einmal gespannt, wer die Berliner Spar-kasse kauft. Ich kann sagen, wem ich die Daumen drü-cke. Die öffentlich-rechtliche Sparkassenfamilie ist ge-meinsam auf dem besten Wege, das Geld in die Hand zunehmen, um das Problem elegant zu lösen,

(Otto Fricke [FDP]: Wessen Geld?)

sodass sich der Kreis wieder schließt. Ich fände gut,wenn das dabei herauskäme. Das sage ich ganz offen.Natürlich brauchen wir einen diskriminierungsfreienVerkaufsvorgang, aber auch die öffentlich-rechtlichenInstitute haben das Recht und die Chance, dort mitzubie-ten. Vielleicht geht das auch gut.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wenn sie sich einig sind!)

– Wenn sie sich einig sind. Man kann nur an sie appellie-ren, dass sie sich einigen.

(Frank Schäffler [FDP]: Und dass sie das Geld zusammenkriegen!)

Der zweite Punkt betrifft § 40 KWG. Die EU hat ver-sucht, der Bundesregierung Kriterien hinsichtlich desGemeinwohls und hinsichtlich der Frage, wann eine pri-vatisierte Sparkasse eigentlich noch Sparkasse heißendarf, aufs Auge zu drücken. Darüber hat man sich aus-drücklich nicht geeinigt. Die Tatsache, dass man sichnicht geeinigt hat und trotzdem das Vertragsverletzungs-verfahren eingestellt wird, bedeutet, dass § 40 KWG inDeutschland uneingeschränkt weiter gilt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Otto Fricke [FDP]: Nur nicht in Berlin!)

– Nur nicht in Berlin; das ist nun einmal so. – Der Bun-desfinanzminister hat dem Sparkassen- und Giroverbandausdrücklich mitgeteilt, dass die Bundesregierung auchkünftig für den Fall, dass jemand versuchen sollte, eineSparkasse zu privatisieren und den Namen mitzugeben,über die BaFin eingreifen und die Weiterführung des Na-mens Sparkasse untersagen wird. Das ist eine definitiveZusage.

Ich kann mir gar nicht vorstellen, unter welchen Be-dingungen sich ein Fall wie der der Berliner Sparkassewiederholen könnte. Natürlich ist in der fernen Zukunftalles möglich, aber nach den Ereignissen um die BerlinerSparkasse haben die Sparkassen einen solch starkenSicherungsverbund geschlossen, dass sie Insolvenzenoder Schieflagen problemlos innerhalb der Sparkassen-familie auffangen können und auch auffangen werden.Nicht zuletzt – auch darauf möchte ich verweisen – ist

der Sparkassensektor bei allen – auch internationalen –Stresstests der stabilste von allen Sektoren, auch auf-grund seiner Verbundstruktur. Das heißt, eine Sanie-rungsprivatisierung, wie sie, um das einmal so zu inter-pretieren, in Berlin möglicherweise vorliegen wird, ist inanderen Fällen weitgehend auszuschließen.

Dann bleiben lediglich die Fälle einer Privatisierungnach dem Willen des Trägers der Sparkasse. Dazu bedarfes allerdings Änderungen im Ländersparkassenrecht.Diese sind nicht so einfach. Auch dort gilt das Rahmen-recht des Kreditwesengesetzes mit § 40. Natürlich gibtes da Spielräume. Zum Beispiel könnte ein Stammkapi-tal eingeführt werden, was einige Länder wollen. Ichhalte es allerdings nicht für besonders überzeugend,wenn der Landesgesetzgeber einerseits erklärt, er denkenicht daran, seine Sparkassen zur Privatisierung freizu-geben, andererseits aber eine rechtliche Möglichkeit zurEinführung von Stammkapital im engeren Sinne – esgeht ja nicht um Eigenkapital – mit gestückelten Beteili-gungen fordert. Wenn nicht privatisiert werden soll unddie kommunalen Träger weiterhin für die Sparkassen zu-ständig sein sollen, besteht diese Notwendigkeit eigent-lich nicht.

Insofern muss man auf Länderebene hinterfragen, wa-rum eine Tür aufgemacht wird, die gleichzeitig wiederzugemauert werden soll. Das ist nicht sehr überzeugend.Da werden wir an anderer Stelle kämpfen. Das ist Lan-despolitik. Es wird nie so weit kommen, zumindest mituns nicht, dass § 40 KWG in der Form geöffnet wird, dassdie Länder einen Freifahrtschein dafür erhalten, privati-sierte Institute weiterhin „Sparkasse“ nennen zu können.Die Sparkassen müssen weiterhin öffentlich-rechtlichbleiben und sie werden nach wie vor Gemeinwohlkrite-rien unterworfen sein.

Ich denke, das ist ein klares Ergebnis. Ich wunderemich, Herr Kollege Troost, dass ausgerechnet Sie hierdie Deutsche Bank oder den Bankenverband als zuver-lässigen Kommentator dieses Kompromisses darstellen.Das ist nicht der Gesetzgeber oder etwas Ähnliches, son-dern eine Interessengruppe, die die Situation, die jetzt ei-nigermaßen gefestigt ist, wieder aufweichen will, umden nächsten Angriff auf die Sparkassenfamilie vorzube-reiten. Denen würde ich nicht die Hand reichen, indemich ihnen Recht gebe.

Die Pressemitteilung, die die Bundesregierung unddie Wettbewerbsbehörde gemeinsam verfasst haben, undder Brief hinsichtlich Berlin, den Sanio geschrieben hat,

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Schreiben musste!)

sind die beiden Grundlagen, die feststehen. Sie gebengenau das wieder, was wir in unserer Entschließung am29. September dieses Jahres gesagt haben: Berlin isolie-ren und dafür den gesamten Rest retten.

Insofern kann ich nur sagen: Die Bundesregierung hatmeines Erachtens punktgenau – im Rahmen der Mög-lichkeiten – unseren Entschließungsantrag umgesetzt.Dafür möchte ich mich beim Bundesfinanzminister undbei der Verhandlungsgruppe ausdrücklich noch einmalbedanken. Ich bin davon überzeugt, dass auch die EU-

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Reinhard Schultz (Everswinkel)

Kommission sich davon hat beeindrucken lassen, dasssich der deutsche Gesetzgeber nicht durch eine EU-Be-hörde in seine Gesetzgebungskompetenz hineinpfu-schen lässt. Denn das war das Begehr: dass ein deutschesParlament, der Vertreter des deutschen Volkes, durcheine Behördenentscheidung gezwungen wird, ein Gesetzzu verändern. Das hatte die EU-Kommission vor; es istaber abgewehrt worden und wird auch nicht geschehen.Ich denke, es war gut, dass es in diesem Zusammenhangeinen engen Schulterschluss zwischen Parlament undBundesregierung gegeben hat.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Schultz, erlauben Sie noch eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Schäffler?

(Iris Gleicke [SPD]: Nein!)

Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Ja, selbstverständlich.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Schäffler.

Frank Schäffler (FDP): Herr Schultz, wenn es so ist, wie Sie das gerade be-

schrieben haben, wieso ist der Berliner Fall dann nichtauf den Beihilfestreit reduziert worden, wieso hat mandann in diesem Zusammenhang das Vertragsverletzungs-verfahren mit abgeräumt?

Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Das war doch gerade die Kunst, lieber Herr Schäffler.

Die EU-Kommission hat einen Zweifrontenkrieg gegendas deutsche Sparkassenrecht geführt und versucht, dasBeihilfeverfahren in Berlin als Hebel zu benutzen, umdie gesamte Veranstaltung auszubremsen. Gleichzeitighat sie ein lange ruhendes Vertragsverletzungsverfah-ren wieder aufleben lassen. Dass dieses Vertragsverlet-zungsverfahren jetzt eingestellt worden ist und gleich-zeitig das Problem Berlin gelöst werden konnte, warsozusagen der Hattrick, der uns alle gerettet hat. Es gabvon Anfang an einen politischen Zusammenhang unddas Problem ist auch im Zusammenhang gelöst worden.

Gab es noch eine Frage? – Nein.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten in engerZusammenarbeit mit den Sparkassen die Interpretations-hoheit über diesen Kompromiss behalten. Ich bedankemich für die gute interfraktionelle Zusammenarbeit imVorfeld und bis zum heutigen Tage. Trotzdem wird dasHolzauge selbstverständlich für den Fall wachsam blei-ben, dass die EU-Kommission in der nächsten Zeit aufdumme Gedanken kommen sollte.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Andreae vom Bünd-

nis 90/Die Grünen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir haben es gerade erlebt: Gegen Angriffe kannman sich wehren; gegen Lob ist man machtlos. In diesemSinne will ich für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-nen sagen, dass wir diesem Antrag der großen Koalitionzustimmen werden.

(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])

Wir wollen der Koalition an dieser Stelle ein Lob aus-sprechen; denn wir finden das vorliegende Ergebnisrichtig. Wir haben tatsächlich den Eindruck, dass es sichum eine Umsetzung derjenigen Punkte handelt, die wiram 29. September in größerer Runde verabredet haben.

Wie gesagt, § 40 des Kreditwesengesetzes bleibt er-halten. Der Erhalt der öffentlich-rechtlichen Sparkassenist vorerst gesichert. Außerdem gibt es kein Vertragsver-letzungsverfahren. Wir wären damals Ihrem Antrag bei-getreten; die Vorgeschichte kennen Sie. Aber diesmalkonnten wir Ihrem Antrag nicht beitreten. Der Grund ist,dass wir Sorgen haben, was die Argumentation der EU-Kommission im bisherigen Verfahren betrifft. Denn esist schon so, dass die EU-Kommission weiterhin be-hauptet, dass der Grundversorgungsauftrag einerSparkasse unabhängig von ihrer Rechtsform erbrachtwerden kann. Die EU-Kommission ignoriert auch wei-terhin diesen unvermeidlichen Zielkonflikt zwischen derGemeinwohlverpflichtung der öffentlich-rechtlichenSparkassen und den Gewinninteressen privater Unter-nehmen. Sie stellt außerdem das Regionalprinzip in-frage.

Brüssel insistiert auch weiterhin darauf, dass für zu-künftige Fälle ein möglicher Verkauf einer Sparkasse inÜbereinstimmung mit dem EU-Recht erfolgen muss.Daraus schließen wir, dass Brüssel seine Vorbehalte ge-gen § 40 des Kreditwesengesetzes nur zurückgestellt,aber noch nicht aufgegeben hat.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr wahr! –Frank Schäffler [FDP]: Richtige Interpreta-tion!)

Diesen Punkt sehen wir kritisch. Auch Sie sollten dastun.

Herr Dautzenberg, ich würde mir wünschen, dass Ih-nen klar ist, was hier passiert ist. Es ist vielleicht mit ei-nem spielentscheidenden Tor zu vergleichen. Aber es istnoch lange nicht so, dass das Spiel insgesamt gewonnenist.

Was bedeutet das für den Fall, dass ein Bundeslandsein Sparkassengesetz ändern und seine Sparkasse ver-kaufen will? Was bedeutet es, wenn Volksbanken undSparkassen regional fusionieren wollen oder wenn es gar

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Kerstin Andreae

Fusionen von regionalen Sparkassen zu Großsparkassengibt?

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das geht aber von den Eigentümern aus!)

Es könnte durchaus sein, dass die Kommission solcheFälle als willkommenen Anlass sieht, den Rechtsstreitüber § 40 des Kreditwesengesetzes wieder aufzuneh-men.

Wir wollen das Verhandlungsergebnis nicht kleinre-den. Ich meine tatsächlich – mir ist es damit wirklichernst –, dass es angesichts der Tatsache, was in den Ver-handlungen möglich war, ein gutes Ergebnis ist. Deswe-gen stimmen wir diesem Antrag und nicht dem Antragder Linken zu.

Wir wünschen uns, dass wir nicht nur heute Abend,sondern auch in Zukunft von der Union, die bei diesemThema unterschiedliche Interessen verfolgt, hören:

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Darauf kön-nen Sie sich verlassen!)

Die Zukunft der Sparkassen ist noch nicht entschieden.

Wir erwarten schon, dass sich die Bundesregierungweiterhin mit Umsicht und erhöhter Aufmerksamkeit füreine dauerhafte Lösung im Sinne des Erhalts der Spar-kassen und vor allem ihres Gemeinwohlauftrages ein-setzt. Wir können sie dabei im Rahmen unserer Möglich-keiten unterstützen.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die Sparkas-sen haben es selber in der Hand, ob sie eineZukunft haben!)

Dieser Teilschritt war gut und richtig. Aber es ist weiter-hin dringend notwendig, bei diesem Thema umsichtigund aufmerksam zu sein.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 16/3797 mit dem Ti-tel „Für einen starken öffentlich-rechtlichen Sparkassen-sektor – Keine Kompromisse beim Sparkassen-Bezeich-nungsschutz – Parlamentswillen respektieren“. Werstimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen aller Fraktio-nen bei Zustimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.

Zusatzpunkt 7. Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und der SPD aufDrucksache 16/3805 mit dem Titel „Bezeichnungsschutzfür Sparkassen gesichert“. Wer stimmt für diesen An-trag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antragist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und desBündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Frak-

tion Die Linke und Enthaltung der FDP-Fraktion ange-nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu demAntrag der Abgeordneten Marie-Luise Dött, Ka-therina Reiche (Potsdam), Michael Brand, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Dirk Becker, MarcoBülow, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD

Integriertes Küstenzonenmanagement konti-nuierlich fortentwickeln

– Drucksachen 16/2502, 16/3143 –

Berichterstattung:Abgeordnete Ingbert Liebing Dirk Becker Angelika Brunkhorst Lutz Heilmann Dr. Reinhard Loske

Es ist für diese Aussprache eine halbe Stunde vorge-sehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Es hat nur ein Redner denAnspruch gestellt, zu sprechen. Er muss in Anbetrachtder fortgeschrittenen Zeit auch nicht die ganze Redezeitin Anspruch nehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Es handelt sich um den ehrenwerten Kollegen IngbertLiebing von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ingbert Liebing (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutierenheute zum zweiten Mal in diesem Jahr über das ThemaIKZM, über das Integrierte Küstenzonenmanagement.Das ist wahrlich ein Wortungetüm, das erschrecken mag.Aber das Thema ist wichtig. Es ist wichtig, diesesThema aus der Ecke der Fachexperten herauszuholenund es viel mehr als bisher ins öffentliche Bewusstseinzu rücken.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist dringend erforderlich!)

Das Thema ist wichtig, weil es um die Entwicklung un-serer Küstenregionen geht. In kaum einer anderen Re-gion prallen unterschiedlichste Nutzungsansprüche sosehr aufeinander wie an unseren Küsten – und das in ei-nem ökologisch besonders wertvollen Gebiet.

Deshalb ist es so wichtig, dass gerade hier Strategienentwickelt werden, um die Küstenregionen als ökolo-gisch intakten und wirtschaftlich erfolgreichen Lebens-

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Ingbert Liebing

raum für die hier lebenden Menschen dauerhaft zu erhal-ten und nachhaltig zu entwickeln. Das ist die Aufgabedes IKZM.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Es geht um Interessenausgleich und um Konfliktver-meidung. Da geht es um ökologische und ökonomischeBelange, um Küstenschutz, um Naturschutz, um Touris-mus, um Schifffahrt, um Energiegewinnung, um Hafen-wirtschaft, Landwirtschaft oder Fischerei. Es geht umvernünftige Verkehrsanbindungen für die im Regelfallnicht gerade zentral gelegenen Küstenregionen.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!)

Immer wieder geht es dabei darum, diesen Interessen-ausgleich zu organisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Das kann man nicht mit viel Theorie machen. Ent-scheidend ist die Praxis in den Küstenregionen.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig, auch in Ostfriesland!)

Integriertes Küstenzonenmanagement muss mit Lebengefüllt werden. Dafür ist es allemal sinnvoll, vorhandeneStrukturen zu nutzen.

Wir fangen ja nicht erst bei null an.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nein, das stimmt! Die Deiche sind schon errichtet!)

Ich selbst habe einmal als Vorsitzender der Euregio „DieWatten“, eines Zusammenschlusses aller Gemeindenund Städte auf den Inseln und Halligen im Wattenmeervon Holland bis Dänemark, im Wattenmeerforum mit-arbeiten dürfen.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Da hätten Sie einmal ei-nen Vor-Ort-Termin machen können!)

Hier treffen sich bereits seit vielen Jahren Entschei-dungsträger verschiedener staatlicher und regionalerEbenen mit nicht staatlichen Interessenorganisationenvon Holland bis Dänemark und arbeiten gemeinsam aneiner nachhaltigen Entwicklung der Wattenmeerregion.Sie haben eine gemeinsame Strategie für eine nachhal-tige Entwicklung der Region erarbeitet. Das ist ein Bei-spiel für praktiziertes integriertes Küstenzonenmanage-ment. Solche Potenziale müssen auch in Zukunft genutztwerden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP – Carl-LudwigThiele [FDP]: Auch im Inland!)

Die Bundesregierung hat im März der EU die natio-nale IKZM-Strategie vorgelegt. Gern möchte ich beidieser Gelegenheit den beteiligten Ministerien und denMitarbeiterinnen und Mitarbeitern den Dank der CDU/CSU-Fraktion für die geleistete Arbeit aussprechen.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Auch von der FDP!)

Wir haben einen schönen Bericht und eine ambitionierteStrategie vorliegen.

Aber es muss jetzt auch weitergehen.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist dringend erforderlich!)

Wir begrüßen die Absicht der Bundesregierung, eine na-tionale Koordinierungsstelle für Integriertes Küstenzo-nenmanagement einzurichten.

(Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])

Dabei ist es wichtig, dass sie auch mit Praktikern besetztwird.

Zentraler Punkt des IKZM ist eine frühzeitige Kon-flikterkennung und -lösung. Dafür ist ein umfassendesVerständnis für die wechselseitigen Verflechtungen ma-ritimer Wirtschaft, mariner Ökologie sowie der Wechsel-wirkungen in den Küstenregionen wichtig. Geht mandies nur mit einem fachspezifischen Tunnelblick an, lan-det man zwangsläufig in der Sackgasse.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Viel zu eng!)

– Genau, das ist viel zu eng, Herr Kollege Thiele.

Damit das nicht passiert, brauchen die Regionen um-sichtige „Kümmerer“, die den Überblick bewahren undsich auf höherer Ebene koordinieren. Dafür brauchenwir auch die Unterstützung der staatlichen Ebene; dennviele Rahmenbedingungen werden eben nicht in der Re-gion selber, sondern von anderen außerhalb bestimmt.

Beim integrativen Ansatz von IKZM spielt auch derWirtschaftsraum Küste eine zentrale Rolle.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist richtig!)

IKZM darf eben nicht, wie manchmal falsch verstandenoder befürchtet, als rein ökologisches Planungsinstru-ment betrachtet werden. Es geht um eine ausgewogeneRegionalentwicklung – Küstenregionen sind auch Re-gionen, in denen Menschen leben und arbeiten – und esgeht um eine ökonomisch erfolgreiche und nachhaltigeEntwicklung,

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit der Ökologie?)

die einen Beitrag zur Lissabonstrategie der EU leistet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Jade-Weser-Port!)

Integrativer Ansatz von IKZM bedeutet, dass wir be-nachbarte Politikbereiche einbeziehen. Das gilt insbe-sondere für die Verzahnung zwischen Küstenthemen undMeerespolitik. Maritime Themen erfahren zurzeit einevöllig neue Aufmerksamkeit. Wir diskutieren über dasEU-Grünbuch zur integrativen Meerespolitik, wir disku-tieren über die EU-Meeresschutzstrategie, die in weni-gen Tagen beim EU-Ministerrat zur politischen Einigungansteht. Es geht auch um die Zielsetzung, ein weltweitesNetz von Meeresschutzgebieten auszuweisen. Ich nenne

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Ingbert Liebing

auch die boomende maritime Wirtschaft. Die Meeresfor-schung beschäftigt sich mit der Gewinnung von Energie-ressourcen aus dem Meer und neue marine Wirkstoffeunterstützen den medizinischen Fortschritt. Es geht umdie Sicherung von Nahrungsquellen aus dem Meer, ge-rade für die Entwicklungs- und Schwellenländer. Es gehtauch um die Wechselwirkungen zwischen den Meerenund dem Weltklima. Die Meere nehmen mehr als dieHälfte des weltweiten CO2-Ausstoßes auf und tragen da-mit eine wesentliche Last der globalen Klimaverände-rung.

Alle diese Themen finden direkt vor unseren Küstenstatt und beeinflussen unsere Küstenregionen. Der Kli-mawandel ist längst angekommen. Das Ausmaß vonKatastrophen und Extremsituationen, die in den letztenJahren weltweit über Küstenregionen und deren Bevöl-kerung hereingebrochen sind, häufen sich auffällig. Wirhaben bis jetzt Glück gehabt, dass die deutschen Küstenhiervon weitgehend weniger betroffen waren. Aber ge-rade in den Küstenregionen geht es jetzt auch um Anpas-sungsstrategien und nicht um die Vermeidung des Un-vermeidlichen.

All diese Themen waren auch Gegenstand der5. Nationalen Maritimen Konferenz in der vergange-nen Woche in Hamburg, einer, wie ich finde, ausgespro-chen erfolgreichen Veranstaltung, nicht zuletzt auchdank der umsichtigen und kompetenten Leitung durchdie neue maritime Koordinatorin der Bundesregierung,Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Küstenstaatssekre-tärin!)

Wie geht es jetzt weiter? Die Europäische Kommis-sion hat wieder zu Expertengesprächen eingeladen, dieim März stattfinden sollen. Wir müssen wachsam sein,dass bei der EU kein neues Bürokratiemonster geschaf-fen wird. Mir ist wichtig – das sagt auch der Antrag derKoalitionsfraktionen –, dass sich die Bundesregierungim Rahmen der zukünftigen Weiterentwicklung von In-tegriertem Küstenzonenmanagement dafür einsetzt, denunbürokratischen Charakter dieser Kooperation beizube-halten. Das ist auch wichtig, um die Menschen an denKüsten mitzunehmen, die IKZM umsetzen und nutzensollen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Wir gehen davon aus, dass auf dieser Basis eine weitereEU-Richtlinie zu diesem Thema nicht kommt.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist gut!)

Die Bundesregierung hat mit der Vorlage der nationa-len IKZM-Strategie einen wichtigen ersten Schritt getan.Meine Fraktion begrüßt diesen Strategiebericht aus-drücklich. Jetzt stehen die Umsetzung und der Prozesseiner kontinuierlichen Fortentwicklung an. Dazu wollenwir mit unserem Antrag der Koalitionsfraktionen einenBeitrag leisten. Ich bin sicher, er wird bei den Beteiligtenseine Wirkung nicht verfehlen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und für dieGeduld zu dieser späten Stunde.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Reden der Kollegen Dirk Becker, SPD, Angelika

Brunkhorst, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke, RainderSteenblock, Bündnis 90/Die Grünen, nehmen wir zuProtokoll.1)

Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit auf Drucksache 16/3143 zu dem Antrag der Frakti-onen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel„Integriertes Küstenzonenmanagement kontinuierlichfortentwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antragauf Drucksache 16/2502 anzunehmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion beiGegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltungder Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenom-men.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten GrietjeBettin, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN

Den kostenfreien Empfang von Rundfunk viaSatellit sicherstellen

– Drucksache 16/3545 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz

Die Reden sollen insgesamt zu Protokoll genommenwerden. Deswegen brauche ich die Aussprache nicht zueröffnen. Es handelt sich um die Reden der KollegenDorothee Bär und Philipp Mißfelder, CDU/CSU, JörgTauss und Christoph Pries, SPD, Christoph Waitz, FDP,Dr. Lothar Bisky, Die Linke, und Grietje Bettin,Bündnis 90/Die Grünen.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/3545 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Georg Nüßlein, Dr. Christian Ruck, Dr. WolfBauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU sowie der Abgeordneten

1) Anlage 62) Anlage 7

Page 155: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/doc/btp/16/16073.pdf · Dr. Lale Akgün (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7207 A 7207 B 7207 B 7207 B 7208 C 7208 D 7209 A 7209 B 7209

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7353

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, GabrieleGroneberg, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD

Chancen und Herausforderungen der Ost-erweiterung der Europäischen Union (EU) fürdie Entwicklungszusammenarbeit der EU

– Drucksache 16/3807 –

Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommenwerden. Es handelt sich um die Beiträge der KollegenDr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Dr. Bärbel Kofler, SPD,Hellmut Königshaus, FDP, Heike Hänsel, Die Linke, UteKoczy, Bündnis 90/Die Grünen.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und SPD auf Druck-sache 16/3807. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmender FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke sowie Ent-haltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen an-genommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten JensAckermann, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), DanielBahr (Münster), weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP

Dem Beruf des Rettungsassistenten eineZukunftsperspektive geben – Das Rettungs-assistentengesetz novellieren

– Drucksache 16/3343 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

Auch diese Reden werden zu Protokoll genommen.Es handelt sich um die Beiträge der Kollegen Dr. RolfKoschorrek, CDU/CSU, Dr. Margrit Spielmann, SPD,Jens Ackermann, FDP, Frank Spieth, Die Linke,Dr. Harald Terpe, Bündnis 90/Die Grünen.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/3343 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 sowie Zusatz-punkt 9 auf:

19 Beratung des Antrags der Abgeordneten LutzHeilmann, Dorothée Menzner, Heidrun Bluhm,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-KEN

Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Querung –Fährkonzept verbessern

– Drucksache 16/3668 –

1) Anlage 82) Anlage 9

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten RainderSteenblock, Winfried Hermann, Dr. Anton Hof-reiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Statt fester Fehmarnbelt-Querung – Für einökologisch und finanziell nachhaltiges Ver-kehrskonzept

– Drucksache 16/3798 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss

Diese Reden werden ebenfalls zu Protokoll genom-men. Es handelt sich um die Beiträge der Kollegen GeroStorjohann, CDU/CSU, Hans-Joachim Hacker, SPD, Pa-trick Döring, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke, RainderSteenblock, Bündnis 90/Die Grünen.3)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/3668 und 16/3798 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 sowie Zusatz-punkt 10 auf:

20 Beratung des Antrags der Abgeordneten SilkeStokar von Neuforn, Volker Beck (Köln), JerzyMontag, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Einrichtung einer Polizeireformkommission

– Drucksache 16/3704 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss

ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. MaxStadler, Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP

Notwendigkeit einer Defizitanalyse des beste-henden Sicherheitssystems

– Drucksache 16/3809 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss

Diese Reden werden ebenfalls zu Protokoll genom-men. Es sind die Beiträge der Kollegen GünterBaumann, CDU/CSU, Wolfgang Gunkel, SPD, Dr. MaxStadler, FDP, Petra Pau, Die Linke, und Silke Stokar vonNeuforn, Bündnis 90/Die Grünen.4)

3) Anlage 104) Anlage 11

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufDrucksachen 16/3704 und 16/3809 an den Innenaus-schuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destag auf morgen, Freitag, den 15. Dezember 2006,9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluss: 21.36 Uhr)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7355

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Anlagen zum Stenografischen Bericht

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Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

Anlage 2

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Elisabeth Winkelmeier-Becker, Ute Granold, Josef Göppel undSiegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)(alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Ent-wurf eines Gesetzes zur Verbesserung desSchutzes vor Fluglärm in der Umgebung vonFlugplätzen (Tagesordnung 7 a)

Das Fluglärmgesetz trifft nach unserer Auffassungkeine sachgerechte Abwägung zwischen dem Interesseder Flughäfen an gewinnbringendem Betrieb und Pla-nungssicherheit einerseits und dem Recht der Anliegerauf körperliche Unversehrtheit andererseits.

Aufgrund der Ergebnisse der neueren Lärmwirkungs-forschung ist nach unserer Überzeugung davon auszuge-hen, dass insbesondere die Werte, die für Bestandsflug-

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Bierwirth, Petra SPD 14.12.2006

Binder, Karin DIE LINKE 14.12.2006

Bülow, Marco SPD 14.12.2006

Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.12.2006

Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 14.12.2006

Gabriel, Sigmar SPD 14.12.2006

Hilsberg, Stephan SPD 14.12.2006

Merten, Ulrike SPD 14.12.2006

Nitzsche, Henry CDU/CSU 14.12.2006

Dr. Paziorek, Peter CDU/CSU 14.12.2006

Rix, Sönke SPD 14.12.2006

Teuchner, Jella SPD 14.12.2006

Dr. Scheer, Hermann SPD 14.12.2006

Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.12.2006

Wolf (Frankfurt), Margareta

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

14.12.2006

häfen im Sinne des Art. 1 § 2 Abs. 2 Nr. 2 gelten sollen,eine zu hohe Lärmeinwirkung zulassen, bevor den be-troffenen Anwohnern zumindest das Recht auf passivenLärmschutz durch bauliche Maßnahmen eingeräumtwird. Effektivere Grenzwerte entsprechend den für neueoder wesentlich baulich erweiterte zivile Flugplätze vor-gesehenen Werten hätten nicht zu einer wirtschaftlichenÜberforderung der Flughäfen geführt, sondern hätten be-reits durch einen Preisaufschlag je Flugticket von 1 Eurofinanziert werden können.

Die auf Dauer angelegte Ungleichbehandlung vonBestandsflugplätzen im Sinne des Art. 1 § 2 Abs. 2 Nr. 2einerseits und von neuen oder wesentlich baulich erwei-terten zivilen Flugplätzen im Sinne des Art. 1 § 2 Abs. 2Nr. 1 andererseits halten wir für nicht nachvollziehbarund sehen darin einen Verstoß gegen das verfassungs-rechtliche Gleichbehandlungsgebot, Art. 3 GG. Es gehtin beiden Konstellationen um dieselbe Abwägung entge-genstehender Rechtsgüter; gerechtfertigt wäre allenfallseine angemessene Übergangsfrist für Bestandsflughäfen,nicht aber eine Regelung, die die Bestandsflughäfen ge-gen neue Flughäfen mit einem dauerhaften Wettbe-werbsvorteil und Anlieger von Bestandsflughäfen miteiner dauerhaft und erheblich höheren Gesundheitsge-fährdung belegt, als sie den Anliegern neuer Flughäfenzumutbar erscheint.

Aus diesen Gründen werden wir dem Fluglärmgesetzauf der Drucksache 16/508 nicht zustimmen.

Anlage 3

Erklärung nach § 31 GO

des Abgeordneten Michael Hartmann(Wackernheim) (SPD) zur Abstimmung überden Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserungdes Schutzes vor Fluglärm in der Umgebungvon Flugplätzen (Tagesordnungspunkt 7 a)

Die Novellierung des 35 Jahre alten Fluglärmgesetzesist schon lange überfällig. Es liegt jetzt ein Kompromissin den Bereichen passiver Lärmschutz, Siedlungssteue-rung und Rechts- und Planungssicherheit vor, der sowohlfür die Anwohner als auch für die LuftverkehrswirtschaftVerbesserungen bringen soll. Ich begrüße es daher außer-ordentlich, dass dieses Gesetz heute in 2./3. Lesung denDeutschen Bundestag passieren wird. Es bedeutet in Sa-chen passiver Lärmschutz einen Schritt in die richtigeRichtung. Deshalb werde ich dem Gesetz heute zustim-men.

Der aktive Lärmschutz bleibt jedoch auch weiterhinungeregelt. Ich halte es daher für unbedingt notwendig,folgende weiter gehende Lösungen für die fluglärmge-plagten Menschen auf den Weg zu bringen: Reduzierungdes Fluglärms; schärfere Grenzwerte, zum Beispiel100/100-Regelung; größere Lärmschutzzonen; Betriebs-beschränkungen, insbesondere Regelungen zu Nacht-flugverfahren; Förderung des Einsatzes lärmarmer Flug-

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zeuge; neue Anflugverfahren, um dieMindestüberflughöhen den Lärmschutzinteressen derBevölkerung, insbesondere bei Start und Landung, anzu-passen; Festlegung der Flugrouten unter Berücksichti-gung der Fluglärmbelastung der Bevölkerung.

Auch beim passiven Lärmschutz hätte ich mir mehrgewünscht. Leider waren weitere Verbesserungen koali-tionsintern nicht durchsetzbar. Das bedauere ich im Inte-resse aller fluglärmgeplagten Menschen in Deutschland.So bleibt diese Fluglärmnovelle ein Entschädigungsge-setz und kein Fluglärmvermeidungsgesetz. Wir dürfen inunseren Bemühungen, die Gesundheit der Menschen ak-tiv vor Fluglärm zu schützen, nicht nachlassen. DerSchritt im Bereich des aktiven Lärmschutzes muss daherdringend folgen.

Anlage 4

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Mehr Wettbewerbim Schornsteinfegerwesen (Tagesordnungs-punkt 13)

Lena Strothmann (CDU/CSU): „Oh, heiliger SanktFlorian, verschon mein Haus, zünde andere an.“ Das istnicht etwa das Motto der Lobbyisten in der Gesundheits-debatte. Es ist vielmehr einer der bekanntesten Verseüber den Schutzheiligen der Feuerwehr und eben auchder Schornsteinfeger. Diese Verbindung zwischen Feuer-gefahr und Schornsteinfeger ist kein Zufall. Im Jahr2005 gab es in Deutschland 1,2 Millionen Mängel an be-stehenden, über 200 000 Mängel an geänderten und fast190 000 Mängel an neu errichteten Feuerungsanlagen.Dem stehen 3,5 Millionen Feuerwehreinsätze gegen-über.

Das Schornsteinfegerhandwerk hat eine lange Tradi-tion. Auch die rechtlichen Grundlagen reichen weit ins19. Jahrhundert zurück. Aber seit einigen Jahren ist eineheftige Diskussion im Gange. Die Vorwürfe reichen vonGängelung des Bürgers über reine Bürokratie bis hin zuDoppelzahlungen und reiner Besitzstandswahrung.

Schauen wir einmal genauer hin.

Der Bezirksschornsteinfeger hat einen Rechtsstatus,der wesentlich durch öffentlich-rechtliche Elemente ge-kennzeichnet ist. Anders ausgedrückt: Das Schornstein-fegerwesen ist eine besondere Form der Privatisierung,bei der der Staat eine öffentliche Aufgabe einem selbst-ständigen Gewerbetreibenden übertragen hat. Dieses„Contracting-out“ ist doch eigentlich eindeutige FDP-Politik. Dass für diese Übertragung nur eine neutraleInstitution infrage kommt, liegt auf der Hand. Die Neu-tralität darf nicht durch ein Interesse am Verkauf vonneuen Produkten beeinträchtigt werden.

Der hoheitliche Aspekt ist immens wichtig, da erdirekt das Gemeinwohl betrifft, insbesondere in Bezugauf Feuersicherheit und Emissionsschutz. Anders ge-sagt: Die neutrale Überprüfung, die Reinigungstätigkeitund die Beratung dienen der Sicherheit, dem Umwelt-

schutz und – nicht zu vergessen – der Energieeinspa-rung.

Eine klare Aufgabenteilung musste also her: DerInstallateur verkauft, wartet und repariert. Der Schorn-steinfeger prüft und berät. Da sind zwei verschiedeneTätigkeiten. Das Problem ist, dass die Bürger diese Auf-gabentrennung nicht immer erkennen. Und der feine Un-terschied ist: Die Wartungsfirma nimmt die Messungzwar vor, aber nur zur Kontrolle der durchgeführten Ar-beiten. Wer misst, darf nicht warten – und wer wartet,darf nicht messen.

Diejenigen, die das Schornsteinfegermonopol aufhe-ben wollen, müssen sich über die Folgen im Klaren sein.Der Schornsteinfeger hat die Aufgabe, sämtlicheSchornsteine oder Feuerstätten zu überprüfen. OhneAusnahme. Gerade weil es um Sicherheit und Gesund-heit geht, sollten wir nicht darauf setzen, dass die Bürgerfreiwillig eine Schornsteinfeger-Dienstleistung in An-spruch nehmen. Die hohe Kontrolldichte, das Von-Haus-zu-Haus-Prinzip und die damit einhergehende Sicherheitsind dann nicht mehr gewährleistet. Im Jahr 2005 kamenimmer noch 120 Menschen in unserem Land durch einenhäuslichen Unfall mit Kohlenmonoxid-Vergiftung umsLeben; Suizide sind hier ausgeklammert. Diese Zahlwürde ohne die bewährten gesetzlich vorgeschriebenenKontrollen ganz sicher steigen. Und mal Hand aufsHerz: Ohne gesetzliche Vorgabe würden auch ganz si-cher nicht alle regelmäßig zum TÜV fahren.

Mehr Wettbewerb heißt nicht, dass es kostengünstigerwird. In den deutschsprachigen Kantonen der Schweizerfolgte 1996 die Freigabe des Monopols und – diePreise stiegen bis zu 20 Prozent. In Deutschland machendie Schornsteinfegergebühren derzeit bei den Miet-nebenkosten nur 0,5 bis 0,8 Prozent aus, hier wären alsoKostensteigerungen zu erwarten.

Aber trotz aller Traditionen und vielleicht auch Be-sitzstandswahrung steht fest: Veränderungen sind unaus-weichlich. Die EU-Kommission hat bereits im Jahr 2003das Vertragsverletzungsverfahren gegenüber der Bun-desrepublik Deutschland eingeleitet. Am 18. Oktoberdieses Jahres hat sie als zweiten Verfahrensschritt die sogenannte begründete Stellungnahme übermittelt. Zahl-reiche Punkte des FDP-Antrages sind übrigens diesenbeiden Schreiben entnommen. In diesen Tagen muss dieBundesregierung eine Stellungnahme nach Brüssel ge-ben, um eine Klage der EU-Kommission gegen Deutsch-land beim EuGH abzuwenden.

Besondere Kritikpunkte der Kommission sind: Be-schränkung des Zugangs zum Schornsteinfegerberuf;Beschränkung der Ausübung auf nur einen Bezirks-schornsteinfeger pro Bezirk; Verbot einer Tätigkeit au-ßerhalb des Kehrbezirks; Eintragung in eine „Bewerber-liste“; eine mindestens zweijährige Tätigkeit im Betriebeines Bezirksschornsteinfegers im betreffenden Bundes-land innerhalb der letzten drei Jahre; Pflicht zum Nach-weis der gesundheitlichen Eignung; Pflicht, den Wohn-sitz im Kehrbezirk zu nehmen.

Die Eckpunkte für eine Reform des Schornsteinfeger-rechts liegen nun vor; alle Fraktionen wurden informiert.

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Eines ist klar: Wir müssen im nächsten Jahr eine Novellevorlegen. Diese Novelle muss die Dienstleistungs- undNiederlassungsfreiheit umsetzen. Die Tätigkeiten derSchornsteinfeger werden – so die Eckpunkte – auf einenhoheitlichen Kernbereich – auf eine reine Kontrolle – re-duziert. Die restlichen Tätigkeiten werden im Wettbe-werb frei angeboten. Die Residenzpflicht soll genausowie das Nebenerwerbsverbot entfallen.

Ich glaube, dass wir mit diesem Rahmen eine guteLösung haben, die EU-konform ist und die auch demVerbraucher durch mehr Wettbewerb zugute kommt. DasErgebnis findet auch die Unterstützung der Schornstein-fegerverbände.

Der Berufsstand der Schornsteinfeger muss sich die-sem Wettbewerb stellen. Er muss sich seiner eigenen Zu-kunft stellen. Denn dann stimmt auch weiterhin der Slo-gan: „Zum Glück … gibts den Schornsteinfeger“.

Christian Lange (Backnang) (SPD): Den Kollegin-nen und Kollegen von der FDP danke ich für die Gele-genheit, hier das weitere Vorgehen in Sachen Novellie-rung des Schornsteinfegergesetzes vorzustellen. Siekonnte es ja bereits in der „Welt“ vom 7. Dezember 2006nachlesen. Die Bundesregierung hat sich auf Eckpunktezur Novellierung geeinigt.

Damit wird sich auch die EU-Kommission einver-standen erklären können, die eine Änderung des Schorn-steinfegergesetzes angemahnt hatte, um den Bestimmun-gen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit unddie Dienstleistungsfreiheit zu genügen. Eine Klage vordem EuGH wird damit verhindert. Seit dem 12. Dezem-ber 2006 hat die EU-Kommission auch Kenntnis überdie Eckpunkte zur Novellierung des Schornsteinfegerge-setzes, weitere Verfahrensschritte gegen die Bundesre-gierung sind damit ausgeräumt.

Zur Erinnerung: Die EU-Kommission hat mit Schrei-ben vom 2. April 2003 wegen des geltenden Schornstein-fegergesetzes ein Vertragsverletzungsverfahren gegen dieBundesrepublik Deutschland eingeleitet. Die vorherigeBundesregierung hatte bereits Anfang 2005 einen Novel-lierungsvorschlag vorgelegt, der leider aufgrund der Neu-wahlen nicht mehr zum Zuge gekommen ist.

Der Antrag der FDP unterstützt das Ziel der Bundes-regierung, mehr Transparenz und Wettbewerb in dasSchornsteinfegerwesen zu bringen. Die ersten Vorstel-lungen der Bundesregierung werden diesen Anforderun-gen gerecht werden: Der Aufgabenbereich, in dem einBezirksschornsteinfeger im Bezirk ausschließlich tätigsein darf, wird im Vergleich zur derzeitigen Rechtslageziemlich eingeschränkt.

Zur Erklärung: Der Bezirksschornsteinfeger ist einenatürliche Person (keine juristische Person, das heißt zumBeispiel keine GmbH), die mit der Ausführung der ho-heitlichen Schornsteinfegeraufgaben in einem Bezirk be-traut ist. Zu dem Tätigkeitsbereich (hoheitliche Aufga-ben), in dem der Bezirksschornsteinfeger ausschließlichtätig ist, gehören künftig nur noch die Kontrolle der denEigentümern obliegenden Pflichten, Überprüfungsarbei-ten in Bezug auf die Betriebssicherheit sowie auf etwaige

Mängel einer Anlage, einschließlich der Befugnis zum Er-lass einer Mängelbeseitigungs- oder Stilllegungsverfü-gung, sowie die Feststellung der Betriebssicherheit einerFeuerungsanlage. Der Bezirksschornsteinfeger trifft beiden genannten Tätigkeiten abschließende Entscheidun-gen.

Alle diejenigen Schornsteinfegerarbeiten, die keineKontrollaufgaben beinhalten – das sind „Kehrarbeiten“und andere vorbereitende/technische Aufgaben –, wer-den aus dem bisherigen Vorbehaltsbereich herausgenom-men. Sie können bei entsprechender handwerksrechtli-cher Qualifikation frei ausgeführt werden. Die nichthoheitlichen Aufgaben werden damit für den Wettbe-werb geöffnet. Außerdem wird damit die Dienstleis-tungsfreiheit innerhalb der EU uneingeschränkt gewähr-leistet.

Meine Damen und Herren von der FDP – Sie dürftenmit diesen Neuregelungen höchst zufrieden sein. Damitentfällt auch das Gebietsmonopol für die nicht hoheitli-chen Tätigkeiten. Ich denke, wir dürfen uns darüberfreuen, auch wenn selbstverständlich immer auch nochmehr Wettbewerb denkbar wäre. Allerdings ist die Si-cherheit der Feuerungsanlagen ein wichtiges und schüt-zenswertes Gut, das wir nicht so ohne weiteres aus derHand geben dürfen. Die Einstufung der Sicherstellungder Betriebssicherheit von Feuerungsanlagen als hoheit-liche Aufgabe halte ich für angemessen.

Kommt der Eigentümer seiner Verpflichtung, dienach dem Schornsteinfegergesetz und der Kehrordnungvorgeschriebenen Schornsteinfegerarbeiten ausführen zulassen, nicht nach, werden diese ersatzweise durch denBezirksschornsteinfeger ausgeführt.

Es gilt weiterhin die Gebührenordnung, da wir imfreien Preiswettbewerb ein intransparentes System eta-blieren würden, das den Kunden nicht nutzen dürfte. DieGebühren werden sowohl für den Bereich der hoheitli-chen Aufgaben als auch für die ersatzweise Ausführungder „freien“ Schornsteinfegerarbeiten festgelegt. So ha-ben wir ein offenes und für jeden nachvollziehbaresPreissystem.

Die Bezirke werden in Zukunft nicht mehr über Be-werberliste nach dem Prinzip des längeren Wartens, son-dern über ein objektives, transparentes und diskriminie-rungsfreies Ausschreibungsverfahren vergeben. Auch imhoheitlichen Tätigkeitsbereich wird damit mehr Wettbe-werb sichergestellt. Damit entfällt auch die Pflicht dervorherigen Eintragung in die Bewerberliste. Über dieBestellung entscheidet die zuständige Behörde. Die Kri-terien für die Vergabe werden – für jeden nachvollzieh-bar – durch das Schornsteinfegergesetz festgelegt. DieBestellung erfolgt für zehn Jahre. Die Niederlassungs-und Dienstleistungsfreiheit innerhalb der EU ist für Be-werber aus dem europäischen Ausland gewährleistet, in-dem diese an der Ausschreibung von Bezirken teilneh-men können. Es herrscht damit Chancengleichheit füralle. Alle entsprechenden europäischen Qualifikationenund Ausbildungsabschlüsse werden hierbei anerkannt.

Erleichternd für das zukünftige Ausschreibungsver-fahren wird außerdem sein, dass das Erfordernis der vor-

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herigen praktischen Tätigkeit bei einem Bezirksschorn-steinfegermeister zukünftig entfällt. Darüber hinaus wirddie Residenzpflicht, die bisher gilt, aufgehoben. Auchdiese Neuregelung wird den Wettbewerb stärken. DasNebentätigkeitsverbot wird ebenfalls aufgehoben. Damitkönnen Bezirksschornsteinfeger auch in anderen Berei-chen tätig werden. Das ist wichtig, um die Beschneidungihres bisherigen Aufgabenbereiches kompensieren zukönnen. Ergänzend soll im Gesetz deswegen festgelegtwerden, dass der Bezirksschornsteinfeger die Vorbe-haltsaufgaben ordnungsgemäß, gewissenhaft, unabhän-gig und neutral erfüllen muss.

Insbesondere für die Arbeitnehmervertreter dürfte eswichtig sein, zu hören, dass die Anzahl der Bezirke wei-terhin erhalten bleiben soll. Denn es geht nicht nur umWettbewerb und Transparenz, sondern auch um den Er-halt von bestehenden Arbeitsplätzen. Um dies zu ge-währleisten, wird die Anzahl der Bezirke zu einem be-stimmten Stichtag festgeschrieben. Die bisherigeobligatorische Neueinteilung der Bezirke entfällt. Freiwerdende Bezirke werden gleich nach In-Kraft-Tretender Reform ausgeschrieben. Alle Bezirke sollen dann in-nerhalb von zehn Jahren nach In-Kraft-Treten des neuenSchornsteinfegergesetzes ausgeschrieben worden sein.Damit ergibt sich eine faktische Übergangsfrist, die esden Alt-Bezirksschornsteinfegern ermöglichen soll, inden neuen Wettbewerb hineinzuwachsen.

Die bisherigen Regelungen zur Altersversorgung blei-ben bestehen. Es werden lediglich Anpassungen vorge-nommen, die möglicherweise durch die Reform desSchornsteinfegerrechts erforderlich werden.

Die Reform soll zum 1. Januar 2008 in Kraft treten.

Meine Damen und Herren von der FDP: Ich denke,Sie und wir alle werden mit dem noch vorzulegendenGesetzentwurf zufrieden sein können! Denn: SowohlArbeitnehmer- als auch Arbeitgebervertreter sind mitden Vorstellungen der Bundesregierung über eine Novel-lierung des Schornsteinfegergesetzes einverstanden.Bleibt zu hoffen, dass auch die EU-Kommission unsereVorstellungen mit trägt.

Birgit Homburger (FDP): Kurz vor Ablauf der Fristhat die Bundesregierung in Brüssel ihre Eckpunkte füreine Reform des Schornsteinfegerwesens präsentiert.Man darf gespannt sein, wie diese Positionierung inBrüssel aufgenommen wird. Denn mehr Wettbewerbentsteht durch das Modell der Bundesregierung nur be-dingt. Es ist äußerst fraglich, ob Brüssel den Vorschlagakzeptieren wird. Offenbar hofft die Bundesregierungwegen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft auf einemilde gestimmte Kommission. Täuschen Sie sich da malnicht. Denn überspitzt formuliert: Sie wollen aus Hand-werkern Beamte machen.

Sie wollen über die Hälfte der Aufgaben als hoheit-lich definieren. Sie wollen, dass Schornsteinfeger Ver-waltungsakte erlassen können. Da kann man etwas ket-zerisch fragen: Muss der Schornsteinfeger zusätzlich inVerwaltungspraxis geschult werden? Ich bin mir nicht si-cher, ob den Schornsteinfegern die möglichen Konse-

quenzen für ihren Berufsstand überhaupt bewusst sind.Allein beim Kehren wollen Sie einen Wettbewerbs-markt. Glauben Sie tatsächlich, Wettbewerb entsteht,wenn Sie rund 60 Prozent der Tätigkeiten im Monopolbelassen?

Glauben Sie tatsächlich, dass Wettbewerb beim Keh-ren entsteht, wenn der Bezirksschornsteinfeger weiterhindie ordnungsgemäße Ausführung dieser Tätigkeit auchbei seinen Wettbewerbern überwacht? Hoffen Sie, dassBrüssel Ihnen auf den Leim geht? Oder wollten Sie ein-fach nur Zeit gewinnen?

Immerhin wollen Sie an die Bewerberlisten ran. Dasist ein kleiner Fortschritt. Durchschlagend ist der abernoch nicht. Am Monopol der Kehrbezirke halten Sie imKern fest, auch wenn diese jetzt für zehn Jahre ausge-schrieben werden sollen. Es gibt also einen gewissenWettbewerb um den Markt.

Aber nach wie vor gibt es keinen Wettbewerb um dieKunden. Aus Verbrauchersicht heißt das: Weiterhin kannder Dienstleister nicht gewechselt werden. Ob damit einQualitätswettbewerb in Gang kommt, ist äußerst frag-lich. Sie wollen die Gebührenordnung beibehalten.Gleichzeitig wollen Sie, wie gesagt, die Kehrbezirke öf-fentlich ausschreiben. Hier stellt sich die Frage: Sollender Preis bzw. die Kosten bei der Vergabe keine Rollespielen?

Für die FDP-Fraktion bedeuten Ihre Eckpunkte nureinen ersten Schritt. In unserem Antrag haben wir darge-legt, dass ein wettbewerbliches Modell durchaus mög-lich ist. Und in dem einen oder anderen Bundesland wer-den schon konkrete Wettbewerbsmodelle entwickelt.Dabei könnte der Auto-TÜV durchaus als Vorbild die-nen. Auch dort haben wir einen Bereich mit so genannterGefahrenneigung, der durch Institutionen überwachtwird, die im Wettbewerb stehen. Wir sind der Überzeu-gung: Wettbewerb ist auch für die Schornsteinfegerselbst eine Riesenchance. Die FDP-Fraktion will diesenehrbaren Beruf zukunftsfest machen, denn die Schorn-steinfeger sind hervorragend qualifiziert und würden voneiner Marktöffnung profitieren. In einem Wettbewerbs-markt würde auch der Vorschlag der BundesregierungSinn machen, das Nebentätigkeitsverbot der Schorn-steinfeger abzuschaffen. Die Schornsteinfeger könntenihre exzellenten Kenntnisse breiter einsetzen.

Die nach Brüssel gemeldeten Eckpunkte der Bundes-regierung reichen für eine wirkliche Marktöffnung nichtaus. Nach einem eklatanten Fehlstart ist Herr Glos ausder Sommerpause als ordnungspolitischer Paulus ge-kommen. Offenbar verwandelt er sich zum Beginn derWeihnachtspause zurück zum ordnungspolitischen Sau-lus. Seinen marktwirtschaftlichen Ankündigungen fol-gen in der Realität interventionistische Sündenfälle.Wenn der Bundeswirtschaftsminister seinen Wandelernst meint, muss er bei der Reform des Schornsteinfe-gerwesens schleunigst nachbessern.

Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Schornsteinfe-ger, das ist kein Beruf des letzten Jahrhunderts. Auch dieneuen Öl- und Gasheizungen müssen verantwortungs-

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voll überprüft werden. Es geht um Fragen der Umwelt,Energie und Sicherheit. Dinge, die man nicht einfachdem Wettbewerb freigeben kann, wie es die FDP in ih-rem Antrag fordert und wie es auch die EU-Kommissionwill. Wir sind aber nichts anderes gewöhnt.

Aus guten Gründen legt das Schornsteinfegergesetzbewusst Kehrbezirke fest, in denen nur ein Bezirks-schornsteinfegermeister die Kehr- und Überprüfungsauf-gaben vornimmt. Im Kern ist das eine hoheitliche Auf-gabe. Hier soll die Einhaltung staatlich festgelegterGrenzwerte objektiv überprüft werden. Mit staatlichfestgelegten Gebühren. Eigeninteressen von privaten In-stallationsfirmen bleiben hier zu Recht außen vor.

Schon der Begriff „Schornsteinfegermonopol“ ist ge-nau genommen völlig fehl am Platz. Es geht um unsereSicherheit. Das dürfen wir nicht vergessen. Wir könnendoch unsere Sicherheit nicht dem Wettbewerb opfern!

Was sind die Erfahrungen der Liberalisierungen inden anderen Ländern? In der Schweiz sind nach der Frei-gabe des Schornsteinfegerhandwerks in den Markt diePreise um 20 Prozent gestiegen. Deswegen und im Inte-resse der Brandverhütung und des Umweltschutzes wirddort wieder umgedacht und das Kaminfegermonopol alsnotwendig erachtet. Ähnlich aus anderen Ländern: 2003betraute die polnische Regierung das Schornsteinfeger-handwerk wieder mit der Kehr- und Kontrollpflicht.Nachdem diese 1989 abgeschafft wurde, kam es zu ver-mehrten Brandschäden, -unfällen und -toten.

Meine Damen und Herren von der FDP, ich empfehleIhnen, sich die Statistiken der EU-Länder über Vergif-tungen durch Kohlenmonoxid anzuschauen. Deutsch-land weist hier die niedrigste Rate auf. All dies geht aufdie Arbeit unserer Bezirksschornsteinfeger zurück.

Anstatt diese bewährten Regelungen auf andere Län-der zu übertragen, hat die EU-Kommission ein Vertrags-verletzungsverfahren gegen Deutschland eröffnet. DieFrage ist nun: Wie verhält sich die Bundesregierung?

Die Linke ist der Meinung, Schornsteinfeger erledi-gen im Kern sicherheitsrelevante und hoheitliche Aufga-ben. Diese gehören – bei allen Änderungen, die auchFachverbände und -innungen anregen – vor dem Wettbe-werb geschützt. Wenn dies nicht gewährleistet ist, dannsollte die Bundesregierung vor den Europäischen Ge-richtshof ziehen.

Wir sehen uns hier im Einklang mit der Bevölkerung,in der der Schornsteinfeger ein hohes Ansehen genießt.Nach einer Meinungsumfrage des Forsa-Instituts sindneun von zehn Bundesbürgern mit ihrem Schornsteinfe-ger zufrieden. Ähnlich viele halten die Überprüfungenund Arbeiten des Schornsteinfegerhandwerks für not-wendig und sinnvoll.

Auch bei beim Schornsteinfegerhandwerk geht es umdie Frage: Wollen wir ein solidarisches Europa oder einEuropa des Sozial- und Umweltdumpings?

Die Regierung muss sich entscheiden.

Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Die Bezirksmonopole der Schornsteinfeger passen nichtin das europäische Wettbewerbsrecht Die Kommissionhat das seit 2003 laufende Vertragsverletzungsverfahrenim Oktober verschärft, weil die Koalition nicht in derLage war, sich auf einen EU-konformen Gesetzentwurfzu verständigen. Die Koalition hatte größte Schwierig-keiten, sich auf Eckpunkte für eine EU-konforme No-velle zu einigen. Erst heute hat sie es geschafft.

Dabei versucht die Bundesregierung, die Anforderun-gen des europäischen Rechts zu erfüllen, ohne mehrWettbewerb als unbedingt notwendig zuzulassen.

Die Bundesregierung hält an dem Prinzip der Mono-pole der Bezirksschornsteinfeger fest. Die Monopolewerden zeitlich unbefristet vergeben. Verbraucherinnenund Verbraucher werden weiterhin keine Möglichkeithaben, sich einen Schornsteinfeger auszuwählen undetwa einen aus dem benachbarten Kehrbezirk zu beauf-tragen. Wettbewerb findet nicht statt. Heizungsmonteuredürfen die notwendigen Überprüfungen und Messungennicht übernehmen, auch wenn sie zum Beispiel im Rah-men eines Wartungsvertrages ohnehin regelmäßig dieHeizungsanlage überprüfen.

Die Bundesregierung findet auch in diesem Rechtsbe-reich nicht die Kraft zu umfassendem Bürokratieabbau.

Bündnis 90/Die Grünen treten für mehr Wettbewerbauch bei den Schornsteinfegern ein. Das System der Ge-bietsmonopole ist unzeitgemäß. Verbraucherinnen undVerbraucher sollten die Möglichkeit erhalten, zum Bei-spiel besonders in öko-effizienten Heiztechniken qualifi-zierte Schornsteinfeger zu beauftragen.

Wir halten nichts von Bezirksmonopolen. Der Nach-weis der Durchführung der notwendigen Messungenkann gegenüber den Behörden auch auf anderem Wegedokumentiert werden. Zertifizierte Heizungsmonteureund Schornsteinfeger können diese Aufgaben erfüllen.Die Tätigkeitsbereiche können perspektivisch miteinan-der verschmolzen werden.

Die große Koalition zeigt einmal mehr, dass es ihrnicht um Wettbewerb und Zugangsgerechtigkeit, son-dern um die Bewahrung des Bestehenden geht. Mono-pole werden verteidigt, diejenigen, die davon profitieren,sollen nicht dem Wettbewerb ausgesetzt, sondern ge-schützt werden.

Anlage 5

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zumPfändungsschutz der Altersvorsorge und zurAnpassung des Rechts der Insolvenzanfechtung(Tagesordnungspunkt 14)

Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Schon in meinerRede zur ersten Lesung habe ich darauf hingewiesen,dass in diesem Gesetzentwurf an sich zwei Materien mit-einander vermischt werden, die keinen direkten Bezugzueinander haben. Daher war es nur folgerichtig, auch

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zwei Anhörungen zu dem Gesetzentwurf durchzuführen,einmal zum Pfändungsschutz und zum anderen zur In-solvenzanfechtung.

So unterschiedlich, wie die Themen sind, verliefenauch die beiden Anhörungen. Während bei der Anhö-rung zum Pfändungsschutz die Sachverständigen fastdurch die Bank von einer guten und wichtigen Sachesprachen und nur noch im Detail Änderungsvorschlägehatten, sah dies für den Punkt Insolvenzanfechtung deut-lich anders aus. Hier gibt es daher noch erheblichen Ge-sprächsbedarf. Folgerichtig ist es daher auch, dass wirheute in zweiten und dritten Lesung wieder trennen, wasnicht zusammengehört.

Lassen Sie mich zunächst zu dem heute inhaltlich zuverabschiedenden Gesetzentwurf zum Pfändungsschutzkommen. Heute ist ein guter Tag für den Mittelstand inDeutschland. Mit der Verabschiedung des Gesetzent-wurfs sichern wir den Selbstständigen in Deutschlandeine Versorgung im Alter. Damit ersparen wir es zukünf-tig beispielsweise dem Handwerksmeister, der nach30 Jahren Geschäftstätigkeit und Einzahlung zum Bei-spiel in eine private Rentenversicherung unverschuldetin die Insolvenz gerät, den Gang zum Sozialamt. Baldwerden seine Beiträge in dem Umfang – aber auch nur indem Umfang – geschützt, wie sie auch für abhängig Be-schäftigte pfändungssicher sind.

Wenn wir die Menschen in unserem Land dazu bewe-gen wollen, mehr eigene Vorsorge für das Alter zu be-treiben, können wir ihnen auf der anderen Seite nichteinen Schutz der eingezahlten Gelder gänzlich vorent-halten. Menschen, die den Weg in die Selbstständigkeitgehen, nehmen ein hohes Risiko auf sich. Gleichzeitigsind sie es, die neue Arbeitsplätze schaffen. Wollen wirdie Menschen in ihrer Risikobereitschaft unterstützen,dann sollten wir ihnen für ihre Altersrente nicht jeglicheSicherheit nehmen.

Die Altersvorsorge in Deutschland steht auf drei Pfei-lern. Neben der gesetzlichen Rente stehen die Betriebs-rente und die Privatrente. Bei der privaten Rente erlebenwir zurzeit eine kurios anmutende Ungleichbehandlung.Während der sozialversicherungspflichtig Beschäftigteauch seine selbstständig abgeschlossene private Alters-vorsorge vor den Zugriff der Gläubiger bis zu einem ge-wissen Grad schützen kann, hat der Selbstständige die-ses Recht nicht. Dass gerade einem Selbstständigen derSchutz seiner Altersvorsorge vorenthalten wird, wollenwir als Koalitionsfraktion nicht länger hinnehmen.

Nach der Formulierung des Gesetzentwurfs der Bun-desregierung war zu befürchten, dass sich der Pfän-dungsschutz auf Kapitallebensversicherungen und pri-vate Rentenversicherungen beschränken würde. DerGesetzgeber macht aber dem Selbstständigen bei derWahl seiner Produkte für die Absicherung im Alter zuRecht keine Vorschriften. Wir wollen und dürfen überden Pfändungsschutz der Altersvorsorge nicht be-stimmte Vorsorgeprodukte zulasten anderer privilegie-ren, die die gleiche Sicherheit bieten. Letztendlich gibtes keinen sachlichen Grund, einen engen Rentenbegriffzu wählen. Das hat der Gesetzgeber auf einem anderenFeld bereits erkannt. Bei der Riesterrente kennt man eine

derartige Einschränkung nämlich nicht. Hier kann auchauf Bank- und Fondssparpläne zurückgegriffen werden.

Die Herausnahme des Begriffs „Rente“ aus dem Ge-setzentwurf dient daher der Klarstellung, dass derSelbstständige nicht in der Wahlfreiheit seiner Altersvor-sorge eingeschränkt wird, sofern der abgeschlosseneVertrag die Auflage erfüllt, zu einer lebenslangen Aus-zahlung zu führen.

Ein weiterer Punkt, der von fast allen Sachverständi-gen vorgeschlagen wurde, war die Einbeziehung derHinterbliebenenversorgung in den Pfändungsschutz.Diese war im ursprünglichen Regierungsentwurf nichtvorgesehen. Hier herrscht in der Tat Handlungsbedarf.Insbesondere in kleineren Betrieben ist es oft so, dasszum Beispiel die Ehefrau im Unternehmen des Mannesmitarbeitet. Eine eigene Altervorsorge für sie wird in derRegel aber nicht abgeschlossen. Stattdessen wird in dieLebensversicherung des Unternehmers ein Passus aufge-nommen, der die Alterabsicherung des Ehepartners si-cherstellt. Daher war es richtig und wichtig, an dieserStelle nachzubessern, um die betroffenen Ehepartnerebenfalls abzusichern. Wer im Familienunternehmenmitarbeitet, soll auch im Alter mit abgesichert sein.

In der gestrigen Rechtsausschusssitzung wurde vonder Opposition die Einfügung einer Definition des Hin-terbliebenenbegriffs gefordert und inhaltlich verlangt,gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften in dieseDefinition aufzunehmen. Auch wenn es sich hierbei umeine Einzelfrage mit nur sehr geringer praktischer Be-deutung handelt, hierzu noch gerne ein paar Worte: DieEinbeziehung des Lebenspartners findet sich im Renten-recht bislang nur bei der gesetzlichen Rente wieder. Mitdem Pfändungsschutz für die private Altersvorsorge be-wegen wir uns als Gesetzgeber hier und heute aber ge-rade nicht im Bereich der gesetzlichen Rentenversiche-rung. In der Säule der privaten Rentenversicherungfindet sich bei der Riesterrente, die staatlich durch dasGesetz über die Zertifizierung von Altersvorsorgeverträ-gen bestimmt ist, ein Hinterbliebenenbegriff ohne Le-benspartner. Das gilt ebenso für das Einkommensteuer-gesetz und ist wichtig wiederum für die Rüruprenten. Eswäre sicher keine gute Idee für den Gesetzgeber, inner-halb einer Säule mit verschiedenen Hinterbliebenenbe-griffen zu operieren.

Die unterschiedlichen Säulen der Altersvorsorge kannder Gesetzgeber allerdings durchaus unterschiedlich re-geln. Nur innerhalb einer Säule muss der Staat auf eineGleichbehandlung achten, sodass der Hinterbliebenen-begriff des Zertifizierungsgesetzes aus meiner Sichtmaßgeblich bleibt.

Ich habe aber durchaus Verständnis dafür, wenn mandie Frage der Einbeziehung von Lebenspartnerschaftenin den Schutzkreis der Altersvorsorge schon im Gesetz-gebungsverfahren noch deutlicher klären will. Zu die-sem Zweck haben Grüne und FDP Änderungsanträgezum Gesetzentwurf gestellt. Die Grünen haben ferner ei-nen Änderungsvorschlag als Formulierungshilfe für dieBundesregierung gemacht. Diese Anträge wurden imRechtsausschuss des Bundestages mit der Mehrheit derKoalitionsfraktionen abgelehnt. Insofern dürfte auf Be-

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treiben der Opposition hin eine gewisse Klarstellung er-reicht sein, wenn auch nicht in Ihrem Sinne.

Ein Erfolg ist bei diesem Gesetz aber nicht nur derTeil, den wir heute beschließen, sondern auch der Teil,den wir herausstreichen werden. Wir haben gut daran ge-tan, heute nur Änderungen zum Pfändungsschutz zu ver-abschieden. Der Teil „Insolvenzanfechtung“ bedarf nocheingehender Beratungen. Die Sachverständigen erteiltenin der Anhörung des Rechtsausschusses den vorgeschla-genen Änderungen, die de facto Finanzämter und Sozial-versicherungsträger begünstigen, eine klare Absage. Beiden anstehenden Gesprächen mit den Kollegen aus demSozial- und Finanzausschuss werden wir darauf Acht ge-ben, dass die öffentlichen Gläubiger keine unangemes-sene Vorrangstellung gegenüber den anderen Gläubigernerhalten werden. Aber es darf natürlich auch nicht zu ei-nem Missbrauch von Insolvenzregelungen zulasten deröffentlichen Gläubiger kommen.

Hier gibt es im neuen Jahr noch einiges zu tun. Ichfreue mich dabei auf einen konstruktiven Dialog mit denBerichterstattern der Fraktionen dieses Hauses.

Dirk Manzewski (SPD): Wir debattieren hier heutein abschließender Lesung über den Gesetzentwurf derBundesregierung zum Pfändungsschutz der Altersvor-sorge und zur Anpassung des Rechts der Insolvenzan-fechtung. Das Negative an diesem Gesetzesentwurf war,dass er zwei Rechtsbereiche umfasste, die inhaltlich garnichts miteinander zu tun haben und die – jeder für sichgenommen – bereits genug Probleme beinhalteten. DasPositive ist, dass sich an diesem Gesetzentwurf gezeigthat, das unser Parlamentarismus funktioniert.

Wir haben zu den beiden Rechtsbereichen des Gesetz-entwurfs jeweils eine Anhörung durchgeführt und dieResultate hieraus mit in unser Ergebnis einfließen las-sen. Soweit es die Anpassung des Rechts der Insolven-zanfechtung betrifft, hat die Anhörung unsere Bedenkenbestätigt. Hierdurch wäre nicht nur die so genannteGläubigergleichbehandlung nicht mehr gewährleistet ge-wesen; die beabsichtigten Regularien hätten auch dazugeführt, dass es in viel weniger Fällen als bisher über-haupt noch zu einer Eröffnung des Insolvenzverfahrensgekommen wäre. Um es noch deutlicher zu sagen: Vielmehr Firmen als heute hätten eine Insolvenz nicht mehrüberlebt.

Die angedachten Vorschriften zur Insolvenzordnunghaben wir deshalb zunächst entfallen lassen. Aus dengleichen Gründen konnte auch der im Jahressteuergesetzangedachte § 251 AO vermieden werden. Gemeinsammit unseren Finanz- und Sozialpolitikern werden wir je-doch gemeinsam nach Lösungen suchen, um Verlusteder Sozialkassen durch das Insolvenzrecht zumindest zuminimieren.

Soweit es den Pfändungsschutz der Altersvorsorgebetrifft, hat die Anhörung deutlich gemacht, dass es sichinsoweit um einen guten Gesetzentwurf handelt, der– nach sich aus der Anhörung ergebenden Korrekturen –als sehr guter Gesetzentwurf heute hoffentlich verab-schiedet wird. Es ist nicht gerecht, dass der Staat einem

Selbstständigen im Falle einer extensiven Pfändung mitSteuermitteln aushelfen muss, obwohl dieser eigentlichfürs Alter privat vorgesorgt hatte. Ich teile daher dieAuffassung der Bundesregierung, dass hier ein wirksa-mer Pfändungsschutz notwendig ist, um Sozialbedürftig-keit aufgrund von Zwangsvollstreckungen zu verhin-dern.

Zudem wird hierdurch dem Gesichtspunkt derGleichbehandlung entsprochen, da die öffentlich-rechtli-chen Rentenleistungen dem Pfändungszugriff so nichtunterliegen. Hinzu kommt, dass hierdurch ein weitererAnreiz für eine private Altersvorsorge geschaffen wird,und zwar nicht nur für Selbstständige, sondern auch fürdie Bezieher gesetzlicher Renten als weitere Säule. Diepolitische Forderung nach privater Vorsorge wird diesesGesetz damit tatkräftig unterstützen.

Damit der neu eingeführte Pfändungsschutz nun nichtdazu ausgenutzt wird, Vermögenswerte rechtsmiss-bräuchlich dem Gläubigerzugriff zu entziehen, machtder Gesetzentwurf völlig zu Recht deutlich, dass derPfändungsschutz selbstverständlich nur auf das Vorsor-gekapital beschränkt wird, das unwiderruflich der Al-tersvorsorge gewidmet ist.

Nur folgerichtig ist es deshalb, den Pfändungsschutzauf einen Bedarf zu begrenzen, der für die Existenzsi-cherung im Alter notwendig ist. Es geht um Existenzsi-cherung und nicht um Vermögensaufbau.

Richtig ist deshalb auch, dass durch das Gesetz ge-währleistet wird, dass die Leistung erst mit Eintritt desRentenfalls bzw. nicht vor Vollendung des 60. Lebens-jahrs oder bei Berufsunfähigkeit erbracht wird und nichtden Bestimmungen eines Dritten, außer für den Todes-fall, unterliegen darf. Anders als im ursprünglichen Ge-setzentwurf vorgesehen, gilt Letzteres jedoch nicht fürdie Hinterbliebenen des Schuldners. Auch diese werdenzukünftig von der neuen Regelung profitieren können.

Soweit hier heute Streit über den Begriff „Hinterblie-bene“ entbrannt ist, stelle ich für meine Fraktion klar,dass wir diesen Begriff so interpretieren, wie er von derhöchstrichterlichen Rechtsprechung in zahlreichen Ent-scheidungen definiert worden ist. Gut finde ich zudem,dass sich der Pfändungsschutz nunmehr nicht nur aufLebens- oder private Rentenversicherungen beschränkensoll. Die Altersvorsorge soll geschützt werden, nicht dasProdukt, und es ist nun einmal nicht von der Hand zuweisen, dass es für die Betroffenen interessantere Vor-sorgemöglichkeiten gibt. Zu Recht wurde dann auch dertatsächliche Kapitalbedarf der unpfändbaren Beträgenochmals überprüft und der heutigen Zeit angepasst.

Ich möchte mich bei Ihnen und dem BMJ für die kon-struktive Zusammenarbeit bedanken und bitte um Zu-stimmung für das Gesetz.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):Gerne hätten wir dem Gesetz zugestimmt, nachdem esgelungen war, ihm die Giftzähne zu ziehen. Diese Gift-zähne betrafen das Insolvenzrecht.

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In einer für die Bundesregierung vernichtenden An-hörung kamen die Selbstständigen aus Wissenschaft undWirtschaft, aus Justiz und Anwaltschaft unisono zu demErgebnis, dass die geplante Privilegierung des Fiskusund der Sozialkassen abzulehnen sei. Von, so wörtlich,der Zerstörung einer 120-jährigen Rechtskultur, vomRückfall in das 19. Jahrhundert und von mittelstands-feindlicher Gesinnung war die Rede.

Ich danke ausdrücklich den Rechtspolitikern der großenKoalition, dass Sie sich dieser Einsicht nicht verschlos-sen haben und dass Sie gegen Ihre eigene Bundesregie-rung und gegen Ihre eigenen Sozial- und FinanzpolitikerIhren Beitrag dazu geleistet haben, dass dieses Vorhabennicht weiter verfolgt worden ist.

Beim zweiten Teil des Gesetzentwurfs, beim Pfän-dungsschutz der Altersvorsorgen war die Vorlage ein-deutig besser. Hier sind Sie den Empfehlungen der Sach-verständigen gefolgt, die Hinterbliebenen in denPfändungsschutz einzubeziehen. Für eine Gleichstellungder Lebenspartner mit Ehegatten fehlte Ihnen dann aberdie Kraft. Dass Sie sich damit wieder einmal selbst imWege gestanden haben, ist umso bedauerlicher, weil dasGesetz eben durchaus Gutes enthält. Die Richtungstimmt. Gläubiger- und Schuldnerinteressen werden zueinem gerechten Ausgleich gebracht, die Kultur derSelbstständigkeit wird gefördert und Selbstständige wer-den davor bewahrt, am Ende ihres Berufslebens auf steu-erfinanzierte Transferleistungen angewiesen zu sein. Dasliegt auch im Interesse der steuerzahlenden Allgemein-heit.

Auch die Änderungen, die sich aus der Sachverständi-genanhörung ergeben haben, gehen in Ordnung. Die Er-weiterung des Anlagespektrums über Lebensversiche-rungen und private Rentenversicherungen hinaus wirdvon der FDP ebenso mitgetragen wie die Erhöhung desunpfändbaren Betrages.

Leider können wir dem Gesetzentwurf dennoch nichtzustimmen, da Sie sich wider besseres Wissen der Ein-sicht verschließen, dass eine Gleichstellung nach demGleichbehandlungsgrundsatz zwingend erforderlich ge-wesen wäre. Dies hat auch das Bundesjustizministeriumin seiner Formulierungshilfe vom 27. November 2006ausdrücklich so festgestellt. Dort heißt es – ich zitierewörtlich –: Als Ergebnis der Anhörung des Rechtsaus-schusses wird der Lebenspartner aus verfassungsrecht-lichen Gründen – Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz – dem Ehe-gatten gleichgestellt. – Davon ist jetzt keine Rede mehr.Stattdessen heißt es jetzt in der Begründung geheimnis-voll: Hinterbliebene sind zumindest der Ehegatte, dieKinder und die Pflegekinder des Schuldners.

Wer so formuliert, formuliert unklar. Sagen Sie esdoch offen heraus: Sie wollen keine Einbeziehung vonLebenspartnern. Sie verhalten sich widersprüchlich zudem von Ihnen beschlossenen AGG.

Zu diesem Punkt hat die FDP noch einen Änderungs-antrag eingebracht. Wenn dieser heute keine Mehrheitfindet, müssen wir uns bei der Abstimmung über denGesetzentwurf leider enthalten.

Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Meine Fraktionwird sich zum vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zumPfändungsschutz der Altersvorsorge in der Fassung deraktuellen Formulierungshilfe enthalten. Das hätte sehrleicht anders kommen können und es sah bis vorgesternMorgen auch noch völlig anders aus. Beinahe nämlichwäre dieses Gesetzgebungsverfahren zu einem lehrrei-chen Vorbild für einen echten parlamentarischen Diskursgeraten.

Wir waren an einem Punkt, wo wir einem Gesetz, dasdurchaus noch Wünschenswertes offen ließ, dennoch un-sere Zustimmung gegeben hätten. Denn ganz entgegenden üblichen Gepflogenheiten gab es zu diesem Gesetz-entwurf im Verfahren des Rechtsausschusses echte in-haltliche Beratungen. Es gab echte inhaltliche Auseinan-dersetzungen mit den Argumenten der Opposition undmit den Einwänden und Vorschlägen der geladenenSachverständigen.

Für eine ganz kleine Weile gewannen wir den Ein-druck, dass selbst die Abgeordneten der Koalition nichtmehr gewillt waren, die Gesetzgebungsvorschläge derRegierung kritiklos zu übernehmen, sondern zum Wohleder Bürgerinnen und Bürger lieber ihre eigenen frei ge-wählten Köpfe anstrengten.

Wie fruchtbar dieser Ansatz sein kann, möchte ich Ih-nen in der Kürze der Zeit an vier Beispielen illustrieren.

Der ursprüngliche Gesetzentwurf sah eine Neufas-sung des § 131 Insolvenzordnung vor, in deren Folgesich der Fiskus unanfechtbar mit seinen Ansprüchen ander Insolvenzmasse eines angeschlagenen Unterneh-mens hätte schadlos halten können. Genau diese Selbst-privilegierung der öffentlichen Hand hatte der DeutscheBundestag – gemeinsam mit der veralteten Konkursord-nung – im Jahre 1993 aus guten Gründen und unter Bei-fall der Fachwelt abgeschafft. Sachverständige und Op-position hatten deshalb frühzeitig darauf hingewiesen,dass die „Wiederanschaffung“ des Fiskusprivilegs daseigentliche Kernanliegen des Regelinsolvenzverfahrenssabotiere.

Kernanliegen des Regelinsolvenzverfahres ist es, dieangeschlagenen Unternehmen nach aller Möglichkeitwieder auf die Füße zu bringen, damit deren Beschäf-tigte auch weiterhin in Lohn und Brot verbleiben. Davonprofitiert im Übrigen auch die Liquidität der öffentlichenKassen am dauerhaftesten. Diese Argumente griffen.Der Neufassungsvorschlag des Ministeriums wurde er-satzlos gestrichen.

Im Ausschuss wurde weiter eingewendet, dass die imEntwurf vorgesehene Höhe des pfändungsgeschütztenBetrages für die Altersvorsorge auf veralteten Berech-nungen fußte. Auch dieser Einwand stieß auf Gehör. DieHöchstbeträge wurden heraufgesetzt. Im Ausschusswurde darüber diskutiert, den Pfändungsschutz auch aufdie Hinterbliebenen des Gläubigers ausdrücklich auszu-dehnen. Auch diese Überlegungen sind heute Teil desEntwurfstextes.

Wir erzielten schließlich eine Einigung darüber, dassder Pfändungsschutz zugunsten von Ehepartnern selbst-verständlich auch auf Lebenspartner Anwendung findet.

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Gerade diese Klarstellung war der Linksfraktion eineechte Herzensangelegenheit. In der Entwurfsbegründungwurde auch ganz richtig festgehalten, dass Art. 3 desGrundgesetzes die Gleichstellung von Lebenspartnernzwingend erforderlich macht. Umso ärgerlicher stimmendie vorgestrigen – überstürzten – Änderungen am Ent-wurf, nach denen die ausdrückliche Gleichstellung vonLebenspartnern nun wieder aus dem Entwurf ver-schwunden ist. Es findet sich im Übrigen kein Wortmehr von Art. 3 des Grundgesetzes.

Ganz offenbar ist es der CDU/CSU-Fraktion in letzterSekunde doch noch gelungen, ihren Koalitionspartnervom Steuer zu schubsen und das Staatsschiff in Richtungmoralische Vergangenheit zurückzusteuern. Liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der CDU/CSU, welche Veran-lassung hatten Sie eigentlich, ein ansonsten gelungenesGesetzesvorhaben in letzter Sekunde mit angestaubten,altkonservativen Dogmen zu belasten?

An der Verfassung kann es jedenfalls nicht gelegenhaben. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen bestä-tigt, dass die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichenLebensgemeinschaften im Einklang mit dem Schutzauf-trag des Art. 6 des Grundgesetzes steht.

Ich hoffe daher sehr, dass die Gerichte bei der An-wendung dieses Gesetzes – angesichts seines nun unkla-ren Wortlautes – trotzdem weiterhin von einer umfassen-den Gleichstellung der Lebenspartnerschaften ausgehen.

Ich sagte eingangs: Dieses Gesetzesvorhaben hätteTestcharakter für den parlamentarischen Wettstreit umdie besten Ideen haben können. Der Test verlief in wei-ten Teilen glücklich und scheiterte am Ende doch an ei-nem Spielverderber: der CDU/CSU-Fraktion.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Der Pfändungsschutz der Altersvorsorge fürFreiberufler und Selbstständige soll nun ausgeweitetwerden. Ähnlich wie bei der gesetzlichen Rentenversi-cherung soll die Alters- und Hinterbliebenenrente unterbestimmten Voraussetzungen vor Vollstreckung ge-schützt werden. Das ist ein vernünftiger Schritt, derlängst fällig ist.

Der erste Entwurf der Bundesregierung hatte jedocherhebliche Mängel: Beispielsweise blieben die Hinter-bliebenen vollständig unberücksichtigt. Bestimmte Al-tersprodukte wie die Lebensversicherung wurden einsei-tig bevorzugt. Die Berufsunfähigkeit war von derAltersvorsorge ausgenommen.

Nach einhelliger Kritik von uns und nahezu allenSachverständigen wurde eine vollständig neu überarbei-tete Fassung vorgelegt. Dies betrifft auch das Insolvenz-recht. Wir Grünen hatten die geplanten Regelungen vonAnfang an deutlich kritisiert. Unterstützung erhielten wirvon nahezu allen Sachverständigen in der Anhörung desRechtsausschusses. Wir begrüßen es, dass die Große Ko-alition die Gläubigergleichbehandlung fortsetzen will.Denn sie hat sich seit der großen Insolvenzrechtsreformbewährt. So weit, so gut.

Beim Pfändungsschutz hatten wir den Geltungsbe-reich auch für die Hinterbliebenen gefordert, für Kinder,Lebenspartner und Ehegatten. Ohne diesen Pfändungs-schutz droht die Existenzsicherung der Hinterbliebenenzu zerbrechen. Diese Kritik hatten wir bei der Anhörunggeäußert. Es war eine gute Erfahrung, dass die Formulie-rung des Justizministeriums in dem Entwurf zugunstender Hinterbliebenen geändert wurde, nachdem Kritikvon allen Seiten geäußert wurde.

Danach bekam die Union kalte Füße. CDU und CSUerinnern sich an ihre ideologischen Vorbehalte gegen-über Homosexuellen. Nach tagelangem Hin und Herfolgte der Rückzieher: Pfändungsschutz für hinterblie-bene Ehegatten ja, für hinterbliebene Lebenspartner ersteinmal nein. – Schließlich gibt es doch Gerichte, die sichdamit beschäftigen können.

Damit will die Union den Pfändungsschutz von dersexuellen Orientierung abhängig machen! Ist die Witwehetero, schützt der Staat vor dem Zugriff der Gläubiger.Ist die Witwe lesbisch, hat sie Pech gehabt und die Gläu-biger dürfen sich bei ihrer Hinterbliebenenrente bedie-nen.

Der Verstoß gegen das allgemeine Gleichbehand-lungsgebot in Art. 3 GG ist offensichtlich. Auch mit demneuen Allgemeinen Gleichstellungsgesetz ist es kaum zuvereinbaren, in der Zivilprozessordnung nach der sexu-ellen Orientierung zu unterscheiden. So sah es im Übri-gen auch das Justizministerium.

Und wie reagiert die SPD? Bereits bei der Diskussionum die Beihilfe und das Personenstandsrecht und dieStandesamtzuständigkeiten hat sie gezeigt, dass ihr nichtmehr viel an den Rechten von Lesben und Schwulen zuliegen scheint. Es gibt also ein bisschen Streit in der Ko-alition, am Ende knickt die SPD ein und verzichtet aufeine Definition der geschützten Hinterbliebenen.

Damit drücken sich die Koaltionsfraktionen vor ihrerVerantwortung als Gesetzgeber und schieben die Be-stimmung der geschützten Hinterbliebenen an die Ge-richte ab. Jetzt muss jede und jeder Betroffene seineRechte einzeln bei Gericht durchsetzen.

Der Streit in der Koalition macht deutlich, dass dieUnion mit ihrem veralteten Familienbild Schwule undLesben diskriminieren will.

Daher mein eindringlicher Appell an die Kolleginnenund Kollegen von der SPD: Lassen Sie es nicht zu, dassdie Union ihre ideologische Verbohrtheit auf dem Rü-cken der Hinterbliebenen austrägt! Denn es gibt keinensachlichen Grund, Schwule und Lesben vom Pfändungs-schutz auszuklammern!

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei derBundesministerin der Justiz: Wir wollen, dass Selbst-ständige, die für ihre Altersvorsorge gearbeitet haben, imAlter nicht von Sozialleistungen abhängig sind – auchdann nicht, wenn sie mit ihrem Unternehmen gescheitertsind. Die weiteren Änderungen der Insolvenzordnungaus dem Regierungsentwurf sollen nach der Beschluss-empfehlung des Rechtsausschusses nicht weiter verfolgt

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werden. Das ist die richtige Entscheidung, weil wir soohne Zeitdruck ausloten können, ob wir etwas tun müs-sen und wenn ja, was wir tun müssen, um bestimmtenöffentlich-rechtlichen Gläubigern zu helfen, ihre Aus-fälle im Insolvenzverfahren zu minimieren. Der KollegeManzewski ist bereits initiativ geworden und hat mitFachleuten erste Gespräche geführt.

Der Pfändungsschutz der Altersvorsorge wird na-hezu einhellig begrüßt. Dies gilt auch für die Änderun-gen am Regierungsentwurf: etwa die Anhebung des ge-schützten Kapitals von 194 000 auf 238 000 Euro unddie Einbeziehung anderer Versorgungsmöglichkeitenneben der Lebensversicherung oder der privaten Ren-tenversicherung. Für richtig halte ich die Entscheidung,auch Hinterbliebene in den Pfändungsschutz einzube-ziehen. Es wäre unzureichend, wenn man lediglich denSchuldner selbst vor Pfändung schützt, nicht jedochseine Hinterbliebenen. Allerdings bedauere ich es, undich sage das ganz offen, dass im Gesetzestext kein ganzklares Signal für die Einbeziehung der Lebenspartner inden Schutzbereich zustande gekommen ist. Ich bin in-sofern jedoch zuversichtlich: Die Rechtsprechung wirdden Hinterbliebenenbegriff zeitgemäß in diesem Sinneausfüllen.

Dieses Gesetz ist auch ein wirtschaftspolitisches Si-gnal. Wir wollen Menschen Mut machen, den Schritt indie Selbstständigkeit zu wagen. Dazu muss man ihnenauch die Gewissheit geben, dass im Fall eines wirt-schaftlichen Scheiterns nicht ihre gesamte Altersvor-sorge durch Pfändung verloren geht und sie im Alternicht auf öffentliche Unterstützungsleistungen angewie-sen sind.

Darüber hinaus wird das Gesetz einen weiteren An-reiz dafür schaffen, die private Altersvorsorge auszu-bauen. Dies ist nicht nur für Selbstständige von erhebli-chem Gewicht, sondern hat als dritte Säule derAlterssicherung auch für die Bezieher von gesetzlichenRenten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Derneu eingeführte § 851 d ZPO, der einen Pfändungsschutzbei steuerlich geförderten Altersvorsorgevermögen vor-sieht, wird in der Auszahlungsphase somit die so ge-nannte Riesterrente und die Rüruprente absichern.

Lassen Sie mich abschließend noch einmal auf dieKritik eingehen, der im Gesetzentwurf vorgesehenePfändungsschutz sei zu eng, da nicht alle Möglichkeitender Alterssicherung erfasst seien. Ich gestehe diese Kri-tik gerne zu. Sicher war es wünschenswert, bereits in ei-ner ersten Regelung den großen Wurf zu realisieren undalle denkbaren Altersvorsorgeprodukte zu erfassen, etwaauch die Immobilie. Allerdings habe ich Zweifel, ob wirdann bereits heute die abschließende Lesung eines sol-chen Vorhabens abschließen könnten. Insofern bin ichdankbar, dass die Mehrheit im Rechtsausschuss der Auf-fassung war, lieber in einem ersten Schritt die wichtigs-ten Formen der Alterssicherung abzudecken, um dann inRuhe auszuloten, wie andere Anlageformen, also etwadie Immobilie, abgesichert werden können.

Anlage 6

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts: Integriertes Küstenzonenmanagementkontinuierlich fortentwickeln (Tagesordnungs-punkt 16)

Dirk Becker (SPD): Mit der nationalen Strategie imRahmen des Integrierten Küstenzonenmanagements,welche von der Bundesregierung am 22. März 2006 be-schlossen wurde, folgt die Bundesregierung einer Emp-fehlung des Europäischen Parlamentes und Rates vom30. Mai 2002.

Vorab darf ich der Bundesregierung, und hier im Be-sonderen dem federführenden Bundesumweltministerium,für die erarbeitete Bestandsanalyse sowie die angestelltenstrategischen Überlegungen herzlich danken. Ich werdeauf diesen Bereich später noch kurz eingehen, möchteaber bereits jetzt zusammenfassend feststellen, dass ichIhnen eine umfassende und gute Arbeit vonseiten derSPD-Fraktion attestieren darf.

Damit zum Integrierten Küstenzonenmanagement,mit dem wohl zunächst kaum ein Normalbürger etwasanfangen kann. Zum besseren Verständnis möchte ichdaher zunächst die Ziele, die mit dem IKZM verfolgtwerden, verdeutlichen, da so das Buchstabenmonsterverständlicher wird.

Beim IKZM geht es um die Gesamtbetrachtung dervielfältigen Nutzungsmöglichkeiten der Küstenbereicheund ihre ökologischen Belange. Im Mittelpunkt desIKZM steht jedoch der Mensch – und dies gleich dreifach.

So geht es um den Schutz menschlicher Lebensgrund-lagen und Lebensräume jeweils im Einklang mit derMeeresumwelt und um den Schutz des Menschen vorsich selbst als Verursacher von Störungen im Gleichge-wicht der Küsten- und Meeresumwelt.

Vor diesem Hintergrund will das IKZM den Küsten-bereich als ökologisch intakten und wirtschaftlich pros-perierenden Lebensraum für den Menschen erhalten undentwickeln. Ich betone für meine Fraktion ausdrücklichdie gewählte Reihenfolge: ökologisch intakt vor wirt-schaftlich prosperierend.

Hierzu bietet das IKZM einen neuen, integrativen An-satz, der alle gesellschaftlichen Bereiche mit ihren unter-schiedlichen Interessen sowie den ökologischen Belangeneinbezieht.

Dementsprechend wurden vonseiten des Umweltmi-nisteriums die betroffenen kommunalen Gebietskörper-schaften, Bundesländer sowie Verbände, Vereine undPersonen im Rahmen der Aufstellung der Bestandsana-lyse und den strategischen Überlegungen beteiligt.

Im Ergebnis halten wir heute daher eine nationaleStrategie in den Händen, die alle relevanten Bereiche,die für eine Diskussion über den Erhalt und die Entwick-lung der Küsten von Bedeutung sind, berücksichtigt.

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Künftige politische Entscheidungen werden die auf-gezeigten Herausforderungen und Konfliktbereiche imgegenseitigen Ausgleich zu lösen haben. Ich möchte hiernur drei Bereiche ansprechen: zum einen die unter-schiedlichen Nutzerinteressen, wie beispielsweise diewirtschaftlichen Interessen der Schifffahrt, der Fischerei,der Energie- und Rohstoffgewinnung oder touristischeNutzungen, auf der anderen Seite die Interessen desKüstenschutzes, des Schutzes unseres Kulturerbes oderökologischer Belange.

Als zweiten Punkt möchte ich die gemeinsame Be-drohung aller Nutzergruppen durch die Auswirkungendes Klimawandels, wie die Übersäuerung der Meere undden Anstieg der Meeresspiegel, hervorheben.

Als Drittes ist der Konfliktbereich des Wettbewerbsder deutschen Wirtschaft im internationalen Vergleich zunennen.

Insbesondere vor dem Hintergrund der beiden letzt-genannten Punkte „Klimawandel“ und „internationalerWettbewerb“ wird deutlich, dass nationale IKZM-Strate-gien zwar einen wichtigen Grundbaustein darstellen.Entscheidend gerade für diese internationalen Heraus-forderungen ist jedoch, aus den vielfältigen nationalenGrundsteinen die Plattform für einen internationalenSchutz der Küstenbereiche zu schaffen.

Die von der Bundesregierung vorgelegte IKZM-Strategie ist ein guter nationaler Beitrag der Bundesrepu-blik Deutschland und kann auch eine Vorbildfunktion fürandere Staaten entfalten.

Wir fordern mit dem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU- und SPD-Fraktion die Bundesregierung auf, nichtnur die nationale Strategie kontinuierlich weiter zu entwi-ckeln, sondern im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft2007 die Zusammenführung eines europäischen IKZM-Prozesses voranzutreiben und auf die Vorlage aller natio-nalen IKZM-Berichte zu drängen.

Nur gemeinsam lassen sich die Bedrohungen der Küs-ten, zum Beispiel durch die Folgen des Klimawandels,meistern. In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmungzu unserem Antrag.

Angelika Brunkhorst (FDP): Mit der EU-Ratsprä-sidentschaft im nächsten Jahr steht die Bundesregierungauch als Impulsgeber für die europäische Umweltpolitikin der Verantwortung. Wenn auch das Programm der um-weltpolitischen Schwerpunkte aus dem Bundesumwelt-ministerium dem Bereich Meere und Küsten keinen ei-genen Schwerpunkt widmet, so ist die europäischeMeerespolitik doch ein wichtiges Querschnittsthema.Meerespolitik ist Klimapolitik, Energiepolitik, Wachs-tumspolitik, Verkehrspolitik und Naturschutzpolitik.Meere und Küste sind dabei nicht voneinander zu tren-nen, sie beeinflussen sich nicht nur gegenseitig, sondernsind direkt voneinander abhängig.

Die FDP sieht in einer nachhaltigen Nutzung derMeere und Küsten, dem Schutz der Meeresumwelt undder verantwortungsvollen Entwicklung der maritimenWirtschaft und des Lebens an der Küste eine besondere

Herausforderung, Aufgabe und Zukunftschance fürDeutschland und Europa. Die Entwicklung einer einheit-lichen Meerespolitik verlangt eine sektorübergreifendeKoordination der betroffenen Bereiche. Nur ein integra-tiver Politikansatz kann die diversen Nutzungs- undSchutzinteressen zusammenführen und die Bedeutungder Meere und Küsten hervorheben. Eine stärkere Ver-knüpfung der verschiedenen maritimen Sektoren undAkteure dient dabei auch einer Verfahrens- und Pla-nungsbeschleunigung.

Politisch eine Trennung zwischen Meer und Küstevorzunehmen entbehrt jeder Grundlage. Im Gegenteilmüssen wir weiterhin sogar noch die Wasser- undGrundwasserrahmenrichtlinie anschließen. Eine effek-tive europäische Meerespolitik ist eine strategischeQuerschnittsaufgabe der Europäischen Union, der Mit-gliedstaaten und der nationalen Regionen. Dabei geht esinsbesondere um die passgenaue Umsetzung und das Zu-sammenspiel der verschiedenen Schutzstandards wiezum Beispiel der FFH- und Vogelschutz-Richtlinie, derWasserrahmenrichtlinie oder auch der Fischerei- undAgrarpolitik. Es ist notwendig, die Maßnahmen im Be-reich der Meere und Küsten auf eine gemeinsameGrundlage zu stellen.

Wir können den Forderungen in diesem Antrag fol-gen, wenn auf europäischer Ebene von einer Verbindungoder Verzahnung des integrierten Küstenzonenmanage-ments und der EU-Meerespolitik zu einer gemeinsamenMeeresschutzstrategie die Rede ist. Dabei könnten dieForderungen allerdings noch deutlicher formuliert sein.

Die Entwicklung einer Meeresschutzstrategie soll aufeiner umfassenden Bestandsaufnahme der wirtschaftli-chen, sozialen und ökologischen Situation beruhen. Des-gleichen sind die rechtlichen, politischen und adminis-trativen Strukturen in Europa zu berücksichtigen. DieStrategie des IKZM könnte als Bestandteil der europäi-schen Meerespolitik ein Baustein dieser Bestandsauf-nahme in den Küstenräumen darstellen.

Die Strategie des Integrierten Küstenzonenmanage-ments setzt auf eine gute Zusammenarbeit der betroffe-nen Sektoren. Eine solche Vernetzung muss dann auchfür die verschiedenen politischen Prozesse und Zuständi-gen selbst gelten.

Die FDP begrüßt die aktuellen Anstrengungen der EUund der Bundesregierung zum Schutz der Meere undKüsten. Deutschland profitiert als Küstenland von einergesunden Meeresumwelt. Meere und Küstenregionenbesitzen ein beträchtliches Potenzial für wirtschaftlichesWachstum.

Lutz Heilmann (DIE LINKE): Leider haben auch dieAusschussberatungen meine schon in der ersten Lesunggeäußerten Bedenken bestätigt, dass es diesem Antragan Substanz fehlt. Ich honoriere zwar ihre gute Absicht,das Integrierte Küstenzonenmanagement weiter voran-zutreiben. In diesem Punkt sind wir uns wohl alle einig.Es handelt sich hierbei um einen guten Ansatz, der ent-sprechend weiter verfolgt, aber vor allem umgesetztwerden muss.

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Gerade dies werden Sie mit ihrem Antrag aber nichterreichen; insbesondere, weil Sie die Freiwilligkeit desAnsatzes so hervorheben. Wenn alles nur auf freiwilligerBasis laufen soll, ja, wie wollen Sie denn da Erfolgeerreichen? Da müsste der Ansatz ja extrem überzeugendsein, dass sich alle Beteiligten darauf einlassen. Das Pro-blem ist aber doch – und da beißt sich die Katze in denSchwanz –, dass die vom BMU angekündigte Informa-tionsoffensive weiter auf sich warten lässt. Wenn niemandIKZM kennt, dann wird das aber doch wohl auch keinerfreiwillig machen.

Immerhin will das BMU ja jetzt eine zentrale Anlauf-stelle einrichten. Das aber kann doch nur ein ersterSchritt sein, dem noch viele weitere folgen mögen. Denndie nationale IKZM-Strategie ist ja vor allem eine– durchaus gelungene – Bestandsaufnahme. Eine echteStrategie aber im Sinne von Lösungsansätzen ist siehöchstens in Ansätzen. Dass trifft im Übrigen auch aufdie IKZM-Strategie des Landes Schleswig-Holstein zu,die das Thema zwar theoretisch gut abhandelt, aberkeine praktischen Handlungsvorschläge enthält. Vordiesem Hintergrund bringt Ihr Antrag das IntegrierteKüstenzonenmanagement nicht weiter. Sie nennen keinekonkreten Schritte, alles bleibt im Vagen.

Ich habe schon in der ersten Lesung darauf hingewie-sen, dass wir vor allem Lösungen für die vielen Konflikteim Naturschutz finden müssen. Wir müssen endlich damitaufhören, die Natur immer und immer wieder wirtschaftli-chen Interessen zu opfern. Notwendig ist vor allem – undich freue mich, dass das auch die SPD so sieht, auchwenn es im Antrag leider gerade nicht so formuliert ist –,dass die Ökologie insbesondere in Bezug auf den Küs-tenschutz Vorrang vor der wirtschaftlichen Entwicklunghat. Abgesehen davon, dass Sie die sozialen Aspekte inIhrem Antrag leider völlig ausgeblendet haben, bestehthierbei doch kein Widerspruch zwischen Ökonomie undÖkologie. Es ist doch wohl unstrittig, dass die Küstender sensibelste Raum Deutschlands sind, insbesonderewenn wir den Klimawandel und einen möglichen Meeres-spiegelanstieg um einen Meter bis zum Ende dieses Jahr-hunderts berücksichtigen. Hier ist nicht einfach dieNatur bedroht, hier sind konkret die Lebensräume vielerMenschen und damit auch die Wirtschaft akut bedroht.

Deshalb halte ich es für unverantwortlich, dass dieRegierenden im Bund und in den Küstenländern weiterso tun, als würde alles beim Alten bleiben. Da sich dieLänder untereinander nicht einig werden, sollen Elbeund Weser vertieft werden, damit Hamburg und Bremer-haven in der wirtschaftlich ungesunden Hafenkonkurrenzweiter bestehen können. Davon, dass der Jade-Weser-Port ursprünglich dafür gedacht war, dass es eben keineweiteren Vertiefungen mehr geben muss, davon redetheute kaum noch jemand. So haben wir dann bald dreiTiefwasserhäfen, die sich gegenseitig Konkurrenz machenkönnen; mit mehr als 7 Milliarden Euro Folgekosten, diefür die Hinterlandanbindungen der drei Häfen – natür-lich vom Bund – ausgegeben werden sollen, und einemextrem steigenden Hochwasserrisiko für Hamburg undBremen. Denn je tiefer die Flüsse, desto schneller fließtdas Wasser nicht nur ab, sondern desto schneller, leichterund höher vom Meer in die Flüsse hinein. Ich möchte

mir nicht ausmalen, was Sturmfluten bei einem um einenMeter höheren Meeresspiegel in Hamburg und Bremenanrichten werden. Deshalb halte ich die weitere Vertie-fung von Elbe und Weser für unverantwortlich – und fürunnötig, wenn wir den Jade-Weser-Port entsprechendausbauen.

Auch Deutschland muss sich endlich den Herausfor-derungen des Klimawandels stellen, der nun einmalnicht mehr abgewendet, sondern nur noch abgemildertwerden kann. Wenn ich an die Inseln und besonders an dieHalligen denke, sollte die Politik langsam anfangen, denMenschen zu sagen, wie diese Lebensräume bei einemAnstieg des Meeresspiegels um einen Meter geschütztwerden können. Gerade als Abgeordneter des Landesmit den längsten Küsten Deutschlands und außerdempersönlich Betroffener, ich wohne selber nur ein paarKilometer von der Ostsee entfernt, appelliere ich an Sie,alles gegen den Klimawandel zu unternehmen und dieMenschen an den Küsten nicht allein zu lassen.

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Erst einmal möchte ich ausdrücklich hervorhe-ben, dass die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen dieInitiative von CDU/CSU und SPD für ein IntegriertesKüstenzonenmanagement unterstützt. Der Ansatz istrichtig. Das haben wir auch in unserem rot-grünen An-trag zur Fischereipolitik im Jahr 2005 zum Ausdruck ge-bracht.

Kern des Integrierten Küstenzonenmanagements istdie Integration der wirtschaftlichen und ökologischenEntwicklung im Küstenraum. Sie nehmen in Ihrem An-trag Bezug auf die Lissabonstrategie. Ich möchte aberdavor warnen, die Lissabonstrategie auf ihre wirtschaft-liche Dimension zu reduzieren. Es geht darum, sämtlicheInteressen in Übereinstimmung zu bringen: Naturschutz,Küsten- und Meeresschutz. So können wir wirtschaftlichagile und lebenswerte Küstenräume schaffen bzw. erhal-ten. Wenn man sich beispielsweise die Tourismusbran-che anschaut, dann wird deutlich, dass das eine das an-dere bedingt. Ohne intakte Natur funktioniert derTourismus an der Küste nicht. Die Touristen werden ein-fach wegbleiben. Naturschutz ist kein Luxus, sondernein harter Faktor wie auch die Förderung der wirtschaft-lichen Entwicklung. Das eine ist ohne das andere nichtzu haben.

Beim IKZM geht es vor allem darum, die Interessen-gruppen an einen Tisch zu bringen, um Probleme in ei-ner frühen Phase zu erkennen und Konflikte zu lösen,bevor sich die Fronten verhärten. Ansonsten wird mannicht erfassen können, welche Bedeutung das IKZM fürdie Küstenregionen entfalten kann.

Das IKZM soll kein neues Planungsinstrument sein,so Ihr Antrag. Grundsätzlich sehen wir das auch so. Esgibt bereits hinreichend viele Planungsprozesse wie zumBeispiel die Raumordnung. Allerdings wollen wir Bünd-nisgrüne schon, dass der Ansatz des IKZM formalisiertin diese Planungsprozesse integriert wird. Es ist etwasanderes, ob eine Behörde von allen InteressengruppenStellungnahmen einholt und diese dann im stillen Käm-merlein auswertet, oder ob sie verpflichtet ist, alle Inte-

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ressengruppen zusammenzubringen, um offen über diePlanungsvorhaben zu reden und gemeinsam Lösungenund Alternativen zu entwickeln.

Das IKZM muss breit angelegt sein. Es müssen alleWirtschaftsbranchen, Planungsaufgaben und Schutzinte-ressen im Küstenraum einbezogen werden. Wir begrü-ßen daher das nationale Strategiepapier zum IKZM, dendas BMU im Auftrag der Bundesregierung vorgelegthat. Der Bericht wird der Anforderung gerecht, ökologi-sche und ökonomische Entwicklung gemeinsam zu be-trachten.

Wir begrüßen auch, dass sich die große Koalition inden ersten beiden Teilen ihres Antrages positiv zumIKZM-Prozess äußert. Es reicht jedoch nicht, dass Siedie Regierung bei der Fortsetzung des IKZM-Prozessesunterstützen wollen. Der Bundestag muss die Regierungdamit beauftragen, den IKZM-Prozess tatsächlich fort-zusetzen. Da die EU die Fortsetzung nur empfohlen hat,aber nicht vorschreibt, sind eine klare Positionierungund ein klarer Arbeitsauftrag des Bundestages an die Re-gierung geboten.

Ohne diesen Handlungsauftrag bleibt Ihr Antrag ander entscheidenden Stelle wirkungslos. Was machen Siedenn, wenn die Bundesregierung entscheiden sollte, denIKZM-Prozess abzubrechen? Ihr Antrag hindert die Re-gierung jedenfalls nicht daran. Enttäuschend ist außer-dem, dass der Forderungsteil Ihres Antrags nicht hält,was die anfänglichen Ausführungen versprechen. Sie be-harren auf der Freiwilligkeit des IKZM-Verfahrens. Siewollen nicht, dass die EU ihre Mitgliedstaaten verpflich-tet, IKZM-Prozesse anzustoßen und durchzuführen. Siesetzen auf Freiwilligkeit und Entbürokratisierung, woVerbindlichkeit und Überprüfbarkeit angebracht wären.Wenn Sie Ihre Ausführungen über die Bedeutung desIKZM in den ersten Abschnitten Ihres Antrags ernstmeinen, dann kann der IKZM-Prozess in den einzelnenMitgliedstaaten der EU nicht freiwillig organisiert sein.Wir brauchen verpflichtende und überprüfbare Regelun-gen auf EU-Ebene. Alles andere ist unglaubwürdig.

Jetzt wäre der Zeitpunkt, die Initiative für ein EU-weites Integriertes Küstenzonenmanagement zu ergrei-fen. Die Europäische Kommission hat im vergangenenJuni das Grünbuch zur Meerespolitik vorgelegt. Regie-rungen, Nichtregierungsorganisationen, Verbände undPrivate sind eingeladen, sich in den Konsultationspro-zess einzubringen. Mit einem ambitionierteren Vor-schlag hätten Sie eine Vorreiterrolle für ein IKZM in derEuropäischen Union einnehmen können. So wachs-weich, wie der Forderungsteil in Ihrem Antrag formu-liert ist, haben Sie diese Gelegenheit verstreichen lassen.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Guter Plan, aberam Ende hat Sie der Mut verlassen, ein verbindlichesund durchsetzbares Integriertes Küstenzonenmanage-ment zu fordern. Über einen Appell geht Ihr Antragnicht hinaus. Weil der Antrag mutlos und unverbindlichist, bleiben wir bei unserem Votum und werden uns ent-halten. Ich hätte mir etwas mehr Mut gewünscht, dieBundesregierung in die Pflicht zu nehmen. Sollten Siedazu einen neuen Anlauf machen wollen, haben Sie un-sere Fraktion an Ihrer Seite.

Anlage 7

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Den kostenfreienEmpfang von Rundfunk via Satellit sicherstel-len (Tagesordnungspunkt 17)

Dorothee Bär (CDU/CSU): Ich denke Sie stimmenmir zu, Ihr Antrag hat sich spätestens letzte Woche erle-digt. Letzte Woche gab das Bundeskartellamt bekannt,dass ProSiebenSat.1 seine Pläne aufgibt, digitales Fern-sehen durch SES ASTRA zu verschlüsseln.

Sie schreiben selbst in ihrem Antrag, dass die Ver-träge zwischen den Programmveranstaltern und den Sa-tellitenbetreibern geprüft werden. Das ist nun geschehen,das Kartellamt hat eine verbotene Kartellabsprache gese-hen, ProSiebenSat.1 hat seine Pläne aufgegeben. DerWettbewerb um Endgeräte ist damit weiterhin gesichert.

Die Gefahr einer Markt- und Meinungskonzentration– wie Sie es nennen – ist nicht mehr gegeben, dafür leis-tet unser Kartellamt zu gute Arbeit. Schon in Ihrer Be-gründung für den Punkt vier Ihres Antrages zur Markt-konzentration lässt sich dabei ablesen, dass Sie auchdiesen Antrag lediglich mit Ihrer Ideologie aufgeblähthaben. Ich zitiere: „Die Entscheidung über Vielfalt liegtin der Hand dieser mächtigen Anbieter.“ Noch dramati-scher hätte man es nicht formulieren können, um einemAntrag das Gewicht zu geben, das ihm inhaltlich fehlt.

Sie beschwören die Gefahr herauf, dass ein einzigerAnbieter den Zugang dominiert. Diese Annahme hatsich mit letzter Woche nicht bestätigt.

Interessant finde ich aber die Tatsache, dass Sie offen-sichtlich eine Informationsgesellschaft für alle – wie Siees nennen – einzig über das Fernsehen definieren. Sieschreiben in Ihrem Antrag:

Teile der Bevölkerung, die weniger zahlungskräftigsind, werden sich die verschlüsselten Vollpro-gramme finanziell nicht leisten können. Die Folgewäre eine Spaltung der Zuschauer in diejenigen miteinem breiten Zugang zu Informationen und die an-deren mit verringertem Zugang zu Informationen.

Sie gehen also davon aus, dass unsere Bürger ihre In-formationen einzig aus dem Fernsehen beziehen.

Das ist für mich nicht nur eine dreiste Unterstellungunseren Bürgern gegenüber, sondern auch eine Herab-würdigung der Arbeit aller Medienschaffenden außer-halb des Fernsehens. Das Radio wird – was ich sehr be-dauere – ohnehin von den meisten – Kollegen – viel zuwenig wahrgenommen. Dass Sie aber mit diesem Antragauch die Printmedien und das Internet völlig außen vorlassen, ist für mich unbegreiflich.

Legen wir diesen Antrag und vor allem die darin ent-haltenen Unterstellungen ad acta.

Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Der Wettbewerb inDeutschland funktioniert und mit ihm auch die Wettbe-werbsaufsicht durch das Kartellamt. Das haben die Er-eignisse der letzten Woche deutlich gezeigt. Deshalb

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können wir die Bedenken in Ihrem Antrag nicht teilen,dass in der Zukunft riesige Medienkonzerne die Qualitätdes deutschen Fernsehens einschränken und sogar dieMeinungsvielfalt in Gefahr ist.

Da sind Sie wieder einmal über das Ziel hinausge-schossen! Ein Beispiel: Gerade die USA weisen einevorbildliche und erstaunliche Meinungsvielfalt auf, ob-wohl dort ganz andere Strukturen des Fernsehens vor-herrschen und sehr viel verschlüsselt ausgestrahlt wird.Wir sollten also nicht immer den Untergang des Abend-landes heraufbeschwören, wenn neue technische – undum nichts anderes handelt es sich zunächst – Instrumentewie die Grundverschlüsselung von Fernsehprogrammeneingeführt werden sollen. Die Grundverschlüsselungvon Signalen bedeutet nämlich gerade nicht, dass allediese Angebote zu Pay-TV werden. In Österreich bei-spielsweise, das den öffentlich-rechtlichen ORF ver-schlüsselt, ist dies auch nicht passiert!

Der Rückzug der Sendergruppe ProSiebenSat.1 vonseiner ursprünglichen Absicht, digitales verschlüsseltesFernsehen einzuführen, zeigt uns vielmehr, wie gut inDeutschland Markt und Marktaufsicht funktionieren:Das Bundeskartellamt hatte den Verdacht, dass es Kar-tellabsprachen zwischen den Sendergruppen ProSieben-Sat.1 und RTL gegeben hat und eine Abmahnung desGeschäftsmodells „Grundverschlüsselung“ angedroht.Daraufhin hat sich ProSiebenSat.1 am 5. Dezember 2006aus diesem Geschäftsmodell zurückgezogen. Das ist einnormaler Vorgang in einer gut funktionierenden Markt-wirtschaft und muss vonseiten der Politik gar nicht kom-mentiert werden.

Wer sagt denn, dass die Verbraucher überhaupt bereitsein werden, Geld für verschlüsselte Programme zu zah-len? Vielleicht verspekulieren sich ja die Sender und dasganze Modell der gebührenpflichtigen Entschlüsselungdigital ausgestrahlter Programme rechnet sich gar nicht.

Nach den Erfahrungen der letzten Jahre in Deutsch-land mit Pay-TV kann man zumindest ein bisschen skep-tisch sein, ob deutsche Zuschauer zusätzliches Geld fürden Empfang von Fernsehprogrammen ausgeben wol-len. Der deutsche Fernsehmarkt funktioniert nämlich an-ders als in den USA oder Großbritannien. Das mag daranliegen, dass der deutsche Fernsehzuschauer ein Stückweit durch das vergleichsweise hohe Niveau der privatenFernsehanbieter verwöhnt ist. Wer das Privatfernsehenin anderen Ländern kennt, weiß, wovon hier die Redeist.

Bei einem einzigen Punkt müssen wir jedoch aufpas-sen: Es muss für den Zuschauer ein diskriminierungs-freier Zugang zu den öffentlich-rechtlichen Programmensichergestellt sein, da diese durch Gebühren finanziertwerden. Eine zusätzliche Freischaltgebühr wäre hierhöchst problematisch.

Wenn der freie Zugang zu den öffentlich-rechtlichenProgrammen jedoch gewährleistet ist, dann steht es je-dem frei, seinen Lieblingsspartenkanal zu abbonieren.Dass er sich hierfür registrieren lassen muss, ist völlignormal. Das passiert bei jedem Zeitungsabonnement.Hier gleich wieder den gläsernen Kunden an die Wand

zu malen, wie dies in Ihrem Antrag geschieht, ist deshalbüberzogen.

Ein Fazit möchte ich aus unserer Sicht dazu ziehen:Jeder Rundfunkveranstalter muss es selbst in der Handhaben, ob er sich verschlüsseln lassen will oder nicht.Das Kartellamt hat hier jedoch die Aufgabe, Transparenzbei den Gebühren und den technischen Zugangsmöglich-keiten herzustellen. Das funktioniert, wie der Rückzugvon ProSiebenSat.1 gezeigt hat. Deshalb ist Ihr Antragüberflüssig. Und deshalb lehnen wir ihn ab.

Christoph Pries (SPD): Dem Rundfunk kommtnicht nur als Mittel der Unterhaltung und Bildung, son-dern auch im Hinblick auf eine potenzielle Meinungsbe-einflussung große Relevanz zu. Auf Grundlage der Er-fahrungen aus dem Dritten Reich, das auch eineKommunikationsdiktatur war, hat der Gesetzgeber beider Konzeption der Mediengesetzgebung daher insbe-sondere dem Rundfunk eine besondere Bedeutung zuge-wiesen.

Das duale System, das sich auf dieser Grundlage inDeutschland etabliert hat, ist ein Erfolgsmodell. Umsowichtiger ist es daher, dieses System unter den sich än-dernden Bedingungen einer digitalisierten Welt zu be-wahren. Die Medienwelt und damit einhergehend auchdie zugrunde liegenden Rechtsnormen befinden sich der-zeit in einem tief greifenden Wandel. Dieser Wandelvollzieht sich mit atemberaubender Geschwindigkeit.

Das Tempo ist so groß, dass Anträge die sich mit derThematik befassen, teilweise bereits bei ihrer ersten Le-sung im Bundestag irrelevant geworden sind. Auch beidem heute zur Debatte stehenden Antrag von Bünd-nis 90/Die Grünen wurde das parlamentarische Proce-dere durch die Entwicklung in der Realität überholt.Nicht nur, dass viele der Forderungen der Antragstellerin die Zuständigkeit der Länder fallen, diese Thematiksomit auch in die Länderparlamente gehört. Auch dieprimäre Stoßrichtung der Initiatoren, nämlich die kos-tenfreie Rundfunknutzung via Satellit sicherzustellen, istdurch die Entscheidung des Bundeskartellamtes vom6. Dezember 2006 hinfällig geworden.

Wie Sie wissen, hat das Bundeskartellamt die hier zurDiskussion stehende Satellitengebühr vergangene Wo-che untersagt. Als Begründung wurde angeführt, dasseine verbotene Kartellabsprache zu vermuten sei unddass beide Senderfamilien sich über die Verschlüsselungihrer Satellitenprogramme eine zusätzliche Erlösquelleam Wettbewerb vorbei erschlossen hätten. ProSieben-Sat.1 hat mittlerweile den Rückzug von den ursprüngli-chen Plänen verkündet. RTL wird vermutlich bald fol-gen; denn das alleinige Festhalten an den Plänen würdemit deutlichen Werbeeinbrüchen einhergehen. Auchwenn damit die Etablierung einer weiteren Pay-TV-Plattform in Deutschland vorerst gescheitert ist, soglaube ich, dass dies nicht der letzte Versuch war, zu-sätzliche Formen des Bezahlfernsehens in Deutschlandzu etablieren.

Fakt ist, dass sich die so genannten Free-to-Air-Pro-gramme im digitalen Zeitalter immer schwerer finanzie-

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ren lassen, die klassische Spot-Werbung für die Rund-funkanbieter mehr oder weniger ausgereizt ist. DieSender können und dürfen momentan nicht mehr Wer-bung zeigen. Gleichzeitig zersplittert der Rundfunk-markt und damit der „Werbekuchen“ immer stärker.

Wir müssen daher zur Kenntnis nehmen, dass Rund-funkanbieter auf Basis der bisherigen Finanzierung inForm von Gebühren und Werbeeinnahmen sich nurschwerlich neue Märkte werden erschließen können.Das Anbieten neuer Inhalte gegen Bezahlung ist daherfür die Anbieter – und möglicherweise auch für die Kun-den – eine interessante Option. Grundsätzlich ist auchnichts dagegen einzuwenden, solange dabei nicht tele-kommunikations- und kartellrechtliche Anforderungenauf der Strecke bleiben.

Der zu beobachtende Trend hin zum Bezahlfernsehencharakterisiert die privaten Programme zudem als das,was sie sind: nicht nur Medienunternehmen, sondern ander Börse notierte, global aufgestellte Wirtschaftsunter-nehmen. Genau aus diesem Grund brauchen wir aberauch weiterhin eine vorrangig über Gebühren finanzierteund somit von kommerziellen Einflüssen weitgehendunabhängige Sendervielfalt. Nur so ist gewährleistet,dass in einer sich zunehmend kommerzialisierendenWelt zu erkennen bleibt, wer Sprachrohr finanzieller In-teressen ist und wer nicht. Verschlüsselung – so sie dennkommt – sollte daher auch nur einen Teil des Rundfunk-spektrums abdecken und dieses nicht komplett beherr-schen.

Ich denke, nach der Entscheidung des Kartellamteshaben die Mitglieder der mehr als 16 Millionen poten-ziell betroffenen Satellitenhaushalte tief aufgeatmet.Hätten diese doch plötzlich festgestellt, dass ihre bisheri-gen Empfangsgeräte nur noch Elektroschrott sind. Siewären gezwungen gewesen, sich neue Decoder zu kau-fen, egal ob sie Pay-TV oder Free-TV nutzen.

Sicherlich ist es nicht verwerflich, wenn Rundfunk-sender Bedürfnisse befriedigen wollen, von denen dieZuschauer noch gar nicht wissen, dass diese Bedürfnissebei ihnen existieren. Solange der Zuschauer selbst ent-scheiden kann, wofür er zahlt, und solange er auch einenentsprechenden Gegenwert bekommt, spricht nichts ge-gen diese Form von Mehrwertschaffung.

Abzulehnen ist dies jedoch aus meiner Sicht, wenndie Etablierung eines solchen Systems die Nutzer unterZugzwang setzt. Wenn sich der Mehrwert nicht er-schließt, wenn die Gefahr besteht, dass öffentlich-recht-liche Anbieter diskriminiert werden und wenn – wie indiesem Fall – die Gefahr von kartellrechtlich relevantenAbsprachen besteht. Nicht zu vergessen: Der Verlust anFreiheit, da sich zukünftig den Betreibern mein Fernseh-verhalten im Detail erschließt.

Noch ein anderer Aspekt ist wichtig: Wir müssen auf-passen, dass sich beim Fernsehen die digitale Spaltung,die wir bei der Internetversorgung schon seit langem an-prangern, nicht wiederholt. Diese Gefahr ist gegeben,wenn die Kosten der Systemumstellung zu hoch sindund wenn bei der Verschlüsselung von digitalen Ange-boten kein offener Gerätestandard gewährleistet ist, der

auch anderen Vermarktungsplattformen – und damitKonkurrenten – den Zugang zu den Haushalten ermög-licht. Ich bin nicht traurig darüber, dass die Pläne vonProSiebenSat.1 und vermutlich auch RTL durch dasVeto des Kartellamtes zunächst auf Eis gelegt wurden.

Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die Sendersich durch eine Systemumstellung langfristige Vorteilesichern und neue Geschäftsfelder erschließen wollen.Wenn aber die Zuschauer die Umstellung von Free-TVauf Pay-TV, von der sich in erster Linie die Anbieter ei-nen Zugewinn versprechen, langfristig finanzieren sol-len, ohne einen konkreten Mehrwert dadurch zu erhal-ten, sind Bedenken angebracht.

Ich glaube, dass die jetzt gescheiterten Pläne von SESAstra, RTL und ProSiebenSat.1 den Grundstock für denAufbau einer flächendeckenden Infrastruktur für Pay-TV darstellen.

Die TV-Unternehmen haben ein großes Interesse da-ran, dass Bezahlfernsehen Normalfernsehen wird undwerden in absehbarer Zeit sicherlich neue Wege be-schreiten, dieses Ziel zu erreichen.

Jörg Tauss (SPD): Wir beraten heute in erster Le-sung den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen „Den kostenfreien Empfang von Rundfunkvia Satellit sicherstellen“. Auch wenn sich die Dringlich-keit eines solchen Antrages zum Glück ein Stück weiterledigt hat, so begrüße ich das Anliegen des Antragesim Grundsatz. Dies um so mehr, weil es bei den Vorha-ben hinsichtlich der Einführung einer Digitalpauschalenicht nur um ein angeblich neues Geschäftsmodell derInfrastrukturanbieter und der privaten Fernsehanbieterhandelt, sondern letztlich um eine grundsätzliche Frageim Verhältnis zwischen öffentlich-rechtlichem und pri-vaten Rundfunk.

Die Fernsehsendergruppen ProSiebenSat.1 und RTLplanten gemeinsam mit dem Satellitenbetreiber SES AS-TRA über die digitale Satellitenvertriebsplattform Enta-vio die bisher frei empfangbaren Fernsehprogrammebeider Senderprogrammen nunmehr digital und ver-schlüsselt anzubieten. Damit sollte eine zukunftsfähigeLösung für das digitale Fernsehen entstehen. Eine solchezukunftsfähige Lösung sei aber natürlich auch miterheblichen Kosten verbunden, wofür die so genannteDigitalpauschale eingeführt werden müsste. Der TV-Zu-schauer hätte daher das digitale Angebot nur dann nutzenkönnen, wenn er über ein entsprechendes digitales Satel-litenempfangsgerät verfügt und eine monatliche Grund-gebühr zur Entschlüsselung – eben die so genannte Digi-talpauschale – hierfür entrichtet. Im Gespräch warenhierfür 3,50 Euro. Mit dem technischen Vorgang der Ent-schlüsselung ginge die Möglichkeit der spezifischenAdressierbarkeit des Endkunden einher, dessen Nut-zungsverhalten jederzeit analysiert, registriert und zuVermarktungszwecken verwendet werden könnte – ausdatenschutzrechtlicher wie auch aus verbraucherschutz-rechtlicher Sicht hätten hier noch zahlreiche Fragen be-antwortet werden müssen.

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Unklar war zunächst, ob und in welcher Höhe dieProgrammveranstalter an der monatlichen Zugangsge-bühr beteiligt werden. Presseberichten war jedoch zuentnehmen, dass die Programmveranstalter an den Ein-nahmen teilhaben sollen.

Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fordertmit ihrem Antrag die Bundesregierung auf, das Entste-hen des gläsernen Kunden zu verhindern, indem im Falleeiner Grundverschlüsselung Regelungen zur Sicherungdes Datenschutzes getroffen werden, die den Missbrauchverhindern; einen offenen Standard der Entavio-Platt-form sicherzustellen, der verhindert, dass ein einziger In-frastrukturanbieter über den Zugang dominiert; sich ge-genüber den Bundesländern dahin gehend einzusetzen,dass Regelungen getroffen werden, die den freien Emp-fang von Vollprogrammen des Rundfunks garantieren,und auch zukünftig die Kommunikationsfreiheit derBürgerinnen und Bürger geschützt und der Zugang zuSendern und Signalen gewährleistet bleiben, und dassklare Regelungen formuliert werden, die sicherstellen,dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkprogramme voneiner Gebühr für die Satellitenübertragung ausgespartbleiben. Zugleich setzt sich die Fraktion des Bündnis-ses 90/Die Grünen dafür ein, dass der Rundfunkempfangüber die dritte Infrastruktur – nämlich über DVB-T – un-verschlüsselt bestehen bleibt und dass geprüft werdenmüsse, ob sich aus dem Zusammengehen von Inhaltean-bietern und Infrastrukturanbietern neue Bewertungsnot-wendigkeiten in Bezug auf die Marktmacht und die Mei-nungsvielfalt ergeben könnten.

Das Bundeskartellamt hatte nach Bekanntwerden desVorhabens ein Verfahren zur Missbrauchskontrolle ein-geleitet, um – aufgrund der starken Marktstellung derSatellitenbetreiber wie auch der privaten Fernsehsender,das heißt der mit der Verschlüsselung verbundenen Vor-gabe proprietärer Verschlüsselungstechniken und derdaraus folgenden Abhängigkeit der Endgeräteherstellersowie der Chancennachteile anderer Mitbewerber – zuüberprüfen, ob und inwieweit die neuen Plattformen denTatbestand des Missbrauches einer marktbeherrschendenStellung erfüllen. Am 6. Dezember 2006 hat das Bun-deskartellamt das Ergebnis dieser Prüfung bekannt gege-ben und die geplante Satellitengebühr mit der Begrün-dung untersagt, dass eine verbotene Kartellabsprache zurBegünstigung dieses Geschäftsmodells möglich sei.Diese Entscheidung des Bundeskartellamtes ist richtigund wichtig und wird seitens der SPD-Bundestagsfrak-tion ausdrücklich begrüßt.

Unabhängig von den Forderungen des Antrages, dieaufgrund der Entscheidung des Bundeskartellamtes undder von ProSiebenSat.1 angekündigten Aufgabe der Ver-schlüsselungspläne zu einem großen Teil hinfällig ge-worden sind, wird in den Beratungen des Ausschussesfür Kultur und Medien und des Unterausschusses „NeueMedien“ zu prüfen sein, ob – seitens der Länder imRundfunkstaatsvertrag oder auch seitens des Bundes –darüber hinaus gesetzgeberisches Handeln notwendigist, um auch in Zukunft innerhalb des verfassungsrecht-lich gebotenen Rahmens die Vielfalt und die freie Emp-fangbarkeit des Fernsehen bzw. auch Rundfunks – auchin digitaler Form zu sichern. Die starke Marktstellung

der Beteiligten hätte bei dem besagten Vorhaben denVerbrauchern jedenfalls kaum eine Chance gelassen,sich gegen das geplante Vorhaben zu wehren. Schon ausdiesem Grund muss daher ein Missbrauch im Interessealler Zuschauer verhindert werden. Darüber hinaus stelltsich die grundsätzliche Frage nach der Balance der dua-len Rundfunkordnung, wenn die Verschlüsselung derprivaten Programme auf allen Übertragungswegen undgegen Gebührt durchgesetzt werden solle. Diese Fragewird sich vermutlich in gar nicht langer Zeit erneut stel-len, sei es bei der Übertragung über Kabel, Satellit oderauch über das Internet, hier gilt es entsprechende Ant-worten seitens des Gesetzgebers zu finden.

Christoph Waitz (FDP): Ich erinnere mich an eineder ersten Werbungen zur Einführung des Kabelfernse-hens in Deutschland. Mitte der 80er-Jahre saß ein ältererHerr auf einer Bank und erzählte, was er am Abend zuvorim Kabelfernsehen gesehen hatte. Dies war nicht nur derStartschuss des Kabelfernsehens; durch die Vielzahl derempfangbaren Programme war dies auch der Durch-bruch für das private Fernsehen. Allen, die damals überKabelfernsehen verfügen wollten, war klar: Für dieseLeistung muss man eine Gebühr zahlen. Und so ist es bisheute geblieben. Kabelfernsehen ist nicht kostenlosempfangbar.

Heute diskutieren wir über die Verschlüsselung vonProgrammen, die in digitalisierter Form über Satellitenempfangbar sind. Und wir diskutieren heute über dieFrage, ob man für den Empfang satellitengestützter Pro-gramme eine Gebühr fordern darf, sei es für den Ersatzvon Infrastrukturkosten oder als Gegenleistung für dieBereitstellung von Programminhalten durch privateRundfunkanbieter.

Ich weiß, wie emotional diese Diskussion unter ande-rem in den Medien geführt worden ist. Man konnte garden Eindruck gewinnen, die beabsichtigten Pläne zurEinführung einer Satellitengebühr brächten das Abend-land an den Rand des Zusammenbruchs. Und es wurdeder Eindruck vermittelt, hier versuche jemand, sich zuUnrecht zu bereichern. Darum will ich an dieser Stelleeines klarstellen: Ich kann nicht nachvollziehen, mitwelchem Recht Satellitenbetreiber angeprangert werden,wenn sie planen, nur das einzuführen, was in der Kabel-industrie schon seit Jahrzehnten gang und gäbe ist.

Wir Liberale haben schon immer betont: Es ist ausunserer Sicht nur natürlich, dass man für Dienstleistun-gen oder Waren ein Entgelt zu zahlen hat. Dies gilt fürinfrastrukturelle Dienstleistungen, zu denen das Kabel-fernsehen, aber auch ein Internet- oder Telefonanschlussgehören, und dies gilt auch für Programminhalte, die unstäglich angeboten werden. Im öffentlich-rechtlichenFernsehen zahlen wir alle für diese Leistung durch Ent-richtung der gerätebezogenen GEZ-Gebühr, aus Sichtder Liberalen ein Anachronismus. Auch für privatesFernsehen muss gezahlt werden. Eine Gebühr für privatesFernsehen blieb uns in Deutschland bislang nur deshalberspart, weil das frei empfangbare private Programmwerbefinanziert ist.

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Aber wenn wir über Werbung reden, dann müssen wirauch beachten, dass der Werbemarkt starken Schwan-kungen unterworfen ist. Damit ist der private Rundfunkzum einen von diesen Werbeschwankungen, die auchEinnahmeverluste bedeuten, abhängig. Zum anderenwächst der Werbemarkt nicht unendlich, sodass dasWachstum und damit auch die Angebotsverbesserungbei den privaten Anbietern begrenzt wird, während dieGebühreneinnahmen der öffentlich-rechtlichen Senderseit Jahren stabil sind und sogar noch mit Maßgabe derEntscheidungen der Kommission zur Ermittlung desFinanzbedarfs der Rundfunkanstalten, KEF, steigenkönnen. Dies alles muss man wissen, wenn man überdie Kritik an den Verschlüsselungsplänen redet, diedem Antrag der Grünen zugrunde liegt.

Wir Liberalen können nichts Falsches darin sehen, dassmithilfe der Verschlüsselung versucht werden soll, denKunden, wie in so vielen anderen Geschäftsbeziehungenauch, adressierbar zu machen. So können dem Konsu-menten bei Wunsch andere, das Fernsehen begleitende,interaktive Angebote gemacht werden. So lassen sich ineinem gesättigten Markt neue Geschäftsmodelle entwi-ckeln, die den privaten Rundfunk fit für das Zeitalter derDigitalisierung machen. So verbessert sich der Servicefür jeden einzelnen Zuschauer. Vergessen wir nicht:Telekommunikationsanbieter und Internetdienstleistersind schon in den Startlöchern und könnten zu ernst-zunehmenden Konkurrenten für öffentlich-rechtlicheund private Rundfunkanbieter werden. Wir Liberale ver-folgen das Thema Vertikale Integration aufmerksam.Sollte es hier zu einer Verschiebung der Kräfte kommen,werden wir die Situation, so wie die Kartellbehördenauch, sehr genau prüfen. Verwehren wir dem Rundfunknicht, sich für diese Herausforderung zu wappnen.

Es ist für mich nachvollziehbar, wenn man versucht,die Einnahmeseite zum Teil berechenbarer zu gestalten,indem man den Werbeeinnahmen eine Gebühr zur Seitestellt. Dieses Modell praktizieren ARD und ZDF seitJahren. Warum soll der private Rundfunk nicht auch eineArt Gebühr erheben können, die neben der Werbung Ein-nahmen generiert? Letzten Endes, da bin ich mir sicher,wird der mündige Verbraucher selbst entscheiden, inwelchem Umfang er für Angebote zahlen möchte. Dahersollten wir dem Verbraucher die Entscheidung überlas-sen und ihn nicht bevormunden.

Auch urheberrechtlich hat die Verschlüsselung Vor-teile: Der Rechteerwerb von Programminhalten wirddurch die Verschlüsselung und die damit einhergehendeAdressierbarkeit künftig einfacher und kostengünstiger.Überreichweiten mussten bislang mit einem prozentualenAufschlag auf die Lizenzgebühren entlohnt werden. DieAdressierbarkeit macht es jetzt möglich, das Empfangs-gebiet genau einzugrenzen. Der Aufschlag entfällt. DieEingrenzbarkeit ist auch beim Erwerb von Sportübertra-gungsrechten nicht unwesentlich und könnte in Zukunftzur Voraussetzung für den Erwerb dieser Rechte werden.Ohne Verschlüsselung keine WM-Spiele für den deut-schen Rundfunk. Ich denke, dass bei dieser Sachlageauch ARD und ZDF in Sachen Verschlüsselung umdenkenwürden. In Österreich funktioniert die Verschlüsselung

des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Warum also nichtauch in Deutschland?

In einem sind wir uns, so glaube ich, alle einig: DieVerschlüsselung darf nicht zu einer Bottleneck-Situationführen. Es muss sichergestellt werden, dass jeder Nutzeran alle Programme und jedes Programm an alle Nutzergelangen kann. Daher begrüße ich das Bekenntnis vonFerdinand Kayser, dem Präsidenten und Vorstandsvorsit-zenden von SES ASTRA, anlässlich des Expertenge-sprächs im Unterausschuss Neue Medien, dass alle Ge-rätehersteller unter Beachtung von MindeststandardsReceiver herstellen und anbieten können sollen und dassallen Programmanbietern die Plattform von SESASTRA zur Nutzung zur Verfügung stehen soll.

Bei aller Verschlüsselung muss natürlich der Schutzder Verbraucherdaten, wie in anderen Bereichen auch,gewährleistet sein. Sprechen aus datenschutzrechtlichenGründen keine Argumente gegen die Verschlüsselung,so kann man sie den Infrastruktur- und den Programm-anbietern auch nicht verweigern. Solange die Pläne vonSES ASTRA nicht gegen Wettbewerbs- und Kartellrechtverstoßen, gibt es keinen Grund, dagegen vorzugehen.Vielmehr muss der Ausbau von DVB-T unser Ziel sein.Damit hat der Verbraucher einen Übertragungsweg, derunverschlüsselt bleibt. Wichtig ist, dass das Senderangebotüber DVB-T weiter verstärkt wird.

Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): Auch wenn die Sen-dergruppe ProSiebenSat.1 soeben ihren Plan fallen ließ,den Satellitenempfang ihrer Programme mit Gebührenzu belegen, bleiben die Forderungen Ihres Antrages den-noch aktuell. Wir von der LINKEN unterstützen IhrenAntrag!

Im vorliegenden Fall erfolgte der Rückzug ja nicht imInteresse der Verbraucherinnen und Verbraucher, sondernwegen eines schwebenden Verfahrens des Bundeskartell-amtes. Das witterte nämlich verbotene Absprachen mitRTL. Es müssen aber die Verbraucherinteressen im Vor-dergrund stehen!

Der Privatsenderverband verteidigt die Verschlüsse-lung in der digitalen Welt als eine unverzichtbare Vo-raussetzung zum Schutz vor unberechtigten Zugriffen.Das sehen Verbraucherschützer und die öffentlich-recht-lichen Sender anders. Warum?

Nun, die Verbraucherzentralen warnen schon längervor der Ausweitung von Bezahlfernseh-Konzepten imZusammenhang mit den Verschlüsselungsplänen. Siefordern von den Ländern das Verbot der Verschlüsselungvon frei empfangbaren Vollprogrammen im Rundfunk-staatsvertrag. Außerdem sollen die Landesmedienanstal-ten den Sendern Auflagen zur unverschlüsselten Aus-strahlung bestimmter Programme machen. Anderenfallsdrohe dem Rundfunk die totale Kommerzialisierung.Und genau so ist es, denn zur Kasse gebeten würde aufjeden Fall der Kunde. Der Austausch von Decodern unddie ursprünglich geplante Monatspauschale von3,50 Euro hätten nach Berechnungen der Verbraucher-zentralen fast eine halbe Milliarde Euro pro Jahr zusätz-lich in die Kassen des Satellitenbetreibers SES ASTRA

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gespült. Gut für das Unternehmen, schlecht für die Zu-schauerinnen und Zuschauer und darum muss dem Ein-halt geboten werden.

Einen zweiten Punkt im Antrag der Grünen unterstüt-zen wir ausdrücklich: Auch die LINKE will die Entste-hung des „gläsernen Kunden“ verhindern! Wenn Rund-funk und Fernsehen als ausschließlich kommerziellesGeschäftsmodell gehandhabt werden, wird der Wettbe-werb um den genau adressierbaren und kontinuierlichzahlenden Endkunden zum beherrschenden Thema wer-den.

Der publizistische Auftrag und die gesellschaftlicheFunktion der Medien bleiben dann auf der Strecke unddas darf nicht sein.

Aber damit nicht genug: Auf diese Weise wird dieWahl des Angebots für den „User“ oder „Kunden“ zurPreisfrage.

Die digitale Spaltung der Gesellschaft wird neue Di-mensionen annehmen. Dies gilt es zu verhindern.

Aus all diesen Gründen ist es wichtig, dass die Politiksich mit den neuen Entwicklungen in der Medienbranchebeschäftigt, Regulierungsnotwendigkeiten identifiziertund Instrumente dafür schafft, oder wie es der ZDF-In-tendant Markus Schächter in seiner Eröffnungsrede beider Medienwoche Berlin-Brandenburg ausdrückte:

Die Weiterentwicklung von Vielfalt und Qualität istdie bessere Alternative gegenüber kleinkariertenund zu kurz gedachten betriebswirtschaftlichenÜberlegungen der Pay-Euphorie. Prüfen wir kri-tisch, wie Fehlentwicklungen verhindert werdenkönnen. Entwerfen wir Modelle, die beides möglichmachen: die technologische und inhaltliche Weiter-entwicklung der elektronischen Medien und dieVielfalt und Qualität unserer Rundfunklandschaft.

Recht hat er!

Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ichwage zu behaupten, dass die bestehende Medienland-schaft in Deutschland trotz so mancher zu kritisierendenPunkte in ihrer Vielfalt noch immer einzigartig ist, undich behaupte, dass auch das Fernsehangebot in Deutsch-land außergewöhnlich breit ist – auch wenn leider Quan-tität nicht immer mit Qualität einhergeht.

Für uns Grüne ist wichtig: Fernsehen ist nicht alleinals Wirtschaftsgut zu sehen; für uns ist es vor allem einKulturgut. Das bedeutet aber auch, dass wir die Rahmen-bedingungen so setzen müssen, dass nicht nur die Wer-beindustrie und die Wirtschaftsunternehmen von unsererMedienlandschaft profitieren. Die Bürgerinnen und Bür-ger müssen im Mittelpunkt stehen.

Wir alle wissen: Die Vielfalt der Medien bildet dieGrundlage der Meinungsbildung – und ist somit einesder wichtigsten Güter einer Demokratie. Bürgerinnenund Bürger – egal ob arm oder reich – müssen die Mög-lichkeit haben, sich umfassend und aus verschiedenenQuellen zu informieren. Aus diesen Gründen sind wirüberzeugt: Wenn wir eine demokratische Teilhabe si-

cherstellen wollen, brauchen wir einen freien und ge-rechten Zugang zur Information. Die Verschlüsselungdes Fernsehprogramms via Satellit, das der Zuschauernur gegen Bezahlung wieder entschlüsseln kann, gehtdeshalb in die falsche Richtung. Die Entscheidung eini-ger Sender, ihr Programm entgeltlich zu verschlüsseln,stellt eine Verknappung von Informationen dar. Das istgerade bei Vollprogrammen ein fatales Signal. Das dualeRundfunksystem in Deutschland hat sich bewährt. Wirmüssen alles daran setzen, dieses aufrecht zu erhaltenund die Tendenz zum Bezahlfernsehen zu stoppen.

Der vor kurzem erklärte Verzicht von ProSiebenSat.1,für den digitalen Empfang via Satellit ein Entgelt zu ver-langen, ist ein gutes Signal. Wenn wir die Zuschauer vonden Vorteilen der Digitalisierung überzeugen wollen,darf diese nicht gleichzeitig mit neuen Gebühren verbun-den sein. Die Kosten für Informationsquellen im digita-len Zeitalter dürfen nicht ins Unendliche steigen. Geradein der digitalen Welt müssen wir eine Grundversorgungsicherstellen. Der Informationsbezug darf nicht nurPrivileg wohlhabender Leute sein. Deshalb muss insbe-sondere das öffentlich-rechtliche Fernsehprogramm überalle Kanäle – ob Kabel, Satellit oder IPTV – frei emp-fangbar sein. Der Blick in andere Länder zeigt uns: Pay-TV verbessert das Programmangebot keineswegs, son-dern macht Qualitätsfernsehen teuer. Selbst für denDurchschnittsbürger kann es mittelfristig unbezahlbarwerden. In den USA ist Vielfalt nur mit hohen Kostenverbunden möglich und wird deshalb nur einer kleinenSchicht zuteil. Wir wollen keine amerikanischen Zu-stände im deutschen Fernsehen.

Immer wieder tauchen Verschlüsselungspläne auf.Argumente dafür sind meist die wegbrechenden Werbe-märkte. Auch der Satellitenbetreiber Astra will im kom-menden Jahr mit der Verschlüsselung der digitalen Pro-grammübertragung beginnen. Nach dem Rückzug vonProSiebenSat.1 haben sich RTL und Astra leider keines-wegs ebenfalls von ihren Plänen verabschiedet

Die Verschlüsselung bisher frei empfangbarer Fern-sehprogramme wäre ein Wendepunkt im deutschen Fern-sehen. Die Absichten, Fernsehprogramme gegen Entgeltzu verschlüsseln, sind erste Schritte zum Bezahlfernse-hen. Sie sind außerdem ein deutliches Anzeichen dafür,dass sich die Machtstrukturen hierzulande verschieben.Dagegen brauchen wir effektive Regelungen. Früher warentscheidend, wer die Inhalte produziert. Um die Gefahrvorherrschender Meinungsmacht zu verhindern, wurdeden Sendern eine Beschränkung anhand eines maximalenMeinungsanteils auferlegt. Dieser Ansatz ist zunehmendlückenhaft. Die Orte der Medienmacht verlagern sich.Nicht mehr die Sender sind die zentralen Player. Im Ge-genzug werden die Konzerne viel mächtiger, die Infra-struktur anbieten und eigene Netze bereithalten, seien esKabelnetzbetreiber, die Telecoms oder die Satellitenbe-treiber. Sie kaufen Inhalte ein, die sie in ihre Netze oderüber Satelliten einspeisen. Als Infrastrukturanbieter un-terliegen sie aber ganz anderen Regulierungskriterien alsklassische Medien. Hier dürfen nicht länger verschiedeneMaßstäbe angesetzt werden.

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Unserer Regierung scheint dieses zukunftsweisendeThema jedoch egal zu sein. Hier richte ich mich vor al-lem an meine lieben Kollegen und Kolleginnen von derCDU: In einer Ihrer Reden zur Fernsehrichtlinie habenSie gefordert, die medienpolitische Richtschnur so zugestalten, dass „es einen Rundfunk für alle gibt, bei demMenschen nicht zum Objekt des Fernsehmachers herab-gewürdigt werden“. Das sind schöne Worte. Setzen siediese doch mal beim Thema Verschlüsselung in konkreteTaten um. Auch scheint es der großen Koalition egal zusein, dass durch diese neuen Verschlüsselungssystemeder „gläserne Zuschauer“ immer mehr zur Realität wird.Hier wird erneut deutlich, dass unsere Regierung – ins-besondere die Union – Medienpolitik als Wirtschafts-politik begreift. Es wird nicht auf die Bedürfnisse derGesellschaft, sondern in erster Linie auf die der Medien-industrie eingegangen.

Bei verschlüsselten Programmen muss sich zukünftigregistrieren lassen, wer eine Freischaltung will. Mit derVerschlüsselung geht also die individuelle Adressierungder Empfangsgeräte einher. So können die Satellitenan-bieter erkennen, welche Zuschauerin, welcher Zuschauerwann was im Fernsehen sieht. Das ermöglicht nicht nurden gezielten Einsatz von Werbung, sondern führt vor al-lem zu einer unzulässigen Datensammlung. Dagegentreten wir entschieden ein.

Vielfalt und eine partizipative Mediengesellschaft bil-den sich nicht von allein. Ich möchte die große Koalitiondaher dringend auffordern, unsere Bedenken ernst zunehmen und sich endlich dafür einzusetzen, dass wirauch in 20 Jahren noch eine vielfältige Medienlandschaftin Deutschland haben. Wer hier allein auf Unternehmer-freundlichkeit achtet, gefährdet die gewachsene Medien-landschaft in Deutschland. Ich hoffe auf Einigkeit undUnterstützung unseres Antrags; denn hier müssen wir alsMedien- und Kulturpolitiker gemeinsam handeln.

Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Chancen undHerausforderungen der Osterweiterung derEuropäischen Union (EU) für die Entwick-lungszusammenarbeit der EU (Zusatztagesord-nungspunkt 8)

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Wir beschäftigenuns heute mit einem zentralen Thema der Entwicklungs-zusammenarbeit der Europäischen Union, und zwar mitder Frage: Wie sieht die Entwicklungszusammenarbeitnach der EU-Osterweiterung aus?

Im Mai 2004 sind die Länder Polen, die TschechischeRepublik, die Slowakische Republik, Ungarn, Slowe-nien, Estland, Lettland, Litauen, Malta und Zypern derEU beigetreten. Die CSU hat sich dabei immer für das„Regattaprinzip“ statt des „Big Bang“ ausgesprochen,sich aber nicht durchgesetzt. Jetzt geht es einerseits umdie Frage: Wie schaffen wir den Integrationsprozess in-tern? Andererseits müssen wir uns um die wirtschaft-

liche wie soziale Anbindung der neuen Nachbarn küm-mern.

Vorab eine Anmerkung zur Integrationsfähigkeit derEU: Mit dem Beitritt von Rumänien und Bulgarienbraucht die EU eine Verschnaufpause. Die Integrationvon zwölf neuen, wirtschaftlich schwachen Ländern, diesich teils von Jahrzehnten sozialistischer Misswirtschaftnoch nicht erholt haben, braucht Zeit. Gleichzeitig musssich die EU klar machen, dass sie nur gelingen wird,wenn auf immer neue Kompetenzen und Eingriffe in dienationalstaatliche Souveränität verzichtet und das Subsi-diaritätsprinzip endlich ernst genommen wird.

Die EU hat fortan neue Nachbarn: Russland, Weiß-russland, die Ukraine, Serbien, Kroatien sowie 2007nach dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens die Türkei,Mazedonien und die Republik Moldau.

Apropos Nachbarn: Bei der Türkei muss dieser Statusso bleiben. Eine Aufnahme der Türkei kommt für michpersönlich, aber auch für viele Kollegen gerade aus derCSU nicht infrage. Dabei geht es nicht um die Erfüllungder wirtschaftlichen Voraussetzungen. Dabei geht esauch nicht um die Haltung der Türkei in der Zypern-frage, wenngleich ich mich schon über die Dreistigkeitwundere, mit der die Türkei hier auftritt.

Nein, es geht darum, dass die Türkei weder geogra-fisch noch kulturell zu Europa gehört. Deshalb setzenwir uns ein für die privilegierte Partnerschaft, bei der dasfreundschaftliche Miteinander flexibel und in Ausrich-tung auf beide Seiten gestaltet werden kann. Das ThemaZypern zeigt doch einmal mehr, dass die Türkei geradediese Flexibilität braucht und sich mit einer Vollintegra-tion schwer tun würde.

Wenn wir jetzt das richtige Maß halten und die EUweder mit Beitritten noch inhaltlich überfordern, gilt:Die Osterweiterung der EU ist die größte Chance fürFrieden und Zusammenarbeit in diesem Jahrhundert. Mitihr wurde die historische Spaltung des europäischenKontinents überwunden.

Aus der entwicklungspolitischen Perspektive bietetdie Erweiterung eine Chance, Konfliktprävention nichtnur in angrenzenden Krisenregionen, sondern weltweitzu verbessern. Wesentliche Fortschritte sind auf dieseWeise bei der Lösung von Grenzdisputen, Nationalitäten-konflikten und Minderheitenproblemen bereits erreichtworden.

Ich begrüße ausdrücklich eine stärkere Beteiligung derEU am Krisenmanagement als Reaktion auf spezifischeregionale Bedrohungen. Damit stellt die EU ihre Bereit-schaft unter Beweis, einen größeren Teil der Last derKonfliktbeilegung in den Nachbarstaaten und anderenRegionen zu übernehmen.

Die Osterweiterung der EU beinhaltet jedoch auchHerausforderungen für die EU-Entwicklungszusammen-arbeit. Am 22. November 2005 wurde die gemeinsameErklärung „Europäischer Konsens über die Entwick-lungspolitik“ des Rates verabschiedet. Die europäischeVerfassung hätte die Entwicklungszusammenarbeit der EUgeregelt. Sie ist allerdings nicht ratifiziert. Und jeder, der

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noch immer einer Ratifizierung des bisherigen Konvent-entwurfs nachhängt, missachtet die demokratischeEntscheidung vieler Bürgerinnen und Bürger mehrererStaaten. Europa darf aber nicht mit Demokratieverzichtgleichgesetzt werden.

Die neuen EU-Länder haben jedenfalls den Acquis com-munautaire der EU übernommen und treten ferner in diezahlreichen Kooperations- und Partnerschaftsabkommenmit den Entwicklungsländern ein. Insbesondere ist hierdas Abkommen von Cotonou zu nennen. Des Weiterenwerden die neuen Mitgliedstaaten zu dem EuropäischenEntwicklungsfonds finanziell beitragen.

EU-Beitritt heißt also nicht nur Strukturbeihilfen zumAufbau des eigenen Landes. EU-Beitritt heißt auch: ent-wicklungspolitische Verantwortung für ärmere Länder undRegionen und die Mitgestaltung der globalen Ordnungs-politik. Konsequenz: Insgesamt wurden 290 MillionenEuro an öffentlicher Entwicklungszusammenarbeit für dasJahr 2004 von den neuen Mitgliedstaaten bereitgestellt.

Allerdings: Die ODA-Quoten variieren von Land zuLand zwischen 0,01 Prozent und 0,1 Prozent. Die neuenMitgliedsländer werden somit aller Voraussicht nach inabsehbarer Zukunft den Monterrey-Konsens, sprich das0,39-Prozent- bzw. 0,33-Prozent-Ziel, nicht erreichenkönnen.

Der „Europäische Konsens über die Entwicklungs-politik“ legt dazu fest: Die neuen Mitgliedstaaten der EUwerden sich bemühen, ihre ODA-Quote bis 2010 imRahmen ihrer jeweiligen Haushaltsaufstellungsverfahrenauf den Wert 0,17 Prozent anzuheben, sie werden sich be-mühen, ihre Quote bis 2015 auf 0,33 Prozent zu erhöhen.Die großen Anstrengungen der neuen Mitgliedstaaten,ihrer Geberrolle gerecht zu werden, müssen wir anerken-nen.

Die zukünftige Entwicklungszusammenarbeit derneuen Mitgliedstaaten wird sich voraussichtlich weiterhinauf die Nachbarregionen der Staaten konzentrieren. Austhematischer Sicht konzentrierten sich die entwicklungs-politischen Bemühungen vor allem auf die Weitergabeeigener Transformationserfahrungen sowie die Armuts-bekämpfung. Das ist richtig und in unserem Interesse. Ichsage das gerade im Hinblick auf den Transformations-prozess. Auch wir in Deutschland haben unterschätzt,welch verheerende Wirkungen 40 Jahre Sozialismus nachsich ziehen und wie schwierig es ist, den wirtschaft-lichen, technischen aber auch gesellschaftlich-sozialenTotalschaden, den die Sozialisten hinterlassen haben, zubeseitigen. Die hier schmerzlich und teuer gemachtenErfahrungen muss man weitergeben und in der Zusam-menarbeit mit den neuen Nachbarn gezielt nutzen. UnserInteresse ist es darum, die Integration der EU-Beitritts-länder in die Entwicklungszusammenarbeit der EU zufördern. Die Ansatzpunkte dazu sind vielfältig und imhier zu debattierenden Antrag genannt.

Dr. Bärbel Kofler (SPD): Die Europäische Kommis-sion hat im November 2006 in ihrer Mitteilung an dasEuropäische Parlament eine positive Bilanz der EU-Er-weiterung gezogen. Die zehn neuen Mitgliedstaaten ha-

ben innerstaatlich den Integrationsprozess ausgezeichnetumgesetzt und haben im Zusammenspiel mit allen Mit-gliedstaaten der EU einen positiven Beitrag zu mehrFrieden, Stabilität und Demokratie geleistet. Diese Bi-lanz ist erfreulich und zeigt, dass seit 2004 ein erfolgrei-cher Integrationsprozess begonnen hat. Um so entschei-dender ist es nun, die Chancen und Herausforderungender Erweiterung der EU für die europäische Entwick-lungszusammenarbeit zu beleuchten und zu befördern.

Der Europäische Entwicklungskonsens, von Kom-mission und Europäischem Rat im November 2005angenommen, fasst die Ziele einer europäischen Ent-wicklungspolitik nochmals zusammen. Das alles über-wölbende Ziel ist die weltweite Armutsminderung.Dabei stehen die Erreichung der Millenniumsentwick-lungsziele und die Förderung nachhaltiger Entwick-lungsprozesse im Vordergrund. Es gibt viele Wege, aufdenen diese Ziele angestrebt werden.

Zu den Schwerpunkten einer europäischen Entwick-lungspolitik gehören daher: Handel und regionale Inte-gration; Umwelt und nachhaltige Nutzung natürlicherRessourcen, Wasser und Energie; Infrastruktur, Trans-port, Kommunikation und Ländliche Entwicklung;Landwirtschaft und Nahrungssicherheit; Good Gover-nance, Demokratie und Menschenrechte; Konfliktprä-vention und fragile Staaten; Sozialer Zusammenhalt undBeschäftigung. Um diese konkreten Ziele zu erreichen,ist die Steigerung des Volumens der öffentlichen Ent-wicklungsbeiträge sowie der Effizienz der Hilfen eineVerpflichtung aller Mitgliedstaaten der EU. So bringt derEU-Beitritt für die neuen Mitgliedstaaten die entwick-lungspolitische Verantwortung für ärmere Regionen undLänder mit sich. Sie bringt aber auch neue finanzielleVerpflichtungen mit sich und macht auch in diesem Be-reich eine effiziente Geberkoordination erforderlich. Dereuropäische Konsens über die Entwicklungspolitik siehtvor, dass die neuen Mitgliedstaaten sich bemühen wer-den, bis 2015 die ODA-Quote auf 0,33 Prozent ihresBruttonationaleinkommens zu heben.

Um die neuen Mitgliedstaaten mit ihrer neuen Geber-rolle und entwicklungspolitischen Verantwortung nichtallein zu lassen, bedarf es auch eines Einsatzes vonseitender deutschen Politik. Die Opposition hat sich in diesemZusammenhang lange ausgeschwiegen und keine Initia-tive gezeigt. Um so wichtiger ist der heute vorliegendeAntrag, der dazu ein Konzept vorträgt.

Der Erfolg einer fortschreitenden europäischen Inte-gration hängt von einer guten innereuropäischen Koope-ration unter den Mitgliedstaaten ab. Nur so wird es unsfür die Zukunft gelingen, eine Verfassung für Europa zuerreichen, mit der die EU ein Fundament bekommt, aufwelchem zukünftig auch eine gemeinsame Sicherheits-und Außenpolitik und eine gemeinsame Entwicklungs-politik glaubhaft und stark umgesetzt wird. Denn geradeden neuen Mitgliedstaaten kommt eine besondere Ver-antwortung zu, regionale Stabilität in Osteuropa zu be-fördern und zwischenstaatliche Unsicherheiten abzu-bauen.

Auch der Erfolg einer gemeinsamen EU-Entwick-lungspolitik ist nur zu erreichen, wenn alle Mitgliedstaa-

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ten gemeinsam an einem Strang ziehen. Wir deutschenEntwicklungspolitiker haben uns die weltweite Armuts-bekämpfung auf die Fahnen geschrieben. Dazu gehörtaber auch eine Beförderung der europäischen Entwick-lungspolitik, indem wir im Verbund mit den neuen Mit-gliedstaaten dieses Ziel angehen.

Konkret heißt das für uns, dass wir den neuen Mit-gliedern beim Aufbau und Ausbau von entwicklungs-politischen Institutionen durch Beratung und Fortbil-dung zur Seite stehen. Bei dieser Unterstützung dürfenwir aber nicht nur in eine Richtung denken. Vielmehrmüssen wir uns auch fragen, was wir von den neuen Mit-gliedstaaten lernen können. Als Nationen, die in den ver-gangenen zehn Jahren immense Transformationendurchlaufen haben, sind die neuen EU-Mitglieder geradevor dem Hintergrund ihrer Transformationserfahrung fürdie europäische Entwicklungspolitik von großem Wert.

Unser Antrag ebnet den Weg für eine effizientere eu-ropäische Entwicklungspolitik zur Bekämpfung derweltweiten Armut und macht zugleich eine entwick-lungspolitisch sinnvolle Begleitung der eingeleiteten Re-formprozesse der EU möglich. Diesem Antrag nicht zu-zustimmen, heißt, sich diesen Aufgaben nicht zu stellen.

Hellmut Königshaus (FDP): Trotz der großen Eile,mit der dieser Antrag hier durch das Plenum gejagt undbeschlossen werden soll, habe ich mich zunächst überden Antrag gefreut. Er entspricht nämlich – fast schonwortgleich – im ersten Teil unserem eigenen Antrag aufDrucksache 16/2833. Wir fordern dort, dass die Trans-formationserfahrungen der neuen Beitrittskandidaten indie entwicklungspolitischen Erfahrungen der EU einbe-zogen werden müssen. Schön, dass Sie diese Anregunggleich aufgenommen und umgesetzt haben.

Nur: Leider haben Sie es bei dieser Feststellung be-wenden lassen. Danach kommt nur heiße Luft. KonkreteÜberlegungen zur Integration der neuen Mitgliedstaatenin den Bereich der europäischen Entwicklungszusam-menarbeit bleiben aus. Weder gehen Sie darauf ein, wiedie Interessen und Erfahrungen der neuen Mitgliedstaatenintegriert werden können, noch haben Sie ein Konzept,wie die europäische Entwicklungszusammenarbeit mit sovielen neuen Partnern, alles ehemalige Nehmerländer,gestaltet werden soll. Obwohl die Erweiterung in dieserHinsicht viele Chancen, aber eben auch Risiken mit sichbringt, beschränken sich Ihre Ausführungen auf Feststel-lungen und einen Lobgesang auf das BMZ. Warumeigentlich? Es ist ja schlimm genug, dass die Kolleginnenund Kollegen der Koalition bei uns Liberalen Anleihenaufnehmen müssen, nur um überhaupt noch vor demBeitrittstag einen eigenen Antrag hinzubekommen. Vielschlimmer ist es, dass es das BMZ für die Bundesregie-rung nicht geschafft hat, hierzu ein schlüssiges Konzeptzu entwickeln.

Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum Siemit Ihrer Mehrheitsmacht durchgesetzt haben, den An-trag so schnell ohne jede Beratung in den Ausschüssenzu beschließen: Weil nämlich nichts Wesentliches darin-steht, was nicht schon vor Wochen von uns in unserem

Antrag gefordert wurde. Das mag Ihnen hier genügen,dürftig bleibt es trotzdem.

Im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaftmüssen Sie aber ehrgeiziger sein. Die BundesrepublikDeutschland hat traditionell, jedenfalls solange Liberaleden Kurs in der Bundesregierung mitbestimmt haben,immer zwischen Groß und Klein und Nord und Süd aus-gleichend gewirkt. Dieser Rolle sollte die Bundesregie-rung auch jetzt gerecht werden und mit konstruktivenVorschlägen zur überfälligen Reform der europäischenEntwicklungszusammenarbeit aufwarten. Der vorliegendeAntrag ist jedoch nur ein dürftiges Lippenbekenntnis.Konkrete Maßnahmen, die im Rahmen der EU-Ratsprä-sidentschaft eingeleitet werden könnten, fehlen völlig.

Dabei fällt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in eineZeit, in der die begonnenen Reformen der europäischenEntwicklungszusammenarbeit dringend fortgesetzt undweiterentwickelt werden müssen. Deutschland als einerder größten Geber – und ab 2008 sogar absolut größterGeber – zum 10. Europäischen Entwicklungsfonds stehtda in einer besonderen Verantwortung, aber es muss auchdas größte Interesse haben, dass mit dem Geld seinerSteuerzahler verantwortungsvoll umgegangen wird.

Da Sie ja offenbar erst vor wenigen Tagen Zeit fanden,sich mit dem Thema zu befassen, wollen wir Ihnen nach-sehen, dass Ihnen wohl auch die Zeit nicht reichte, sichdie geografische Lage der neuen Mitgliedstaaten anzu-sehen. Entgegen Ihrer Vermutung sind die Türkei undMazedonien keine neuen Nachbarn der EU. Zu beidenhaben wir bereits durch Griechenland eine gemeinsameEU-Außengrenze. Vielleicht studieren Sie da nochmalsdie Europakarte.

Da Sie so offenkundig aus dem Mustopf steigen, wollenwir Ihnen gerne behilflich sein und noch einmal auf-zeigen, welche Reformen jetzt anstehen, genauer: nochausstehen. Das erste Ziel einer Reform muss eine klareAufgabenverteilung zwischen den EU-Mitgliedstaatenund der Europäischen Union sein. Wenn nämlich selbstdie alten Mitgliedstaaten nicht mehr überblicken, wofürdie EU in der Entwicklungszusammenarbeit zuständig istund wo die Mitgliedstaaten selbst, wie sollen dann dieneuen EU-Mitgliedstaaten Durchblick haben? Die EU-Kommission muss sich endlich wieder auf ihre Kernauf-gaben konzentrieren. Die seit Jahren zu beobachtendekontinuierliche Ausdehnung der EU-Aktivitäten derKommission auf diesem Feld muss beendet werden.Denn die Beschlusslage im Rat ist unverändert. Die Mit-gliedstaaten haben sich mit Blick auf den Subsidiaritäts-grundsatz ausdrücklich gegen eine Ausweitung der ge-meinschaftlichen Entwicklungspolitik entschieden, unddabei sollte es auch bleiben.

„Europäische“ Entwicklungszusammenarbeit macht nurSinn, wenn die EU nicht als weiterer Geber, der im Wett-bewerb zu den einzelnen Mitgliedstaaten steht, auftritt.Im Mittelpunkt der Arbeit der EU-Kommission muss dieGeberkoordination stehen. Sie soll koordinieren, wennmehrere Mitgliedstaaten gemeinsam ein Projekt durch-führen wollen. Die Entwicklungspolitik der Europäi-schen Union muss sich auf solche Länder und Themen

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beschränken, die von den nationalen entwicklungspoliti-schen Aktivitäten nicht abgedeckt werden.

Es ist richtig, dass der Beitritt neuer Mitgliedstaateneine besondere Herausforderung an den entwicklungspo-litischen Acquis darstellt, sei es in finanzieller Hinsicht,sei es in Bezug auf die inhaltliche Ausgestaltung dereuropäischen Entwicklungszusammenarbeit. Die neuenMitglieder haben sich durch ihren Beitritt verpflichtet,die Entwicklungspolitik der Union mit zu tragen. 1980verwendeten beispielsweise die osteuropäischen Länderlediglich 0,06 Prozent des BNE für Entwicklungszusam-menarbeit. Die finanzielle Eingliederung dieser Staatenin die europäische Entwicklungspolitik mit dem Ziel der0,7-Prozent-ODA-Quote kann daher nur schrittweiseerfolgen. Wir müssen da rücksichtsvoll mit unserenneuen Partnern umgehen.

Aber wir müssen auch anerkennen, dass die Beitritts-länder andere Schwerpunkte in der Entwicklungszusam-menarbeit setzen. Eine wichtige Rolle spielt beispielsweisedie Weitergabe von Transformationserfahrungen. Eine fairangelegte Integration der neuen Beitrittskandidaten be-rücksichtigt diese entwicklungspolitischen Erfahrungen.

Dazu zählt auch, dass diese neuen Mitglieder keineSonderbeziehungen zu den ehemaligen Kolonien unter-halten. Es wird kaum gelingen, ihnen begreiflich zu ma-chen, warum wir manchmal gar nicht so arme AKP-Staa-ten besser behandeln als die häufig sehr viel ärmerenNicht-AKP-Staaten. Schließlich ist diese unterschiedlicheBehandlung heute in der Tat nicht mehr zu rechtfertigen.Entweder sind diese Staaten und Gebiete bedürftig, dannsollten sie nach den allgemeinen Kriterien im Rahmen derEntwicklungszusammenarbeit gefördert werden. Sind siees nicht – oder nicht mehr –, dann sollten auch keine Steu-ermittel zur Verfügung gestellt werden.

Aufgabe der Bundesregierung muss es sein, währendder deutschen EU-Ratspräsidentschaft einen Fahrplanfür die Umsetzung dieser Ziele aufzustellen. In einemersten Schritt muss die längst überfällige Integration desEuropäischen Entwicklungsfonds in den EU-Haushaltund damit die Gewährleistung einer – derzeit nochfehlenden – parlamentarischen Kontrolle umgesetztwerden. Die Europäische Kommission hat selbst dievollständige Einbeziehung der Zusammenarbeit mit denAKP-Staaten in den EU-Haushalt gefordert und als„Veränderung in Richtung Normalität“ bezeichnet. Demkönnen wir Liberalen nur nachdrücklich zustimmen.

Die Integration des EEF in den EU-Haushalt sorgtzudem für Budgetklarheit. Die damit gewährleistetenKontrollrechte des Europäischen Parlaments führen zuTransparenz und mehr Legitimität der europäischen Ent-wicklungszusammenarbeit. Als der größte Beitragszah-ler muss die Bundesregierung ihre starke Position nut-zen, um die Eingliederung des EEF in den EU-Haushaltvoranzutreiben.

Diese Punkte hätten Sie in Ihrem Antrag erwähnenmüssen. Ein Antrag, der offenbar nur als Lobgesang aufdas BMZ gemeint war, wird der Sache und den Heraus-forderungen nicht gerecht. Unsere europäischen Partner,allen voran unsere neuen Mitgliedstaaten, verbinden

besondere Erwartungen mit der deutschen Ratspräsi-dentschaft. Sie erwarten nicht nur eine Lösung der Ver-fassungskrise, sondern auch mutige politische Impulsein vielen anderen politischen Bereichen.

Mit diesem Antrag werden alle ohnehin äußerstbescheidenen Erwartungen an ein konstruktives Heran-gehen der deutschen Ratspräsidentschaft allerdings bitterenttäuscht. Wir hätten, trotz aller negativen Erfahrungenmit Ihnen im ersten Jahr dieser angeblich großen Koali-tion, mehr erwartet. Hoffentlich hat die Bundesregierungselbst dort mehr auf der Pfanne! Unser schon lange vor-liegender Antrag mag ihr den Weg weisen.

Heike Hänsel (DIE LINKE): Die Bundesregierungsieht die Schwerpunkte der Entwicklungszusammenar-beit im Rahmen der Osterweiterung in den BereichenKonfliktmanagement in Krisenregionen, im Monterrey-Konsens, in der Paris-Agenda und in den Wirtschafts-partnerschaftsabkommen mit den AKP-Staaten. So um-fangreich die Agenda, so banal ist letztendlich dieSchlussfolgerung in Ihrem Antrag, nämlich: Weiter so!Die Linke fordert dagegen einen grundlegenden Politik-wechsel in der jetzigen Außen- und Wirtschaftspolitikder Europäischen Union, um Entwicklung für die Länderdes Südens nicht länger zu blockieren. Wir fordern zu-dem eine parlamentarische Kontrolle des EuropäischenEntwicklungsfonds und lehnen es strikt ab, aus diesemFonds Militäreinsätze in Afrika zu finanzieren, wie esdie Afrika-Fazilität vorsieht.

In dem Antrag der Bundesregierung kritisieren wirkonkret folgende Punkte: Erstens. Dem positiven Bezugim Antrag auf das europäische Krisenmanagement in be-nachbarten und anderen Konfliktregionen können wiruns nicht anschließen, gerade dann nicht, wenn wir dasEU-Krisenmanagement in Osteuropa betrachten. DieRolle der EU in der jugoslawischen Krise haben wir oftkritisiert. Diese an den eigenen Interessen orientiertePolitik setzt sich fort mit der anhaltenden militärischenPräsenz auf dem Balkan, einer einseitigen, weitere Sepa-ration begünstigenden Haltung im Konflikt um den Ko-sovo und mit einer hermetischen Abriegelung der „Fes-tung Europa“ gegenüber migrationswilligen Menschenaus osteuropäischen Ländern. Entwicklungshilfe darfnicht in den Kontext von Flüchtlingsabwehr gestellt wer-den, wie sich das heute unter dem Motto „RegionaleSchutzprogramme“ vollzieht.

Wir haben bereits zu Beginn der Legislaturperiodeden Rückzug der Bundeswehr aus Bosnien-Herzegowinaund die Beendigung der ALTHEA-Operation gefordert.Dort müssen zivile und soziale Aufbauprozesse verstärktwerden, denn bis heute ist die Lebenssituation für dieMenschen in dieser Region nicht einfach, viele jungeMenschen verlassen Bosnien-Herzegovina wegen feh-lender Perspektiven. Die weiter andauernde Militärprä-senz bindet die finanziellen Ressourcen falsch. Für denKosovo fordern wir eine neutrale Vermittlung durchDeutschland und die übrigen EU-Staaten in der Kontakt-gruppe.

Die EU setzt in ihrer gemeinsamen Außen- und Si-cherheitspolitik zunehmend auf militärische Instru-

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mente. Das wird besonders in dem von Ihnen mehrmalsangeführten Verfassungsvertrag deutlich. Die Linke istentschieden gegen die Militarisierung europäischer Poli-tik und fordert stattdessen einen europäischen zivilenFriedensdienst. Das wäre ein kohärentes Instrument fürdie Entwicklungszusammenarbeit, nicht das Militär!

Zweitens: Die ständig wiederholte Betonung der Ko-härenz im Entwicklungskonsens ist zur reinen Phraseverkommen. Schauen Sie sich doch das Verhältnis vonHandels- und Entwicklungspolitik der EU an! Handelsli-beralisierungen in vielen sensiblen Bereichen werdenden AKP-Staaten im Rahmen der Verhandlungen zu denWirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPAs) aufgezwun-gen. Der Europäische Entwicklungsfonds wird danndazu missbraucht, die schwerwiegenden Folgen derMarktöffnungen für die Menschen in den AKP-Staatenabzumildern. Entwicklungszusammenarbeit verkommtzum Anhängsel neoliberaler Wirtschaftspolitik. Wir for-dern ein Moratorium für die EPA-Verhandlungen, dasjetzige Verhandlungsmandat muss entzogen und gänz-lich neu formuliert werden.

Schließlich: Leider wiederholt sich auch in diesemAntrag das Festhalten am EU-Verfassungsvertrag. Die-ser Verfassungsvertrag ist eindeutig gescheitert, und daszu Recht. Die Menschen in Frankreich und den Nieder-landen haben erkannt, dass dieser Vertrag einen An-schlag auf die sozialen Rechte bedeuten würde. Wir wol-len ein anderes Europa entwickeln, das sozial,ökologisch und friedlich nach innen und außen ist. Daswäre auch der beste Beitrag für Entwicklungsmöglich-keiten der Länder des Südens.

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die EU-Entwicklungspolitik hat uns in diesem Jahr wiederholt be-schäftigt und wird dies auch zukünftig tun. Ich erinnere anden „Europäischen Konsens“, die Erklärung zur EU-Ent-wicklungspolitik. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sindder weltweit größte Geber von Entwicklungsgeldern. Undum mehr Einheitlichkeit zu erreichen, hat die EuropäischeUnion mit der europäischen Entwicklungsstrategie sicherstmals nicht nur einen Rahmen für die Politik der Ge-meinschaft, sondern auch für die ihrer 25 Mitgliedstaatengesetzt. In diesem Kontext bewegen sich nun auch dieneuen Mitgliedstaaten, deren historische Erfahrungen imTransformationsprozess – vermutlich in besonderemMaße in den benachbarten Regionen – hilfreich sein kön-nen bei der Gestaltung entwicklungspolitischer Koopera-tion.

Eine vertiefte Entwicklungskooperation in den Bei-trittsländern wird aber auch im umfassenderen Sinne vonBedeutung sein, zum Beispiel bei der gerade stockendenWelthandelsrunde. Ohne die gesamteuropäische Bereit-schaft, zu einer „Entwicklungsrunde“ beizutragen, wer-den keine entsprechenden Kompromisse zu finden sein.Dies betrifft durchaus Felder wie die Agrarpolitik, woInteressen der Beitrittsstaaten auf die von Entwicklungs-ländern treffen. Die Höhe und Ausgestaltung der Agrar-subventionen und Agrarexportsubventionen sei hier er-wähnt.

Mit dem Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten stelltsich die Aufgabe, sie in das System der gemeinschaftli-chen Entwicklungspolitik zu integrieren. Potenziell be-steht hierbei die Möglichkeit, das Profil und die Beson-derheit der europäischen Entwicklungszusammenarbeitinsgesamt zu stärken. Bisher, so muss man nüchtern fest-stellen, ist nicht hinreichend klar, wo, mit welchen Mit-teln und in welcher Abstimmung mit den Mitgliedstaa-ten die EU ihre Entwicklungspolitik umsetzen will. DieThemenvielfalt der europäischen EZ lässt so gut wie alleFormen der Kooperation zu. Die Arbeitsteilung mit denMitgliedstaaten ist offenbar bestenfalls in Ansätzen ge-geben. Bessere Ergebnisse in der europäischen EZ set-zen aus unserer Sicht jedoch zukünftig eine gezielte Ar-beitsteilung voraus.

Die regionalen Prioritäten der Beitrittsländer in derEntwicklungskooperation liegen im Kaukasus, Zentral-asien und in Südosteuropa. Die Erfolge und Fehler beimNeuaufbau staatlicher Institutionen, die Erfahrungen mitradikalen gesellschaftlichen Umbrüchen der Beitrittslän-der sind geeignet, um in vergleichbaren Umbruchsitua-tionen beratend tätig zu werden. Im besten Fall kann dieErfahrung der Demokratisierung auf staatlicher Ebene,aber auch durch das Wirken der zahlreichen Nichtregie-rungsorganisationen aus den osteuropäischen Ländernbefördert werden.

Der Antrag beschreibt im Wesentlichen, was ohnehinschon von der Bundesregierung angestoßen worden ist.Er greift keinen qualitativ neuen Aspekt auf. Deshalbkann man eigentlich nicht widersprechen und ich wun-dere mich nur über einen solch wenig fortschrittlichenAntrag. Natürlich ist es sinnvoll, wenn die Bundesregie-rung auch personell die Diskurse über die Ausgestaltungder Entwicklungszusammenarbeit und die Einbindungder Beitrittsstaaten unterstützt. Fortbildung von Exper-ten und Praktika in deutschen Institutionen der Entwick-lungszusammenarbeit sind unterstützenswert. Und werwäre schon gegen die Fortsetzung eingeleiteter Reform-prozesse in der EU? Der Antrag versäumt allerdings zubenennen, wo die Blockaden einer stärkeren Abstim-mung zwischen bilateraler und europäischer Entwick-lungszusammenarbeit bestehen. Er schlägt keinen Bogenzu anderen Politikfeldern – wie der Handelspolitik –, aufdenen eine entwicklungsfreundliche Haltung der Bei-trittsstaaten angezeigt wäre. Dass die Koalitionsfraktio-nen dem Thema die rechte Brisanz nicht zutrauen, zeigtsich daran, dass wir zu später Zeit und ohne Überwei-sung in die Ausschüsse darüber befinden. Meine Frak-tion wird sich bei dem Antrag enthalten.

Anlage 9Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Dem Beruf des Ret-tungsassistenten eine Zukunftsperspektive ge-ben – Das Rettungsassistentengesetz novellieren(Tagesordnungspunkt 18)

Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU): Das 1989 in Kraftgetretene Gesetz über den Beruf der Rettungsassistentinund des Rettungsassistenten, RettAssG, regelt sowohl dieAusbildung als auch die Aufgaben der Rettungs-

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assistenten: die Notfallversorgung von (Schwer-)Verletz-ten am Ort des Unfallgeschehens bis zum Eintreffen desNotarztes und die Assistenz bei Maßnahmen des Arztessowie die qualifizierte Betreuung von Schwerkrankenbeim Transport in eine Klinik. Es ist unbestritten, dass dieAufgaben der Rettungsassistenten im Zuge des medizini-schen Fortschritts, insbesondere des technischen Fort-schritts in der Gerätemedizin, zunehmend anspruchsvol-ler und verantwortungsvoller wurden.

Der Beruf des Rettungsassistenten ist ein reglemen-tierter Heilberuf, der nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG indie Zuständigkeit des Bundes fällt. Das Rettungsassis-tentengesetz ist damit von dem derzeit laufenden Verfah-ren zur Umsetzung der EU-Berufsanerkennungsrichtli-nie betroffen und wird zurzeit ebenso wie andereGesetze, die unter diese Richtlinie fallen, zunächst biszum 20. Oktober 2007 im Hinblick auf die Anforderun-gen der EU geändert. Hierzu wird das BMG ein Gesamt-paket vorlegen, in dem alle reglementierten Heilberufedes Bundes enthalten sind.

Das Rettungsassistentengesetz wurde von 1989 bisheute insgesamt 13-mal geändert. Seitens der CDU/CSU-Fraktion sehen wir ebenso wie die Bundesregie-rung die Notwendigkeit, dass das Rettungsassistentenge-setz nach der Vielzahl von Änderungen und Anpassun-gen jetzt zeitnah in dieser Legislaturperiode novelliertwird. Dies teilte die Bundesregierung im Juli dieses Jah-res auch bereits auf eine entsprechende Anfrage derFDP-Fraktion mit. Im Vorfeld der Novellierung hat dieBundesregierung bei den Bundesländern Daten zur Or-ganisation ihrer jeweiligen Rettungsdienste und zur Fi-nanzierung der Rettungsassistentenausbildung erhoben.Diese Angaben sind eine wichtige Grundlage für diekonkrete Ausgestaltung praxistauglicher neuer Regelun-gen. Die Neuformulierung und Aktualisierung des Ge-setzes bedarf dieser umfangreichen Vorarbeiten, die un-ter anderem sowohl die Strukturen der Rettungsdiensteals auch die zu veranschlagenden Kosten betreffen. Dieunterschiedlichen Strukturen der Rettungsdienste in deneinzelnen Bundesländern müssen zum Beispiel bei derEntscheidung berücksichtigt werden, inwieweit die Aus-bildung stärker intensivmedizinisch oder praxisorientiertauszurichten ist.

Wir sind uns darin einig, dass die Vielfalt unterschied-lichster Notfälle ebenso wie die mitunter sehr hohe psy-chische Belastung im Einsatz von den Rettungs-assistenten eine umfassende und qualifizierte Ausbildungverlangen. Sie müssen in der Lage sein, am Unfallort biszum Eintreffen des Notarztes eigenständige und eigen-verantwortliche Entscheidungen zu treffen und selbst-ständig zu handeln. Wir werden im Rahmen der Novellie-rung des RettAssG durch eine diesen Anforderungenangemessene, solide Ausbildungs- und Prüfungsordnungdafür sorgen, dass die Rettungsassistenten auch künftigüber ein fundiertes Fach- und Sachwissen verfügen, dassie dazu befähigt, selbst unter dem oft erheblichen Zeit-druck am Unfallort kompetente und verantwortungsvolleEntscheidungen zu treffen.

Wir wissen, dass die Rettungsassistenten zunehmendAnfahrtszeiten der Notärzte überbrücken müssen. Die

inhaltliche Ausbildung muss sie optimal auf diese Situa-tionen vorbereiten. Deshalb werden ärztliche Expertenwie auch Rettungsassistenten, die über eine entspre-chende Praxiserfahrung verfügen, bei der Erstellung desGesetzentwurfs gehört und einbezogen. Nach jetzigerKenntnis spricht fachlich und inhaltlich vieles dafür, dieAusbildungszeit für den Beruf des Rettungsassistentenzu verlängern – auch wenn dies erhebliche Mehrkostenbedeutet. Es geht bei der Novellierung aber nicht alleinum die Ausbildungszeit und -inhalte, sondern auch ganzwesentlich darum, die Kompetenzen und Aufgaben desRettungsassistenten sowie die von ihm zu erfüllendenAnforderungen zu konkretisieren. Nicht zuletzt muss dasneue Gesetz den Rettungsassistenten wesentlich mehrRechtsklarheit bieten. Als diejenigen, die als Erste amUnfallort eintreffen, müssen sie klar und eindeutig wis-sen, was in schwierigen Situationen für sie zu tun und zuverantworten ist. Nach derzeitiger Rechtslage läuft dieAusübung von heilkundlichen Tätigkeiten am Einsatzortunter dem Aspekt „rechtfertigender Notstand“ und eswird oft unter der so genannten Notkompetenz gehan-delt, die rechtlich nicht eindeutig geregelt und unter Ex-perten umstritten ist. Dies bedeutet, dass sich die Ret-tungsassistenten oft juristisch in einer nicht eindeutiggeregelten „Grauzone“ befinden, indem sie vor dieFrage gestellt sind: Helfe ich jetzt – und überschreite ichdamit möglicherweise meine Kompetenzen – oder warteich noch auf den Arzt? Dies hat beispielsweise die Bun-desärztekammer bereits vor einigen Jahren veranlasst,eine Liste von Maßnahmen vorzulegen und zu empfeh-len, die nach ihrer Überzeugung von Rettungssanitäternvor Ort ergriffen werden sollten.

Die Ständige Konferenz für den Rettungsdienst hatunter dem Vorsitz von Professor Karl-Heinz Altemeyer,Klinikum Saarbrücken, Anfang 2005 ein Eckpunktepa-pier zur Novellierung des Rettungsassistentengesetzesvorgelegt, an dem auch die Bundesländer, Berufsvereini-gungen und andere Betroffene mitgewirkt haben. Darinwurden für die Ausbildung Strukturen und Vorschlägeerarbeitet, die sehr sinnvoll und sicherlich auch gut ge-eignet dafür sind, als eine maßgebliche Grundlage fürdie anstehende Novellierung des RettAssG zu dienen.Ebenfalls in diesen Eckpunkten findet sich der Vor-schlag, mit der Novellierung auch eine neue Berufsbe-zeichnung einzuführen. Insbesondere vor dem Hinter-grund, dass sich die Bezeichnung „Rettungsassistent“nicht recht eingebürgert hat, ist es sinnvoll, eine neueBerufsbezeichnung einzuführen, die den neuen Kompe-tenzen und Qualifikationen des Berufs entspricht undeine stärkere Signalwirkung hat.

Die Bundesregierung erledigt die erforderlichen Vor-arbeiten zur Novellierung des Rettungsassistentengeset-zes, die insbesondere deshalb notwendig sind, weil dieOrganisation der Rettungsdienste den Bundesländernobliegt, sehr sorgfältig und wird das neue Gesetz in die-ser Legislaturperiode dem Bundestag zur Beratung undEntscheidung vorlegen. Wir lassen uns auch durch denheute von der FDP-Fraktion eingebrachten Antrag nichtunter Zeitdruck setzen; denn es geht darum, bundesweiteinheitliche Grundlagen zu sichern, die bundesweit eine

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hohe Qualität und Wirksamkeit der medizinischen Erst-versorgung am Unfallort gewährleisten.

Dr. Margrit Spielmann (SPD): Mit dem vorliegendenAntrag der FDP werden Missstände im Bereich des Ret-tungsdienstes, die sich aus der derzeitigen Regelung derAusbildung zum Rettungsassistenten ergeben, dargestellt.Die Bundesregierung wird aufgefordert, durch Novellie-rung der Ausbildung Abhilfe zu schaffen.

Von der Arbeit der Rettungsassistenten und -assisten-tinnen hängen oft Menschenleben ab. Sie sind rund umdie Uhr im Einsatz, leisten Hilfe und spenden Trost. Wersich für diesen Beruf entscheidet, muss mit Schmerz,Krankheit und Tod umgehen können und bereit sein,Verantwortung zu übernehmen.

Nach Angaben von Verdi befinden sich zurzeit3 600 Rettungsassistenten und -assistentinnen in derAusbildung; vor fünf Jahren waren es nur 2 200. Nachihrer Ausbildung arbeiten sie bei Hilfsorganisationenwie dem Arbeiter-Samariter-Bund und dem DRK, beiFeuerwehren, Rettungsflugdiensten, an Flughäfen undbei privaten Krankentransportunternehmen. In vielenBundesländern muss in jedem Rettungswagen oder -hub-schrauber mindestens ein Rettungsassistent bzw. eine Ret-tungsassistentin an Bord sein.

Wenn sie gerade nicht im Notfalleinsatz sind, beför-dern sie Kranke und Hilfsbedürftige. Sie arbeiten inSchichten und müssen Bereitschaftsdienste leisten. ImEinsatz versorgen sie Notfallpatienten bis zum Eintreffendes Notarztes. Sie assistieren dem Notarzt und sindgleichzeitig Vorgesetzte von Rettungssanitätern undRettungshelfern. Rettungsassistenten sind zunehmendgefordert, längere Anfahrtszeiten für Notärzte zu über-brücken, und müssen deshalb mit besser definiertenKompetenzen ausgestattet werden, zu denen sie entspre-chend ausgebildet sind. Das derzeitige Berufsbild wirdden tatsächlichen Anforderungen an die Arbeit imRettungsdienst nicht gerecht.

Die Aussage der FDP, dass das Berufsbild des Rettungs-assistenten schlecht definiert und die Berufsbezeichnungmissverständlich sei, ist hingegen zurückzuweisen. DasRettungsassistentengesetz regelt eine Ausbildung unddefiniert nicht einen Beruf. Die Berufsdefinition erfolgtim Rettungsdienst vielmehr durch die Länder, die hier diealleinige Zuständigkeit haben und in ihren Rettungsdienst-gesetzen dem Personal im Rettungswesen die entsprechen-den Aufgaben zuweisen. Auch ist die Berufsbezeichnung„Rettungsassistent“ nicht missverständlich. Sie hat sichallerdings in der Öffentlichkeit nicht gegen die gängigereBezeichnung „Rettungssanitäter“ durchgesetzt, was imErgebnis zu Missverständnissen führt. Diese haben ihreUrsache jedoch nicht in den gesetzlichen Regelungen.

Die Tatsache, dass die Schüler und Schülerinnen dieKosten des Lehrgangs tragen, ist in den Berufsgesetzen,die die Ausbildungen zu den Heilberufen regeln, üblich.Bei dem Beruf des Rettungsassistenten handelt es sichim Übrigen schon jetzt um einen Heilberuf im Sinne vonArt. 74 Abs. 1 Nr. 19 Grundgesetz.

Das BMG hat bereits wiederholt deutlich gemacht,dass das Eckpunktepapier der Ständigen Konferenz fürden Rettungsdienst als geeignetes Material für die Novel-lierung der Ausbildung der Rettungsassistenten angesehenwird. Bevor es jedoch zu einem Entwurf eines Gesetzeszur Novellierung des Rettungsassistentengesetzes kommt,wie Sie von der FDP es in Ihrem Antrag fordern, müssendie offenen Fragen geklärt werden.

So hängt die Struktur der Ausbildung, also das Verhält-nis von Unterricht und praktischer Ausbildung, ganz we-sentlich von der Ausgestaltung der Kompetenzen ab. EineAusbildung, die zum Beispiel die eigenständige Notfall-versorgung am Einsatzort ermöglichen soll, bedarf einesvergleichsweise umfangreichen Ausbildungsanteils in denintensivmedizinischen Bereichen des Krankenhauses, umdie erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten sicher zuerlernen.

Für den Fall der Zahlung einer Ausbildungsvergütungist die Finanzierung zu klären. Da sich der Rettungsdienstaus Gebühren, Beiträgen und Entgelten finanziert, diezwischen den Trägern des Rettungsdienstes und denKrankenkassen verhandelt werden, gibt es keine Möglich-keit der Finanzierung über die GKV. Um zur Klärungdieser Fragen beizutragen, wurde eine Umfrage bei denLändern initiiert.

Unabhängig von der Ausbildungsvergütung entstehenauch sonstige Kosten durch eine Verlängerung der Ausbil-dung auf drei Jahre, zum Beispiel durch steigende Anfor-derungen an die Qualifikation der Lehrer. Die Erfahrungenmit dem neuen Krankenpflegegesetz zeigen, dass einesorgfältige Befassung mit der Kostenfrage unabdingbar ist.

Neben den im Antrag angesprochenen Punkten ist ausSicht des BMG außerdem die Frage der Übergangsvor-schriften klärungsbedürftig, weil die angestrebte Ausbil-dung eine Überleitung der bisherigen Rettungsassistentenohne zusätzliche Nachqualifikation nicht zulassen dürfte.Ungeklärt ist außerdem die Einbindung der Feuerwehren,die insbesondere in den Städten in nicht unerheblichemUmfang am Rettungsdienst beteiligt sind. Außerdem stelltsich die Frage der Anrechnung der bisherigen Ausbildun-gen auf die neu geregelte Ausbildung.

Wir lehnen den Antrag deshalb ab. Nach Klärung die-ser Fragen soll die Novellierung des Gesetzes noch indieser Legislaturperiode erfolgen.

Jens Ackermann (FDP): Die Rettungskräfte inDeutschland leisten eine hervorragende Arbeit, eine Ar-beit, die angesichts der Bedeutung der schnellstmögli-chen Erstversorgung bei Notfällen nicht ausgiebig genuggewürdigt werden kann. Für die FDP-Fraktion möchteich allen Rettungskräften den ihnen gebührenden Dankfür ihre Arbeit aussprechen. Weil die Arbeit der Rettungs-assistenten so wichtig ist, haben sie auch Recht auf einGesetz, welches ihren Leistungen und Möglichkeitenentspricht, ein Gesetz, das ihnen einen verbindlichenRahmen gibt.

Der Antrag, den meine Fraktion eingebracht hat, istdringend notwendig, die Umsetzung noch viel dringli-cher. Bei all der guten Arbeit und dem Einsatz der Ret-

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tungskräfte ist es unsere Pflicht, diesen Rettungsassis-tenten durch zeitgemäße Rahmenbedingungen ihreArbeit auf höchstem technischen und praktischen Ni-veau zu ermöglichen, im Interesse der Rettungsassisten-ten, aber vor allem auch im Interesse der Patienten.

Das Rettungsassistentengesetz stammt aus dem Jahr1989. Seit dieser Zeit hat sich viel geändert, was Dia-gnose- und Therapiemöglichkeiten in der Notfallmedizinangeht. Wir brauchen ein Gesetz auf Höhe der Zeit, wel-ches den Rettungsassistenten zur Ausübung ihres Beru-fes genügend rechtliche Handhabe auf den Weg gibt.Wir brauchen ein Gesetz, das den Beruf des Rettungsas-sistenten zeitgemäß definiert. Unseren Antrag zusam-mengefasst bedarf es folgender gesetzgeberischer Ände-rungen, um die Situation von Rettungsassistenten zuverbessern: Erstens. Der Beruf des Rettungsassistentenmuss als Heilberuf anerkannt werden. Zweitens. DieAusbildung muss der Aufgabe entsprechend in eine klas-sische Berufsausbildung umgewandelt werden. Dabeisollen ständige Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen dieFlexibilität der Rettungsassistenten im Beruf ermögli-chen und die Qualität sichern. Drittens. Die Rettungs-assistenten brauchen eine klar definierte Handlungskom-petenz.

Lassen Sie mich dies näher erläutern: Die übermäßigeBelastung eines Rettungsassistenten geht über das für je-den von uns Vorstellbare hinaus. Es sind nicht nur dieschrecklichen Bilder am Einsatzort oder der Lauf gegendie Zeit, die Stress auslösen. Es sind auch Gewissensfra-gen, mit welchen der Rettungsassistent während des Ein-satzes vom Gesetzgeber allein gelassen wird. Er oder sieist der oder die Erste am Ort und soll die ersten Maßnah-men bis zum Eintreffen des Notarztes einleiten, darf abernicht alles tun, was in den praktischen und technischenMöglichkeiten stünde – ein Gewissenskonflikt, der völ-lig unnötig ist.

Die geltende Rechtslage ist unkomplett. Es fehlt denRettungsassistenten die Handlungskompetenz, auch Re-gelkompetenz genannt. Den Rettungsassistenten wirdzugemutet, vor der Durchführung einer medizinischenMaßnahme zu prüfen, ob die Voraussetzung für dieDurchführung einer Notkompetenzmaßnahme, letztlichalso die Voraussetzungen des gerechtfertigten Notstandsgemäß § 34 StGB, vorliegen. Lediglich eine Stellung-nahme der Bundesärztekammer zur Notkompetenz desRettungsassistenten gibt dem Rettungsfachpersonal vorOrt Vorgaben, selbst wenn diese zu eng gefasst und nichtin jeder Notsituation anwendbar sind. Dies bleibt nichtallein eine Forderung der Rettungsassistenten, sondernwird auch von Notärzten unterstützt; denn es geht nichtum Amtsanmaßung, es geht um die notwendige Grund-versorgung bis zum Eintreffen des Notarztes. Die Erfah-rungen aus der Vergangenheit zeigen, dass die Rettungs-assistenten die Erweiterung dieser Kompetenz sehrdezidiert und gewissenhaft umsetzen können.

Grundvoraussetzung ist natürlich, dass der Beruf desRettungsassistenten endlich als Heilberuf anerkanntwird. Zwar ist das Rettungswesen Ländersache, aber derBund muss die Vorgaben machen und den Beruf für ganzDeutschland definieren. Mir soll einer erklären, welchen

Unterschied es bei der Theorie der Krankenpfleger undder der Rettungsassistenten gibt. Ich bin in beidem aus-gebildet und ich versichere Ihnen: Es gibt keinen. Wa-rum erhalten Krankenpfleger eine klassische Berufsaus-bildung und Rettungsassistenten nicht? Das Recht aufeine ordentliche Ausbildung sollen beide haben, wennuns wenigstens etwas an diesen Berufen liegt. Eine klas-sische Berufsausbildung würde endlich die peinliche Si-tuation beheben, dass die Auszubildenden im Rettungs-dienst ihre Ausbildung selbst zahlen müssen. Es würdeauch dazu führen, dass die Leistungserbringer wiederausbilden, was sie zurzeit dank übereifriger, kurzsichti-ger Gewerkschaftsfunktionäre nicht mehr können. Nurweil die Gewerkschaft Verdi die Einklagbarkeit vonPraktikumsgehältern gerichtlich durchgesetzt hat, gehtdie Zahl der freien Ausbildungsstellen zurück. Ein klei-nes Rettungsdienstunternehmen oder eine Hilfsorganisa-tion kann diese Kosten nicht tragen. Diesen Notstandkann nur eine geregelte klassische Berufsausbildung in-nerhalb eines novellierten Rettungsassistentengesetzesbeheben.

Mit einer Anerkennung des Berufes des Rettungsas-sistenten als Heilberuf und der Umwandlung in eineklassische Berufsausbildung gibt es die Chance, eineDurchlässigkeit und Flexibilität der Medizinalfachberufezu erreichen, die allen nutzt: Kosten können durch ge-meinsame Ausbildungselemente gespart werden. DieAuszubildenden und Angehörige aus den Medizinal-fachberufen können wechseln, sich Ausbildungs- undBeschäftigungsdauer anrechnen lassen – ihr Berufslebenfreier gestalten. Fort- und Weiterbildungen sichern da-rüber die lebensnotwendige Qualität und geben denFachkräften die Möglichkeit, den technischen Anforde-rungen in ihrem Beruf standzuhalten, daran zu wachsen.– Rettungsassistent muss ein Heilberuf sein. In diesemZusammenhang möchte ich nur kurz auf die Berufsbe-zeichnung verweisen, die in der Bevölkerung oft miss-verstanden wird, weil sie unklar ist. Ein neues Gesetzkönnte diesen Missstand beheben.

Unser Antrag stellt ganz besonders die Verständigun-gen der Ständigen Konferenz für den Rettungsdienst he-raus, weil sie zeigen, dass es Konsens auf diesem Gebietgeben kann und es diesen Konsens geben muss. Demkönnen wir uns in diesem Hohen Haus nicht verschlie-ßen.

Mir liegt eine Novellierung des Rettungsassistenten-gesetzes zum Wohle aller sehr am Herzen; denn sie istdringlich. Deswegen erwähne ich die ungerechten Kür-zungen der Fahrtkosten um drei Prozent in der so ge-nannten Gesundheitsreform nur am Rande. Ich kann esaber nicht verschweigen, denn es geht an die Substanzder Hilfsorganisationen und der privaten Rettungsunter-nehmen. Es kann nicht sein, dass der Eindruck erwecktwird, die Rettungsdienste verlängern unnötigerweise dieRettungs- und Krankentransporte, obwohl sie nur dasumsetzen, was zunächst vom Arzt angeordnet und vonder Krankenkasse abgesegnet worden ist. Anderes zu be-haupten ist unfair und macht Stimmung gegen diejeni-gen, die mehr als nur Dienst nach Vorschrift schieben.Die Fahrten werden oftmals länger, weil Krankenhäuser

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geschlossen werden. Das ist ein Resultat der Gesund-heitspolitik.

Bei der ganzen verfehlten Gesundheitspolitik, diekein Mensch versteht und keinem nützt, appelliere ich anSie, wenigstens einmal zum Wohle der Patienten zu ent-scheiden und diejenigen, die letztendlich für deren Über-leben nach Notfällen verantwortlich sind, mit Hand-lungskompetenz, verbesserten Bildungsangeboten undnachhaltiger Qualität auszustatten. Ich appelliere an Sie,den Antrag zu unterstützen und gemeinsam ein neues,modernes Gesetz zu schaffen, das dem Beruf des Ret-tungsassistenten eine wirkliche Zukunftsperspektivegibt. Es geht um eine ganze, engagierte Berufsgruppe, esgeht aber in letzter Linie um die Notfallpatienten. Umderen Willen sollten wir gerade hier die höchste Qualitätanstreben und die kann es nur mit einem neuen, novel-lierten Rettungsassistentengesetz geben. Lassen Sie esuns gemeinsam angehen! Unser Angebot steht.

Frank Spieth (DIE LINKE): Der Antrag der FDP„Dem Beruf des Rettungsassistenten eine Zukunftsper-spektive geben – das Rettungsassistentengesetz novellie-ren“ wird von meiner Fraktion nicht nur begrüßt, sondernin wesentlichen Teilen unterstützt.

Der Rettungsdienst hat, wie andere Berufe im Gesund-heitswesen, mit erheblichen Nachwuchsproblemen zukämpfen. Die Attraktivität eines Berufes hängt wesentlichvon seinen Qualifikationsmerkmalen ab, die von der Aus-bildung und den Fort- und Weiterbildungsmöglichkeitenbestimmt werden und schließlich auch die Einkommens-bedingungen beeinflussen.

Die Ausbildung zum Rettungsassistenten/-assistentinin der Bundesrepublik weist aufgrund der anachronisti-schen Sonderstellung im Berufbildungssystem gravierendeUnzulänglichkeiten auf. Das Rettungsassistentengesetzvon 1989 schreibt eine zweijährige Ausbildung an Ret-tungsassistentenschulen vor. Innerhalb der zweijährigenAusbildung ist dann ein einjähriges Praktikum abzuleisten.Diese Ausbildung weist diverse Schwächen auf, die miteiner Novellierung des Rettungsassistentengesetzesbehoben werden sollten. Eine Verzahnung von Theorieund Praxis findet nach Angaben der Betroffenen nichtim notwendigen Maß statt. Die Voraussetzungen undAnforderungen an die Lehrassistenten sind nicht geregelt,sodass an vielen Schulen der Unterricht von pädagogischunqualifizierten Lehrassistenten erteilt wird.

Ein Teil der Nachwuchssorgen im Rettungsdienst hatseinen Grund in dem Schulgeld, das von den Schulen er-hoben wird. Das Schulgeld in Höhe von 2 500 bis3 000 Euro muss von den Schülerinnen und Schülern auseigener Tasche bezahlt werden. Darüber hinaus kommteine Ausbildungsvergütung für die Auszubildenden indiesem System nicht vor.

Deshalb ist die von der ständigen Konferenz für denRettungsdienst geforderte Novellierung des Rettungsassis-tentengesetzes dringend erforderlich.

Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass sichmeine Fraktion über die von der ständigen Konferenz auf-gestellten Eckpunkte hinaus für eine Ausbildungsordnung

nach dem Berufsbildungsgesetz ausspricht. Wir möchtendamit wesentliche Elemente einer betrieblichen dualenBerufsausbildung herstellen.

Außerdem empfehlen wir, die BerufsbezeichnungRettungssanitäter/Rettungssanitäterin zu wählen, da diebisherige Berufsbezeichnung den Assistenzcharakter zustark betont. Mit der von uns gewünschten Berufsbezeich-nung wird die Eigenständigkeit und Eigenverantwortungdieses Fachberufes im Rettungsdienst hervorgehoben.

Ich gehe davon aus, dass wir in den weiteren Beratun-gen in den Ausschüssen bezüglich unserer Vorschlägenoch zu eindeutigen Regelungen kommen können.Gleichzeitig hoffe ich, dass die Koalition das Anliegen,einen Beruf mit Zukunft zu schaffen, unterstützt.

Es ist bedauerlich, dass die dem Bundesgesundheitsmi-nisterium seit dem Frühjahr 2005 vorliegenden Vor-schläge bisher nicht zu einer Novellierung des Rettungs-assistentengesetzes geführt haben. Deshalb ist einBeschluss des Bundestages erforderlich.

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Die Güte und Zielschärfe eines Gesetzes muss sich idea-lerweise immer wieder in der gesellschaftlichen Wirk-lichkeit beweisen. So gesehen, wird das Rettungsassis-tentengesetz aus dem Jahre 1989 den heutigenAnforderungen an eine qualitativ hochwertige Ausbil-dung von Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitäternlängst nicht mehr gerecht. Es mag verwundern und viel-leicht mangelnder Kommunikation zwischen Protago-nisten und politischen Entscheidungsträgern geschuldetsein, dass trotz des Reisensburger Memorandums, dasim Ergebnis eines interdisziplinären Workshops bereits1996 auf erhebliche Defizite hinwies, und trotz einerReihe von Eckpunkte- und Positionspapieren aus derFachwelt in den letzten Jahren, einschließlich der Vor-schläge der ständigen Konferenz für den Rettungsdienst,das Problem erst jetzt die Legislative erreichte. Dieskann sich die FDP mit ihrer diesbezüglichen KleinenAnfrage und dem vorliegenden Antrag zu Recht als Ver-dienst zurechnen.

Wer eine effektive Hilfe im Falle eines lebensbedroh-lichen Notfalls erwartet, der wird sich schnell darüber imKlaren sein, dass dafür nur gut ausgebildete Rettungsas-sistentinnen und Rettungsassistenten in Mitverantwor-tung genommen werden können, denen auch entspre-chende Handlungskompetenzen eingeräumt werden.Moderner Rettungsdienst lässt sich nicht mehr nach demMotto „Warte bis der Arzt kommt“ erfolgreich gestalten.Deshalb sollte das Ausbildungsniveau dem Ausbil-dungsniveau einer examinierten Krankenschwester an-gepasst werden, zumal eine dreijährige Ausbildung auchEU-konform ist. Neben der Frage der Ausbildungsquali-tät, die unseres Erachtens nur ausgerichtet an verbindli-chen bundeseinheitlichen Standards, beispielsweise aufBasis von Richtlinien medizinischer Fachgesellschaf-ten, erfolgen sollte und der Frage eines definierten Be-rufsbildes mit klar zugewiesenen Kompetenzen, gilt es,die Fragen der Zugangsvoraussetzungen, Ausbildungs-zertifizierung und Zugangsgerechtigkeit zu klären. Zu-gangsgerechtigkeit und die gesellschaftliche Anerken-

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nung eines Berufes sind untrennbar auch mit einergesicherten Finanzierung verbunden, einschließlich ei-ner kostenfreien Ausbildung und angemessener Ausbil-dungsvergütung. Bei diesen letztgenannten Fragen wür-den wir im Rahmen einer parlamentarischen Diskussionden Antrag der FDP gern verbessern helfen, den wir an-sonsten als Auftakt für die nunmehr auch von der Regie-rung als Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP inAussicht gestellte Gesetzesnovellierung positiv bewer-ten.

Anlage 10

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Anträge:

– Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Que-rung – Fährkonzept verbessern

– Statt fester Fehmarnbelt-Querung – Für einökologisch und finanziell nachhaltiges Ver-kehrskonzept

(Tagesordnungspunkt 19 und Zusatztagesord-nungspunkt 9)

Gero Storjohann (CDU/CSU): Wir diskutierenheute einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenund der Linksfraktion zum Bau der festen Fehmarnbelt-Querung. In diesen Anträgen sprechen sich beide Frak-tionen gegen den Bau dieser kombinierten Straßen-Ei-senbahn-Verbindung zwischen der Insel Fehmarn inDeutschland und der Insel Lolland in Dänemark sowieden damit notwendigen Hinterlandanbindungen aus. Be-gründet wird die Ablehnung in beiden Anträgen unteranderem mit dem Ergebnis einer Studie zum Nutzen-Kosten-Verhältnis dieses Verkehrsprojekts, welches weitunter demjenigen für ein optimiertes Fährkonzept liege,weswegen letzterem aus volkswirtschaftlichen Gründender Vorzug zu geben sei. Des Weiteren wird in dem An-trag ausgeführt, dass sich die Kosten für die Brücke an-gesichts der sehr geringen prognostizierten Verkehrs-mengen nicht über eine Nutzerfinanzierung durchTrassengebühren für die Schienennutzung und Mautge-bühren für Kraftfahrzeuge refinanzieren ließen. Deswe-gen sei ein rein privatwirtschaftlicher Bau und Betriebder festen Fehmarnbelt-Querung ausgeschlossen undeine finanzielle Beteiligung des Bundes nicht zu recht-fertigen. Dies hätten auch die negativen Erfahrungen mitanderen Public-Private-Partnership-Projekten gezeigt,wie etwa die Tunnelprojekte in Lübeck und Rostock. DieLinksfraktion behauptet darüber hinaus, dass dieses Ver-kehrsprojekt keinen Beitrag zur wirtschaftlichen Ent-wicklung der Region leiste. So weit die Anträge.

Lassen Sie mich zunächst einmal festhalten: Es ist er-klärter politischer Wille des Königreiches Dänemarkund der Bundesrepublik Deutschland, die feste Feh-marnbelt-Querung zu realisieren. Im Koalitionsvertragvom 11. November 2005 haben sich CDU, CSU undSPD dafür ausgesprochen, sich für die Realisierung derfesten Fehmarnbelt-Querung als internationales PPP-Re-ferenzvorhaben einzusetzen. Im Koalitionsvertrag zwi-

schen der CDU und SPD in Schleswig-Holstein vom16. April 2005 ist dieses Verkehrsprojekt als vorrangigzu realisierendes Projekt festgeschrieben. Auch CDUund SPD in Mecklenburg-Vorpommern sprechen sich inihrem Koalitionsvertrag vom 6. November 2006 nichtgrundsätzlich gegen den Bau der festen Fehmarnbelt-Querung aus, lehnen jedoch den Einsatz öffentlicher Fi-nanzmittel und die Abgabe von Staatsgarantien hierfürab. Die Freie und Hansestadt Hamburg spricht sichebenfalls für den Bau der Brücke zwischen Fehmarn undLolland aus. Dänemark hat ein großes Interesse an einerraschen Anbindung nicht nur des Königreiches, sonderndes gesamten skandinavischen Raumes an Deutschlandund Mitteleuropa und will die feste Fehmarnbelt-Que-rung deshalb schnell realisiert wissen.

Am 21. April 2006 verständigten sich daher Bundes-minister Tiefensee, der dänische Verkehrsminister,Flemming Hansen, sowie der Minister für Wissenschaft,Wirtschaft und Verkehr des Landes Schleswig-Holstein,Dietrich Austermann, auf einen Zeitplan. Dabei ist fürdie Entscheidung über das Projekt feste Fehmarnbelt-Querung eine erneute Bewertung verschiedener Finan-zierungsmodelle vorgesehen. Die Vorbereitung derweiteren Schritte obliegt einem deutsch-dänischen Len-kungsausschuss. In den Leitlinien für den Aufbau einestranseuropäischen Verkehrsnetzes – TEN – sind die festeVerbindung über den Fehmarnbelt sowie die Eisenbahn-strecken für die Anbindung in Deutschland und Däne-mark in der Liste der vorrangigen Projekte enthalten.Während Minister und Parlamentarier der großen Koali-tion das Projekt vorantreiben, reiben sich Linksfraktionund die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen einmalmehr an der Stärkung der Infrastruktur in der gesamtenOstseeregion. Dazu ist beiden Fraktionen nahezu jedesArgument recht.

Beginnen wir mit dem von Bündnis 90/Die Grünenund Linksfraktion aufgestellten Argument, die feste Feh-marnbelt-Querung werde genauso unwirtschaftlich seinwie der Herrentunnel in Lübeck und der Warnowtunnelin Rostock. Hier ist festzuhalten: Die feste Fehmarnbelt-Querung ist mit diesen Projekten überhaupt nicht ver-gleichbar. Wenn man um den Fehmarnbelt herumfahrenwill, dann muss man einen großen Umweg über Jütlandund Fünen in Kauf nehmen. Dieser nimmt nicht nurmehr Zeit in Anspruch, er ist durch die Brückenmaut amGroßen Belt zwischen den Inseln Fünen und Seelandauch teuer. Zweite Alternative der Umfahrung des Beltswäre das Ausweichen über die FährverbindungRostock–Gedser, was ebenfalls erheblich Zeit in An-spruch nehmen würde. Diese Sachlage gibt es beim Her-rentunnel und beim Warnowtunnel eben nicht: Wie inLübeck besteht das Hauptproblem des Warnowtunnels inRostock darin, dass es kostenlose Alternativen gibt. So-wohl Herrentunnel als auch Warnowtunnel können vonden Verkehrsteilnehmern unter Inkaufnahme eines kur-zen Umweges umfahren werden, was viele Autofahrerauch tatsächlich tun. Beim Fehmarnbelt ist die Sachlagehingegen eine völlig andere. Ein weiterer wichtiger As-pekt in diesem Zusammenhang ist, dass die Gebühr fürdie Fahrt über die Brücke die Kosten für die Fähre nichtübersteigen wird. Es kann also ohne längere Wartezeitder Fehmarnbelt schneller und zum gleichen Preis über-quert werden.

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Es ist bedauerlich, dass insbesondere die Bundestags-fraktion von Bündnis 90/Die Grünen dies anscheinendnicht zur Kenntnis nehmen will. In der von Ihnen in Ih-rem Antrag zitierten Antwort auf die Große Anfrage Ih-rer Parteifreunde in Schleswig-Holstein wird ausgeführt,dass die Gesamtreisezeit zwischen Puttgarden undRödby per Schiff einschließlich Einchecken und Aus-checken derzeit durchschnittlich 59 Minuten beträgt.Nach der Verkehrsprognose „Fehmarn Belt Forecast2002, Fehmarnbelt Traffic Consortium, April 2003“würde bei einem umgesetzten optimierten Fährkonzeptmit sechs Doppelend-Ro/Ro-Fähren, die eine höhereReisegeschwindigkeit haben, eine verringerte Liegezeitin Rödbyhavn und Puttgarden vorweisen sowie bei einerErweiterung der zum Meer führenden Fahrrinnen aufzwei Spuren im Ergebnis die Gesamtreisezeit auf 52 Mi-nuten reduziert werden – also sieben Minuten wenigerals jetzt. Mit einer festen Fehmarnbelt-Querung würdedie Überfahrt für einen PKW hingegen nur circa 12 Mi-nuten beziehungsweise für einen Lkw circa 18 Minutendauern. Für den Bahnverkehr ist hier mit einer noch ge-ringeren Fahrzeit zu rechnen, weil die Züge im Gegen-satz zum Kraftfahrzeugverkehr keine Mautstelle zu pas-sieren haben, da die Kosten für die Brückenpassageschon im Fahrpreis enthalten wären. Dies würde die At-traktivität der Bahn zwischen der Region Hamburg/Lü-beck und der Öresundregion beträchtlich erhöhen undsomit ein Plus für den Umweltschutz bedeuten. Nichtumsonst sind somit in den Leitlinien für den Aufbau destranseuropäischen Verkehrsnetzes – TEN – neben demProjekt als solchem auch die Schienenhinterlandanbin-dungen in der Liste der vorrangig zu realisierenden Vor-haben enthalten. Der Ausbau des gesamten Schienenwe-ges über den Fehmarnbelt kann daher alsgrenzüberschreitendes Projekt von den TEN-Mittelnprofitieren.

In ihrem Antrag behauptet die Linksfraktion ferner,eine feste Fehmarnbelt-Querung würde keinen Beitragzur wirtschaftlichen Entwicklung der Region leisten; po-sitive wirtschaftliche Effekte würden allenfalls überwie-gend in der Bauphase erwartet. Eine vom Bundesminis-terium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und demdänischen Transport- und Energieministerium in Auftraggegebene Studie vom Februar 2006 zeichnet hier einvollkommen anderes Bild. Diese Studie hat die dynami-schen und strategischen Effekte einer festen Verbindungüber den Fehmarnbelt für den Kreis Ostholstein undStorströms Amt auf Lolland untersucht. Diese beidenRegionen sind heutzutage im jeweiligen Land etwa an-derthalb Stunden von einer dynamischen Metropole– Kopenhagen beziehungsweise Hamburg – entfernt.Eine feste Fehmarnbelt-Querung werde zukünftig die Si-tuation dahin gehend verändern, dass die beiden Regio-nen in der Mitte von zwei Metropolen liegen. Dadurch,so die Studie, entstünden neue Herausforderungen fürdie ökonomische Entwicklung beider Regionen. Der ein-fachere Marktzugang und die Möglichkeiten einer ver-besserten Kooperation seien dabei besonders hervorzu-heben. Die Studie von „Copenhagen Economics &Prognos“ kommt dabei zu folgenden Ergebnissen: Ers-tens. Das Baugewerbe werde in der Bauphase der Feh-marnbelt-Verbindung einen Aufschwung erleben. Zwei-

tens. Im Tourismus, in dem schon heute beide Regionenbesondere Stärken hätten, werde die feste Verbindungsowohl das Marktpotential als auch die Wettbewerbsfä-higkeit gegenüber konkurrierenden Standorten verbes-sern. Drittens. Im Exportbereich sei insbesondere einWachstum für kleine und mittelständische Unternehmensowie für herkömmliche Waren und Güter sowohl in be-stehenden als auch in neuen Märkten zu erwarten, wenndie verbesserte Infrastruktur zu einer Reduzierung derExportkosten führe. Viertens. Im Cluster Gesundheits-wirtschaft/ Medizintechnik ermögliche die feste Verbin-dung Storströms Amt und Kreis Ostholstein, sich gegen-seitig zu ergänzen und so die Wettbewerbsfähigkeit inbeiden Regionen zu steigern.

Dies alles zeigt: Die feste Fehmarnbelt-Querungbringt erhebliche Vorteile. Wir dürfen und wir werdenuns der Zukunft daher nicht verschließen, wie es dieLinksfraktion und die Fraktion von Bündnis 90/Die Grü-nen mit ihren Anträgen heute zum Ausdruck bringen. Inden Ausschussberatungen werden wir hierüber noch zusprechen haben. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktionlehnt die Vorstellungen der Linksfraktion und der Frak-tion von Bündnis 90/Die Grünen zur festen Fehmarn-belt-Querung, wie sie in den uns jetzt vorliegenden An-trägen zum Ausdruck kommen, ab.

Hans-Joachim Hacker (SPD): Seit Jahren wirddas Projekt einer festen Fehmarnbelt-Querung disku-tiert. In diese Erörterung haben sich Wirtschafts-verbände, Umweltschutzorganisationen, Vertreter derbetroffenen Gebietskörperschaften und andere interes-sierte Kreise eingeschaltet. Bei der Bewertung der beidenvorliegenden Anträge der PDS-Fraktion und der Frak-tion von Bündnis 90/Die Grünen sind zu allererst die be-stehenden Absprachen zwischen den beteiligten Staatenheranzuziehen.

Wie ist der Stand der Dinge? Nach Unterzeichnungdes Staatsvertrages zwischen Dänemark und Schwedenüber eine feste Verbindung über den Öresund im Jahr1991 verabredeten die Bundesregierung und die dänischeRegierung, die Errichtung einer festen Fehmarnbelt-Querung zwischen Deutschland und Dänemark zu unter-suchen. Seit 1995 sind umfangreiche Machbarkeitsstu-dien erarbeitet worden, die der Schaffung einer gemein-samen Entscheidungsgrundlage dienen sollen. Im Juni2004 haben der deutsche und der dänische Verkehrsmi-nister eine Gemeinsame Erklärung über die Zusammen-arbeit bei der Weiterentwicklung einer festen Fehmarn-belt-Querung unterzeichnet. Bei einem erneuten Treffenim Juni 2005 stimmten der damalige Bundesverkehrs-minister Dr. Manfred Stolpe und sein dänischer Amts-kollege Flemming Hansen überein, die Arbeiten an derUmsetzung der Gemeinsamen Erklärung wie vereinbartauszuführen.

Im Mittelpunkt und als wichtige Grundlage für eineEntscheidungsfindung über die Vorbereitung eines Staats-vertrages auf Regierungsebene stand die Prüfung folgen-der Fragen: die Suche nach einem sicheren Finanzierungs-modell, die Auswahl einer optimalen technischen Lösungund komplexe Fragen aus dem Bereich des Umwelt-schutzes.

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Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass dieses Pro-jekt einschließlich der Schienenhinterlandanbindungen indie Liste der vorrangig zu realisierenden Vorhaben derLeitlinien für den Ausbau des transeuropäischen Ver-kehrsnetzes – TEN – enthalten ist, sind die Erfordernissefür optimale Hinterlandanbindungen für Schiene undStraße dazugekommen. Diese komplexen Fragestellun-gen befinden sich derzeit in einer umfassenden fach-lichen Untersuchung und Prüfung. Für mich erschließtsich die Logik der beiden Anträge nicht, in dieser Phaseder umfangreichen Prüfungen aller maßgeblichen Frage-stellungen die Arbeiten an der Projektstudie einzustellen.Würde man den Anträgen folgen, würden die bisherigenArbeiten ohne die Ermittlung eines belastbaren Prüf-ergebnisses eingestellt. Das wäre nicht sachgerecht undim Übrigen muss es als Illusion angesehen werden, dasssich die dänische Regierung auf eine solche Option ein-lässt.

Ich halte wenig von der Spekulation im politischenBereich, ob denn nun wirklich noch in diesem Jahr eineEntscheidung über die feste Fehmarnbelt-Querung durchdie Bundesregierung vorbereitet wird, oder ob dieses zuBeginn des Jahres 2007 erfolgt. Bei der Größe des zu un-tersuchenden Vorhabens und der damit in Verbindungstehenden Fragestellungen aus den Bereichen Infrastruk-turpolitik und Umweltschutz sowie der damit verbunde-nen finanziellen Konsequenzen halte ich das PrinzipQualität vor Zeitdruck für überzeugender. Und natürlichmuss im Prüfungsverfahren eine Abwägung der Interessenaller direkt oder indirekt betroffenen norddeutschen Län-der erfolgen. Die Prüfung der Idee der Schaffung einer fes-ten Fehmarnbelt-Querung muss mögliche Auswirkungenauf den Tourismus und die regionale Wirtschaftsstrukturauf Fehmarn und im Kreis Ostholstein einschließen.

Im Koalitionsvertrag vom November 2005 ist diePrüfung der Fehmarnbelt-Querung als internationalesPPP-Referenzvorhaben festgeschrieben. Mir ist schonklar, dass die beiden Oppositionsfraktionen, die nachden heute zu beratenden Anträgen die Projektunter-suchungen beenden wollen, nicht die Umsetzung desKoalitionsvertrages als ihre Sache ansehen. Einsichtigmüsste den Antragstellern aber sein, dass kurz vor Endeder umfangreichen Prüfphase ein Beschluss des Bundes-tages mit dem geforderten Inhalt unlogisch ist. Deshalbkann die SPD-Bundestagsfraktion zu den beiden Anträ-gen nur eine klare Ablehnung erklären.

Man könnte an dieser Stelle eigentlich die Ausführun-gen zum Thema beenden. Wegen der Bedeutung, der mitdem Projekt verbundenen komplexen Fragestellungenwill ich aber noch auf folgende Fakten hinweisen: Zuden Umweltaspekten einer festen Fehmarnbelt-Querungund den Erfordernissen für leistungsfähige Hinterland-anbindungen hat ein informelles Konsultationsverfahrenstattgefunden, dessen Ergebnisse im Oktober 2006 veröf-fentlicht worden sind. Die Öffentlichkeit, Verbände undBehörden hatten während eines sechswöchigen Zeitraumesdie Möglichkeit, ihre Bewertungen zu den umweltrele-vanten Fragen in den Prüfungsprozess einzubringen.Dieses Umweltkonsultationsverfahren ersetzt nicht dieUmweltverträglichkeitsprüfungen und Öffentlichkeits-beteiligungen, die nach den nationalen Genehmigungs-

verfahren durchzuführen wären, wenn für das Projektgrünes Licht gegeben wird. Das Umweltkonsultations-verfahren hat neben zustimmenden Bewertungen auchBedenken gegen die Projektrealisierung zum Ausdruckgebracht. Diese Bedenken und weitere Stellungnahmensollen in die weiteren Untersuchungen einbezogen werden.Gutachten sind sicherlich zu jenen Fragen erforderlich,bei denen kein ausreichender Wissensstand dokumen-tiert werden kann. Diese Untersuchungen können abererst dann erfolgen, wenn die Grundsatzentscheidung ge-fällt ist.

In den Diskussionen der letzten Monate ist die Frageder Ausgestaltung der Finanzierung immer wieder the-matisiert worden. Es ist richtig und das sage ich für dieSPD-Bundestagsfraktion nachdrücklich: Aus einer festenFehmarnbelt-Querung als PPP-Projekt dürfen keineunkalkulierbaren Risiken für den Bundeshaushalt entste-hen. In die laufenden Prüfungen ist daher diese Fragestel-lung ernsthaft zu untersuchen. Ein tragfähiges Finanzie-rungskonzept muss zwingend die Frage beantworten, wieein mögliches Staatsgarantiemodell und Investitionen ausdem Bereich des Privatsektors am besten miteinanderkombiniert werden können.

Die aus heutiger Sicht maßgeblichen Fragestellungensind im April dieses Jahres von BundesverkehrsministerWolfgang Tiefensee mit seinem dänischen AmtskollegenFlemming Hansen und dem Verkehrsminister Schles-wig-Holsteins, Dietrich Austermann, erörtert worden.Die Schrittfolge in der Untersuchung und Beantwortungder sich stellenden Fragen ist der Pressemitteilung desBundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung vom 21. April 2006 zu entnehmen. Ich fasse diezentralen Aussagen dieser Pressemitteilung zusammen:zunächst abschließende Überprüfung der dem Projektzugrunde liegenden teilweise neuen Annahmen – wiebeispielsweise die Verkehrsprognose, die Bau- undBetriebskosten und die Höhe des Mittelzuschusses ausdem Programm der transeuropäischen Netze, darauf auf-bauend eine erneute Bewertung verschiedener Finanzie-rungsmodelle, Prüfung der Finanzierungserfordernissezum Ausbau der Hinterlandanbindungen im Rahmen derPriorisierung der Verkehrsinfrastruktur sowie Auswer-tung der im Umweltkonsultationsverfahren aufgeworfe-nen Fragen.

Dieser Fragenkomplex muss jetzt zeitnah beantwortetwerden. Erst die Beantwortung dieser Fragen schafft diesolide Grundlage für Entscheidungen, die in der Bundes-regierung und im Deutschen Bundestag zu treffen sind.Die beiden vorliegenden Anträge gehen gerade den um-gekehrten Weg. Sie greifen ein Ergebnis voraus, ohnedie erforderlichen Prüfergebnisse abzuwarten. Das istkein solides Verfahren und deswegen lehnt die SPD-Bundestagsfraktion die Anträge ab.

Patrick Döring (FDP): Mit den vorliegenden Anträ-gen machen die Kollegen der beiden kleineren Opposi-tionsfraktionen sich die Sache zu einfach. Es ist zwarzweifellos richtig, dass bei der Frage nach dem Für undWider einer festen Fehmarnbelt-Querung erhebliche Un-sicherheiten bestehen. Die Kolleginnen und Kollegen

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scheinen jedoch davon auszugehen, dass positive Pro-gnosen sich nie und nimmer bewahrheiten können. Siescheinen im Gegenteil zu glauben, dass nur diejenigenRecht behalten können, die erst einmal den schlimmstenanzunehmenden Ausgang unterstellen.

Diesen dogmatischen Pessimismus kennen wir ja leiderschon zur Genüge auch aus anderen politischen Debatten.Ich gebe indes die Hoffnung nicht auf – man glaubtschließlich an die menschliche Vernunftbegabung –, dassSie noch lernen werden, Investitionen und Baumaßnah-men nicht nur als ach so schändlichen Eingriff in die Naturzu sehen, sondern auch die möglichen positiven Effekte zuerkennen und zu würdigen. Eine rationale Politik verlangthier nach einer nüchternen Abwägung. Und da kann undmuss im Zweifelsfall zum Beispiel der Eingriff in ein öko-logisches System geduldet werden, wenn auf der anderenSeite deutliche Effizienzsteigerungen zu erwarten sind,die schließlich besonders auch unserer Umwelt in ihrerGesamtheit zugute kommen können. Zum Beispiel durchdie Verkürzung von Transportwegen und die damit ver-bundene Emissionsreduzierung. Kosten und Nutzen einesProjektes können und dürfen nicht nur lokal isoliert, son-dern müssen in größeren Zusammenhängen betrachtetwerden. Kurz und gut – das möchte ich an dieser Stelleeinigen Nachhaltigkeitsaposteln einmal gerne ins Stamm-buch schreiben –: Es ist keine nachhaltige Politik, einBiotop zu retten und dafür auf die deutliche Reduzierunggroßer Umweltbelastungen an anderer Stelle zu verzich-ten. Andersherum wird ein Schuh daraus.

Die kategorische Ablehnung einer festen Fehmarn-belt-Querung durch die hier vorliegenden Anträge kannich daher nicht teilen. Es ist nicht seriös, wenn Sie zumBeispiel die Steigerung des prognostizierten Verkehrs-aufkommens infolge einer festen Querung pauschal undunbegründet in Abrede stellen – und auf der anderenSeite mögliche soziale und ökologische Risiken über-spitzen und als unabwendbares Faktum hinstellen. Mitdieser Haltung wäre ein erfolgreiches Projekt wie dieÖresundbrücke – deren positive Entwicklung ja selbstder Antrag der Linken nicht infrage zu stellen wagt –niemals Wirklichkeit geworden. Auch andere positiveEffekte werden von Ihnen schlicht negiert – etwa mögli-che regionale und überregionale Beschäftigungsauswir-kungen sowie zig Millionen eingesparte Tonnen- undPersonenkilometer pro Jahr.

Sie argumentieren zum Beispiel, dass diese Querungeine intensivere Verflechtung der Regionen Ostholsteinund Storstroms Amt nicht erwarten lasse. Einmal abge-sehen davon, dass es bezeichnend ist, in welch kleinräu-migen Achsen Sie denken und dabei die bedeutendenVerkehrsströme über Hamburg und Südschweden voll-kommen ausblenden, denken Sie auch noch statisch undleugnen das Potenzial der Menschen, diese neue Verbin-dung zu ihrem Vorteil zu nutzen. Mit ihrer Haltung wäredie A 1 von Bremen in das Ruhrgebiet in den 60er-Jah-ren wahrscheinlich nie gebaut worden. Eine intensivereVerflechtung der überwiegend ländlich geprägten Kreisein dieser Region – Vechta und Cloppenburg – wäre ja„nicht zu erwarten“ gewesen. Die Lastkraftwagen vonHamburg ins Ruhrgebiet würden sich also noch heuteüber langsame Strecken oder große Umwege quälen,

und die erstaunliche Entwicklung der ländlichen Regio-nen zwischen Bremen und Dortmund, die heute ihre Pro-dukte nach Hamburg, ins Ruhrgebiet und weit darüberhinaus liefern, hätten wir nie erlebt.

Vor dem Hintergrund auch dieser Erfahrung aus mei-ner niedersächsischen Heimat muss ich daher feststellen,dass eine feste Fehmarnbelt-Querung grundsätzlich gro-ßes Potenzial hat. Das Projekt ist nicht von ungefähr Teilder Transeuropäischen Netze – Teil also eines euro-päisch gedachten Infrastrukturnetzes, dessen Zielsetzungüber den lokalen, regionalen und selbst nationalen Rah-men hinausweist.

Den vorliegenden Anträgen – mit ihrer kleinteiligenPerspektive, ohne jeden Blick für größere Zusammen-hänge und sozioökonomische Dynamik – kann die FDP-Fraktion daher nicht folgen. Mit dieser dogmatisch pes-simistischen Haltung werden wir keine vernünftigenAntworten auf die Fragen finden, die sich uns im Zu-sammenhang mit der Fehmarnbelt-Querung doch tat-sächlich stellen. Denn natürlich kann die Ablehnung ei-nes in der Sache schlicht auf falschen Annahmen unddogmatischen Überzeugungen basierenden Antragesnicht heißen, dass die FDP im Umkehrschluss diesemProjekt bedingungslos zustimmt. Aber es muss eben da-rum gehen, die richtigen Fragen zu stellen und zu versu-chen, diese ohne ideologische Vorbehalte zu beantwor-ten.

Die in diesem Zusammenhang vielleicht wichtigsteFrage ist, in diesen Zeiten klammer Kassen, die nach derPriorität dieses Projektes. Die über 4 Milliarden Euro fürdieses Projekt, selbst wenn sie privat finanziert und vonder EU bezuschusst werden, und die weiteren 1,25 Milli-arden Euro für die Hinterlandanbindung in Deutschland,werden an anderer Stelle fehlen. Angesichts der drama-tisch schlechten Entwicklung der Investitionen in diedeutschen Fernstraßen, die unter Rot-Grün begann unddurch die große Koalition nahtlos fortgesetzt wird, mussaber jeder investierte Euro wenigstens dreimal umge-dreht werden, bevor man ihn ausgibt. Die bisher vorlie-genden Studien geben hierüber jedoch nur unzureichendAufschluss. Auch hier gilt also: Das Projekt darf nichtfür sich alleine betrachtet, sondern muss in einem größe-ren Zusammenhang beurteilt werden, der da lautet: Istdies die beste Anlage, die unser Staat und unsere Volks-wirtschaft für 6 Milliarden Euro wählen können. Ichbeurteile dies zugegebenermaßen – in Kenntnis der zahl-reichen, sich infolge eines täglich wachsenden Investiti-onsrückstandes verschlimmernden Defizite der deut-schen Verkehrsinfrastruktur – etwas skeptisch.

Hier müssen wir ehrlich und europäisch kalkulieren.Die bisher vorliegenden Studien sind in meinen Augenjedoch noch zu sehr auf die herkömmliche volkswirt-schaftliche oder, sagen wir treffender: nationalökonomi-sche Perspektive konzentriert. Um die tatsächliche Be-deutung und Auswirkung einer Fehmarnbelt-Querungtatsächlich einschätzen zu können, muss dieses Projektin seinem europäischen, übernationalen Rahmen unter-sucht und bewertet werden. Dabei müssen wir auch inRechnung stellen, welche Auswirkungen zum Beispielder demografische Wandel und im Zuge dessen die

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Schrumpfung und Alterung der ländlichen Regionen,vor allem aber auch das Wachstum zum Beispiel desGroßraumes Hamburg haben wird. Nur eine solche Stu-die, die dynamische und europäische Faktoren in Rech-nung stellt, wird uns bei dieser Entscheidung wirklichweiterhelfen.

Über diese grundsätzlichen Fragen dürfen auch dieDetailprobleme nicht vergessen werden. Wie etwa sollim Rahmen der festen Querung mit der denkmalge-schützten Fehmarnsundbrücke umgegangen werden?Vor allem aber: Wie erreichen wir gegebenenfalls eineoptimale Hinterlandanbindung der Fehmarnbelt-Que-rung? Ohne die Fertigstellung der A 22 und eine festeElbquerung nördlich von Hamburg würde das Projektförmlich in der Luft hängen. Auch hier gilt es, Zusam-menhänge und Wechselwirkungen zu beachten.

Einer der wirksamsten Indikatoren für die Zukunfts-trächtigkeit eines solchen Projektes ist und bleibt aberder Markt. Wenn sich private Investoren finden, die dieFehmarnbelt-Querung realisieren wollen, dann sollte derStaat dies im Rahmen einer öffentlich-privaten Partner-schaft auch nachdrücklich, zum Beispiel durch die Be-reitstellung angemessener Anbindungen, unterstützen.Wobei jedoch an dieser Stelle dazu auch klar gesagt seinmuss: Das muss dann auch eine ehrliche Partnerschaftsein. Es darf nicht so enden, dass der Staat mit einerBürgschaft die Risiken und Verluste trägt, während derprivate Anbieter die Gewinne einstreicht. Eine solcheKonstruktion zerstört die Funktion des Marktes als Ent-deckungsverfahren; denn wo eine Investition ohne Ri-siko ist, da findet keine ehrliche Bewertung statt.

Die vorliegenden Anträge können so immerhin imAusschuss eine mit Ruhe und Maß geführte Diskussionum die feste Fehmarnbelt-Querung bewirken. Wir müs-sen die Potenziale ehrlich benennen und die Investitionin ihrer Priorität gegenüber anderen dringlichen Maß-nahmen ergebnisoffen prüfen und gewichten. Wenn wirim Ausschuss dabei weiterkommen, hätten diese An-träge wenigstens Nutzen.

Lutz Heilmann (DIE LINKE): Meine Fraktion hatdiesen Antrag heute eingebracht, weil die Bundesregie-rung noch dieses Jahr über den Bau der gut 5 MilliardenEuro teuren Brücke über den Fehmarnbelt entscheidenwollte. Anfang der Woche nun konnte ich der Presse ent-nehmen, dass diese Entscheidung erst im Januar fallenwird. Ich freue mich, dass wir mit unserem Antrag einenersten Erfolg verbuchen konnten.

Lassen Sie sich von den Hochglanzprospekten nichttäuschen. Dieses Projekt birgt nicht nur große Risikenfür die Umwelt, es macht auch volkswirtschaftlich kei-nen Sinn. Seien Sie ehrlich, ein Projekt mit einem Nut-zen-Kosten-Verhältnis von 1,2 hätte es niemals in denBundesverkehrswegeplan geschafft. Und selbst mit die-ser Zahl muss man vorsichtig sein, da die Annahmenüber den Verkehrszuwachs auf schwachen Füßen stehen.

In diesem Zusammenhang ein Hinweis: Diese Zahlhabe ich wie viele andere Angaben in diesem Antrag derAntwort der Landesregierung Schleswig-Holsteins auf

eine Große Anfrage entnommen. Wenn Sie also mit denAngaben nicht einverstanden sind, wenden Sie sich bittedirekt an Minister Austermann.

Wobei ich wirklich nicht verstehe, wie er angesichtsdieser Fakten den Brückenbau trotzdem so vehement be-fürwortet. Das müsste sich eigentlich auch die Bundes-regierung fragen, die mir auf eine schriftliche Frage zurFehmarnsundbrücke geantwortet hat, dass sie keinen Be-darf für einen Ausbau dieser zweispurigen Brücke unddes eingleisigen Schienenabschnitts sieht. Wenn manaber nicht einmal auf der viel mehr befahrenen Verbin-dung vom Festland nach Fehmarn vier Autospuren benö-tigt, dann kann eine 4,2 Milliarden Euro teure Brückenach Dänemark mit vier Spuren nun wirklich keinenSinn machen.

Ich weiß, Sie werden in Ihren Reden gleich daraufhinweisen, dass das Projekt ja gar nicht vom Bund ge-baut werden soll, sondern dass dieses Bauwerk als öf-fentlich-private Partnerschaft, mit der neuen Zauberfor-mel ÖPP oder PPP, realisiert werden soll. Aber auch füreinen privaten Investor rechnet sich das Projekt nicht.Weil es eben keinen echten Verkehrsbedarf gibt, kannder geringe Verkehr die extrem hohen Investitionskostenniemals erwirtschaften.

Deshalb kann das Projekt nur funktionieren, wennDeutschland und Dänemark massive finanzielle Unter-stützung leisten. Das wird dann verharmlosend Anschub-finanzierung genannt, wobei Sie verschweigen, dass esdabei um etwa 1 Milliarde Euro geht – plus 1,2 Milliardenfür den Ausbau der Hinterlandanbindungen, die in jedemFall anfallen.

Auch die EU soll mal eben 20 Prozent der Baukostenübernehmen, wobei Sie so tun, als ob das Geld vomHimmel fällt. Die gleichen, die hier massiv eine EU-Finanzierung einfordern, beschweren sich doch bei jederEU-Haushaltsberatung über die hohen ZahlungenDeutschlands an die EU.

Das andere Modell, das von Dänemark bevorzugtwird, heißt Staatsgarantiemodell. Vorbild ist dabei dieVerbindung über den Öresund zwischen Kopenhagenund Malmö. Ich warne Sie aber davor, sich von den an-geblichen Erfolgsmeldungen blenden zu lassen. Die ab-soluten Verkehrszahlen dort liegen nicht höher, als siefür den Fehmarnbelt vorhergesagt werden. Und die inder letzten Zeit verzeichneten Verkehrszuwächse beru-hen auf einem Anstieg bei den täglichen Pendlern, diewiederum durch erhebliche Preisnachlässe begünstigtwurden. Mit großen Pendlerströmen sollten Sie beimFehmarnbelt aber besser nicht rechnen; denn Sie verbin-den nicht zwei wirtschaftlich prosperierende Zentren,sondern zwei landwirtschaftlich und touristisch geprägteRegionen. Kopenhagen und Hamburg werden drei Stun-den voneinander entfernt bleiben; da wird niemand pen-deln.

Außerdem sollten Sie sich einmal die Bilanzen anse-hen. Der Betreiber der Öresundbrücke hat allein im Jahr2005 etwa 100 Millionen Euro Verlust gemacht, davonkonnten aber 65 Millionen Euro durch interne Verrech-nung wieder hereingeholt werden – zulasten des däni-

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schen Steuerzahlers. Durch die Hintertür holt man sichalso auch beim Staatsgarantiemodell eine staatliche Fi-nanzierung ins Haus. Daneben erhält der private Betrei-ber wegen der Staatsbürgschaft günstige Kredite. DerStaat bürgt aber auch für die Rendite der Investoren, diemöglicherweise sogar 12 Prozent betragen soll. Ja, sol-che Geschäfte möchte wohl jede und jeder gerne ma-chen. Wenn Millionen Menschen staatlich verordnet un-ter dem Existenzminimum leben müssen, sind solcheGeschäfte, oder besser Geschenke, aber nicht ange-bracht.

Angesichts der mageren Verkehrsprognosen mussauch ein Scheitern des Projektes mit einer möglichen In-solvenz des Betreibers in Betracht gezogen werden.Wenn man sich die beiden Tunnel in Rostock und Lü-beck ansieht, ist das gar nicht so unwahrscheinlich; dennbeide konnten nur mit weit reichenden finanziellen Zu-geständnissen am Leben gehalten werden. Wenn dasProjekt scheitern sollte, dann würden Deutschland undDänemark allein auf der Brücke – und den Schulden –sitzen bleiben.

Lassen Sie die Finger von diesem finanziellen Wag-nis, das für den Verkehr von und nach Skandinaviennicht gebraucht wird. Es gibt eine Verbindung auf demLandweg über Jütland. Und es gibt eine funktionierendeFährverbindung, die problemlos verbessert werdenkönnte – zu einem Bruchteil der Kosten und wesentlichschneller, als die Brücke fertig gestellt sein könnte. Da-für gibt es wegen der geringen Verkehrsmengen derzeitaber keinen Bedarf und deswegen für die Brücke auchnicht. Gehen Sie verantwortlich mit den Steuergeldernum und lassen Sie die Finger von dieser Brücke.

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Die Pläne zum Bau einer festen Verbindung über den Feh-marnbelt sind ein ökologisches Abenteuer, finanziell un-vertretbar und kosten Arbeitsplätze. Zudem würde diefeste Fehmarnbelt-Querung das Aus für die FährlinieScandlines bedeuten, die Puttgarden und Rodby verbin-det. Eine zukunftsfähige Infrastrukturplanung sieht an-ders aus.

Punkt eins: Das Projekt Fehmarnbelt-Querung ist einökologisches Abenteuer. Naturschutzorganisationen wieder BUND warnen vor den erheblichen ökologischenKonsequenzen für den Vogelzug. Gefährdet sind auchdie Bestände an Robben, Schweinswalen und Fischen.Zu befürchten sind auch die Folgen für den Wasseraus-tausch in der Ostsee durch gestörte Strömungsverhält-nisse.

Eine feste Querung bedeutet, dass ein Teil des Güter-transports auf die Straße verlagert würde. Dabei wolltedas Bundesverkehrsministerium doch den „Modal Shift“fördern und den Güterverkehr von der Straße auf Schiffund Schiene verlagern.

Punkt zwei: Die Finanzierung ist nicht sichergestellt.Wer soll für die Gesamtkosten in Höhe von geschätzten6,7 Milliarden Euro aufkommen? Die schleswig-holstei-nische Landesregierung plant mit Geld, das gar nicht daist. Die Bundeskanzlerin hat einen Rückzug gemacht.

Die Fördergelder der Europäischen Union für die trans-europäischen Verkehrsnetze, kurz TEN, fließen spärlich.Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben diefinanziellen Mittel für die vorrangigen Projekte von denveranschlagten 20 Milliarden Euro auf 6,7 MilliardenEuro gekürzt. Die Finanzierung ist außerdem an die Be-dingungen Beginn der Konstruktionsphase im Jahr 2007und Sicherstellung der Hinterlandanbindung geknüpft.Allein die Hinterlandanbindung wird um die 1,2 Milliar-den Euro kosten, die nicht im Bundesverkehrswegeplaneingestellt sind. Dass sie im zweiten Investitionsrahmen-plan 2011 bis 2015 bereitgestellt werden, ist daher nichtzu erwarten.

Den Ausweg sollte eine öffentlich-private Partner-schaft weisen. Doch die potenziellen Investoren sindvom Projekt nicht überzeugt. Auf der Investorenkonfe-renz am 22. September kamen Zweifel auf, ob das Ver-kehrsaufkommen tatsächlich so hoch sein wird, dass sichdie Investitionen über Mauteinnahmen rentieren. Daranzweifelt auch die Bundesregierung: Sie lässt das zu er-wartende Verkehrsaufkommen noch einmal prüfen undwill die Finanzierungsmodelle neu bewerten.

Potenzielle Investoren verlangen eine staatliche Be-teiligung in Form von Staatsgarantien. Die Bundesregie-rung würde das Risiko für Investitionen in Höhe vonrund 5,5 Milliarden Euro für den Bau der Querung undzusätzliche 1,2 Milliarden Euro für die Anbindung aufdeutschem Gebiet allein tragen. Staatsgarantien sind öf-fentliche Gelder. Wenn es der geplanten festen Fehmarn-belt-Querung so ergeht, wie den Projekten HerrentunnelLübeck, Rostocker Warnowtunnel, Öresund-Querungund Eurotunnel muss am Ende der Steuerzahler die Ze-che zahlen.

Punkt drei: Das Mammutprojekt gefährdet Arbeits-plätze. Auf deutscher Seite arbeiten 600 Menschen fürdie Reederei Scandlines an den Standorten Rostock,Puttgarden und Mukran auf Rügen, auf dänischer Seitesind 500 Menschen direkt für Scandlines tätig. 1 100 Ar-beitsplätze stehen infrage. Derzeit leben auf der InselFehmarn 2 340 Menschen direkt vom Tourismus. Auchfür eine der Haupteinnahmequellen der Region sind Ein-bußen zu erwarten.

Eine feste Fehmarnbelt-Querung wäre das Ende fürdie Fährverbindung. Das räumt das schleswig-holsteini-sche Wirtschaftsministerium in seiner Antwort auf eineGroße Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen im Septem-ber ein. Darin heißt es: „Die völlige Einstellung desFährverkehrs ist nicht unwahrscheinlich“. Die dänischeRegierung, Anteilseigner der Scandlines, denkt offenbardarüber nach, die feste Querung mit Erlösen aus demVerkauf der Scandlines zu finanzieren. Auch die Deut-sche Bahn AG hat ihren 50-prozentigen Anteil an derReederei Scandlines zum Verkauf angeboten. Der briti-sche Kapitalfonds 3i-Group-PLC und die Baltic FerryDevelopment Group, hinter der sich die Deutsche See-reederei in Rostock und ein Tochterunternehmen derAllianz-Versicherung verbergen, haben bereits Interesseangemeldet.

Was wir brauchen, ist ein ökologisch und ökonomischnachhaltiges Verkehrskonzept. Wir sollten mit den knap-

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pen öffentlichen Geldern die Fährverbindung erhalten,das Fährkonzept optimieren und in zukunftsfähige Infra-strukturen investieren. Ein Baustein ist die Wasserstra-ßenverbindung zwischen den deutschen Seehäfen undden Ostseeanrainern. Der Nord-Ostsee-Kanal ist die ent-scheidende Route für Tourismus und Güterverkehr imOstseeraum. Daher machen wir uns dafür stark, denAusbau prioritär zu behandeln und das Planfeststellungs-verfahren zügig noch im Jahr 2008 abzuschließen. Dabeisind der Erhalt der am Kanal gelegenen Biotope sowiedie naturschutzgerechte Entsorgung bzw. Weiterverwen-dung des Baggergutes zu berücksichtigen.

Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierungauf, auf die Anteilseigner dänische Regierung und Deut-sche Bahn AG einzuwirken, die Vogelfluglinie zu erhal-ten und das Fährkonzept der Scandlines zu optimieren,auch wenn die Anteilseigner ihre Anteile an Scandlinesverkaufen sollten.

Anlage 11

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Anträge:

– Einrichtung einer Polizeireformkommission

– Notwendigkeit einer Defizitanalyse des be-stehenden Sicherheitssystems

(Tagesordnungspunkt 20 und Zusatztagesord-nungspunkt 10)

Günter Baumann (CDU/CSU): Bevor ich zu denAnträgen seitens des Bündnisses 90/Die Grünen und derFDP komme, möchte ich ein paar Worte zu der hervorra-genden Arbeit der Bundespolizei verlieren. Die rund40 000 Beschäftigten der Bundespolizei haben aufgrundihres Auftrages, übertragen durch das deutsche Grund-gesetz und durch Bundesgesetze, eine wichtige Schlüs-selposition zum Schutz der nationalen Sicherheit inne.Die Aufgaben der Bundespolizei erstrecken sich nichtnur auf die Sicherung unserer Außengrenzen; die Bun-despolizei nimmt auch Aufgaben bei der Bahn und beider Luftsicherheit wahr. Darüber hinaus unterstützt dieBundespolizei Einsätze, etwa bei der Sicherung vonFanmeilen und Stadien während der Fußball-WM. Die-ses komplexe Aufgabengebiet spiegelt den Stellenwertder Bundespolizei im Sicherheitssystem Deutschlandswider. Auch ihre vielfältigen Erfahrungen in der interna-tionalen Zusammenarbeit gewinnen für die innere Si-cherheit Deutschlands und der Europäischen Union im-mer mehr an Bedeutung. Genau aus diesem Grunde sinddie Veränderungen in der Organisationsstruktur so wich-tig, damit die Bundespolizei zukunftsfähig bleibt.

Ich komme nun zum Antrag des Bündnisses 90/DieGrünen zur „Einrichtung einer Polizeireformkommission“,der – wie schon vorangegangene Anträge in dieser Wahl-periode zuvor – fehlerhafte Basisinformationen enthält.Dies kann man gleich im ersten Absatz des vorliegendenAntrags feststellen. Hierin behaupten Bündnis 90/DieGrünen, dass „die Bediensteten der Bundespolizei über

die Medien von dem umfassenden Reformvorhabeninformiert wurden“. Dies trifft nicht zu, denn ein Briefan alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundespoli-zei wurde am 16. November 2006 zugestellt; zeitgleichwurden die Innenminister der Länder über das Reform-vorhaben informiert. Wenn die Abgeordneten der Grü-nen dies nicht mehr ganz parat haben, sollten sie denArtikel „Schäuble plant Umbau der Bundespolizei“ der„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom Freitag, den17. November 2006 lesen. Darin heißt es explizit, dassab Donnerstag, 16. November 2006, die „Führungsstäbeund Mitarbeiter der Bundespolizei von den bevorstehen-den Veränderungen unterrichtet“ wurden, „ebenso dieInnenminister der Länder“.

Ich denke, die Abgeordneten sind sich einig, dass eineReform der Bundespolizei zwingend notwenig ist.Deutschland steht vor neuen Herausforderungen, dieauch in der Organisationsstruktur der Bundespolizei ver-ankert werden müssen. Eines der wichtigsten Themen inden nächsten Jahren ist die Verlagerung der östlichenAußengrenzen der Europäischen Union nach demSchengenbeitritt Tschechiens und Polens. Damit werdenstationäre Grenzkontrollen nach den Schengenrichtliniennicht mehr benötigt. Jedoch bedeutet das im Um-kehrschluss mitnichten, dass die Zahl der Bundespolizei-kräfte in diesen Regionen reduziert werden darf undkann. Zur Abwehr der vermehrten illegalen Einwande-rungen, auch im Hinblick auf Schleusertätigkeiten, undzum Schutz gegen terroristische Bedrohungen brauchenwir mehr mobile Einsatzkräfte. Evaluationen haben be-reits ergeben, dass mobile und operative Polizeiarbeit ef-fizienter gegen Schleuser- und organisierte Kriminalitätwirken können als stationäre Grenzkontrollen. Deshalbist es das erklärte Ziel, die operative Arbeit und die poli-zeiliche Präsenz zu stärken. Ferner will man auch eineEffizienzsteigerung durch die Reduzierung der institu-tionellen Stellen erreichen. Jedoch ist eines ganz klar zusagen: Es ist sicher, dass niemand seine Beschäftigungverlieren wird.

Die Bediensteten der Bundespolizei wurden über diegroben Umrisse des Reformvorhabens informiert undkeinesweges, wie die Grünen behaupten, vor vollendeteTatsachen gestellt. In der Zwischenzeit ist eine Projekt-gruppe eingerichtet worden, die das Reformkonzeptdetailliert ausarbeiten wird. In diesen Prozess sind dieBundespolizei und die Personalvertretung umfangreicheingebunden. Somit wird im Zusammenhang mit den ge-planten Veränderungen über alle Einzelheiten ausgiebigberaten. Schon allein deshalb ist der Antrag der Grünenauf Einsetzung einer Polizeireformkommission abzuleh-nen. Dies würde nämlich nur doppelten Aufwand und imEndeffekt doppelte Bürokratie bedeuten.

Sowohl der Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen alsauch der FDP fordern eine umfassende Betrachtung derSchnittstellen zu den Aufgabenbereichen der anderenSicherheitsbehörden in Deutschland, also des Bundes-kriminalamtes, der Länderpolizeien und der Nachrich-tendienste. Beide Anträge gehen davon aus, dass es imdeutschen Sicherheitssystem in den letzten Jahrzehntenzu erheblichen Doppelstrukturen und ungenauer Auf-gabenverteilung gekommen sei; dies solle durch Evalu-

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ierungen und Umsetzung der entsprechenden Ergebnisseaufgehoben werden. Hierzu ist zu bemerken, dass dieOrganisationsreform der Bundespolizei keine Verände-rung der Aufgabenverteilung unter den einzelnen Sicher-heitsbehörden mit sich bringen wird. Es wird bei denbestehenden gesetzlich geregelten Zuständigkeiten derBundespolizei, der Länderpolizeien und der anderenSicherheitsbehörden bleiben. Dies gilt im Besonderenauch für den Bereich der kriminalpolizeilichen Ermitt-lungen. Hierbei nimmt die Bundespolizei auch in Zu-kunft nur die ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgabenwahr. Es ist Unsinn, Schnittstellen zu den Aufgaben-bereichen der Länderpolizeien und den weiteren Sicher-heitsbehörden in Deutschland zu definieren, wenn siebereits gesetzlich klar definiert sind. Dies ist der Fall.

Darüber hinaus fordert die FDP in ihrem Antrag, dassdie behördliche Zusammenarbeit verbessert und effektivergestaltet werden soll. Dies ist doch schon allein durchdas Gemeinsame-Dateien-Gesetz auf den Weg gebrachtworden. Durch diese neuartige Vernetzung können sichdie 38 Sicherheitsbehörden in Deutschland besser aus-tauschen. Somit ist auch diese Forderung hinfällig.

Als Fazit ist festzuhalten, dass beide Anträge abzulehnensind, da sie einerseits einen erhöhten Bürokratieaufwandzur Folge hätten und andererseits bereits vollzogeneMaßnahmen, etwa eine Verbesserung der Zusammenarbeitder Sicherheitsbehörden oder eine Polizeireformkom-mission, fordern.

Wolfgang Gunkel (SPD): Der Antrag der Fraktiondes Bündnisses 90/Die Grünen kritisiert das Vorgehendes Bundesministeriums des Innern bei der Reform derBundespolizei. Der Umbau der Polizei sei im Geheimenals „Reform von oben“ entwickelt worden. Die Bediens-teten der Bundespolizei wurden lediglich über die Me-dien darüber informiert.

Wenn man weiß, welche Tätigkeit der für diesen Ent-wurf der Neuorganisation mitverantwortliche Staats-sekretär Dr. August Hanning vor seinem Wechsel in dasInnenministerium ausübte, wird man diese „Geheimniskrä-merei“ vielleicht verstehen – immerhin war Dr. Hanningvorher Chef des Bundesnachrichtendienstes.

Ich stimme den Antragstellern darin zu, dass die man-gelnde Information nicht positiv zu bewerten ist. Dass dieAngehörigen der Bundespolizei und die Personalräte/Ge-werkschaften bei der Entwicklung des Eckpunktepapiersnicht „mitgenommen“ wurden, ist für den weiteren Ab-lauf des Verfahrens nicht förderlich. Man muss abwarten,ob es gelingt, dieses Defizit auszugleichen.

Es gibt allerdings auch keinerlei Anhaltspunkte dafür,dass eine Beteiligung in Zukunft nicht stattfinden wird.Ist es doch gesetzlich vorgeschrieben, die Personal-vertretungen zu beteiligen. § 78 Abs. l Nr. 2 des Bundes-personalvertretungsgesetzes räumt dem Personalrat einMitwirkungsrecht bei der Auflösung, Einschränkung,Verlegung oder Zusammenlegung von Dienststellen ein.Von einer schweren Vertrauenskrise zu sprechen halteich deshalb für etwas übertrieben. Außerdem bin ich derMeinung, dass das BMI allein dafür verantwortlich ist,welche externen Sachverständigen im Prozess der Orga-

nisationsänderung zu beteiligen sind und wie und wanndie Öffentlichkeit unterrichtet wird. Eine breit angelegteDiskussion im Internet erscheint deshalb nicht sehr sinn-voll zu sein.

Weiterhin wird eine umfassende Aufgabenkritik, ver-bunden mit der Überprüfung von Doppelfunktionen undder Schnittstellenproblematik zu den Länderpolizeienund anderen Sicherheitsbehörden angemahnt. Ich gehedavon aus, dass das BMI mit seinen Arbeitsgruppenselbstverständlich diese Umstände bei der Aufstellung derrund 30 000 Beamten beachten wird, weil im Hinblick aufkünftige Aufgaben im Rahmen der EU-Erweiterung spä-testens 2008 die Einbettung in ein europäisches Sicher-heitssystem zu berücksichtigen sein wird. Das erforderteinen effektiven Kräfteeinsatz im Rahmen der Gewähr-leistung der inneren Sicherheit.

Inzwischen hat übrigens das BMI eine Projektgruppeunter Einbeziehung führender Beamter der Dienststellenund des Ministeriums sowie der Personalräte einberufen,die die vorliegenden Eckpunkte nunmehr in ein Feinkon-zept überführen sollen.

Abschließend bleibt festzustellen, dass BundesministerDr. Schäuble zugesagt hat, meine Fraktion als Koalitions-partner an dem Fortgang des Verfahrens zu beteiligen. Ichbin mir sicher, dass auch die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ebenfalls daran teilhaben kann, nämlich beiden Beratungen im Innenausschuss. Der vorliegende An-trag auf Bundestagsdrucksache 16/3704 ist deshalb abzu-lehnen.

Zum Antrag der FDP-Fraktion ist zu bemerken, dassdie Reform der Bundespolizei, besser Organisations-strukturveränderung, dazu herhalten soll, die Notwen-digkeit einer Defizitanalyse der bestehenden Sicherheits-systeme zu konstruieren. Sicherlich ist es grundsätzlichnicht falsch, eine verbesserte Koordinierung und Zusam-menarbeit polizeilicher und nachrichtendienstlicher Stel-len im Zuge der Terrorismusbekämpfung anzustreben,jedoch verfehlt dieses Ansinnen bei dem Thema Bundes-polizeineuorganisation das Ziel.

Die Aufgaben der Bundespolizei sind in erster LinieSicherungsaufgaben gegen illegale Einwanderung bzw.illegale Einreise in die Bundesrepublik Deutschlanddurch den polizeilichen Einzeldienst sowie in zweiterLinie Unterstützung der Länderpolizeien bei Großereig-nissen, Veranstaltungen und demonstrativen Aktionendurch die vorgehaltenen geschlossenen Einheiten und indritter Linie auch Kriminalitätsbekämpfung in spezifi-schen Aufgabenbereichen.

Indirekt dient dieses Spektrum der Vollzugstätigkei-ten auch der Terrorismusbekämpfung, ist jedoch nichtspeziell darauf abgestellt. Insofern ist das angestrebteReformziel, die Bundespolizei auf den Wegfall derPersonenkontrollen durch den Eintritt der neuen EU-Mitgliedstaaten in das Schengener Informationssystemim Dezember 2007 vorzubereiten und aktionsfähig zumachen, vorrangig.

Wie schon im Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen – Internetforum – wird auch hier gefordert,in einem „offenen“ Verfahren diese Strukturveränderung

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darzulegen. Dieses ist mit Verlaub gesagt untunlich, weilauch die Organisation einer Sicherheitsbehörde mögli-chen Straftätern Aufschluss darüber gibt, mit welchenMitteln sie gegebenenfalls Kriminalitätsbekämpfungund die ihr obliegenden Aufgaben zu erfüllen gedenkt.

Eine „parlamentarische“ Offenlegung ist dagegeneine Selbstverständlichkeit.

Abschließend bleibt festzustellen, dass auch der An-trag der FDP-Fraktion abzulehnen ist.

Dr. Max Stadler (FDP): Das Bundesinnenministe-rium hat in den letzten Wochen erhebliche Unruhe beider Bundespolizei und beim Bundesamt für Verfassungs-schutz verursacht. Offenbar über die Köpfe der Betroffe-nen hinweg sind Organisationsreformen angekündigtworden. Dies war kein guter Stil. Es wäre Zeichen einermodernen Personalführung, solche Reformen mit denBetroffenen und nicht gegen sie zu beginnen.

Die Art und Weise des Vorgehens, die vom Bundesin-nenministerium zu verantworten ist, ist leider dazu ge-eignet, die betroffenen Sicherheitsbehörden von ihreneigentlichen Kernaufgaben abzulenken, denn verständli-cherweise wollen Mitarbeiter Klarheit darüber haben,wie es mit ihnen beruflich weitergeht.

Unabhängig davon ist die FDP-Fraktion der Meinung,dass eine Analyse über Organisationsmängel des beste-henden Sicherheitssystems durchaus erforderlich ist.Bundespolizei, Bundeskriminalamt, Zollfahndung undLänderpolizeien arbeiten häufig nebeneinander her. EineSicherheitsarchitektur, die Reibungsverluste und Dop-pelarbeit vermeiden würde, existiert nicht.

Gerade deshalb ist aber eine isolierte Reform derBundespolizei, wie sie jetzt offenbar vom Bundesinnen-ministerium angestrebt wird, der falsche Weg. Notwen-dig wäre zunächst eine Bestandsaufnahme vor allemdazu, welche Kompetenzüberschreitungen es zwischenden verschiedenen Sicherheitsbehörden gibt. Kompe-tenzüberschreitungen führen notwendigerweise zu unnö-tiger Doppelarbeit. Ein zielgerichteter und sparsamerEinsatz der finanziellen und personellen Ressourcen derSicherheitsbehörden wäre aber äußerst wünschenswert.

Die Reform darf auch nicht am Parlament vorbeilau-fen. Es war ebenfalls kein guter Stil des Bundesinnen-ministeriums, vage Pläne in der Presse anzukündigenund erst auf Aufforderung des zuständigen Innenaus-schusses sich dort zu einer Berichterstattung bereit zu er-klären.

Da noch unklar ist, welche Inhalte die vom Bundesin-nenministerium gebildete Arbeitsgruppe im Einzelnenvorschlagen wird, kann dazu jetzt auch nicht Stellunggenommen werden. Aus Sicht der FDP ist allerdingsvorsorglich anzumerken, dass wir einer Ausweitung derAuslandseinsätze der Bundespolizei skeptisch gegen-überstehen. Zumindest müsste endlich ein Parlaments-vorbehalt für die Verwendung von Bundespolizeibeam-ten im Ausland eingeführt werden, wie er bei derBundeswehr vom Deutschen Bundestag durchgesetztworden ist.

Insgesamt kommt die FDP-Fraktion zu dem Ergebnis,dass nach der Veränderung der Aufgabenstellung derBundespolizei Organisationsänderungen nicht von vorne-herein ausgeschlossen werden können, dass der Weghierzu aber nur über ein offenes und transparentes Ver-fahren gehen kann, welches sowohl die betroffenen Mit-arbeiter als auch das Parlament angemessen einbezieht.

Petra Pau (DIE LINKE): Erstens. Bundesinnen-minister Wolfgang Schäuble hat eine Reform der Bun-despolizei angekündigt. Er tat dies über die Medien. Daskritisieren die Betroffenen, das kritisieren die Gewerk-schaften, das kritisieren die Grünen und das kritisiereauch ich. Diese Ankündigungspolitik via Medien ist ein-fach schlechter Stil.

Dieser schlechte Stil ist auch in der Sache überflüssig.In meinen Gesprächen, die ich jüngst beim Bundespoli-zeipräsidium Ost hatte, wurde ziemlich deutlich: Auchdort geht man von einem umfangreichen Reformbedarfaus und es gibt auch die Bereitschaft, umfangreiche Re-formen umzusetzen.

Nun hat die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenihre Kritik in einen Antrag gegossen. Darin fordert siedie Einsetzung einer Polizeireformkommission. Dasfinde ich nun wieder übertrieben, zumal man denschlechten Stil eines Ministers nicht einfach zum Besse-ren kommissionieren kann.

Zweitens. Die Grünen argumentieren, die Polizeire-form muss über eine Organisationsreform hinausgehen.Sie müsse sich auch neuen inhaltlichen Aufgaben stel-len. Genannt werden zum Beispiel „die zahlreichen Poli-zeimissionen im Ausland“ und „Aufgabenverlagerun-gen“, die sich aus dem Schengenabkommen ergeben.Das alles und mehr, so Bündnis 90/Die Grünen, müsse„auf solide gesetzliche Grundlagen gestellt werden“. Ge-nau hier will ich einhaken und auf InnenministerSchäuble zurückkommen. Der will nämlich auch mehrals eine Organisationsreform. Er sieht die Bundespolizeials Teil einer neuen Sicherheitsarchitektur.

Wir wissen, dass die Unionsparteien weiterhin dieBundeswehr im Innern einsetzen wollen. Und wir wis-sen, dass die Polizei zunehmend im Ausland eingesetztwird, übrigens ohne jeden Parlamentsvorbehalt. Hiergibt es in der Tat eine Gesetzeslücke. Wir brauchen alsoauch für die Polizei ein Parlamentsbeteiligungsgesetz.

Drittens. Aber wenn ich den Bundesinnenminister aufder Berliner Sicherheitskonferenz am 8. Dezember 2006richtig verstanden habe, dann schwebt ihm neben derBundeswehr und neben der Bundespolizei etwas Drittesvor: halb Polizei, halb Armee in einem, also eine Artweltweit agierende universelle Eingreiftruppe für alleFälle.

Das wiederum wäre mehr als eine Reform, die mitschlechtem Stil angekündigt wird. Und das wäre auchmehr, als Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag be-schreiben und mit einer Kommission nebst Internetportalbewerkstelligen wollen. Wir hätten es mit einer neuenQualität militärischer Innen- und Außenpolitik zu tun.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7391

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Dies wäre ein weiterer Schritt auf einem Weg, denDie Linke ohnehin kritisiert. Ich habe unlängst aufge-zeigt, wie die neue Sicherheitsarchitektur mit demGrundgesetz kollidiert und damit mit der Gesell-schaftsarchitektur. Dem demokratischen Rechtsstaatwird Boden entzogen. Darum geht es, nicht nur umschlechten Stil.

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Bundesinnenminister Schäuble will dieBundespolizei, den früheren Bundesgrenzschutz, refor-mieren. Das ist ein gutes Vorhaben. Doch er legt gleichzu Beginn einen Fehlstart hin. Er beginnt diesen Prozessnicht mit einem Dialog, sondern mit einem geheimenEckpunktepapier aus dem eigenen Haus. Die Reformwird so zu einem Werk von ganz oben.

Richtig wäre es gewesen, Beschäftigte und Gewerk-schaften, also Praktiker und ihre Erfahrungen, in die Ent-wicklung des Konzepts einzubeziehen. Das Ergebnis istnun eine schwere Vertrauenskrise zwischen dem Innen-minister und den Bediensteten der Bundespolizei. Daswar vermeidbar. Dieses schwere Versäumnis bei derKommunikation kann sogar den Erfolg der Reformselbst beeinträchtigen.

In der Sache sehen auch wir die Notwendigkeit einergrundlegenden Reform. Ich habe auch die Gewerkschaf-ten in diesem Sinne verstanden, dass sie sich nicht zurLobby überholter Strukturen machen.

Wir Grüne haben eine Umgestaltung schon seit lan-gem gefordert. Die Entwicklung des Schengenraumsmacht eine Verwaltungsstruktur überflüssig, die nochauf die Kontrolle der nationalen Außengrenzen ausge-richtet war. Es reicht aber auch nicht aus, nur Behördenhin- und herzuschieben. Wir brauchen darüber hinausauch eine grundsätzliche Neubestimmung der Aufgabeneiner Bundespolizei. Dazu gehört auch der Bereich vonAus- und Fortbildung.

Der Bundesinnenminister hat Recht, wenn er für dieeigentliche Polizeiarbeit mehr personelle Kapazitätendurch die Straffung der Strukturen von gegenwärtig fünf

Präsidien erreichen will. Mittelbehörden in diesem Be-reich müssen in der Tat zur Disposition gestellt werden.Die Zusammenfassung der Polizeiämter in Polizeidirek-tionen mit Kompetenzen aus den bisherigen Präsidienkann durchaus am Ende der Diskussion stehen.

Mir greifen aber diese rein organisatorischen Ver-schiebungen zu kurz. Die Frage, was ist die Aufgabeeiner Bundespolizei im föderalen Gefüge der Bundes-republik, lässt sich nicht durch eine Konzentration derBehörden allein lösen. In Deutschland ist man allzuschnell dazu übergegangen, alten Behörden neue Aufga-ben zu geben um ihr Überleben zu sichern. Kaum sinddie Schlagbäume verschwunden, kontrolliert der Zoll dieSchwarzarbeit. Der Bundesgrenzschutz wird umgetauft.Er nennt sich jetzt Bundespolizei. Aber was wird aktuellwirklich gebraucht, worin liegt ihr genauer Auftrag?

Wir haben daher die Einrichtung einer Reformkom-mission beantragt (Drucksache 16/3704). Dieses Gre-mium mit Fachleuten aus Verwaltung, Politik und Wis-senschaft soll gemeinsam mit den Betroffenen und ihrenGewerkschaften über grundlegende Reformen beratenund durchdachte Vorschläge ausarbeiten. Es geht nichtnur um Strukturen und Organisation. Es muss auch dieAufgabenstellung neu besprochen werden.

Zu klären ist auch, wie Auslandseinsätze aussehenund wie deren parlamentarische Kontrolle sichergestelltwird. Es kann nicht sein, das Polizeibeamte des Bundesoder der Länder weniger parlamentarische Aufmerksam-keit bekommen als die Soldaten. Auch Polizeibeamteleisten einen gefährlichen Dienst, dessen Erforderlich-keit immer wieder überprüft werden muss.

Dieser grundlegende Prozess einer Reform der Bun-despolizei muss transparent gestaltet werden. Er darfnicht länger als geheime Chefsache am Parlament und anden Beschäftigten vorbeigehen.

Ich freue mich auf die Beratungen im Innenausschussdes Bundestages zu diesem Thema. Wir sollten uns auchauf eine Anhörung verständigen, um den Diskussions-prozess voranzubringen.

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