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Das Verständnis von „Behinderung“ im Wandel der Zeit, Erläuterungen Bei dem Gang durch die Geschichte wird Halt gemacht an verschiedenen Epochen. Es wird aufgezeigt, wie Menschen mit Behinderungen in unterschiedlichen Kulturen und Zeiten gelebt haben, welchen Platz sie in der Gesellschaft hatten und welche Prozesse der Ausgrenzung das Verständnis von Behinderung geprägt haben. Betrachtet man die Geschichte und wie in Gesellschaften Menschen mit Beeinträchtigungen behandelt wurden ergibt sich ein sehr unterschiedliches Bild, denn: Modelle von „Behinderung“ sind stets wandelbar gewesen, Muster der Ein- und Ausgrenzung sind dynamisch und verschiebbar. Der Gang durch die Geschickte soll zum Nachdenken anregen: Um eine Gesellschaft zu schaffen, an der alle Menschen gleichberechtigt teilhaben können – unabhängig davon ob sie eine Behinderung haben oder nicht – ist es wichtig, sich klar zu werden, wo Ausgrenzungsmechanismen noch wirksam sind und wo – auch im eigenen Kopf – noch Barrieren vorhanden sind. Die verwendeten Informationen stammen großteils aus: „Wir sind bunt und frech – mutig und laut“ (Hrsg. Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland, Berlin 2014) und „Inklusion als Menschenrecht“ Online Handbuch (Hrsg. Deutsches Institut für Menschenrechte e.V., Berlin). Die verwendeten Fotos stammen von Wikipedia.

Das Verständnis von „Behinderung“ im Wandel der Zeit ... · Im Römischen Reich wurden Menschen mit Behinderungen, wie viele andere Randgruppen, ... Claudius wurde der vierte

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Page 1: Das Verständnis von „Behinderung“ im Wandel der Zeit ... · Im Römischen Reich wurden Menschen mit Behinderungen, wie viele andere Randgruppen, ... Claudius wurde der vierte

Das Verständnis von „Behinderung“ im Wandel der Zeit, Erläuterungen Bei dem Gang durch die Geschichte wird Halt gemacht an verschiedenen Epochen. Es wird aufgezeigt, wie Menschen mit Behinderungen in unterschiedlichen Kulturen und Zeiten gelebt haben, welchen Platz sie in der Gesellschaft hatten und welche Prozesse der Ausgrenzung das Verständnis von Behinderung geprägt haben.

Betrachtet man die Geschichte und wie in Gesellschaften Menschen mit Beeinträchtigungen behandelt wurden ergibt sich ein sehr unterschiedliches Bild, denn: Modelle von „Behinderung“ sind stets wandelbar gewesen, Muster der Ein- und Ausgrenzung sind dynamisch und verschiebbar.

Der Gang durch die Geschickte soll zum Nachdenken anregen: Um eine Gesellschaft zu schaffen, an der alle Menschen gleichberechtigt teilhaben können – unabhängig davon ob sie eine Behinderung haben oder nicht – ist es wichtig, sich klar zu werden, wo Ausgrenzungsmechanismen noch wirksam sind und wo – auch im eigenen Kopf – noch Barrieren vorhanden sind.

Die verwendeten Informationen stammen großteils aus: „Wir sind bunt und frech – mutig und laut“ (Hrsg. Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland, Berlin 2014) und „Inklusion als Menschenrecht“ Online Handbuch (Hrsg. Deutsches Institut für Menschenrechte e.V., Berlin). Die verwendeten Fotos stammen von Wikipedia.

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1. MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN IN DER ANTIKE (3500 v . Chr. – 500 n.

Chr.)

Nur wenige Hinweise aus dieser Zeit geben Aufschluss über den Umgang mit behinderten Menschen. In der

Antike existierte weder das Wort noch das Konzept „Behinderung“. Man kann aber davon ausgehen, dass

eine Beeinträchtigung nicht ohne Folgen für den Umgang mit einem Menschen geblieben ist.

Wie es einem Menschen in dieser Zeit erging war auch sehr stark abhängig von seiner Herkunft. Wer aus

einer einflussreichen und wohlhabenden Familie stammte, hatte bessere Aussichten auf Unterstützung und

Versorgung als jemand der aus armen Verhältnissen kommt. Auch das Geschlecht der Person hat eine

große Rolle gespielt.

Welche Behandlung ein Mensch mit Behinderung erfahren hat, war zudem abhängig von der

Behinderungsart. Während manche Behinderungen zum gesellschaftlichen Ausschluss führten oder gar als

Unglück bringend angesehen wurden, gab es andere, die als positiv gewertet wurden. So wurden im alten

Ägypten zum Beispiel kleinwüchsigen Menschen besondere Fähigkeiten zugesprochen und es war

durchaus möglich, dass sie in hohe berufliche Positionen aufsteigen konnten.

Prägend für die verschiedenen Kulturen der Antike ist die Verknüpfung des Lebenswertes eines Menschen

mit seinem Nutzen für die Gesellschaft – ein Gedankensystem, das sich, wie wir heute wissen, bis in die

Gegenwart fortsetzen sollte.

Beispiel 1: Das Alte Ägypten (ca. 2500 v. Chr. – 30 0 v. Chr.)

Aus dem Alten Ägypten wird der Glaube überliefert, dass jeder Mensch, der in seinem irdischen Leben

„leidet“ und „Mängel mit sich herumträgt“ im unendlichen Jenseits von diesen befreit werde und wieder

„intakt“ sei. Der in ägyptischen Weisheitslehren dieser Zeit beschriebene Umgang mit Menschen mit

Beeinträchtigungen verbat es, dass diese Menschen verprügelt und verspottet werden.

Menschen mit leichten Behinderungen war es gestattet, sich in einfachen Berufen ihren Lebensunterhalt

selbst zu verdienen, wohingegen Schwer- und Schwerstbehinderte, sofern sie nicht in den Familien bleiben

konnten, als Bettler leben mussten. Ein Fürsorgesystem war im altägyptischen Reich unbekannt.

Welche Stellung Menschen mit Behinderungen hatten, inwiefern sie ausgegrenzt waren oder integriert

wurden, hing von der Art der Behinderung ab. Eine besondere Rolle spielten beispielsweise kleinwüchsige

Menschen. Sie waren in der Oberschicht sehr beliebt und konnten in hohe Positionen aufsteigen. Auf der

anderen Seite wurden sie auch auf entwürdigende Weise als Hofnarren eingesetzt, um den Pharao und

seinen Hofstaat zu belustigen und zu unterhalten.

Gesetzliche Grundlagen: Weisheitslehre des Amenemop e

Das 25. Kapitel der Weisheitslehre des Amenemope (ägyptischer Pharao, regierte um 996 v. Chr. - 985 v.

Chr.) verbietet ausdrücklich, den vom Schicksal Gezeichneten das Leben zu erschweren, ihn zu verprügeln

oder zu verspotten. Von konkreter Hilfeleistung ist jedoch nicht die Rede.

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Seneb - kleinwüchisger Hofbeamter (ca. 2500 v. Chr. )

Bisher konnten Historiker keine Anhaltspunkte dafür

finden, dass Kleinwüchsigkeit im Alten Ägypten zum

gesellschaftlichen Ausschluss führte. Vielmehr

genossen kleinwüchsige Menschen einen hohen Status

und waren in unterschiedlichen Berufsgruppen zu

finden. Kleinwüchsigkeit findet sich sogar unter den

ägyptischen Gottheiten wieder. Als wichtiges Indiz für

das gute Image wird gewertet, dass sich etliche Gräber

von kleinwüchsigen Menschen in nächster Nähe von

Pyramiden befinden – den Grabstätten der Pharaonen.

Bekannt sind einige Details aus dem Leben von Seneb.

Der kleinwüchsige Mann spielte eine wichtige Rolle in

der königlichen Weberei und war Aufseher der

Garderobe des Pharaos. Des Weiteren sind fünf

Priestertitel belegt, ebenso eine Reihe von Ehrentiteln,

die auf eine hohe soziale Stellung hindeuten.

Seneb besaß eine eigene Sänfte und war mit einer

Frau aus dem königlichen Geschlecht verheiratet. Seine anerkannte gesellschaftliche Stellung lässt sich

auch daran ablesen, dass sein Grab sich nahe der Cheops Pyramide befindet.

Beispiel 2: Das Römische Reich (ca. 800 v. Chr. - c a. 500 n. Chr.)

Im Römischen Reich wurden Menschen mit Behinderungen, wie viele andere Randgruppen, massiv

diskriminiert. Auch das Geschlecht hatte einen großen Einfluss auf mögliche Fürsorge und

gesellschaftlichen Ausschluss. Der Vater („Pater familias“) übte in der römischen Gesellschaftsordnung eine

unumschränkte Verfügungsgewalt über seine Frau und seine Kinder aus. So hatte er das Vorrecht, über

seine Familienmitglieder existentiell zu entscheiden und zu richten.

Familienmitglieder, die krank oder behindert waren, wurden entweder von der eigenen Familie unterstützt

oder mussten betteln gehen. Kinder mit Behinderungen oder Krankheiten wurden oft getötet oder

ausgesetzt, kranke Frauen wurden verstoßen. Wenn behinderte Kinder nicht getötet wurden, konnte es

sein, dass sie versklavt wurden oder ihr Leben als Narren und Komiker fristen mussten. Versklavt wurden

vor allem Kinder, bei denen eine Behinderung erst spät auffiel. Grundlage des Denkens bildete die

Nützlichkeitserwägung gegenüber der Gesellschaft: Nur wer für das Wohl der Gemeinschaft von Nutzen

war, sei es als Bauer, Handwerker oder Soldat, hatte ein Anrecht auf Leben. Wer diesem Maßstab nicht

entsprach, war zum Tode verurteilt oder zu einem Leben unter entwürdigenden und oft auch grausamen

Umständen.

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Gesetzliche Grundlagen: Das römische Zwölftafelgese tz

Das römische Zwölftafelgesetz, um 450 v. Chr. entstandene Holztafeln, fasst schriftlich die Vorstellungen

von Recht, Rechtsprechung und Gerechtigkeit zusammen, die zu diesem Zeitpunkt im römischen Gebiet

entstanden waren. Es galt für männliche, freie, römische Bürger. Hier war auch geregelt, dass Menschen,

die aufgrund von Krankheit oder Behinderung keiner Arbeit nachgehen konnten, betteln durften. Auf Tafel

vier, die sich im Kern mit Familienrecht beschäftigt, wird dem Vater das Recht zugesprochen, ein

Neugeborenes mit Behinderung zu töten oder auszusetzen.

Dekadenz im Römischen Reich

Rom zur Kaiserzeit war wohl der Höhepunkt antiker Dekadenz. Viele Mitglieder der Oberschicht hielten sich

kleinwüchsige, körperlich oder geistig behinderte Menschen als Narren zur persönlichen Belustigung und

Unterhaltung. Sie schenkten sie wie Ringe oder Hunde ihren Freunden und Bekannten. Als „Spielereien der

Natur" wurden Behinderte oft nackt bei Festmählern zur Schau gestellt oder als Ausstellungsobjekte im

Zirkus missbraucht. Die Menschen, die auf der Strasse zur Schau gestellt wurden, sollten am besten

körperlich und geistig behindert sein.

Findige Händler eröffneten einen speziellen Markt, das sogenannte „forum morionum“ (Narrenmarkt), wohin

Menschen mit Behinderungen aus aller Welt verschleppt und teuer verkauft wurden. Auch kam es vor, dass

arme Eltern ihre Kinder künstlich verstümmelten, um ihnen so eine Zukunft als Bettler zu sichern.

Ein Kaiser mit Behinderung: Kaiser Claudius 10 v. C hr. - 54 n. Chr.

Kaiser Claudius litt seit seiner Geburt an spastischen Lähmungen, hatte

Epilepsie und er stotterte. Aufgrund seiner Behinderungen war er von

seiner Familie eigentlich nicht als späterer Kaiser vorgesehen. Seine

Mutter betrachtete seine Behinderungen als Strafe der Götter. Sie

versteckte Claudius vor der Öffentlichkeit. Sie soll gesagt haben, dass

er ein „Missgebilde" sei, das von der Natur nur angefangen und nicht

vollendet wurde. Dennoch zum Kaiser wurde Claudius, da er nach der

Ermordung Caligulas der letzte lebende männliche Erwachsene seiner

Familie war.

Claudius wurde der vierte römische Kaiser und, trotz seiner

mangelnden politischen Erfahrung, erwies er sich als fähiger Verwalter

und Herrscher. Als größter kriegerischer Erfolg ist die Eroberung

Britanniens zu nennen. Während seiner Regierungszeit entstanden

Ansätze sozialer Fürsorge sowie viele neue Gebäude und öffentliche

Straßen. Den Verkehrswegen widmete er sich besonders - er ließ

neben neuen Straßen auch Kanäle bauen. Dies trug bedeutend zur

Verbreitung der lateinischen Sprache im Mittelmeerraum bei, was sich bis in die heutige Zeit auswirkt.

Kaiser Claudius setzte sich auch für die Versorgung der Bevölkerung mit Getreide und für eine bessere

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Landwirtschaft ein. Er widmete sich lange Zeit historischen Studien und war als Wissenschaftler sehr

angesehen. Ein besonderes Interesse hatte er für die römische Rechtsprechung. Allerdings war auch er Zeit

seines Lebens Spott und Missgunst ausgesetzt.

2. MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN IM MITTELALTER (ca. 5 00 v. Chr. – 1500

v. Chr.)

Im Mittelalter gab es verschiedene Erklärungsansätze für eine Behinderung. Man glaubte an die Einwirkung

von Dämonen, an den Kindertausch durch den Satan (Wechselbalg) oder an die Strafe Gottes für Sünden

der Vorfahren. Der Andersartige wurde als Bedrohung empfunden, der den „normalen“ Menschen

schädigen oder ihm zur Gefahr werden konnte. So wurde Kindern, die eine Behinderung hatten, eine Nähe

zum Teufel unterstellt und sie durften misshandelt und auch getötet werden. Viele geistig Behinderte wurden

aber auch auf Jahrmärkten zur Schau gestellt oder als Narr zum Spielzeug und Gespött gemacht.

Menschen mit körperlichen Behinderungen dagegen galten als „würdige Arme“, denen es gestattet war, zu

betteln. So traf man auf den Marktplätzen und an den Stadttoren auf Personen, die aufgrund von

Krankheiten, Unfall oder Kriegsverletzungen auf Gaben ihrer Mitmenschen angewiesen waren.

Durch den Einfluss der christlichen Kirchen änderte sich die Einstellung vieler Menschen zu Krankheiten

und Behinderungen. In dieser Zeit entwickelte sich die Armenpflege, die von der Kirche organisiert wurde

und sich der Nächstenliebe verpflichtete. Es entstanden Spitäler, die jedoch viele Menschen ausschlossen,

wie z.B. Menschen mit geistigen Behinderungen. Im ausgehenden Mittelalter ging man dazu über,

betroffene Menschen in Narren- und Tollhäuser einzusperren.

Gesetzliche Grundlagen: Sachsenspiegel (1220-1225) und Bremische-Evangelische

Kirchenordnung (1534)

Im Sachsenspiegel wird davon ausgegangen, dass Menschen mit geistiger Behinderung nicht in der Lage

sind, ihr Handeln einzuschätzen und zu kontrollieren, weshalb sie ein Leben lang einem Vormund

unterstanden. Sie wurden als unzurechnungsfähig betrachtet und waren somit auch nicht schuldfähig. So

hieß es im Sachsenspiegel: „Ein Geisteskranker kann sich nicht strafbar machen.“ Jedoch konnte der

Vormund haftbar gemacht werden.

In der Bremischen-Evangelischen-Kirchenordnung wird betont, dass es Pflicht „eines rechten Christen“ sei,

den Armen und Notdürftigen Almosen zu geben.

Ritter mit Handprothese: Götz von Berlichingen (148 0-1562)

Götz von Berlichingen verlor im Krieg seine rechte Hand. Ein Schuss aus den eigenen Reihen traf sein

Schwert, das daraufhin zertrümmert wurde. Trümmerteile traten in die Armschiene der Rüstung ein und

zerfetzten dabei seine rechte Hand. Als Mitglied der reichen Oberschicht verfügte Götz über ausreichend

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finanzielle Mittel und konnte sich die Anfertigung einer komplizierten Prothese

aus Eisen leisten, die es ihm ermöglichte, auch weiterhin als Ritter ins Feld

ziehen zu können. Seine Prothese brachte ihm den Beinamen „Ritter mit der

eisernen Hand“ ein.

Zu dieser Zeit waren Prothesen nicht neu, es gab sogar einen regen Austausch

über die Konstruktion und die Herstellung von Handprothesen in Europa. Die

angewandte Mechanik war durchaus komplex, so war es z.B. möglich, einzelne

Finger zu bewegen.

3. MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN IN DER NEUZEIT (1500 – 1900)

In der Neuzeit setzte sich in Europa zunehmend ein weltliches gegen das christliche Weltbild durch. Vor

allem die Aufklärung veränderte das Denken in Europa radikal, was sich auch auf die Kunst, die Politik und

viele andere Bereiche auswirkte. Krankheit und Behinderung wurden immer seltener als Strafe Gottes und

immer öfter als medizinisches Problem betrachtet. Dies führte zu einer Verwissenschaftlichung von

Behinderung. Während Menschen mit Behinderungen im Mittelalter noch vermehrt zum Alltag der

Gesellschaft gehörten, zumindest als Randfiguren, beginnt in der Neuzeit durch die Separation und

Isolierung der schleichende Prozess der Exklusion.

Aufgrund der zunehmenden Industrialisierung zogen immer mehr Menschen in die Städte, um in Fabriken

zu arbeiten. Familienverbände brachen zunehmend auseinander. Es kam zu den Gründungen von ersten

staatlichen Anstalten. Menschen mit Behinderungen verschwanden allmählich aus dem alltäglichen Bild der

Gesellschaft. In den sogenannten Irrenhäusern ließ man Menschen mit Behinderungen in der Regel

verwahrlosen und versorgte sie nicht richtig.

Doch gab es auch Bewegungen, die sich für einen humanen Umgang mit Menschen mit

Beeinträchtigungen einsetzten. So erreichte um 1800 der Schweizer Johann Heinrich

Pestalozzi (12.1.1746 - 17.02.182), dass die erste Schule für Kinder mit Behinderungen

erbaut wurde und ein Institut für Menschen mit psychischen Erkrankungen errichtet

wurde.

Im 18. Jahrhundert fand die grausame Praxis der Zurschaustellung von Menschen mit Behinderungen zur

Belustigung und Unterhaltung ein Ende. Man gelangte zu der Einsicht, dass auch das Halten von Hofnarren

nicht mit der menschlichen Würde vereinbar ist. Das Verspotten oder Lachen über Menschen mit

Behinderungen galt nicht mehr als schicklich. Vielmehr wurde an die Moral der Menschen appelliert. All das,

was Mitleid erregt, darf nicht Gegenstand der Belustigung sein. So konnte der Aufruf zum Mitleid das

Auslachen zwar eindämmen, änderte jedoch nichts an der gesellschaftlichen Stellung von Menschen mit

Beeinträchtigungen.

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Eine wertfreie Betrachtung von Behinderung wurde also auch durch die Verwissenschaftlichung nicht

erreicht. Menschen mit Behinderungen wurden vielmehr zu Forschungsobjekten. Behinderungen zogen das

Interesse von Medizinerinnen und Medizinern auf sich. In diese Zeit fallen die ersten Versuche,

Beeinträchtigungen zu klassifizieren. Die Betroffenen selbst kamen allerdings nur sehr selten zu Wort.

1826 wurde in Leipzig mit „Buckeliana oder ein Hand-,

Trost- und Hülfsbuch für Verwachsene beiderlei

Geschlechts“ eines der ersten Selbsthilfebücher für

Menschen mit Körperbehinderungen herausgegeben.

Anonym verfasst, enthält das Buch Ratschläge, Gedichte

und Anekdoten.

Gesetzliche Grundlagen: Entstehung der Sozialgesetz te

Am Ende der Neuzeit entstehen die Sozialgesetze

1883 tritt das Krankenversicherungsgesetz in Kraft, 1884 das Unfallversicherungsgesetz und 1889 das

Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz

Autor mit Behinderung: Ludwig von Baczko (1756-1823 )

Ludwig von Baczko war von Jugend an gelähmt und

erblindete im Alter von einundzwanzig Jahren durch eine

Pockenerkrankung. Damals hatte er gerade sein Studium

der Rechtswissenschaften abgeschlossen. Wegen seiner

Behinderung war es ihm nicht gelungen, eine Stellung als

Professor an einer Universität zu erhalten, obwohl er dies

etliche Male versuchte. Jedoch unterrichtete er für einige

Jahre Geschichte an der Artillerie-Akademie in Königsberg.

Zudem widmete sich Baczko der Schriftstellerei. Er schrieb

Bücher in den verschiedensten Gebieten, in erster Linie

aber der Geschichte und der Dichtkunst. Mit seinem Buch

„Über mich Selbst und meine Unglücksgefährten“ verfolgte

er das Ziel, die Gesellschaft über seine Lebenswelt

aufzuklären, Informationen weiterzugeben, aber auch zur

Gründung von Blindeninstitutionen anzuregen. In seinem

Buch wird deutlich, dass Baczko seine Beeinträchtigung als

Unglück ansah und seine Abweichungen von der Norm als

Ursache für Spott und Ausgrenzung definierte.

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4. Menschen mit Behinderungen im 20. Jahrhundert

Die Exklusion von Menschen mit Behinderungen, die im 18. Jahrhundert begann und sich im 19.

Jahrhundert verfestigte, nahm auch in 20. Jahrhundert ihren weiteren Lauf. Menschen mit Behinderungen

wurden zunehmend unsichtbar, da sie nun in den für sie geschaffenen Sonderinstitutionen untergebracht

und „verwahrt“ wurden.

Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts kann noch nicht von einem allgemeingültigen Verständnis von

Behinderung gesprochen werden. Vielmehr wurde zwischen verschiedenen spezifischen Formen der

Beeinträchtigung unterschieden, so z.B.: „Krüppel, Invaliden, Idioten, Schwachsinnige“ – Bezeichnungen,

die dem heutigen Verständnis nicht mehr entsprechen. Wie sich eine Beeinträchtigung auf das Leben einer

Person auswirkte, war abhängig vom individuellen Defizit in Bezug auf die Erwerbsfähigkeit.

Mit dem Ersten Weltkrieg und der vielen „verstümmelten“ Kriegsheimkehrer veränderte sich die

Wahrnehmung und Darstellung von Menschen mit Behinderungen. Eine Unterteilung in angeborene und

erworbene Beeinträchtigungen wurde nun sehr gängig. So war das gesellschaftliche Ansehen von

Kriegsverletzten positiver besetzt als das von Menschen mit Behinderungen. Große Anstrengungen wurden

unternommen, Kriegsverletzten einen Platz in der Gesellschaft zu schaffen und sie nach Möglichkeit ins

Arbeitsleben zu integrieren. Die Rehabilitation war geboren, Prothesen sollten Verlorenes ersetzen und

wiederherstellen, mit dem Ziel, die einstige Arbeitsleistung und -fähigkeit wiederzuerlangen.

Gesetzliche Grundlagen: 1920 Krüppelfürsorgegesetz, 1919 1%-Quote von

Beschäftigten mit Behinderungen in Unternehmen

Das Krüppelfürsorgegesetz führte zur Meldepflicht von Menschen mit Beeinträchtigungen. Es gilt als erstes

Gesetz, das eine Verpflichtung zu schulischer, medizinischer und beruflicher Rehabilitation von Kindern,

Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderungen vorsah. Eine Behinderung lag vor, „wenn eine Person

infolge eines angeborenen oder erworbenen Knochen-, Gelenk, Muskel oder Nervenleidens oder Fehlens

eines wichtigen Gliedes oder von Teilen eines solchen in dem Gebrauch ihres Rumpfes oder ihrer

Gliedmaßen nicht nur vorübergehend derart behindert ist, dass ihre Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen

Arbeitsarbeit voraussichtlich wesentlich beeinträchtigt wird.“ (Krüppelfürsorgegesetz 1920). Behinderung

wird also nach wie vor an der Arbeits(un)fähigkeit eines Individuums festgemacht.

1919 wurde erstmals in der Sozialpolitik eine Quote verordnet, die vorsah, dass 1 % der in einem

Unternehmen Beschäftigten „Schwerbeschädigte“ sein sollten. Unter „Schwerbeschädigten“ wurden

allerdings nur Kriegsverletzte verstanden, die auf diese Weise wieder in das Arbeitsleben eingegliedert

werden sollten. Alle anderen Menschen mit Beeinträchtigungen waren von dieser Regelung

ausgeschlossen.

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Otto Perl (1882 – 1951): Mitbegründer des Selbsthil febundes der Körperbehinderten,

1919

Im Alter von 13 Jahren erkrankte Perl an einer

Gelenkentzündung, die zur vollständigen

Versteifung seiner Gelenke führte. Er verbrachte den

Großteil seines Lebens in Heimen, in denen er sich

meist sehr unwohl und entmündigt fühlte. Seine

Erfahrungen nahm er zum Anlass, die Verhältnisse

in den Anstalten zu beschreiben und der Kritik zu

unterziehen. Er prangerte das Prinzip der

Heimfürsorge an, das die bloße Verwahrung von

Menschen mit Körperbehinderungen nach den

gesetzlichen Regelungen der sogenannten

„Krüppelfürsorge“ vorsah, ohne ihnen Möglichkeiten

der Schul- und Berufsausbildung bereitzustellen. Er bildete sich selber fort und konnte im Alter von 37

Jahren sein Abiturexamen ablegen.

Otto Perl zählte zum engen Kreis der Mitbegründerinnen und Mitbegründern des 1919 in Berlin initiierten

"Selbsthilfebundes der Körperbehinderten", des historisch ersten Zusammenschlusses körperbehinderter

Menschen, der deren Gleichstellung innerhalb der Gesellschaft anstrebte. In der erklärten Absicht, "keine

Mauer um die Krüppel [zu] bauen, sondern eine lebendige Wechselbeziehung zwischen Gesunden und

Leidenden zu schaffen", war der Bund von Anfang an auch für nichtbehinderte Mitglieder offen.

Er berichtete von Bespitzelungen und Übergriffen von Anhängerinnen und Anhängern der

nationalsozialistischen Partei, die sich auch unter den Leitern und dem Pflegepersonal der Anstalten

befanden. Er schrieb dazu: „In der Nazifürsorge war es geradezu lebensgefährlich für den

Schwerbehinderten, sich auf den Rechtsstandpunkt in fürsorgerischen Dingen zu stellen. Denn die Henker

Hitlers waren mit ihren 'Todeslisten' sehr eifrig am Werke. Mancher aus meiner Umgebung musste den Weg

zur Giftspritze gehen." Es handelt sich hierbei um einen von sehr wenigen vorliegenden Hinweisen eines

körperbehinderten Menschen, der vom Mitwirken der Fürsorgeanstalten am nationalsozialistischen Regime

spricht und der unter den Körperbehinderten auch Anhänger des Nationalsozialismus ausmacht und die

Euthanasie in den Anstalten direkt erwähnt.

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5. Menschen mit Behinderungen im Nationalsozialismus (1933 – 1945)

Ungefähr 300 000 Menschen mit Behinderungen wurden vom Naziregime ermordet

Sozialdarwinistische Theorien sowie die verbreitete Überzeugung, ein Staat nehme Schaden, wenn er sich

einsetzt für die Unterstützung der schwächsten Mitglieder seiner Gesellschaft, setzten sich durch und

lieferten eine passende Strategie für Rechfertigungen. Es kam zur Einführung von Zwangssterilisationen

von Menschen, deren Behinderungen als erblich eingestuft wurden. Wer heiraten durfte und wer nicht wurde

von Eheberatungsstellen entschieden. 1939 wurde gar eine Meldepflicht von „missgestalteten“ Kindern

eingeführt.

Eltern ließen ihre Kinder in Heime einweisen, weil man ihnen Heilerfolge ausmalte. Mittels Flüssigkeits- und

Nahrungsentzug wurden tausendfache Tode behinderter und kranker Kinder herbeigeführt. Die Tötung von

erwachsenen Menschen mit Behinderungen, die 1939 unter dem Tarnname „T4“ begann, lief geheim ab.

Man holte die Betroffenen aus ihren Einrichtungen und transportierte sie zu den für ihre Vergasung

vorgesehenen Tötungseinrichtungen.

Als Argument auf die Frage nach der Legitimität von Tötungen wurde aufgeführt, dass es sich um eine

„sinnvolle hygienische Maßnahme“ im Sinne des gemeinschaftlichen Wohles handle. Im

nationalsozialistischen Deutschland wurden Menschen als lebenswerte und lebensunwerte Menschen

klassifiziert. Lebensunterwerte Menschen, auch „Ballastexistenzen“ genannt, wurde das Recht auf Leben

abgesprochen, da sie nur Kosten verursachen, aber nicht in der Lage waren, zu arbeiten.

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Gesetzliche Grundlagen: Gesetz zur Verhütung erbkra nken Nachwuchses, 1933

Mit diesem Gesetz wurden Zwangssterilisationen von Personen legitimiert, die nach „Erfahrungen der

ärztlichen Wissenschaft“ höchstwahrscheinlich eine Behinderung vererben könnten. Das Gesetz umfasste

sowohl geistige, körperliche und Sinnesbehinderungen als auch psychische Erkrankungen wie

Schizophrenie oder Depression. Auch schwerer Alkoholismus konnte Ursache für eine Sterilisation sein.

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6. Menschen mit Behinderungen nach 1945

Kaum geschichtliche Aufarbeitung, Verantwortliche b lieben ungestraft

Bis heute hat die Situation kranker oder behinderter Kinder und Erwachsener in Zeiten des

Nationalsozialismus nur wenig Beachtung erfahren. Nach 1945 wurden die Geschehnisse und Strukturen,

die der Zweiten Weltkrieg geschaffen hat, weder genau analysiert, noch wurden die Verantwortlichen zur

Rechenschaft gezogen. Auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Menschen mit Behinderungen

zwangssterilisiert. Erst am 24. Mai 2007 konnte der Bund der „Euthanasie-Geschädigten und

Zwangssterilisierten“ erreichen, dass der Bundestag die nationalsozialistischen „Gesetze zur Verhütung

erbkranken Nachwuchses" als von Anfang an nicht mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

vereinbar und deshalb ungültig erklärte.

Nach Kriegsende wurde in der Bundesrepublik an die bereits vor dem Krieg bestehenden Strukturen der

Werkstätten, Sonderschulen und Berufsförderwerke angeknüpft und diese wurden ausgebaut. Aufgrund der

für Menschen mit Behinderungen entstandenen Sondersysteme, wie Behindertenheime, Werkstätten für

Menschen mit Behinderungen und besondere Bildungseinrichtungen, gab es nur sehr wenig Kontakt

zwischen Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen. Im Mittelpunkt standen Fürsorge,

medizinische Maßnahmen und die Sortierung nach dem Kriterium der Arbeitsfähigkeit.

7. Menschen mit Behinderungen ab 1960 bis 1990

In der Behindertenpolitik der Nachkriegszeit konzentrierte man sich zunächst auf die Versorgung der kriegs-

und arbeitsverletzten Menschen. Im Fokus der Fördermaßnahmen stand die Wiederherstellung ihrer

Arbeitsfähigkeit. Immer mehr Selbsthilfegruppen entstanden und forderten bessere gesetzliche Grundlagen

der Behindertenhilfe. Erst in den 60-er Jahren änderte sich allmählich die Gesetzgebung. Hilfe für Menschen

mit Behinderungen war nicht mehr eine reine Armenhilfe, sondern wurde ein Rechtsanspruch.

Dennoch wurde erst 1974 das Schwerbehindertengesetz so geändert, dass zum ersten Mal staatliche

Unterstützungsleistungen nicht mehr von der Ursache, der Art und dem Umfang der Behinderung abhingen.

1986 wurde in einem zweiten Schritt die Beurteilung der Behinderung verändert: Statt nach dem „Grad der

Erwerbsminderung" wurde nun nach dem „Grad der Behinderung" gefragt. Dies bedeutete, dass nicht mehr

alleine die Frage nach der Leistungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt im Zentrum der Beurteilung stand,

sondern auch individuelle und soziale Aspekte mit einbezogen wurden.

Gesetzliche Grundlagen: Schwerbehindertengesetz (Sc hwbG), erlassen 1974

Behinderung wurde damals an einer Minderung der Erwerbsfähigkeit festgemacht: „Schwerbehinderte im

Sinne dieses Gesetzes sind Personen, die körperlich, geistig und seelisch behindert und infolge ihrer

Behinderung in ihrer Erwerbsfähigkeit nicht nur vorübergehend um wenigstens 50 von Hundert gemindert

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sind, sofern sie rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzes wohnen, sich gewöhnlich aufhalten oder

eine Beschäftigung als Arbeitnehmer ausüben.“ ( SchwbG, §1)

Das Krüppeltribunal von 1981, Beginn der deutschen Behindertenrechtsbewegung

1980 protestierten Gruppen und Initiativen, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung

einsetzten gegen die herrschenden Zustände, die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen. Noch

angefeuert wurden Unmut und Protest durch ein Gerichtsurteil des Frankfurter Landesgerichts aus dem

Februar 1980. Eine Urlauberin klagte auf Rückerstattung ihrer Kosten, da an ihrem Ferienort auch eine

Gruppe von Menschen mit Schwerbehinderungen ihren Urlaub verbrachte. Dies habe den Erholungswert

eingeschränkt, so die Klägerin. Das Gericht gab ihr Recht und sie erhielt einen Teil ihrer Reisekosten

zurück.

Für das Tribunal im Dezember 1981 stellten Aktivistinnen und

Aktivisten aus dem ganzen Bundesgebiet Fälle von

Menschenrechtsverletzungen in Heimen, Psychiatrien und

Werkstätten zusammen. In diesem Zug wurden auch die

eklatanten Missstände im Öffentlichen Personennahverkehr

beklagt. Auch sexualisierte Gewalt gegen Frauen mit

Behinderungen wurde im Tribunal erstmals aufgegriffen

thematisiert.

Das Krüppeltribunal wird häufig als der Beginn der deutschen

Behindertenrechtsbewegung genannt. Mitinitiatorin war die

damals 20-jährige Theresia Degener, die auch die

Eröffnungsrede des Krüppeltribunals hielt. Mittlerweile ist

Theresia Degener Professorin für Recht und Disability-Studies

in Bochum. Seit 2011 ist sie Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit

Behinderungen. In der deutschen Behindertenrechtsbewegung wird ihre eine richtungsweisende Rolle

zugeschrieben.

8. Menschen mit Behinderungen ab 1990 bis 2008

Gleichberechtigte Teilhabe und Selbstvertretung: „N ichts über uns ohne uns!“

Um die Jahrtausendwende begannen sich allmählich weltweit gesellschaftliche Veränderungen für

Menschen mit Behinderungen bemerkbar zu machen. Diese Veränderungen in der Haltung gegenüber

Menschen mit Behinderungen und in der Rechtswirklichkeit sind ohne die Behindertenrechtsbewegung und

andere soziale Bewegungen undenkbar. 2002 trat in Deutschland auf Bundesebene das

Bundesgleichstellungsgesetz in Kraft. Waren über viele Jahrhunderte hinweg behinderte Menschen – auch

in Gesetzestexten – eher als „soziale Probleme" statt als gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen

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behandelt worden, so wurde mit diesem Gesetz eine neue Richtung eingeschlagen: „Ziel dieses Gesetzes

ist es, die Benachteiligung von behinderten Menschen zu beseitigen und zu verhindern sowie die

gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und

ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen.“

Gesetzliche Grundlagen: Sozialgesetzbuch 9 (SGB IX)

SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen

Im SGB IX, das 2001 in Kraft trat, wird Behinderung folgendermaßen definiert: „Menschen sind behindert,

wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit

länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre

Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die

Beeinträchtigung zu erwarten ist.“ (SGB IX, §2)

Während das Bundesgleichstellungsgesetz auf die Teilhabe von Menschen abzielt, bestehende

Benachteilungen abzubauen, wird bei der Definition von Behinderung weiterhin an einer defizitär

ausgerichteten Blickrichtung festgehalten.

Stephen Hawking (geb. 1942): Wissenschaftler mit Be hinderung

Der berühmte Physiker Stephen Hawking leidet seit er

Anfang zwanzig ist an einer degenerativen

Erkrankung des motorischen Nervensystems. Damals

schätzten die Ärzte, dass er noch zwei bis drei Jahre

zu leben habe. Hawking promovierte dennoch und

war von 1979 bis 2009 Inhaber des Lucasischen

Lehrstuhls für Mathematik an der Universität

Cambridge. Er wurde zu einem der bekanntesten

Wissenschaftler unserer Zeit.

Hawking sitzt im Rollstuhl und kommuniziert über

einen Sprachcomputer. Er lieferte bedeutende

Arbeiten zur Kosmologie und Physik. Sein besonderes Interesse gilt der Theorie der Schwarzen Löcher.

Neben seinen wissenschaftlichen Erfolgen erlangte Hawking auch Berühmtheit durch seine

autobiographischen Bücher, wie z.B. „Meine kurze Geschichte“ (2013).

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9. Auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft, seit 200 9

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) fordert Inklusion

Inklusion hat zum Ziel, dass allen Menschen der Gesellschaft die Teilhabe an allen Lebensbereichen

ermöglicht wird. Mit der UN-Behindertenrechtskonvention, die 2009 von Deutschland unterzeichnet wurde,

wird ein Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik eingeläutet: Ging es bisher um eine möglichst große

Anpassung von Menschen mit Behinderungen an die gesellschaftliche Norm, lautet die neue Aufgabe, das

Gemeinwesen so zu gestalten, dass es allen Menschen möglich wird, gleichberechtigt am gesellschaftlichen

Leben teilzuhaben.

Inklusion fordert einen gesellschaftlichen Wandel und ist somit ein Thema, das die Gesellschaft als Ganzes

betrifft und jeden einzelnen herausfordert. Es bedarf eines grundlegenden Umdenkens, um vorherrschende

Strukturen aufzubrechen und verändern zu können. Durch die Unterzeichnung der UN-BRK hat sich

Deutschland zur Umsetzung der Inhalte der Konvention verpflichtet. Seither wurden zahlreiche Gesetze

angepasst und neu erlassen. Der Bund und die meisten Länder haben Aktionspläne verabschiedet, die als

Leitfaden dienen bei der Schaffung eines inklusiven Gemeinwesens. Auch und besonders die Kommunen

sind gefordert an diesem Prozess mitzuwirken und ihn vor Ort zu gestalten. Die Stadt Waldkirch nimmt

diesen Auftrag ernst, was durch den „Aktionsplan für kommunale Inklusion der Stadt Waldkirch“

unterstrichen wird.

Gesetzliche Grundlagen: UN-Behindertenrechtskonvent ion (2006)

Die Konvention wurde 2006 erlassen, aus Sorge, dass Menschen mit Behinderungen nach wie vor sehr

häufig diskriminiert und in ihren Rechten verletzt werden. Hier werden bereits bestehende Menschenrechte

für die Lebenssituationen behinderter Menschen konkretisiert, damit Menschen mit Behinderungen im

selben Umfang wie alle anderen an der Gesellschaft teilhaben können. An der Ausarbeitung der Konvention

waren Menschen mit Behinderungen beteiligt, ganz nach dem Motto: „Nicht über uns ohne uns!

Im ersten Artikel wird das veränderte Verständnis von Behinderung definiert: „Zu den Menschen mit

Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder

Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der

vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“

Keine Form körperlicher, seelischer oder geistiger Besonderheit wird in diesem Vertragstext als Problem

oder von vorneherein als Behinderung betrachtet. Behinderungen treten demzufolge erst dann auf, wenn zu

individuellen Einschränkungen Hindernisse hinzukommen, die von anderen Menschen gemacht oder nicht

abgebaut wurden und somit Zugänge versperrt werden. Behinderung wird als selbstverständlicher

Bestandteil menschlichen Lebens und menschlicher Gesellschaft ausdrücklich als eine Besonderheit unter

vielen erachtet und darüber hinaus als Quelle möglicher kultureller Bereicherung wertgeschätzt.

Einige wichtige Schlagworte der Konvention sind: uneingeschränkte Teilhabe, Barrierefreiheit,

Wertschätzung, Selbstbestimmung, Einbezug in Entscheidungsprozesse.

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