2
4 HMD 272 Heiner Lasi Der Exhumierung entgehen »Wenn Archäologen uns eines Tages ausgra- ben, werden sie eine Tafel anbringen, auf der zu lesen sein wird, dass hier am Anfang des dritten Milleniums ein Computerfachhandel ansässig war .« Mit diesen Worten charakteri- sierte ein Geschäftsführer das Erscheinungs- bild seines metallverarbeitenden Betriebs wäh- rend eines Rundgangs bei einer Betriebsbesich- tigung. Und tatsächlich, kein Bereich des Unterneh- mens entgeht der IT-Dominanz. Kaum eine Stel- le, an der nicht Sensoren registrieren, Aktoren steuernd eingreifen und große Displays über die aktuelle Produktivität informieren. Kein Wun- der, verbleiben dem Betrieb doch nicht mehr als wenige Stunden von der Bestellung bis zur An- lieferung. Alles »Just in Sequence«. Dem er- staunten Betrachter drängt sich – und das nicht nur in sogenannten Zeiten der Krise – die Frage auf: Kennzeichnet die IT-Dichte einen erfolgrei- chen Industriebetrieb? Oder vielleicht noch et- was präziser: Ist es der Grad an (lückenloser) IT- Durchdringung, der den Erfolg eines Industrie- betriebs determiniert? Nein, diese essenzielle Frage lässt sich nicht während eines Rundgangs von einem Experten befriedigend beantworten. Für die Beantwor- tung einer solch schwierigen Frage verlassen sich Wissenschaftler wie auch Kandidaten bei Günther Jauch für gewöhnlich auf einen Publi- kumsjoker . Zum Glück steht in diesem Fall die geballte Kompetenz von ca. 400 Experten aus industriellen Betrieben zur Verfügung. Und wie lautet deren Antwort? Jawohl, es gibt eine Vielzahl an Unternehmen unter- schiedlicher Unternehmensgrößen und Bran- chen, die den Weg zum betriebswirtschaftli- chen Erfolg in der Einführung einer Vielzahl an Informations- und Kommunikationssystemen sehen. Alle Bereiche und alle Funktionen erhal- ten ihre Anwendung, die registriert, informiert und ggf. agiert. Damit wähnen sich diese Unter- nehmen in guter Tradition zu Smith, Ricardo und Gutenberg: Information wird – wenn die Banken kriseln und das Kapital knapper wird – zum entscheidenden Produktionsfaktor. Was das Einloggen einer Antwort allerdings erschwert, ist die Tatsache, dass es erstaunli- cherweise in unserem Publikum eine weitere, nicht unerhebliche Anzahl an Teilnehmern gibt, die für den Einsatz weniger Anwendungssyste- me votiert hat. Nicht dieser Umstand an sich gibt zu denken, sondern vielmehr die Feststel- lung, dass es genau diese Gruppe ist, die mit der Funktion der Informationsversorgung die höchste Zufriedenheit aufweist. Liegt der Kö- nigsweg vielleicht doch in der Integration be- reits bestehender Systeme vor der Einführung zusätzlicher? Wäre es tatsächlich nur eine Frage in einem Ratespiel, dann sollte das Bauchgefühl den Aus- schlag geben, diese Frage nicht zu beantworten und die erreichte Gewinnsumme mitzuneh- men. Oder vielleicht doch auf Risiko gehen? Da sticht auf einmal die dritte Antwort- möglichkeit ins Auge: Ganzheitliche Konzepte statt partieller Insellösungen. Das muss es sein. Zeichnen sich erfolgreiche Unternehmen nicht dadurch aus, dass sie ganzheitliche Konzepte erstellen und diese top-down im Unternehmen implementieren? Nein, zu trivial, sagt einem wiederum das Bauchgefühl ... Genau in diesem Augenblick unterbricht der Gesprächspartner das gedankliche Rate- spiel und holt mich zurück in die Realität seines Unternehmens. Wir sind am Wareneingang an- gekommen, und was dort zu sehen ist, er- schlägt einen förmlich: Autonome Ladungs-

Der Exhumierung entgehen

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Der Exhumierung entgehen

4 HMD 272

Heiner Lasi

Der Exhumierung entgehen

»Wenn Archäologen uns eines Tages ausgra-ben, werden sie eine Tafel anbringen, auf derzu lesen sein wird, dass hier am Anfang desdritten Milleniums ein Computerfachhandelansässig war.« Mit diesen Worten charakteri-sierte ein Geschäftsführer das Erscheinungs-bild seines metallverarbeitenden Betriebs wäh-rend eines Rundgangs bei einer Betriebsbesich-tigung.

Und tatsächlich, kein Bereich des Unterneh-mens entgeht der IT-Dominanz. Kaum eine Stel-le, an der nicht Sensoren registrieren, Aktorensteuernd eingreifen und große Displays über dieaktuelle Produktivität informieren. Kein Wun-der, verbleiben dem Betrieb doch nicht mehr alswenige Stunden von der Bestellung bis zur An-lieferung. Alles »Just in Sequence«. Dem er-staunten Betrachter drängt sich – und das nichtnur in sogenannten Zeiten der Krise – die Frageauf: Kennzeichnet die IT-Dichte einen erfolgrei-chen Industriebetrieb? Oder vielleicht noch et-was präziser: Ist es der Grad an (lückenloser) IT-Durchdringung, der den Erfolg eines Industrie-betriebs determiniert?

Nein, diese essenzielle Frage lässt sich nichtwährend eines Rundgangs von einem Expertenbefriedigend beantworten. Für die Beantwor-tung einer solch schwierigen Frage verlassensich Wissenschaftler wie auch Kandidaten beiGünther Jauch für gewöhnlich auf einen Publi-kumsjoker. Zum Glück steht in diesem Fall diegeballte Kompetenz von ca. 400 Experten ausindustriellen Betrieben zur Verfügung.

Und wie lautet deren Antwort? Jawohl, esgibt eine Vielzahl an Unternehmen unter-schiedlicher Unternehmensgrößen und Bran-chen, die den Weg zum betriebswirtschaftli-chen Erfolg in der Einführung einer Vielzahl anInformations- und Kommunikationssystemen

sehen. Alle Bereiche und alle Funktionen erhal-ten ihre Anwendung, die registriert, informiertund ggf. agiert. Damit wähnen sich diese Unter-nehmen in guter Tradition zu Smith, Ricardound Gutenberg: Information wird – wenn dieBanken kriseln und das Kapital knapper wird –zum entscheidenden Produktionsfaktor.

Was das Einloggen einer Antwort allerdingserschwert, ist die Tatsache, dass es erstaunli-cherweise in unserem Publikum eine weitere,nicht unerhebliche Anzahl an Teilnehmern gibt,die für den Einsatz weniger Anwendungssyste-me votiert hat. Nicht dieser Umstand an sichgibt zu denken, sondern vielmehr die Feststel-lung, dass es genau diese Gruppe ist, die mit derFunktion der Informationsversorgung diehöchste Zufriedenheit aufweist. Liegt der Kö-nigsweg vielleicht doch in der Integration be-reits bestehender Systeme vor der Einführungzusätzlicher?

Wäre es tatsächlich nur eine Frage in einemRatespiel, dann sollte das Bauchgefühl den Aus-schlag geben, diese Frage nicht zu beantwortenund die erreichte Gewinnsumme mitzuneh-men. Oder vielleicht doch auf Risiko gehen?

Da sticht auf einmal die dritte Antwort-möglichkeit ins Auge: Ganzheitliche Konzeptestatt partieller Insellösungen. Das muss es sein.Zeichnen sich erfolgreiche Unternehmen nichtdadurch aus, dass sie ganzheitliche Konzepteerstellen und diese top-down im Unternehmenimplementieren? Nein, zu trivial, sagt einemwiederum das Bauchgefühl ...

Genau in diesem Augenblick unterbrichtder Gesprächspartner das gedankliche Rate-spiel und holt mich zurück in die Realität seinesUnternehmens. Wir sind am Wareneingang an-gekommen, und was dort zu sehen ist, er-schlägt einen förmlich: Autonome Ladungs-

Page 2: Der Exhumierung entgehen

Einwurf

HMD 272 5

träger befüllen und entnehmen, wie von Geis-terhand gesteuert, mit RFID getrackte Warenaus einem Hochregallager, das für Mitarbeiternicht mehr zugänglich ist. Am Ausgang des La-gers werden die Tags manuell entfernt und dieHalberzeugnisse auf ein Transportband gelegt,das sich langsam in Richtung Fertigung bewegt.Das ungute Gefühl, eines Tages von Archäolo-gen ausgegraben zu werden, bleibt. Oder trifftdies vielleicht nur für diejenigen Betriebe zu, diepartielle IT-Insellösungen optimiert haben, weil

Unternehmen, die ganzheitliche Konzepte ver-folgen, nach wie vor für Betriebsrundgänge zu-gänglich sind?

Dr. Heiner LasiUniversität StuttgartLehrstuhl Wirtschaftsinformatik 1Keplerstr. 1770174 [email protected]