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1 „Das Sechs-Silben-Gebet, die segensreiche Praxis des Großen Mitfühlenden“ (von Tsültrim Sangpo) Erklärungen von Lama Tilmann (Lhündrup) Borghardt Abschrift vom Tschenresi Kurs, 9. – 15. Februar 2003, Le Bost, Auvergne I. Vorbereitungen 1. Erläuterung des Titels „Tugdje tschenpo yige drugpä söldeb kyi drubtab djinlab tschen schug so.Das Sechs-Silben-Gebet, die segensreiche Praxis des Großen Mitfühlenden. Heute beginnen wir mit der ausführlichen Erklärung des Textes und werden versuchen, zu einem korrekten Verständnis von jedem Wort des Textes zu kommen. Der Große Mitfühlende im Titel ist tugdje tschenpo und bedeutet auch einfach das Große Mitge- fühl. Es bezeichnet also sowohl die Person, als auch die Qualität. Nun sind aber die tibetischen Worte sehr spezifisch in ihrer Bedeutung: Tug ist nicht nur der Geist, sondern vor allem erleuchte- ter Geist, der Geist eines erleuchteten Meisters und bedeutet zudem auch: Herz. Es ist also der erleuchtete Herzensgeist. Dje bedeutet edel, nobel, im weitesten Sinne edel, weil es Ausdruck von Ver- wirklichung ist – dje, im Sanskrit auch Arya, bedeutet, dass diese Geisteshaltung mit Verwirkli- chung einhergeht Tschenpo bedeutet eigentlich groß und drückt aus, dass dieses Mitgefühl, dieser edle Herzens- geist alle Wesen umfasst, also unbegrenzt ist, was die Anzahl der Wesen angeht, und auch groß ist im Sinne „frei von Täuschung“ – frei von der Täuschung zum Beispiel, davon auszugehen, dass das Leid und die Wesen eine wirkliche, letztendliche Existenz haben. Wenn wir also tugdje tschenpo genau übersetzen, ist das „der große, edle Herzensgeist der Er- leuchteten, der alle Wesen umfasst und frei von aller Täuschung ist.“ Die nächsten Worte im tibetischen sind yige drug-pa, die sechs Silben. Wenn wir hier von sechs Silben sprechen, so bedeutet das nicht nur, dass wir da zufällig sechs Silben haben, die nun ein Gebet ausmachen, sondern es sind sechs, weil es sechs Paramitas, sechs befreiende Qualitäten gibt, die den gesamten Weg zur Erleuchtung im Mahayana beschreiben. So ist das also ein Gebet, das den Weg zur Erleuchtung im umfassenden Sinne darstellt, als eine Praxis der sechs Paramitas. Wir schauen uns jetzt die nächsten Worte an – söldeb: Söl, söl-wa bedeutet beten, wünschen, bein- haltet aber auch ein Sich-Verpflichten und deb, deb-pa bedeutet machen, tun, praktizieren. Wir prak- tizieren also Wünsche, zu deren Ausführung und Anwendung wir uns zugleich verpflichten. Das ist der Sinn des Sanskrit-Wortes „Pranidhana“ und von söldeb oder mönlam auf Tibetisch. Schauen wir uns an, wozu wir uns verpflichten: Wir verpflichten uns zu einer Praxis von Wün- schen, die wir in die Tat umsetzen werden. Das Umsetzen von Wünschen in die Tat – söldeb drückt sich aus in einer drubtab, einer Sadhana oder Praxis, wie es in der Übersetzung des Titels heißt. Wenn wir die Worte aufschlüsseln, dann bedeutet tab Methode und drub Verwirklichung. Es

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„Das Sechs-Silben-Gebet,

die segensreiche Praxis des Großen Mitfühlenden“

(von Tsültrim Sangpo)

Erklärungen von Lama Tilmann (Lhündrup) Borghardt

Abschrift vom Tschenresi Kurs,

9. – 15. Februar 2003, Le Bost, Auvergne

I. Vorbereitungen

1. Erläuterung des Titels

„Tugdje tschenpo yige drugpä söldeb kyi drubtab djinlab tschen schug so.“

– Das Sechs-Silben-Gebet, die segensreiche Praxis des Großen Mitfühlenden.

Heute beginnen wir mit der ausführlichen Erklärung des Textes und werden versuchen, zu einem korrekten Verständnis von jedem Wort des Textes zu kommen.

Der Große Mitfühlende im Titel ist tugdje tschenpo und bedeutet auch einfach das Große Mitge-fühl. Es bezeichnet also sowohl die Person, als auch die Qualität. Nun sind aber die tibetischen Worte sehr spezifisch in ihrer Bedeutung: Tug ist nicht nur der Geist, sondern vor allem erleuchte-ter Geist, der Geist eines erleuchteten Meisters und bedeutet zudem auch: Herz. Es ist also der erleuchtete Herzensgeist. Dje bedeutet edel, nobel, im weitesten Sinne edel, weil es Ausdruck von Ver-wirklichung ist – dje, im Sanskrit auch Arya, bedeutet, dass diese Geisteshaltung mit Verwirkli-chung einhergeht

Tschenpo bedeutet eigentlich groß und drückt aus, dass dieses Mitgefühl, dieser edle Herzens-geist alle Wesen umfasst, also unbegrenzt ist, was die Anzahl der Wesen angeht, und auch groß ist im Sinne „frei von Täuschung“ – frei von der Täuschung zum Beispiel, davon auszugehen, dass das Leid und die Wesen eine wirkliche, letztendliche Existenz haben.

Wenn wir also tugdje tschenpo genau übersetzen, ist das „der große, edle Herzensgeist der Er-leuchteten, der alle Wesen umfasst und frei von aller Täuschung ist.“

Die nächsten Worte im tibetischen sind yige drug-pa, die sechs Silben. Wenn wir hier von sechs Silben sprechen, so bedeutet das nicht nur, dass wir da zufällig sechs Silben haben, die nun ein Gebet ausmachen, sondern es sind sechs, weil es sechs Paramitas, sechs befreiende Qualitäten gibt, die den gesamten Weg zur Erleuchtung im Mahayana beschreiben. So ist das also ein Gebet, das den Weg zur Erleuchtung im umfassenden Sinne darstellt, als eine Praxis der sechs Paramitas.

Wir schauen uns jetzt die nächsten Worte an – söldeb: Söl, söl-wa bedeutet beten, wünschen, bein-haltet aber auch ein Sich-Verpflichten und deb, deb-pa bedeutet machen, tun, praktizieren. Wir prak-tizieren also Wünsche, zu deren Ausführung und Anwendung wir uns zugleich verpflichten. Das ist der Sinn des Sanskrit-Wortes „Pranidhana“ und von söldeb oder mönlam auf Tibetisch.

Schauen wir uns an, wozu wir uns verpflichten: Wir verpflichten uns zu einer Praxis von Wün-schen, die wir in die Tat umsetzen werden. Das Umsetzen von Wünschen in die Tat – söldeb – drückt sich aus in einer drubtab, einer Sadhana oder Praxis, wie es in der Übersetzung des Titels heißt. Wenn wir die Worte aufschlüsseln, dann bedeutet tab Methode und drub Verwirklichung. Es

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ist eine Methode, um zur Verwirklichung, zur Vollendung von etwas zu kommen. Das ist der eigentliche Sinn von Sadhana – eine vollständige Methode zur Verwirklichung der Wünsche, zu denen wir uns verpflichten haben, auf die wir uns eingelassen haben, zum Wohle von uns und allen Wesen.

Weiter wird diese Methode der Verwirklichung als segensreich bezeichnet, als djinlab tschen. Djinlab wird als Segen übersetzt, und wenn wir das aufschlüsseln, so sind lab Wellen –schwingende Bewegungen, wie Wellen im Ozean. Man kann auch von einer Vibration sprechen, von einer Schwingung. Djin hat als entfernte Wurzelbedeutung Wärme. Es ist die Wärme der Erleuchtung, die Wärme des offenen Herzens eines Meisters, und wenn wir in den Segen eintre-ten, begeben wir uns in die Wellen, die von einem offenen Herzen ausgehen. Wenn uns dieser offene, erleuchtete Geist, mit dem wir in Beziehung treten, berührt, erfahren wir Segen. Das ist aber nicht immer eine angenehme Erfahrung, weil dieser Segen, diese Wärme, unsere Barrieren und unsere egoistische Anhaftung schmilzt, unsere Schutzräume auflöst und unser Sein infiltriert. Deswegen ist das Erlebnis von Segen, das Sich-Öffnen für Segen auch davon abhängig, wie weit wir uns dieser Wärme öffnen können. Man sagt auch, je näher man an den Lama oder an einen erleuchteten Meister kommt, desto mehr brennt es, desto näher sind wir dem Feuer. Da muss man sich durchlässig machen für dieses Feuer der Weisheit, für diese Segenswärme, die aus-strahlt.

Etwas genauer könnten wir das Wort Segen (djinlab) als Wellen der Inspiration übersetzen. Diese inspirierenden Wellen, die von einem offenen Geist ausgehen, machen die Aktivität eines Meis-ters aus. Diese Aktivität kann durchaus verschiedene Formen haben, manchmal ist sie friedlich oder befriedend, manchmal ist sie aufwühlend oder gar zornvoll, aber sie ist immer authentisch. Wenn es von einer Praxis heißt, dass sie segensreich sei, dann ist damit auch gemeint, dass der Autor, der diese Praxis niedergeschrieben hat, ein völlig verwirklichter Meister ist, dass er das, was da aufgeschrieben wurde, selber verwirklicht hat und das deswegen diese Worte Segen ver-mitteln und den Segen aller Buddhas tragen, dass sie Ausdruck der Aktivität aller Buddhas sind. Das war also die Erklärung des Titels. Die letzten beiden Silben, schugso, bedeuten einfach: Dieser Text enthält.

Wenn man einfach nur den Titel liest, denkt man, er sei leicht zu verstehen und merkt gar nicht, was alles dahinter steht. Für ein tiefes Verständnis braucht es Erklärungen, die ein Lehrer seinem Schüler gibt. Diese Übertragung ist immer mündlich, sie findet direkt zwischen Lehrer und Schü-ler statt und dadurch entsteht, war wir eine Übertragungslinie nennen. Durch diese zusätzlichen, Erklärungen beginnen wir, in die Sichtweise und in die Tiefe des Dharma hineinzufinden.

2. Einleitendes Gebet

Djowo tugdje tschenpo la sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Wir beten zum Meister, dem Großen Mitfühlenden. OM MANI PADME HUNG.

Djowo wird hier mit Meister übersetzt. Das ist korrekt, aber im engeren Sinne ist es ein Titel, der nur für Buddhas reserviert ist. Jemand, der mit djowo angeredet wird, kann nur ein völlig er-leuchteter Meister sein, der keinen weiteren Weg mehr zu gehen hat, ein Buddha. Die Djowo-Statue in Lhasa ist eine Statue von Buddha Shakyamuni. Djowo als erstes Wort des Textes weist also darauf hin, das wir hier auf Tschenresi als Buddha zugehen, und nicht als Bodhisattva, wie es bei einer Erzählung seines Lebens und seiner Aktivität als Bodhisattva auf der zehnten Stufe auch möglich wäre. Ebenso ist es bemerkenswert, dass diese erste Zeile sich von dem Refrain, der alle vier Verse wiederkommt, durch dieses erste Wort djowo unterscheidet.

Später heißt es dann: lha tugdje tschenpor sölwa deb. Das lha, was Gottheit bedeutet, weist darauf hin, dass hier das große Mitgefühl als Yidam betrachtet wird, das heißt als Meditations-

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gottheit, ein Buddha-Aspekt, mit dem wir uns durch diese Praxis verbinden. Wenn die Tibeter sagen: „Die Götter, die lha haben mich erhört“, dann meinen sie damit Buddhas, nicht einen Pantheon von Göttern. Es drückt für sie aus, dass die Buddhas wie wunscherfüllende Juwelen sind. Auf diese Praxis bezogen heißt das für uns, dass das große Mitgefühl ein wunscherfüllendes Juwel ist, von dem aller Segen und alle Verwirklichung kommt. Wenn wir uns an den Großen Mitfühlenden wenden, ist das zugleich auch die Dimension des Großen Mitgefühls. Es hat diese doppelte Bedeutung. Eigentlich ist wenig wichtig, ob es sich dabei um eine Person, einen Bud-dha, handelt, oder ob es einfach die Dimension selbst ist, an die wir uns wenden. Wichtig ist, dass wir mit dem, was hier gemeint ist, Kontakt aufnehmen – mit dem edlen Herzensgeist, der verse-hen ist mit dem Mitgefühl und der Weisheit aller Erleuchteten. Darum geht es, dahin wenden wir uns, und nur diese Dimension hat die Kraft, uns wirklich zu transformieren.

Warum steht da überhaupt: „Ich bete“ oder „Wir beten“? Im Tibetischen kommt kein „Ich“ oder „Wir“ vor. Da steht eigentlich nur: Gebete werden gemacht. Das Tibetische verwendet selten ein Pronomen. Es wird gebetet, das heißt, wir führen die Praxis der Wünsche und der inneren Ver-pflichtung aus. Wir nutzen die Kraft des dualen Gebetes, das unser Herz öffnet und das sich scheinbar auf etwas ausrichtet, auf Tschenresi, der sich zunächst vor uns befindet. Doch bald werden wir ja selbst Tschenresi und dann ist es nicht mehr möglich, auf dualistische Art und Weise zu beten. Wir können also dieses „wir beten“, das im Text immer wiederkehrt, ausführli-cher übersetzen: „Wir fahren mit dem Anwenden und Ausführen der Wünsche und Verpflich-tungen fort.“ Oder: „Die Praxis der Wünsche des Großen Mitgefühls setzt sich fort.“ Es ist wich-tig, diese etwas neutralere Dimension der inneren Verpflichtung zu verstehen, die mit dem Wort Gebet im Buddhismus einhergeht, denn es geht nicht darum, eine dualistische Beziehung zu einer Gottheit aufzubauen, die uns dann einen Segen gibt.

3. Die vier grundlegenden Gedanken

Nach dem ersten Satz kommen wir in die Mantraphase mit OM MANI PADME HUNG. An dieser Stelle kontemplieren wir die vier grundlegenden Gedanken, die uns zu Beginn jeder Praxis helfen, in der gegenwärtigen Situation anzukommen und die grundlegende Motivation aufzubau-en für die folgende Praxis. Die anderen Lehrer werden uns im Laufe des Kurses einige Schlüssel-unterweisungen dazu geben. Ich will jetzt nur andeuten, welche Fragen wir uns da stellen sollten.

Kostbares Menschendasein – die erste Frage lautet: Wofür kann ich jetzt gerade dankbar sein? Was in meinem Leben heute und allgemein ist meiner Wertschätzung wert? Was ist es, das mir soviel wert ist, was ist das Wichtigste und Wertvollste in meinem Leben, jetzt gerade, heute? Sind all die kostbaren Bedingungen beisammen, die mir ermöglichen, den Dharma zu praktizieren?

Vergänglichkeit – dann schauen wir, ob dieses Kostbare, das wir entdecken und für das wir dank-bar sein können, bleibend oder vergänglich ist, und welchen Bedingungen es unterliegt. Wir soll-ten über Vergänglichkeit so konkret und klar nachdenken, dass wir merken, dass die Vergäng-lichkeit auch jetzt auf unser Leben Zugriff hat, dass sie bewirken kann, dass die kostbare Gele-genheit, die uns gegeben ist, unter Umständen ungenutzt verstreicht, sodass ein Gefühl von Dringlichkeit in uns entsteht: Ja, ich will jetzt sofort diese kostbare Gelegenheit nutzen!

Karma und Leiden in Samsara – dann fragen wir uns als Drittes: Aber wie? Was soll ich jetzt tun und was soll ich unterlassen? Welche Prioritäten des Handelns gibt es für mich in dieser kostba-ren Situation? Das geht zusammen mit der vierten Frage: Wo will ich eigentlich hin? Ich will aus Samsara raus, klar, aber was ist jetzt gerade mein Samsara? Mit welchen Handlungen setze ich das Leid jetzt und heute weiter fort und welche Handlungen führen dazu, dass sich dieses Leid auf-löst und dass sich wahre Freude einstellt? Also: Was sind die Risiken in der jetzigen Situation? Was droht mir in dieser kostbaren Situation an Gefahr? Was kann ich tun, um dieser Gefahr zu entrinnen und diese Situation konstruktiv zu nutzen für das höchste Ziel in meinem Leben?

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Diese vier Gedanken kontemplieren wir jedes Mal, wenn wir eine Praxis beginnen. Wenn wir uns auf diese konkrete Weise die vier Gedanken ganz klar vor Augen führen, dann bleiben sie für uns nicht ein paar abstrakte Reflektionen, wie es oft geschieht, als würde man sich ein Kapitel eines Buches wieder einmal innerlich vorbeten. Denn wenn man das zehnmal gemacht hat, hat man irgendwie die Nase voll, und es bleibt bei einer allgemeinen Betrachtung, die einen nicht berührt. Aber hier geht es darum, die Betrachtung ins Jetzt hineinzubringen, in den heutigen Moment, und dann entfaltet sich auch ihre transformierende Kraft.

4. Zuflucht und Bodhicitta

Gön tschänräsi la kyabsu tschi, ma dro drug döndu djang sem kye, djam nyingdje gawa tang-nyom gom, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Wir nehmen Zuflucht zum Schützer Tschenresi, entwickeln den Erleuchtungsgeist zum Wohle der sechs Arten von Wesen, unseren Müttern, und kontemplieren Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. Wir beten zur Gott-heit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Gön tschänräsi la kyabsu tschi

– Wir nehmen Zuflucht zum Schützer Tschenresi.

Er wird gön – Schützer, genannt, weil er uns wahren Schutz gibt, einen Schutz, der über allen an-deren Schutz hinausgeht. Er schützt uns davor, auf Grund von Ich-Anhaften Leben um Leben im Kreislauf von Samsara zu irren. Alle anderen Schützer können uns nicht diese Form von Schutz geben. Das kann nur ein Buddha, ein erleuchtetes Wesen, bzw. der Kontakt zur erleuchte-ten Dimension. Schützer kann auch die erleuchtete Dimension selbst sein. Wenn man mit dieser Dimension in Kontakt steht, dann ist das „Buddha“, das Wesen und die Dimension. Sobald man einen Kontakt mit der erleuchteten Dimension aufgebaut hat, ist das der Schutz.

Tschenresi – die Worte bedeuten: tschän – Augen, sig – betrachten und re – mit Weisheit. Es ist der-jenige, der alle Wesen mit den Augen der Weisheit betrachtet – nicht mit den Augen des Mitge-fühls, wie oft übersetzt wird. Das Mitgefühl kommt in dem Wort betrachten zum Ausdruck. Mitge-fühl ist die Zuwendung, die sich durch den Blick ausdrückt, und dieser Blick ist frei von Täu-schung, ein Blick voller Weisheit. Sich den Wesen frei von Täuschung zuzuwenden ist eine Bud-dha-Qualität. Die Übersetzung des Namens Tschenresi ist also: „Derjenige, der mit den Augen der Weisheit schaut.“

Zugleich ist Tschenresi hier unser Wurzel-Lama, Ausdruck all der Lamas, in die wir Vertrauen haben und die wir als unsere Helfer in diesem Leben betrachten, von denen wir uns führen las-sen. So ist Tschenresi also nicht nur einfach eine Dimension oder ein Buddha, der von uns weit entfernt ist und mit dem wir keinen direkten Kontakt haben können, sondern er ist zugleich ein Ausdruck unseres Wurzel-Lamas oder der Lamas, mit denen wir in diesem Leben ein Band des Vertrauens aufgebaut haben.

Wenn es heißt: kyabsu tschi – wir nehmen Zuflucht –, dann handelt es sich hier um die Mahayana-Zuflucht. Kyab bedeutet Zuflucht oder Schutz. Die Zuflucht gehört zum Mahayana (dem „Gros-sen Fahrzeug“) weil wir nicht alleine Zuflucht nehmen, sondern stellvertretend für und zusam-men mit allen Wesen, die ich um mich herum visualisiere: Vater, Mutter, alle Verwandten und Freunde, alle Wesen, die mir schwierig erscheinen und all die Vielen, die ich gar nicht kenne, sichtbare und unsichtbare Wesen. Mit diesen nehme ich Zuflucht bis zur Erleuchtung, nicht nur für dieses Leben, denn die Mahayana-Zuflucht geht bis zum Erlangen der Erleuchtung, und nicht nur für meine eigene Erleuchtung, sondern für die Erleuchtung aller Wesen. Zusammen mit allen Wesen nehme ich Zuflucht, bis alle Wesen Erleuchtung erlangt haben.

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Zuflucht nehmen geschieht mit einem Gegenüber. Hier reicht es aus, Tschenresi zu visualisieren, wie er auf Lotus und Mond vor uns sitzt, wobei sein Geist das Juwel des Buddha ist, seine Rede das Juwel des Dharma und seine physische Präsenz das Juwel der Sangha. Wenn wir es ausführli-cher wollen, dann können wir uns vorstellen, dass er umgeben ist von allen Buddhas und Bodhi-sattvas, von allen Lamas der Übertragungslinie, zusammen mit allen Yidams und Schützern, so, wie wir das auch im Zufluchtsbaum visualisieren, mit dem Unterschied, dass sich die Zufluchts-objekte hier auf Wolken befinden. Aber es reicht, einfach nur Tschenresi zu visualisieren, so als würde unser Wurzel-Lama sich in der Form von Tschenresi manifestieren.

Natürlich wird diese Visualisation noch ausgeschmückt durch die Präsenz von vielen Opfergöt-tinnen, die Gaben darbringen, von Lichtern, wie Sonne und Mond, von Regenbögen und Ster-nen. Ihr braucht euch keine Grenzen zu setzen, wie weit ihr die Schönheit dieser Visualisation ausschmücken wollt. Wie in den üblichen Zufluchts-Visualisationen entsteht all das vor einem tiefblauen Hintergrund, leuchtend, strahlend, transparent, mit vielen Lichtquellen, die das ganze Universum durchdringen. Das war die Erklärung der Zuflucht. Wir rezitieren nun eine Mala des Mantras, um Zuflucht zu nehmen.

Ma dro drug döndu djang sem kye

– Wir entwickeln den Erleuchtungsgeist zum Wohle der sechs Arten von Wesen, unseren Müttern.

Ma bedeutet Mütter, all meine Mütter aus früheren Leben. In dro drug bedeutet dro – Wesen, die sich bewegen und drug – sechs. Wenn ich an die Wesen als meine Mütter denke, so beinhaltet das: mit einem Geist von Dankbarkeit und Liebe. Ich bin dankbar dafür, was mir all die Wesen, mit denen ich in früheren Leben schon Kontakt gehabt habe, Gutes getan haben. Sie haben sich wie eine Mutter um mich gekümmert. Wenn eine Mutter ein Kind bekommt, möchte sie erst einmal einfach ihrem Kind helfen. Auch wenn die Umsetzung davon dann manchmal nicht einfach ist, ist die ursprüngliche, erste Motivation einer Mutter, sich um ihr Kind zu bemühen. Und so haben sich alle Wesen der sechs Daseinsbereiche schon um uns gekümmert. Wir danken ihnen dafür und entwickeln für sie alle einen Geist der Liebe. Das heißt, wir dehnen unsere Dankbarkeit und Liebe aus, bis sie alle Wesen der sechs Daseinsbereiche umfasst. Wenn wir von Wesen in „Da-seinsbereichen“ sprechen, meinen wir immer gefangene Wesen – Wesen, die im Daseinskreislauf gefangen sind, die in ihrem Ich-Anhaften gefangen sind, genauso wie wir auch, und die leiden.

Um sie aus ihrem Leid und aus dem Gefängnis der Ich-Bezogenheit zu befreien, entwickeln wir den Erleuchtungsgeist. Dem geht also eine Kontemplation der Beschränktheit ihrer Existenz voraus, zusammen mit einem Sicherinnern daran, was sie uns schon alles an Gutem getan haben, einem Gefühl von Liebe und Dankbarkeit, das sie begleitet. Weil wir ihnen so verpflichtet sind in unserer Dankbarkeit, und weil sie in solchen Schwierigkeiten stecken, gibt es keine andere Lö-sung, als den Erleuchtungsgeist zu entwickeln, das heißt, das Streben danach, sie alle zu befreien.

Döndu auf tibetisch bedeutet: Um, oder mit dem Ziel. Gemeint ist, mit dem Ziel, sie alle zu befreien. Djang bedeutet Erleuchtung und sem bedeutet Geist. Djang sem ist also der Erleuchtungsgeist. Kye bedeutet hervorbringen. Ich bringe den Erleuchtungsgeist hervor. Darunter wird verstanden, dass ich mich in zweierlei Hinsicht verpflichte, sowohl zur Frucht als auch zur Ursache. Ich verpflich-te mich, die Frucht der Erleuchtung tatsächlich zu verwirklichen, wobei klar ist, dass Erleuchtung beinhaltet, ständig aktiv zum Wohl der Wesen zu sein. Es ist eine dynamische, aktive Erleuch-tung. Und ich verpflichte mich zur Ursache, nämlich zu all dem, was nötig ist, um die Erleuch-tung zu erlangen: die kontinuierliche Praxis der sechs Paramitas, bis die Erleuchtung erlangt ist, die sich dann als Aktivität fortsetzt, bis alle Wesen erleuchtet sind. Wir rezitieren nun eine Mala des Mantras, um den Erleuchtungsgeist zu entwickeln.

Die vier Unermesslichen

Vielleicht habt ihr gemerkt, dass wir durch das Hervorbringen des Erleuchtungsgeistes bereits in den Geist von Tschenresi eingetreten sind. Wir haben zusammen mit allen Wesen Zuflucht ge-

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nommen, uns auf die Erleuchtung eingelassen, haben an all die liebenden Mütter gedacht, die uns umgeben und denen wir bereits begegnet sind, haben Dankbarkeit entwickelt und ihr Leid gese-hen, und dann den Erleuchtungsgeist zutiefst hervorgebracht. Damit sind wir eingetreten in den Geist von Tschenresi, der auf ebensolche Weise den Erleuchtungsgeist hervorgebracht hat. Da-mit sind wir fast schon dabei, im Geist von Tschenresi aufzugehen.

Jetzt wird uns noch eine Hilfe gegeben, um diesen Erleuchtungsgeist, das Bodhicitta zu vertiefen: Das sind die vier Unermesslichen, die Kontemplation von vier Qualitäten, die grenzenlos oder un-ermesslich sind. Die erste ist djam – Liebe, die zweite ist nyingdje, auch wieder edles Herz, was hier Mitgefühl heißt. Liebe ist kein sentimentales Gefühl von Anhaftung, sondern der Wunsch, alle Wesen zu unterstützen, dass sie glücklich sein mögen. Mitgefühl ist der damit einhergehende, unseren Geist durchdringende Wunsch, dass alle Wesen frei von Leid sein mögen. Die beiden gehören notwendigerweise zusammen. Es kann nicht das eine ohne das andere geben. Liebe ist das Unterstützen von all dem, was wirklich glücklich macht, und Mitgefühl ist das Handeln mit dem Ziel, dass alle Wesen vor Leid geschützt sein mögen. Beide entspringen derselben Geistes-haltung. Wir werden eine Mala praktizieren, um beides zu entwickeln.

Djam – Liebe ist das Gegenmittel für Begierde.

Nyingdje – Mitgefühl ist das Gegenmittel für Hass, Wut, Ablehnung.

Gawa – Freude oder auch Mitfreude ist das Gegenmittel für Eifersucht, Neid.

Tang-nyom – Gleichmut ist das Gegenmittel für Stolz.

Gawa ist der Wunsch, dass alle Wesen die höchste, wahre Freude, aber auch Freude in jeder Form, erleben mögen. Um uns wirklich über das Glück und die Freude anderer freuen zu kön-nen, müssen wir eine Geisteshaltung besitzen, die frei ist von Eifersucht und von Neid. Denn sonst können wir uns nicht wirklich darüber freuen, wenn sich andere freuen und glücklich sind. Es ist also eine Geisteshaltung, wo wir immer glücklicher und freudiger werden, wenn andere sich freuen und glücklich sind.

Tang-nyom – Gleichmut bedeutet, frei zu sein von jeglicher Bevorzugung. Unsere Liebe umfasst alle Wesen gleichermaßen. Es ist die gleiche, große Liebe, die sich auf meine Verwandten und Nächsten ebenso wie auf alle erstreckt, die ich jetzt vielleicht noch gar nicht kenne. Es bekommt niemand weniger Liebe, alle bekommen die volle Liebe. Es gibt keinerlei Ablehnung in dieser Geisteshaltung, es gibt niemand, der nicht in mein Territorium eintreten darf. Alle dürfen da sein, alle dürfen kommen. In dieser völlig gleichmäßigen, ebenmäßigen Offenheit zu allen Wesen gibt es kein „Ich“, das sagt: „Ich bin aber wichtiger als die anderen.“ Es gibt kein Wesen, das plötzlich bevorzugt wird, auch nicht das eigene, kleine Wesen, das wir selber sind. Da ist aber auch nicht der umgekehrte Stolz, der uns sagen lässt: „Ich bin nichts, die Wesen sind alles.“ Auch das wäre wieder kein Gleichmut. Ich bin ein Wesen unter Billionen von Wesen, und um dieses eine kleine Wesen wird sich genauso gekümmert wie um alle anderen Wesen. Das ist das Ende von Stolz, da ist der Stolz wirklich ‚eingemacht’, es gibt keine Chance mehr, sich für wichtiger oder unwichtiger zu halten als alle anderen. Das Ich-Anhaften hat keine Möglichkeit mehr, dazwischen zu funken, wenn es um das Handeln zum Wohle anderer geht.

Die Liebe, von der wir hier sprechen, ist keine Liebe, wo wir alles auf das Niveau reduzieren, wie wir jetzt gerade alle lieben können. Statt dessen lassen wo wir unsere Liebe so anwachsen, dass sie sich sowohl zu unseren Verwandten völlig reinigt und öffnet und immer stärker wird, als auch gleichzeitig alle anderen Wesen mit einbezieht und mit der selben großen Liebe bedenkt. Diese Liebe nimmt ständig zu. Das ist keine staubige Liebe, reduziert auf ein gerade noch machbares Niveau, wo wir allen mit einer „gleichmütigen“ Gleichgültigkeit begegnen, sondern es ist eine völlige Präsenz mit jedem einzelnen Wesen. Wir werden die vier Verse singen und dann noch-mals eine Mala für das Hervorbringen der letzten beiden Qualitäten rezitieren.

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Tonglen

Zunächst noch einige Erklärungen zu den Mantra-Phasen: Wir können hier, an der Stelle, wo wir Zuflucht, Bodhicitta und die vier Unermesslichen entwickeln, bis zu sechs Malas rezitieren, wenn wir bei dem Prinzip bleiben wollen, eine Mala für jeweils einen Gedanken zu machen, für jeweils eine Haltung, die wir entwickeln. Wir können natürlich auch sehr viel mehr machen. Diejenigen, die Tonglen praktizieren möchten, können dann die Mala hinlegen und hier eine stille Phase der Tonglen-Praxis, des Austausches von sich und anderen, verbunden mit dem Ein- und Ausatmen einfügen, wobei wir uns dann vorstellen, dass der Zufluchts-Tschenresi in uns verschmilzt und das Licht in unserem Herzen nährt. Vom Herzen geht dann die Aktivität des Tonglen aus. Da-nach machen wir weiter. Diese Stelle bietet sich für das Tonglen an, weil wir hier noch in unserer gewöhnlichen Form und nicht Tschenresi sind. Die Tonglen-Praxis setzt normalerweise unsere gewöhnliche Form voraus.1

F: Wenn ich Tonglen praktizieren will, ist es für mich leichter, mich selbst als Tschenresi oder Lama Dordje Tschang zu visualisieren, als in meiner gewöhnlichen Form. Warum soll ich das jetzt so machen?

A: Es ist wichtig, sich nicht hinter der Gottheit oder dem Lama zu verstecken. Wir müssen die Tonglen-Praxis tatsächlich mit aller Ernsthaftigkeit auf der relativen Ebene ausführen und uns mit all unserem Ich-Anhaften auf diesen Austausch einlassen, d.h. mit unserem Normalbewusst-sein, denn mit dem arbeiten wir im Tonglen. Am Anfang ist da eine ziemliche Angst, das Leid anderer auf uns zu nehmen, und das Beste, was wir haben, tatsächlich von uns zu geben. Als Er-leichterung können wir uns vorstellen, dass der Lama mit uns verschmilzt und im Herzen als Tschenresi oder Dordje Tschang für das Tonglen anwesend bleibt. Später lassen wir nach der Verschmelzung nur noch eine Lichtsphäre im Herzen, aus der heraus wir Tonglen praktizieren. Dann lassen wir auch die Lichtsphäre sein und arbeiten aus dem Normalbewusstsein. Wir sind dann einfach ein Dharmapraktizierender, der sich dem Bodhicitta öffnet, der Lama verschmilzt mit uns, wir bleiben in diesem Segen und aus dem Segen heraus öffnen wir uns für das Leid an-derer. Das berührt uns direkter als wenn wir Tschenresi im herzen visualisieren, denn da ist kein Schutzschild mehr. Wir können dann nicht unpersönlich praktizieren, als wäre da noch ein Lama im Herzen, von dem das Geben und Annehmen ausgeht. Es geht tatsächlich von unserem eige-nen Herzen aus. Es ist unser eigenes Herz, das sich öffnen muss.

5. Opferungen

Ying tingsin sälwä tschotrül lä, päl küntu sangpö tschöpä trin, yül kakyab gyün mi-tschäpar gyur, lha tugje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG

Das magische Spiel der Dimension des klaren Samadhis bringt die Opferwolken des glorreichen Küntusangpo hervor, die alle Orte und Räume ununterbrochen füllen. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM

MANI PADME HUNG.

Ying tingdsin sälwä tschotrül lä

– Das magische Spiel der Dimension des klaren Samadhis…

Ying, das wir als Dimension übersetzen oder als Raum, sollte verstanden werden als tschö kyi ying, als Dharmadhatu, der Raum der Phänomene: der Raum der Leerheit, aus dem alle Phänomene entstehen. Aus diesem Raum der Phänomene entsteht das magische Spiel, das sich als Opferwol-ken manifestiert. Dies wird bewirkt durch tingdsin – Samadhi. Dsin heißt halten oder vertieft sein, und ting heißt tief. Es ist also die tiefe Versenkung, das Aufgehen in die Dimension der Leerheit, deren Klarheit – sälwa, oder auch der Aspekt der Klarheit dieses Samadhis, dann die Erscheinung

1 Ergänzend dazu siehe Frage /Antwort auf S. 34 -35

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hervorbringt. Klarheit drückt sich aus in dem ständigen Spiel von geistiger Erscheinung. Dieses Spiel ist ein magisches Spiel, so wie von einem Zauberer, der uns Illusionen vorgaukelt, die kei-nerlei wirkliche Existenz haben. In gleicher Weise sind auch unsere Visualisationen einfach das magische Spiel des Geistes und genau so ist alles, was wir erleben, das magische Spiel des Geistes, das Zusammenspiel von Leerheit und Klarheit. Leerheit bedeutet Abwesenheit von wirklicher Existenz, und Klarheit bedeutet, dass es sich dennoch klar, sichtbar manifestiert, für das geistige Auge deutlich wahrnehmbar. Dieses deutlich Wahrnehmbare, das zugleich leer ist, nennen wir das magische Spiel des Geistes.

päl küntu sangpö tschöpä trin

– …bringt die Opferwolken des glorreichen Küntusangpo (Samantabhadra) hervor.

Aus dieser Dimension der Leerheit-Klarheit manifestiert sich das magische Spiel als Opferwolken – tschöpä trin. Trin heißt Wolken und tschöpä heißt Opferungen. Von „Wolken“ ist die Rede, weil sich die Opferungen auftürmen wie Wolken und uns wie Wolkenberge umgeben. Hier sind es Wolkenberge illusorischer Opferungen, wobei tschöpa nicht nur Opferungen heißt, sondern auch einen zweiten Sinn hat, und zwar Verehrung darbringen, Opferungen, mit denen wir unsere Vereh-rung zum Ausdruck bringen, hier natürlich unsere Verehrung den Erleuchteten gegenüber.

Weiter heißt es, dass diese Opferwolken wie diejenigen des „glorreichen Küntusangpo“ sind – päl küntu sangpö. Küntusangpo ist der Bodhisattva Samantabhadra auf Sanskrit, der auch Teil unseres Zufluchtsbaumes ist und der über die außergewöhnliche Fähigkeit verfügte, in tiefem Samadhi unendliche Opferungen hervorzubringen, die den gesamten Raum aller Universen füllen und sich auch noch weiter multiplizieren, also ständig weitere Opferungen erzeugen, die ihrerseits wieder Opferungen hervorbringen und so fort. Übersetzt in unsere Dimension bedeutet das, dass wir uns vorstellen, Ozeane von Opferungen füllen den gesamten Raum aus, Blumen, Räucher-werk, Parfüms, Juwelen, alle Arten von Reichtümern, alle möglichen wunderbaren, angenehmen Dinge, Kleidung, Landschaften und dergleichen, Sterne, Sonnen, was auch immer uns in den Sinn kommt, alles gleichzeitig, sich gegenseitig überhaupt nicht störend. Es ist nicht so, dass dort, wo schon eine Opferung ist, nicht noch eine andere sein könnte. Da ja alle Opferungen von Na-tur aus leer sind, nehmen sie auch nicht einen wirklichen Raum ein, daher schließen sie sich nicht aus, sondern können sich gegenseitig durchdringen.

Yül kakyab gyün mi-tschäpar gyur

– Diese Opferungen füllen alle Orte und Räume ununterbrochen.

Gyün heißt ständig und mi-tschäpar – ununterbrochen. Wenn wir diese Verse singen, visualisieren wir gleichzeitig die Opferungen.

Die einfache Bedeutung des Mantras

Bevor wir weiter praktizieren, möchte ich Euch die einfache Bedeutung des Mantras erläutern:

OM steht für die fünf Aspekte des ursprünglichen Gewahrseins sowie die fünf Kayas: Nirmana-kaya, Sambhogakaya und Dharmakaya, dann der Svabhavikakaya und als letzter der Ma-hasukkhakaya, der Körper der großen Freude, auf Tibetisch Dewatschenpo’i-ku. Wir können also sagen, dass in dieser Silbe die Essenz der Buddhaschaft zum Ausdruck kommt.

MANI bedeutet Juwel, PADME – Lotus, beides zusammen bedeutet: der mit Juwel und Lotus – ein Synonym für Tschenresi, der mit Juwel und Lotus in den Händen das erleuchtete Mitgefühl sym-bolisiert.

HUNG ist die Aktivitätssilbe und steht für den Wunsch bzw. die Tatsache, dass sich die Aktivi-tät von Tschenresi, des erleuchteten Mitgefühls, zum Wohle der Wesen manifestiert, damit sie alle aus Samsara befreit werden.

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Wenn wir das Mantra ganz übersetzen, können wir sagen: „Durch die Kraft der Essenz der Bud-dhaschaft möge sich die Aktivität desjenigen, der Juwel und Lotus hält, manifestieren.“ Oder: „Möge sich die Aktivität des erleuchteten Mitgefühls manifestieren.“

II. Hauptteil der Praxis

1. Umwandlung in ein reines Land

Tschö tamtschä tongpa-nyi kyi ngang, nä yül kün riwo potalä, sching schäl yä kang tschä säl la dsog, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.“

Alle Phänomene sind die Dimension der Leerheit. Alle Länder und Orte sind das reine Land des Berges Potala mitsamt Palast, klar und vollkommen. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PAD-ME HUNG.

Jetzt folgt die Visualisation für den Hauptteil der Mantra-Praxis. In anderen Praktiken haben wir an dieser Stelle normalerweise das Mantra OM SOBHAWA SCHUDDHA SARWA DHARMA SOBHAWA SCHUDDHO HANG, das Leerheits-Mantra, das hier aber nicht gebraucht wird. Der Text beginnt direkt mit der Zeile:

Tschö tamtschä tongpa-nyi kyi ngang

– Alle Phänomene sind die Dimension der Leerheit.

Das drückt dasselbe aus wie das Sobhawa-Mantra. Das Wort tschö bedeutet Phänomene, oder auf Sanskrit Dharmas. Mit Dharmas sind alle Dinge gemeint, die im Geist erscheinen können, materi-elle Objekte, Wesen, Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen – alle geistigen Bewegungen. Sie werden Dharmas, Phänomene, genannt. All diese Phänomene sind untrennbar mit der Dimensi-on der Leerheit verbunden. Das bedeutet, dass sie alle dieselbe Qualität haben, keinen bleibenden Wesenskern, den man als ewig bestehend identifizieren könnte. Es lässt sich nichts finden, inner-halb der Objekte, innerhalb der Wesen, innerhalb ihrer Gedanken und Vorstellungen, was für immer bleibend wäre. Diese Abwesenheit von etwas ewig Bleibendem wird Leerheit genannt.

Wenn es heißt, dass alle Phänomene leer sind und keinen Wesenskern haben, dann ist das Leer-sein nicht als eine Leerheit zu verstehen, in der es nichts mehr gibt, wie in einer leeren Vase. Es ist wichtig, zu verstehen, dass dieser Begriff Leerheit keine nihilistische Leerheit ist, keine Vernei-nung von Qualitäten, sondern in Wirklichkeit einfach Ausdruck davon, dass ich mir einer Täu-schung bewusst werde.

Leerheit lässt sich durch ein Beispiel beschreiben: Ich suche nach einem Freund, bin überzeugt, dass er in dem Zimmer nebenan ist. Ich gehe hin, öffne die Tür, und schaue hinein. Der Freund ist nicht da. Ich verlasse das Zimmer und sage: „Das Zimmer ist leer.“ Genauso verhält es sich auch mit dem Geist: Ich schaue in den Geist hinein, und denke, da sei irgendwo ein „Ich“, ein Ego zu finden. Aber ich finde kein Ego, kein „Ich“, und sage deshalb: „Der Geist ist leer.“ Er ist aber genauso wenig leer, wie das Zimmer leer ist. In dem Zimmer kann eine Fülle von Dingen sein. Das Zimmer ist nur leer in Hinblick auf das, was wir dort gesucht haben. Genau so ist es mit dem Geist auch: Er ist leer in Hinblick auf das, von dem wir ständig annehmen, das es sich dort finden würde: ein „Ich“, eine Person, eine Persönlichkeit. Wenn wir nach einem Wesens-kern, einem Ich-Kern suchen, finden wir ihn nicht. In diesem Sinne ist der Geist leer. Zugleich ist er aber auch „voll“, denn es gibt eine Fülle von erleuchteten Qualitäten, die wir entdecken kön-nen, die sich spontan manifestieren und immer da sind. So ist der Geist also zugleich leer und voll.

Ich habe angenommen, dass es ein „Ich“ gäbe. Auf diese Annahme habe ich mein ganzes Leben gebaut, habe meine Handlungen, meine Reaktionen, meine Sichtweise des Lebens darauf gegrün-det. Wenn ich nun in den Geist hineinschaue und den Denker suche, die Quelle von all diesem

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Ich-Denken, ist er nirgendwo zu finden. Irgendetwas Bleibendes, was man den „Geist“ oder die „Seele“ nennen könnte, gibt es nicht: im immer wieder Hineinschauen löst sich das gerade Gewe-sene auf. Ich finde nur eine Dynamik, einen Fluss, ein sich ständiges Wandeln geistiger Wahr-nehmungen, aber keinen Wesenskern. Diese Abwesenheit von einem Wesenskern, das Entde-cken, dass sich nichts dergleichen finden lässt, nennen wir „Leerheit“. Dies verneint nicht, dass sich da eine Fülle von Qualitäten manifestiert, und auch nicht die Möglichkeit, dass wir das Wort „ich“ oder „mein“ oder „Person“, auf der relativen Ebene benutzen können. Das können wir durchaus. Nur müssen wir uns dabei bewusst sein, dass es sich um die vorläufige Beschreibung eines dynamischen Geschehens handelt. Dabei dürfen wir aber nicht die Worte für die Wirklich-keit halten.

Es gibt viele Beispiele in den buddhistischen philosophischen Texten, um den Irrtum aufzude-cken, dass wir Konzepte für die Wirklichkeit halten. Ein berühmtes ist das Beispiel von der Kut-sche. Es wird die Frage gestellt, ab wann oder wie lange eine Kutsche eigentlich eine Kutsche ist. Wenn ich ein Rad wegnehme, ist es dann immer noch eine Kutsche? Wenn ich zwei wegnehme, drei, wenn ich die Deichsel wegnehme, die Sitze? Oder ab wann beginnt eine Kutsche, eine Kut-sche zu sein? Wenn ich nur die Sitze habe? die Sitze und die Deichsel? usw.

Stellen wir uns vor, wir spielen mit einem Kind. Wir nehmen ein weißes Blatt Papier und sagen: „Jetzt rate mal, was ich male.“ Wir beginnen zu malen, wir malen einen Kreis, wir beginnen mit der Karosserie eines Autos, und das Kind ruft: „Auto, das ist ein Auto!“ Es hat in diesem Mo-ment erfasst, was diese Striche darstellen könnten, und den entsprechenden Begriff dazu gefun-den, einen Begriff, der auch in unserem Geist als Konzept vorhanden war. Aber natürlich ist da kein Auto. Da ist nur ein kreisförmiger Strich auf einem Blatt Papier, an den sich ein etwas ecki-ger Strich anschließt, der den Umrissen eines Autos ähnelt. Genauso ist es auch mit unserer Wahrnehmung eines Ichs, unserer eigenen Person: Wir kombinieren mehrere Dinge bzw. Be-obachtungen und geben ihnen einen gemeinsamen Namen. Doch dann denken wir, das, was die-sen Namen trägt, würde tatsächlich existieren.

Für meine Eltern ist das Baby von damals und der Lhündrub von heute die gleiche Person. Aber von dem Baby, das er mal war, ist nichts mehr übrig. Dennoch gibt es eine Reihenfolge von Ur-sache-Wirkungsbeziehungen in diesem ständigen Fluss der Erscheinungen, die bewirkt, dass die Momente, die aufeinander folgen, einen Zusammenhang haben. Diese Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die in fließenden Abläufen stattfinden, verleiten uns zu der Annahme einer bleibenden Kontinuität, aber nichts dergleichen wirklich bleibend. Auf diesen fundamentalen Irrtum hat der Buddha hingewiesen. In dem Moment innerer Verwirklichung, wo wir entdecken, dass dieses vermeintliche Ich nie existiert hat, und die Ich-Illusion, die wir durch unser Anhaften fortwährend erzeugen, zusammenbricht, sind wir befreit, befreit von der Annahme eines Ichs, das es zu verteidigen, zu nähren und zu schützen gibt.

Diese Befreiung zu ermöglichen, diese Verwirklichung in unserem Geist hervorzurufen, so dass sie wirklich von tief innen her aufsteigt, ist der Sinn dieser Praxis. Darauf baut alle Yidam-Praxis auf. Wir brauchen dieses intellektuelle Verständnis der Leerheit, um ein Gefühl dafür zu haben, was eine Yidam-Praxis ist, und warum wir sie machen. Yidam-Praxis auszuführen bedeutet, in die Dimension des Nicht-Ichs einzutauchen. Das ist der Kernpunkt der Praxis: in die Buddha-Wahrnehmung einzutauchen, frei von Ich-Bezogenheit.

Nä yül kün riwo potalä

– Alle Länder und Orte sind das reine Land des Berges Potala...

Damit ist Dewatschen gemeint. In der Yidam-Praxis sieht man sich selbst und die Phänomene, die äußere Umgebung, als „rein“, um zu einer vollständigen Erkenntnis der Wirklichkeit zu kommen, die sich nicht nur auf die Abwesenheit eines Ichs der Person bezieht, sondern auch die

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Abwesenheit des Ichs in der äußeren Welt verwirklicht. Deshalb üben wir uns, die äußere Welt als reines Land zu betrachten, das frei von Substanz ist.

Sching schäl yä kang tschä säl la dsog

– … mitsamt Palast, klar und vollkommen.

Dieser Satz bedeutet, dass in diesem reinen Land der Palast der Gottheit klar und vollkommen erscheint. Klar bedeutet, dass die einzelnen Merkmale sehr deutlich und klar sind, dass die Mani-festation klar wahrnehmbar ist. Vollkommen bedeutet, dass wir nicht der Täuschung unterliegen, sondern uns der Leerheit dieser Erscheinung bewusst sind. Natürlich heißt vollkommen auch, dass der Palast vollkommen mit allen seinen Ornamenten ausgestattet ist.

Dewatschen ist ein Ort, so wie wir es gerne hätten. Für die Tibeter sollte er flach sein – für die Inder auch, weil Berge anstrengend sind. Aber wenn wir gerne Hügel und Berge haben, ließe sich das auch einrichten, meinte Shamar Rinpotsche. Es gibt Flüsse und Bäche, die genau die Tempe-ratur haben, die wir wollen. Das Land ist eigentlich Ausdruck dessen, was wir gerade an Bedin-gungen für die Praxis brauchen. Der Dharma ist überall zu hören, und in dem Moment, wo sich der Lotus auftut, bei der „Geburt“ 2 in Dewatschen, sind wir in der Lage, den Dharma in seiner Tiefe zu verstehen. Das ist der Moment, wo die Realisation der Abwesenheit eines Ichs in unse-rem Geist auftaucht.

Es gibt verschiedene Arten, Dewatschen darzustellen. Dewatschen ist ein reines Land, das wie ein Ort empfunden werden kann, wo man leben kann, aber es ist auch einfach eine Dimension des Geistes. Es ermöglicht uns, dank der kraftvollen Gegenwart von Amitabha, Tschenresi und Vajrapani, in der gleichen Weise wie sie mit den Phänomenen in Verbindung zu treten. Ihr könnt es euch ein wenig so vorstellen, wie wenn ihr euch in die Gegenwart eines vollständig erleuchte-ten, großen Meisters begebt. Vielleicht habt ihr das mit Karmapa während der Tschenresi-Einweihung erlebt. Dank der Gegenwart des Samadhis, also der tiefen Meditation des Meisters, ist es uns möglich, in eine andere Sichtweise einzutreten. Für die Zeit, die wir in seiner Nähe wei-len, sind wir in Dewatschen. Es ist, als würden wir in einen anderen Geistesbereich gehoben, und in diesem Geistesbereich können wir einen inneren Weg vollziehen. Das ist auch der Sinn von Initiation, von Einweihung. Genauso ist es möglich, dass wir nach dem Tod, wenn wir diesen Körper verlassen, aufgrund unserer Hingabe in einen reinen Bereich eintreten können. In diesem reinen Bereich, können wir dank des Samadhis, der tiefen Meditation des Buddhas, der im Zent-rum dieses reinen Bereiches weilt, ganz in seine Vision eingehen, bis wir in dieser Sicht oder Verwirklichung der Erleuchtung vollkommen aufgehen. Wenn wir Widerstände haben und uns für den Buddha nicht öffnen können, dann wird das nicht geschehen. Es ist eine Frage des Ban-des und des eigenen Wünschens. Aber auch wenn gleichzeitig noch andere Wünsche und Wider-stände da sind, ist es möglich, dass dank der starken Meditation, der Liebe und des Mitgefühls, die von jedem Buddha ausstrahlen, unsere Widerstände schmelzen und wir uns öffnen können, sodass wir den Weg dann doch gehen können. Aber wenn wir uns gar nicht öffnen können, dann können wir in der Gegenwart eines Buddhas sein, ohne irgendetwas zu merken.

2. Selbstvisualisation

De’i ü-su rang-nyi tschänräsi, ku kar säl öser bum trag tro, tsän pe djä schi dsum gegpä nyam, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

In der Mitte erscheinen wir selbst als Tschenresi. Unser leuchtend weißer Körper strömt Billionen von Lichtstrah-len aus. Wir besitzen die Merkmale und Zeichen, lächeln friedlich und sind von attraktiver Erscheinung. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

2 Es gibt keine Geburt an sich, es gibt keine Kindheit und Jugend, es gibt weder Männer noch Frauen. Alle Wesen, die dorthin kommen, werden voll entwickelt in einem Lotus „geboren“.

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De’i ü-su rang-nyi tschänräsi

– In seiner Mitte erscheinen wir selbst als Tschenresi.

Dieses Wir bezieht sich auf rang-nyi – Ich selbst. Das rang wäre das Ich oder Wir, und das nyi wäre selbst, aber rang-nyi hat auch die Bedeutung: Ich selbst in meiner grundlegenden Natur. Wir könn-ten übersetzen: In seiner Mitte erscheint unsere wahre Natur als Tschenresi. Das Ganze wird dann aber etwas kompliziert und so sollten wir verstehen, dass mit „ich“ diese tiefere Dimension von uns, unsere Buddhanatur gemeint ist.

Der Prozess als Tschenresi zu erscheinen, lässt sich ausführlicher visualisieren: Wir können uns vorstellen, dass auf einem weißen Lotus und einer Mondscheibe sich ein weißes HRI befindet, und das diese Silbe HRI zu allen Buddhas und Bodhisattvas und zugleich auch zu allen Wesen Licht aussendet. Das Licht kommt dann voller Segen von den Buddhas und Bodhisattvas zurück, zusammen mit dem Verdienst und dem Segen, alle Wesen gereinigt zu haben. Es tritt in die Silbe HRI ein, und die verwandelt sich in einem Moment zu Tschenresi. Das ist der Moment der völ-ligen Transformation, und zwar de’i ü-su – in seiner Mitte, damit ist in der Mitte des Palastes ge-meint, wo ich auf einem weißen Lotus und Mond als Tschenresi erscheine.

Ku kar säl öser bum trag tro

– unser leuchtend weißer Körper strömt Billionen von Lichtstrahlen aus.

Dieser Körper ist ein Lichtkörper. Ku entspricht kaya auf Sanskrit, der Körper eines Buddhas. Dieser ist strahlend manifest und zugleich leer, transparent. Er ist die Einheit von Manifestation und Leerheit. Kar säl – leuchtend weiß bedeutet, dass er so weiß ist wie Schneekristalle in der Son-ne, transparent, ohne Substanz. Das symbolisiert völlige Reinheit. Wir sagen, dass Billionen von Lichtstrahlen ausströmen – öser bum trag tro. Diese Lichtstrahlen sind fünffarbig, vorwiegend weiß, und symbolisieren die fünf Facetten des ursprünglichen Gewahrseins. Billionen bedeutet einfach „unzählige“ Lichtstrahlen, und auch, dass sie alle samsarischen Daseinsbereiche und alle reinen Bereiche durchdringen, alles Leid vertreiben und überall Freude schaffen. Alle Wesen werden in die höchste, wahre Freude versetzt.

Tsän pe djä schi dsum gegpä nyam

– Wir besitzen die Merkmale und Zeichen, lächeln friedlich und sind von attraktiver Erscheinung.

Tsän pe djä bedeutet, dass Tschenresi mit allen Merkmalen und Zeichen eines Buddhas versehen ist. Tsän – Merkmale sind die Hauptmerkmale, von denen es zweiunddreißig gibt und von pe – den zusätzlichen Zeichen gibt es achtzig. Das bedeutet, dass er äußerlich mit all dem ausgestattet ist, was für einen Buddha typisch ist. Schi dsum – sein friedliches Lächeln symbolisiert, dass er in Nirwana eingetreten ist, in die geistige Dimension jenseits von Leid, und gleichzeitig den Wesen zugewendet ist. Gegpä nyam – von attraktiver Erscheinung steht dafür, dass er alle Wesen anzieht. Wenn man ihn anschaut oder ihm begegnet, kann man den Blick nicht von ihm wenden, als wür-de man zu ihm hingezogen.

Schäl tschöku tigle tschig-tu kyil, tschän tab sche nyingdje simbur sig, tschag tsä-me schidän djam sching nyen, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Unser Gesicht – die Essenz des Wahrheitskörpers – drückt das Eine aus. Die Augen – Methode und Weisheit – schauen halbgeöffnet mit mitfühlendem Blick. Die Hände – die vier Unermesslichen – sind fein und geschmei-dig. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Schäl tschöku tigle tschig-tu kyil

– Unser Gesicht – die Essenz des Wahrheitskörpers – drückt das Eine aus.

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Er hat ein Gesicht – schäl und nicht mehrere, wie das bei anderen Yidams der Fall ist. Die Tat-sache, dass es nur eins ist, zeigt, dass der Dharmakaya, der Wahrheitskörper – tschöku, die eine Essenz – tigle, von allen Phänomenen ist, das Eine, in dem alle Phänomene identisch sind.

Tschän tab sche nyingdje simbur sig

– die Augen, Methode und Weisheit, schauen halbgeöffnet mit mitfühlendem Blick.

Die beiden Augen – tschän, stehen für Methode – tab und Weisheit – sche. Methode ist gleichbe-deutend mit Mitgefühl/Liebe, und Weisheit ist gleichbedeutend mit Leerheit/Offenheit. Man schaut immer mit beiden Augen zugleich, deshalb sind sie das Symbol für die Einheit von Me-thode und Weisheit.

Mitgefühl ist nyingdje. Es steht in Beziehung zu Methode, weil Mitgefühl das ist, was die Mittel, die Methoden sucht, um Wesen zu helfen, und sie auch findet. Das erleuchtete Mitgefühl benutzt alles, was im Geist auftaucht als Mittel, um den Wesen zu helfen. Simbur ist ein halbgeöffneter Blick, wo die Augen nicht ganz geschlossen und auch nicht ganz offen sind. Die Augenlider sind meditativ etwas gesenkt, und das steht für Versenkung in die Weisheitsdimension. Schauen – sig, das letzte tibetische Wort, bedeutet, dass er stets aller Wesen in den sechs Daseinsbereichen ge-wahr ist.

Tschag tsä-me schidän djam sching nyen

– Die Hände, die vier Unermesslichen, sind fein und geschmeidig.

Tschag sind seine vier Hände. Tsä-me schi sind die vier Unermesslichen, Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. Wenn es dann heißt, dass sie djam – fein und nyen – geschmeidig sind, so steht das für Qualitäten des Geistes. Fein weist auf die einfühlsame Qualität, sich in jedes Wesen hineinfüh-len zu können und die Bedürfnisse und die Wünsche der Wesen zu erspüren. Geschmeidig oder flexibel steht für die Fähigkeit, sich anpassen zu können und in Übereinstimmung mit ihrer Geis-teshaltung und ihren Bedürfnissen in der Art der Wesen zu kommunizieren, sich auf jedes Wesen genau einlassen zu können. Das drückt sich hier in den Händen aus, ist aber eine Qualität des Buddhageistes.

Tsa tschag-nyi tugkar tälmo djar, yä ogmä schel gyi trengwa dang, yön ogmä päma kar-po nam, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Die beiden Haupthände sind am Herzen aneinandergelegt. Die untere rechte hält eine Kristallmala, die untere linke einen weißen Lotus. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Tsa tschag-nyi tugkar tälmo djar

– Die beiden Haupthände sind am Herzen aneinandergelegt.

Die Tatsache, dass sie zusammengelegt sind, symbolisiert, dass die beiden Ansammlungen – Ver-dienste und Weisheit – vollendet sind und dass der zweifache Nutzen vollendet ist: der Nutzen für einen selbst und der Nutzen für andere. Dies ist ein Ausdruck der vollkommenen Bud-dhaschaft, denn die beiden Ansammlungen sind erst dann vollendet und die beiden Nutzen sind erst dann vollständig erfüllt, wenn Buddhaschaft erreicht ist. Zwischen seinen beiden Händen hält er ein wunscherfüllendes Juwel. Dieses wunscherfüllende Juwel ist unser eigener Geist. Es ist die Natur des Geistes, die alle Wünsche erfüllt. Alles, was wir uns wünschen, alles, was wir er-streben, gibt uns der eigene Geist: Frieden, Befreiung, Zufriedenheit auch, Liebe, Mitgefühl, Weisheit. Die Tatsache, dass er die Hände in der Gebetsmudra zusammengelegt hat, bedeutet auch, dass er ständig zum Wohle aller Wesen betet, unaufhörlich.

Yä ogmä schel gyi trengwa dang

– Die untere Rechte hält eine Kristallmala.

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Yä ogmä – untere Rechte bezieht sich auf den unteren rechten Arm, der unten aus der Schulter herauskommt, wobei der obere Arm darüber, aus dem oberen Teil der Schulter kommt. Die Hand des „unteren Armes“ kann aber durchaus höher sein als die Hände am Herzen.

Die Tatsache, dass er eine Mala hält und sie auch ständig bewegt, bedeutet, dass er Wesen aus Samsara zieht. Er führt ständig die Buddha-Aktivität aus, Wesen aus Samsara zu ziehen, nie hört er damit auf. Man sagt: Jede Perle mindestens ein Wesen , aber wahrscheinlich sind es viel mehr.

Yön ogmä päma karpo nam

– Die untere Linke hält einen weißen Lotus.

Der weiße Lotus – päma karpo steht für den völlig entfalteten Bodhicittageist. Der Lotus ist völlig geöffnet, entfaltet. Es gibt nichts mehr zusätzlich an Bodhicitta zu entwickeln. Der Lotus steht auch dafür, dass sich Tschenresi in Samsara, das heißt in der Welt des Haftens, manifestiert, ohne selber vom Haften befleckt zu werden, so, wie ein Lotus aus dem Schlamm herauskommt, ohne von dem Schlamm befleckt zu sein. Er ist das Symbol makelloser Reinheit. Das letzte Wörtchen nam bedeutet halten – den Lotus halten. Es bedeutet, dass Tschenresi Halter der Bodhisattva-Motivation oder der Bodhisattva-Übertragung ist.

Tra tön ting tor tsug tschiwor tsching, lhagma nam tschanglö tsül-du tschang, tschi tsug-tu norbu barwä tsän, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Die azurblauen Haare sind zum krönenden Scheitelknoten gebunden, der Rest fällt lose in Wellen herab und auf dem Scheitel erstrahlt das Kronjuwel. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME

HUNG.

Tra tön ting tor tsug tschiwor tsching

– Die azurblauen Haare sind zum krönenden Scheitelknoten gebunden.

Tön ting – azurblau, dunkelblau oder schwarzblau, bezieht sich auf die schwarzen Haare der In-der die sehr glänzend sein und einen bläulichen Schimmer haben können. Das ist die klassische Haarfarbe für Buddhas. Tor tsug ist der Scheitelknoten. Es bedeutet, dass ein Teil der Haare zu einem Knoten auf dem Haupt hochgebunden ist und symbolisiert die höchste Verwirklichung der Buddhas.

Lhagma nam tschanglö tsül-du tschang

– Der Rest fällt lose in Wellen herab

Tschanglö – dieses lose Herabfallen bedeutet, dass Tschenresi sich nicht in der höchsten Verwirk-lichung ausruht, wie das der zum Knoten gebundene Teil seines Haares ausdrücken könnte. Ob-wohl er in der höchsten Verwirklichung (siehe Scheitelknoten) verweilt, ist er stets bereit, sich in Samsara hineinzubegeben, um den Wesen zu helfen (symbolisiert durch die herabfallenden Haa-re).

Tschi tsug-tu norbu barwä tsän

– und auf dem Scheitel erstrahlt das Kronjuwel.

Dieses Kronjuwel – norbu ist die Stelle auf dem Scheitel eines Buddha, von der aus die höchste Samadhi-Aktivität stattfindet. Vielleicht habt ihr Mahayana-Sutren gelesen und seid auf die Stellen gestoßen, wo von Buddhas Haupt Licht ausstrahlt und die anwesenden Schüler mit in seinen Samadhi hinein nimmt, wenn er zum Beispiel im Samadhi in die reinen Bereiche geht; dank dieser Lichtstrahlen können die Schüler in seine Schau eintreten.

Frage: Steht das hier erwähnte Kronjuwel für Buddha Amitabha?

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Antwort: Im anderen Text ist es tatsächlich so, dass Amitabha oben auf dem Kopf erscheint und als Kronjuwel bezeichnet wird, aber hier ist erst das Kronjuwel, und Amitabha erscheint dann später noch zusätzlich.

Was hier nicht erwähnt ist, dass Tschenresi zusätzlich auf dem Kopf auch noch das Juwelendia-dem mit den fünf Juwelen trägt, welche die fünf Tathagatas, die Dhyani-Buddhas repräsentieren, als Ausdruck davon, dass er die fünf Emotionen gereinigt und die fünf Aspekte des ursprüngli-chen Gewahrseins hervorgebracht hat.

Dar natsog tschö pän nabsä lub, gyän rintschen dumä kün nä dse, ridag kyi pagpä nu yön kab, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG

Wir tragen Gewänder aus bunter Seide und Schleifen, viele kostbare Ornamente schmücken uns vollendet und die linke Brust bedeckt das Fell eines Rehes. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PAD-

ME HUNG.

Dar natsog tschö pän nabsä lub

– Wir tragen Gewänder aus bunter Seide und Schleifen,

Tschenresi ist in drei Seidengewänder gekleidet: Dar natsog heißt bunte Seide, das sind verschie-dene bunte Seidengewänder. Das erste ist das mehrfarbige seidene Unterkleid, das mit Glücks-symbolen golden bestickt ist. Dieses Gold symbolisiert die grundlegende Buddha-Natur. Dann trägt er ein weißes Obergewand, das eigentlich mehr ein Tuch ist, das er sich umgeschlagen hat. Schließlich ist eine weiße, fliegende Schleife – tschö pän, hinter seinem Diadem, der Scheitelkro-ne befestigt, die über die Stirn bis zu den Ohren geht und dann vom Haupt herabfließt und im Raum fliegt. Das wird hier auch als ein „Gewand“ bezeichnet. Diese drei Kleider, Gewänder symbolisieren die Dharmaroben, die Roben eines Mönches, die traditionellerweise sind: Der Schamtab, also der untere Teil der Robe, und dann die beiden gelben Zen, die gelben Gewänder des Buddha, die auf tibetisch « tschögö » und « namgyal » heißen.

Gyän rintschen dumä kün nä dse

– viele kostbare Ornamente schmücken uns vollendet

Dieser Reichtum an kostbaren Ornamenten – gyän rintschen gehört zur Kleidung eines Prinzen in Indien. Das ist Ausdruck von Reichtum, hier dem Reichtum eines Buddhas, der über unermessli-che Ressourcen verfügt, um den Wesen zu helfen. Dieser innere Reichtum wird im Bild durch äußeren Reichtum dargestellt. All die kostbaren Juwelen stehen für die Buddha-Qualitäten, für die sechs Paramitas usw.

Was den Hauptschmuck angeht, so haben wir den Kopfschmuck mit dem fünfzackigen Diadem, wir haben die Ohrringe, die drei verschiedenen Halsketten, die Oberarm- und Unterarmreifen, die Fußreifen, die Ringe an den Fingern und an den Zehen, und auch einen Gürtel mit kleinen Glöckchen, die ständig angenehme Klänge von sich geben.

Antwort auf die Frage, wie das mit den sechs Paramitas und den sechs Ornamenten aufgeht: Die drei Halsketten werden als ein Schmuckstück betrachtet, und die Ringe ebenfalls. Aber wenn man die Reifen für oben und unten getrennt zählt, also die Armreifen, dann werden die Ringe an den Fingern und Zehen nicht mitgezählt. Es ist rein symbolisch. Egal wie, es sind immer sechs: Die sechs Paramitas.

Ridag kyi pagpä nu yön kab

– die linke Brust bedeckt das Fell eines Rehes.

Es handelt sich um das Krishnasara-Reh, eine Antilope oder Gazelle in Indien, die dafür bekannt war, nie Insekten mit dem Gras zu fressen, die also darauf achtete, jeweils nur Gräser zu sich zu nehmen. Ihre Präsenz ist hier Ausdruck der völligen Gewaltlosigkeit, der Abwesenheit aller Ag-

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gression, und Symbol für die selbstlose Hinwendung zu Wesen, also wiederum für das Bodhicitta, das Tschenresi kennzeichnet.

Frage: Ist es das gleiche Reh wie die, die auf beiden Seiten des Dharma-Rades knien?

Antwort: Diese Rehe sind vermutlich nicht die gleichen. Als Buddha Shakyamuni in einem Ga-zellenhain bei Benares vor den fünf Schülern seine ersten Belehrungen gab, waren sie von diesen Rehen umgeben, die beim ersten Drehen des Rades zuhörten; deshalb die beiden Rehe. Das hat aber wohl nichts mit Tschenresi zu tun.

Ku bapü kungbu re re schin, dje nye kyi schingkam rabdjam dsog, de nye kyi sangyä djang sem schug, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Unseren Körper vollendet in jeder Pore eine immense Anzahl reiner Länder, in denen entsprechend viele Buddhas und Bodhisattvas weilen. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Dieser Körper, von dem da die Rede ist, ist nicht einfach nur ein menschlicher Körper, den wir dann transparent visualisieren, sondern das ist ein Buddha-Körper, der gar keine Poren hat. Es ist nicht etwa so, dass ein Lichtkörper Poren hätte, sondern da, wo sonst die Poren wären, sind reine Länder. In jedem dieser reinen Länder sitzt ein Buddha und unterrichtet Millionen von Bodhi-sattvas und Billionen von Wesen drum herum. Wenn wir hinhören, ist es so, als könnten wir je-dem einzelnen dieser Buddhas zuhören, und alle sind Ausdruck derselben Aktivität von Tschen-resi. Die Visualisation dieses Buddha-Körpers ist ein Instrument, durch das unsere Wahrneh-mung sich völlig ändert. Wir tauchen ein in die unendliche Vielzahl von simultan stattfindenden Unterweisungen in all den reinen Ländern, und Tschenresi selbst ist die Einheit all dieser Unter-weisungen. Wir können uns vorstellen, dass diese Unterweisungen wie der Klang des Mantras OM MANI PADME HUNG sind, und dass aus den ‚Poren’, d.h. aus jedem dieser reinen Län-der, der Klang des OM MANI PADME HUNG schallt und das Universum füllt. Wenn wir ge-nauer hinhören, dann können wir die vielen differenzierten Unterweisungen zur letztendlichen und zur relativen Wirklichkeit hören. Denn das gemeinsame Merkmal aller Buddhas ist, dass sie uns die beiden Ebenen der Wirklichkeit aufzeigen.

Dann lasst uns das jetzt mal praktizieren. Seid ihr bereit? Stellt euch euren Körper als den Sitz von Millionen von Buddhas vor, die Unterweisungen geben. Natürlich ist es so, dass jeder dieser Buddhas wiederum einen Lichtkörper hat, und dieser Lichtkörper hat in jeder Pore wiederum einen Buddha mit entsprechend vielen Bodhisattvas, und alle diese Buddhas vollführen die zwölf Taten oder Handlungen eines Buddha: Das Eintreten in diese Wirksphäre, dann Geburt, und so weiter, die Erleuchtung, das Unterrichten, die Wundertaten, bis hin zum Parinirwana. Alle haben sie die Fähigkeit, weitere Emanationen auszustrahlen in alle Welten, in alle Daseinsbereiche. So kommen wir selbst mit dieser immensen Visualisation noch nicht an die Grenzen dessen heran, was tatsächlich Buddha-Aktivität ist. Es ist wichtig, sich darauf einzulassen, weil das wirklich un-seren Geist weitet. Wir treten in ein Verständnis von Dharma und von Buddha-Aktivität ein, wo wir die Einheit aller Dharma-Unterweisungen erkennen, wenn wir ein Gespür dafür entwickeln, dass die verschiedenen Buddhas dasselbe unterrichten, obwohl ihre Manifestationsform äußerlich verschieden ist, jeder in verschiedenen Bereichen. Das ist ganz entscheidend für uns, um zur Einheit, zur Essenz der Dharma-Unterweisungen vorzudringen.

Sung tschi nang nötschü dra kä kün, ngag yige drug-tu djin labpä, tong tö dang drän rig drölwar dsä, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Unsere Rede segnet alle Klänge und Stimmen der Welt und ihrer Bewohner als das Sechs-Silben-Mantra und bewirkt so Befreiung durch Sehen, Hören, sich Erinnern und Gewahrwerden. Wir beten zur Gottheit, dem Gro-ßen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Sung, das erste Wort, bedeutet erleuchtete Rede, die Rede eines Buddhas. Damit sind alle Unterweisun-gen eines Buddhas gemeint, in jeder Form. Da gibt es sehr viel verschiedene Formen: Ein Bud-

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dha kann normal in Prosa reden, er kann in spontaner Gedichtform sprechen, er kann in mantri-scher Form sprechen oder als Dharanis, er kann singen und über Vajra-Gesänge, spontane Ge-sänge der Realisation, den Geist anderer öffnen. Es werden insgesamt, glaube ich, zehn oder zwölf Formen verschiedener Rede des Buddha aufgeführt, die auch als solche erhalten sind. In all diesen Formen hat der Buddha Shakyamuni gelehrt.

Diese erleuchtete Rede mit der Kraft, die belebte und die unbelebte Welt zu segnen, besitzt na-türlich auch Tschenresi. Das sind die Worte nö und tschü. Nö bedeutet das Gefäß, die unbelebte Welt und tschü ist der Inhalt, die Bewohner des gesamten Universums. Jetzt fragen wir uns natür-lich, was das bedeutet, wenn alle Klänge und Stimmen als das Sechs-Silben-Mantra gesegnet wer-den. Segnen – djin labpa bedeutet hier, dass die Wahrnehmung von uns nicht erleuchteten Wesen von dem, was wir für die Wirklichkeit halten, durch den Segen des Mantras und den Segen der Rede OM MANI PADME HUNG transformiert wird. Was passiert, ist dass wir in den scheinbar ganz gewöhnlichen Klängen und Lauten des Universums dieselbe Schwingung wahrnehmen, dieselbe Dimension, die sich uns durch das Mantra eröffnet hat, in die wir durch das Mantra Zu-gang gefunden haben.

Wenn wir das Mantra OM MANI PADME HUNG viele, viele Male rezitieren, Tausende, Millio-nen von Malen, bleiben wir nicht mehr auf der Ebene der Bedeutung. Wir haben zwar gelernt, dass das Mantra mit seinen einzelnen Silben eine Bedeutung hat, aber durch das ständige Wieder-holen kommen wir auf eine andere Ebene. Wir merken, dass wir mit einem Klang arbeiten, der kommt und geht, der eigentlich keine Spur hinterlässt, der unseren Geist öffnet, unseren Geist entspannt. Wir beginnen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was die illusorische Natur dieses Klan-ges ist, der die Fähigkeit oder die Kraft hat, uns zu öffnen für Räume tiefer Entspannung. Wir lassen uns auf diesen Klang ein und gelangen allmählich zu einem Verständnis davon, dass es gar nichts gibt in Klängen, was irgendwie anhalten würde. Sie sind leer von einem bleibenden Etwas – von einem Wesenskern. Sie sind nur Klang, wie ein Echo, das uns in keiner Weise zwingt zu reagieren. Anstatt zu reagieren, können wir einfach loslassen, uns öffnen und beginnen, der in-nersten Dimension des Klanges zuzuhören, der Dimension der Leerheit.

Wenn dann das Geräusch eines Traktors auftaucht, oder irgendwo ein Kind weint, oder irgend-welche anderen Geräusche erklingen, dann ist es uns möglich, auch in diesen Geräuschen, in diesen Klängen und Stimmen dieselbe Dimension wieder zu entdecken, die uns durch das Mantra zugänglich wurde. Diese feine Schwingung der Offenheit zu entdecken, das, was wir auch die Leerheit nennen, dies nennt man „die Praxis hat alle Klänge mit dem Klang des Mantras geseg-net“. Alle Klänge eröffnen sich uns nun als gleich mit dem Klang des Mantras, als dieselbe Di-mension, die wir mit der erleuchteten Rede bereits kontaktiert haben. Wenn wir in dieser Schwingung, in dieser Ebene bleiben, und nicht am Oberflächenklang kleben, sondern mit der tiefen Essenz von Klängen im Kontakt sind, dann enthüllen sie sich uns alle als identisch mit dem Klang von OM MANI PADME HUNG.

Die Praxis mit Mantras, die unsere Wahrnehmung ändert, ist ein langer Weg, der ein ganzes Le-ben dauert. Bei normaler Wahrnehmung hören wir draußen einen Vogel zwitschern und denken sofort: „Oh, da zwitschert ein Vogel.“ Das ist das erste Konzept – „Vogel“ – das erste Etikett, das wir der Wahrnehmung beifügen. Als nächstes fragen wir uns, was das wohl für ein Vogel ist. Ganze Gedankenketten können sich daran knüpfen, und genau das ist es, was man nennt „mit der Oberfläche der Erscheinung beschäftigt sein“. Wir reagieren auf das oberflächlich Offen-sichtliche. Ein verwirklichter Praktizierender kann anders hören. Er hört den Klang der Leerheit in allem, was an Klängen, an Stimmen ins Ohr dringt, und ist sich des Klanges gewahr, ohne rea-gieren zu müssen, ohne zwanghaft in Reaktionen zu verfallen.

Klang kann gehört werden als eine Unterweisung darüber, wie aus dem Dharmakaya alle Mani-festation entsteht: Sambhogakaya und Nirmanakaya. Ein Buddha ist immer in Kontakt sowohl mit dieser tiefsten, letztendlichen Ebene der Wahrnehmung, als auch mit der relativen Ebene der

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Wahrnehmung, wo man das Schreien eines Kindes als einen Hilferuf auffassen kann und viel-leicht durchaus reagieren sollte. Aber die Handlungen eines Buddhas sind frei von der impulsiven Reaktion, die dadurch entsteht, dass wir uns nicht der offenen, leeren Natur der Erscheinungen bewusst sind. Ein Buddha ist zugleich auf beiden Ebenen aktiv: er verlässt nie die letztendliche Ebene der Wahrnehmung, integriert aber die relative Ebene. Buddhaschaft bedeutet also nicht ein Entschwinden auf eine letztendliche Ebene, wobei die relative völlig verlassen wird. Die rela-tive Ebene der Wahrnehmungen bleibt, und dort handelt ein Buddha auf der Basis von Mitgefühl und Weisheit.

Antwort auf eine Frage: Es gibt die Möglichkeit, in dem Raum jenseits von relativer Wahrneh-mung zu verweilen. Aber die Kraft des Mitgefühls bewirkt, dass der Kontakt mit der relativen Ebene erhalten bleibt, auch für Buddhas, die das Parinirwana manifestieren. Das Parinirwana ist ein Schritt weiter als das Nirwana – Shakyamuni hat sein Nirwana im Alter von vierzig Jahren erfahren, danach noch vierzig Jahre unterrichtet und dann sein Parinirwana manifestiert. Aber auch danach wirkt er weiter zum Wohl der Wesen, nur nicht mehr in dieser konkreten Form.

Die Frage war: Ist es das, was damit gemeint ist, die Extreme von Samsara und Nirwana zu ver-meiden? Ja. Das Extrem des Nirwana zu vermeiden bedeutet, nicht nur in der letztendlichen Ebene zu verweilen, sondern dank des Mitgefühls den Kontakt mit den Wesen aufrechtzuerhal-ten, die noch nicht diese Erkenntnis hervorgebracht haben. Das Extrem des Samsara zu vermei-den bedeutet, in der Aktivität für das Wohl der Wesen immer mit dieser letztendlichen Ebene verbunden zu bleiben. Es ist genau das, was Tschenresi zum Ausdruck bringt, jenseits der Ext-reme von Samsara und Nirwana.

Tong tö dang drän rig drölwar dsä

– und bewirkt so Befreiung durch Sehen, Hören, sich Erinnern und Gewahrwerden

Jetzt kommen wir zu den vier Arten der Befreiung durch das Mantra. Tong bedeutet sehen, das ist die Möglichkeit, durch den Anblick des geschriebenen Mantras befreit zu werden. Das ist leider für uns wohl nicht der Fall, aber es gibt Berichte von Wesen, die allein durch den Anblick des Mantras Befreiung erreicht, das heißt, die Natur des Geistes erkannt haben. Andere haben durch das bloße Hören – tö Befreiung erlangt. Dann gibt es solche, die durch dren, das sich immer wieder Erinnern an das Mantra und das Gewahrbleiben befreit werden. Das ist das, was wir prak-tizieren. Oder sie werden durch rig, durch die Kenntnis, durch das Gewahrwerden, durch das tiefe Eindringen in das Verständnis des Mantras befreit. Es gibt auch noch eine fünfte Form, die hier nicht aufgeführt ist: das Berühren des Mantras.

Wenn wir jetzt praktizieren, stellen wir uns vor, dass der Klang des Mantras sich im ganzen Uni-versum verbreitet, dass das ganze Universum mitrezitiert, dass die Pflanzen den Mantra-Klang aussenden, die Erde, die Ozeane, die Tiere. Alles woran wir denken ist erfüllt vom Klang des Mantras. Diese Vorstellung bedeutet aber nicht, dass wir, wenn natürliche Klänge auftauchen – zum Beispiel wenn jemand neben uns hustet – daraus einen „Mantra-Klang“ machen müssen. Wir hören dann mit diesem tieferen Gewahrsein hin und schauen, ob wir uns bewusst werden können, was die Essenz dieses Klanges ist: nicht die oberflächliche Bedeutung, dass da jemand Husten hat, sondern die Essenz, dass es sich tatsächlich nur um Klangschwingungen handelt, die ihrerseits die Natur der Leerheit haben.

Was ich für die Klänge gesagt habe, gilt natürlich in gleicher Weise auch für die Formen. Nur vergaß ich zu sagen, dass – wenn wir unseren eigenen Körper als leere Form praktizieren, als Lichtkörper – dies natürlich für alle anderen Körper ebenso gilt und dass sich dieses Verständnis auf alle materiellen Formen auszuweiten beginnt. Wir sind uns der relativen Ebene bewusst, dass es sich hier tatsächlich um einen Tisch handelt, der verlässlich und stabil ist, der aber auf der letztendlichen Ebene keine bleibende Existenz hat; er besteht aus Elementen, die wieder ausei-nander gehen werden.

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Tug tong-nyi ngang lä ma-yö schin, dang mig-me nyingdje tschenpo yi, ma dro drug kün-la bu tar gong, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Unser Geist verlässt nie die Dimension der Leerheit und betrachtet mit der Strahlkraft großen Mitgefühls frei von Bezugspunkten alle sechs Arten von Lebewesen, unsere Mütter, als unsere Kinder. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Der nächste Satz heißt: Sein Geist oder „unser“ Geist verlässt nie die Dimension der Leerheit – darüber hatten wir eben schon gesprochen, dieses ständige Verweilen in der Erkenntnis der letztendlichen Dimension, der letztendlichen Wahrheit – und betrachtet mit der Strahlkraft großen Mitgefühls frei von Bezugspunkten alle sechs Arten von Lebewesen, unsere Mütter, als unsere Kinder.

Da haben wir wieder genau das gleiche Spiel der beiden Ebenen: Das große Mitgefühl frei von Bezugs-punkten ist ein nondualer Geisteszustand frei von Subjekt-Objekt, Ausdruck des ursprünglichen Gewahrseins. Darin gibt es gar keine Lebewesen. Da gibt es auch niemanden, der Mitgefühl hat und auch kein Objekt des Mitgefühls. Dieses nonduale Mitgefühl betrachtet dennoch alle Lebe-wesen als seine Kinder. Das ist die Fähigkeit des Buddhas, auf zwei Ebenen zugleich zu sein.

Wenn ein Buddha Wesen „als seine Kinder betrachtet“, dann hält er sich weder für die Mutter oder den Vater dieser Kinder, noch hält er die Kinder für wirklich existent. Das einzige, was ge-sehen wird, ist, dass es Geistesströme gibt, so genannte „Wesen“, die immer noch nicht erkannt haben, dass es kein Ich, kein Selbst gibt. Ein Buddha sieht dies zutiefst und in dem Moment, wo diese Erkenntnis in einem Geistesstrom auftaucht, wird auch erkannt, dass dies für alle Wesen gilt. Wir wissen in diesem Moment, dass kein Wesen einen solchen Wesenskern, ein Ich, ein Selbst hat. Daher kümmern sich die erleuchteten Wesen um nichterleuchtete Wesen in dem Be-wusstsein, dass es gar niemanden gibt, der sich um jemanden kümmert, und dass diejenigen, um die man sich kümmert, eigentlich auch nur offener Geistesraum sind. Aber von diesem offenen Raum sind sie getrennt aufgrund des Anhaftens an einem vermeintlichen Wesenskern, einem vermeintlichen Ich oder einer Seele.

Frage: Wenn man sich Tschenresi vorstellt, und in allen seinen Poren Buddhas und Bodhisattvas und reine Länder, kann man das dann so sehen wie Objekte auf der relativen Ebene, dass auch Tschenresi letztlich nur zusammengesetzt ist und von der Essenz her leer?

Antwort: Ja, das ist auf jeden Fall so. Den Tschenresi, den wir mit all diesen Buddhas und Bodhi-sattvas visualisieren, gibt es gar nicht. Er ist die Gesamtheit all dieser Buddha-Aktivität, aber als solchen gibt es ihn nicht. Wenn es einen Tschenresi gäbe, dann könnte die Aktivität gar nicht grenzenlos sein, weil die Anwesenheit eines Ich, einer Person namens Tschenresi, die grenzenlose Aktivität behindern würde. In diesem Fall würde ein Jemand ein Territorium besitzen, oder be-setzt halten.

Frage: Was ist der Unterschied zwischen Leerheit und Buddhanatur?

Antwort: Man kann von einem Blumentopf nicht sagen, er habe die Buddhanatur, aber er ist doch leer... Es handelt sich um eine Verwechslung. Leerheit und Buddhanatur sind nicht iden-tisch. Leerheit bedeutet, dass es kein bleibendes Selbst gibt, und Buddhanatur bedeutet, dass es in den Lebewesen all die Qualitäten gibt wie Mitgefühl, Liebe, Weisheit usw., die spontan vorhan-den sind.

Lasst uns jetzt zu den Worten des Textes zurückkehren: Tug tong-nyi – tong-nyi ist die Leerheit – und bedeutet gleichzeitig Fülle. Was für eine Fülle, das ist durch dieses Bild mit all den Buddhas und Bodhisattvas in jeder Pore von Tschenresis Körper deutlich gezeigt: Eine Fülle von Qualitä-ten, eine unendliche Manifestation von Aktivität und dennoch leer, ohne Wesenskern, keine Per-son ist da zu finden. Kurz darauf, im selben Vers, kommt das Wort ma-yö vor, was bedeutet, dass er diese Dimension der Leerheit nie verlässt. Ma-yö bedeutet unerschütterlich, wenn man es als Einzelwort übersetzt, und der einzige Samadhi, der wirklich unerschütterlich ist, ist der Vajra-

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Samadhi. Dieses Wort weist also darauf hin, dass Tschenresi im unzerstörbaren Samadhi der Buddhas verweilt.

Das Wort dang ist hier als Strahlkraft übersetzt. Das ist die enorme Kraft oder Aktivität, die aus dem Geist des großen Mitgefühls ausstrahlt und damit sind hier die vier Buddha-Aktivitäten ge-meint. Da haben wir als erstes die befriedende Buddha-Aktivität, dann als zweites die stimulie-rende oder vermehrende, bereichernde. Die dritte ist die magnetisierende oder kontrollierende, machtvolle Buddha-Aktivität, und die vierte ist die alles überwindende, die manchmal auch zorn-volle Buddha-Aktivität genannt wird. Ich ziehe den Begriff alles überwindende Aktivität für die vierte Aktivität vor, weil das tibetische Wort dragpo eigentlich heftige Aktivität bedeutet. Heftig in dem Sinne, dass sich nichts und niemand dieser Aktivität widersetzen kann, dass es keine Hin-dernisse gibt, die sich der Erleuchtung widersetzen können. Außerdem hat der Begriff zornvoll den Beigeschmack von Emotionalität, aber eigentlich geht es nur darum, dass die Buddha-Aktivität so intensiv werden kann, dass sich ihr nichts mehr entgegenstellen kann. Es ist also eine Intensitätssteigerung und nicht eine emotionale Steigerung.

Wir werden jetzt mit dem Mitgefühl frei von Bezugspunkten alle Wesen als unsere Kinder be-trachten. Das ist natürlich viel verlangt. Es gibt drei Formen von Mitgefühl. Die erste Form von Mitgefühl ist das Mitgefühl mit Bezugspunkten, wo wir vom Leid der Wesen berührt sind, ein Mitgefühl, das alle Wesen ohne Ausnahme einschließt. Die zweite Form von Mitgefühl ist das Mitgefühl in Hinblick auf die Tatsache, dass all diese Wesen daran leiden, dass sie die Natur des Geistes nicht verwirklicht haben. Das dritte Mitgefühl ist dasjenige ohne Bezugspunkte. An die-ser Stelle können wir darum bitten, dass sich uns dieses dritte Mitgefühl frei von Bezugspunkten auftut, und das Mitgefühl mit Bezugspunkten in uns nährt und stützt.

Dän pä kar dawa gyäpä teng Schab dordje’i kyilmo trung gi schug Tschog küntu ö kyi nagwä kyab Lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Wir weilen auf einem Sitz aus weißem Lotus und Vollmondscheibe, die Beine in Vajrahaltung und füllen alle Richtungen mit strahlendem Licht. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME

HUNG.

Den pä kar dawa gyäpä teng

– Wir weilen auf einem Sitz aus weißem Lotus und Vollmondscheibe.

Das weist auf den Sitz, auf die Basis hin. Der Sitz eines Buddhas, einer Meditationsgottheit ist das, worauf die gesamte Aktivität beruht, und pä kar – der weiße Lotus symbolisiert das Mitgefühl aller Buddhas. Man kann sagen, dass Tschenresi aus dem Mitgefühl aller Buddhas geboren ist. Dawa gyäpä – die Vollmondscheibe, der voll gerundete Mond, symbolisiert, dass Tschenresi über die geschickten Mittel des Mitgefühls in vollem Maße verfügt, dass er alle Methoden der Bud-dhas, alle Methoden, die es überhaupt gibt, einsetzen kann, um den Wesen zu helfen. Die beiden gehören also zusammen: der Lotus, das erleuchtete Mitgefühl aller Buddhas, dem das Bestreben innewohnt, sämtliche Möglichkeiten zu nutzen, um den Wesen zu helfen, und die Mondscheibe, die jeweils geeigneten Methoden, die sich dank dieser Suche nach den Möglichkeiten auftun.

Schab dordje’i kyilmo trung gi schug

– die Beine in Vajra-Haltung

Dies steht dafür, dass er in der Haltung des Buddha, der vollkommenen Erleuchtung sitzt, und das völlige Verschränktsein der Beine bedeutet, dass er nie den Dharmakaya verlässt, er weilt in einer unwandelbaren Dimension.

Tschog küntu ö kyi nagwä kyab

– und füllen alle Richtungen mit strahlendem Licht.

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Das Licht hier ist wiederum seine Buddha-Aktivität, die in alle Richtungen, in alle Bereiche des Universums ausstrahlt.

Was hier nicht erwähnt ist, ist die Mondscheibe, die normalerweise hinter seinem Rücken steht und seine Reinheit spiegelt, die makellose Reinheit seiner Aktivität, die Ausdruck von makellosem Mitgefühl und Weisheit ist. Eine andere Erklärung, die ich zu dieser Mondscheibe erhielt, war, dass sie die tiefe Versenkung in grenzenloses Glück symbolisiert.

Antwort auf die Frage, warum es da keine Sonne gibt: In der tantrischen Symbolik weist der Sitz auf die Hauptaktivität des Yidams hin. Hier ist die Hauptaktivität das erleuchtete Mitgefühl und deshalb haben wir einen Mondsitz. Ein Sonnensitz stünde für Weisheitsaktivität.

3a. Einladung der Gewahrseinswesen

Nä sum-du OM kar AH marpo, HUNG ting-gä yige säl la tser, dön dordje sum gyi ngowor dsog, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

An den drei Stellen sind die Silben: OM – weiß, AH – rot und HUNG – blau, klar und funkelnd, vollkommen als die Natur der wahren drei Vajras. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PAD-ME HUNG.

Das weiße OM an der Stirn steht für den erleuchteten Körper, das rote AH an der Kehle steht für die erleuchtete Rede und das blaue HUNG im Herzen für den erleuchteten Geist. Diese Sil-ben befinden sich nicht etwa in der Haut, denn es ist ja ein Lichtkörper, der gar keine Haut hat. Wir visualisieren sie einfach im Zentrum unseres Lichtkörpers, wobei das blaue HUNG im Her-zen etwas tiefer steht als das weiße HRI auf dem Lotus, dem Zentrum von Tschenresis Aktivität.

Dön dordje sum – die wahren drei Vajras bezieht sich auf Körper, Rede und Geist eines Buddhas. Das bedeutet, dass die jetzt folgende Einladung der Gewahrseinswesen von Körper, Rede und Geist der Meditationsgottheit ausgeht. Jetzt, an dieser Stelle, brauchen wir nur die Silben zu vi-sualisieren, es gibt noch keine Aktivität auszuführen – wir visualisieren sie klar und funkelnd. Mit funkelnd – tser ist gemeint, dass die Silben vibrieren, und dass wir zugleich mit ihrer äußeren, vib-rierenden Form auch ihren Klang wahrnehmen. Form und Klang gehen immer zusammen, wenn wir Silben oder Mantren im Vajrayana visualisieren. Wir setzen nicht einfach bloß irgendwo tote, leblose Buchstaben hin, diese Buchstaben sind immer Ausdruck der Aktivität des erleuchteten Geistes.

Tug dangmä sog lä öser trö, yesche kyi sempa tschar tar bab, yesche kyi sempa tschar tar bab, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Vom Herzen, strahlende Vitalität, gehen Lichtstrahlen aus, Helden zeitlosen Gewahrseins strömen wie Regen herab und verschmelzen untrennbar in den Ausdruck von Samaya. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfüh-lenden: OM MANI PADME HUNG.

Tug dangmä sog lä öser trö

– Vom Herzen, strahlende Vitalität, gehen Lichtstrahlen aus

Tug haben wir zunächst noch übersetzt als Geist, aber hier ist mehr das Herzzentrum gemeint, weil tug eben auch Herz bedeutet. Dangmä sog: Sog ist die Vitalität und dangma ist die Strahl-kraft dieser Herzensenergie, dieser vitalen Energie. Dangmä sog zusammen ist die Bezeichnung für die Keimsilbe HRI, die Silbe der Vitalität oder der Essenz von Tschenresi. Ohne Erklärung kann man das nicht wissen. Wir visualisieren hier also eine zusätzliche Silbe HRI, die über der Silbe HUNG steht, die wir schon gesehen haben. Von dieser Silbe und den anderen drei Silben gehen dann die Lichtstrahlen aus und laden die Weisheitswesen ein.

Yesche kyi sempa tschar tar bab

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– Helden zeitlosen Gewahrseins strömen wie Regen herab

Das ist nicht falsch, wird aber wohl geändert werden. Yesche ist das ursprüngliche, zeitlose Ge-wahrsein, und sempa ist hier im Tibetischen nicht geschrieben wie sonst, mit einem einfachen pa, sondern mit dpa, das Held bedeutet. Dabei handelt es sich um die Gewahrseinswesen, also Bud-dhas in Lichtform, die genauso aussehen wie Tschenresi, die in einem Segensregen in die Visuali-sation eintreten, und die Visualisation von uns selbst als Tschenresi segnen.

Damtsig gi tschag gyar yerme tim

– und verschmelzen untrennbar in den Ausdruck von Samaya.

Damtsig bedeutet Samaya. Tschag gyar bedeutet eigentlich Mudra oder Ausdruck von Samaya. Der Ausdruck unseres Samaya, von dem wir hier sprechen, ist unsere Visualisation von uns selbst als Buddha Tschenresi, die wir jetzt gerade ausgeführt haben. Diese Visualisation können wir ausführen, weil wir sie während der Tschenresi-Ermächtigung übertragen bekommen haben, wo uns der Lama erlaubt und gezeigt hat, uns selbst als Tschenresi zu visualisieren und dadurch den Weg zur Erleuchtung zu gehen.

Unser Samaya besteht darin, es auch tatsächlich zu tun. Wir sind eine Verpflichtung eingegangen, den Weg zur Erleuchtung tatsächlich zu beschreiten und die Methode, die uns gezeigt wurde – uns selbst als Tschenresi zu visualisieren – wirklich auszuführen. Deswegen spricht man von die-ser Visualisation als Mudra, als Geste oder Ausdruck unseres Samaya.

Man könnte auch einfach schreiben: Ein Segensregen von Buddhas verschmilzt mit der Visualisation. Das würde jeder verstehen. Aber die Helden ursprünglichen Gewahrseins, die in unsere Visualisation verschmelzen, sind nicht unsere eigene Produktion, sondern sie sind das ursprüngliche Ge-wahrsein, die zeitlose Dimension. Aus dieser Dimension findet jetzt so etwas wie eine erneute Ermächtigung von dem statt, was wir auf der relativen Ebene durch unsere Visualisation selbst im Geist erzeugt haben. Diese Visualisation heißt Mudra, weil jede Mudra, jede Geste Ausdruck von etwas ist, was innen in uns vorgeht. Es wird etwas nach Außen gebracht. Eine geistige Bewe-gung, eine geistige Haltung wird durch die Mudra äußerlich sichtbar. So ist auch unsere Visualisa-tion eine Veräußerlichung dessen, was in uns stattfindet.

F: Ist das also jetzt der Samaya, den wir in der Einweihung bekommen haben?

A: Ja. Der Samaya besteht darin, die Methode, die wir in der Ermächtigung bekommen haben, tatsächlich auch anzuwenden – was wir getan haben, indem wir die Visualisation ausgeführt ha-ben. Aber jetzt bitten wir darum, dass dieses künstliche Produkt unseres Geistes gesegnet wird durch die Dimension ursprünglichen Gewahrseins, in der sie auch entstanden ist.

Es ist wichtig zu verstehen, dass alle Visualisationen nie ein Kunstprodukt des Geistes waren, nie erfunden wurden von einem Lehrer wie Karmapa, aus pädagogischen Gründen, etwa als ge-schickte Mittel, um Wesen anzuleiten. Alle Visualisationen beruhen auf echten Visionen, die sich ohne Zutun und manchmal sogar trotz des Geisteszustandes eines Praktizierenden eingestellt haben. Weil es sich um Manifestationen handelt, die aus dem ursprünglichen Gewahrsein kom-men, zeigen diese Visionen dem Lehrer eine weitere Möglichkeit, den Wesen zu helfen. Dann haben diese Lehrer ihre Visionen den Schülern kommuniziert, damit sie diese Visualisationen ausführen können, um den Weg in das erleuchtete Gewahrsein zu finden. Diesen wichtigen Pro-zess im Vajrayana müssen wir gut verstehen.

F: Wer entscheidet, was man von diesen Visionen als authentisch annimmt und dann praktiziert?

A: Was den vierarmigen Tschenresi angeht, ist es ganz einfach, weil er sich viele, viele Male in Visionen manifestiert hat, und alle Hauptmeister der Mahamudra-Linie übereinstimmend Tschenresi in dieser Form wahrgenommen haben. Sie haben auch andere Visionen gehabt: Tschenresi hat nicht nur eine Form, sondern kann sich auch rot, vierarmig mit Yum manifestie-

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ren, oder auch zweiarmig, stehend, weiß ... es gibt sehr viele verschiedene Visionen von ihm. Eine Vision ist von dem Moment an authentisch, wo ein Meister sie frei von Ich-Anhaften erfahren hat. Es kann sein, dass ähnliche oder identische Visionen auch bei anderen Meistern auftauchen. Es gibt tatsächlich bestimmte Visionen, zum Beispiel von der grünen Tara, die so häufig und so übereinstimmend aufgetreten sind, dass sie hundertfache, tausendfache Bestätigung erfahren ha-ben. Andere Visionen gab es nur einmal und drücken eine spezifische Aktivität der Buddhas aus.

Ich habe Euch von Jamgön Kongtrül Lodrö Thayé und seinen Freunden erzählt, die eine füh-rende Rolle in der Rime Bewegung in Tibet hatten, mit dem Ziel, alle bestehenden Übertragungs-linien zu bewahren. Da ging es genau darum, dass viele dieser Visionen, mitsamt den Methoden, den Kommentaren und kleinen Texten, Praktiken und Mantren, die sich daraus entwickelt hatten, in Gefahr waren, verloren zu gehen. Denn es gab nur ganz wenige oder einzelne Meister, die diese kleinen Praktiken unterrichtet hatten und die Generationen der Schüler verbreiteten sie nicht so weit, dass diese Praktiken allen zugänglich waren. Diese „Werkzeuge“ waren dabei zu verschwinden. Daher versuchte die Rime Bewegung, alles zu sammeln, was an diesen Visionen, Methoden, Texten und Praktiken zu finden war, in der Absicht, so zu handeln wie jemand, der alle Handwerkszeuge eines bestimmten Metiers bewahren möchte.

Es ist klar, dass wir als Schreiner, auch wenn wir eine hervorragend ausgestattete Werkstatt ha-ben, unsere Alltagsarbeiten mit den zehn wichtigsten Werkzeugen ausführen – Hammer, Säge, Zange usw. Es kann sein, dass wir von unserem Werkzeugschatz einige Werkzeuge zwanzig, dreißig Jahre lang nicht brauchen, weil die Situation nicht auftritt, wo gerade dieses Werkzeug nützlich ist. Wir werden deswegen auch unseren Lehrlingen wohl kaum erklären, wie man es be-nutzt. Aber man will trotzdem alle Werkzeuge behalten, weil es mal geschehen kann, dass dieses Werkzeug jetzt genau für diesen Lehrling und diese Situation das Richtige und das Allerbeste ist und kein anderes. Ebenso möchte ein Bodhisattva sich mit vielen Methoden zu befassen, um sie anderen zur Verfügung stellen zu können. Ansonsten reicht es, wenn man sich mit den Haupt-werkzeugen befasst, die erprobt sind, und mit denen man mit Leichtigkeit seinen Weg gehen kann.

3b. Ermächtigung

Lar ö trö wang lha tschändrang nä, wangkur sching drib dag yöntän dsog, päl nangwa tayä u-la gyän, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Erneut strahlt Licht aus und lädt die Ermächtigungsgottheiten ein. Ihre Ermächtigung reinigt die Schleier, ver-vollkommnet die Qualitäten und der segensreiche Amitabha krönt das Haupt. Wir beten zur Gottheit, dem Gro-ßen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Warum visualisieren wir jetzt noch Ermächtigungsgottheiten, wo wir eben schon Gewahrseins-wesen hatten? Es handelt sich um zwei Stufen: In einem ersten Schritt haben die Gewahrseinsas-pekte unsere Visualisation gesegnet und dadurch ist sie authentisch geworden. Wir sind dadurch sozusagen wirklich im Zustand von Tschenresi. Als nächstes ermächtigen uns die Erleuchteten, die Aktivität eines Buddhas tatsächlich auszuführen. Das ist die eigentliche Initiation.

Die Ermächtigungsgottheiten sind hier vertreten durch die fünf Tathagatas, die fünf Dhyani-Buddhas. In der ganz einfachen Version stellen wir sie uns als identische Buddhas vor, die in Meditation verweilen so wie Buddha Shakyamuni. Wer weiß, wie die fünf Dhyani-Buddhas aus-sehen, darf sie natürlich visualisieren. Wer sie nicht kennt, braucht sich jetzt nicht mit den Details abzugeben. Die fünf männlichen Buddhas bleiben im Samadhi und segnen uns durch ihre Medi-tation. Die fünf weiblichen Aspekte, die Gefährtinnen, sind hier die Aktiven, sie gießen alle fünf zugleich aus ihren Vasen Ermächtigungsnektar in uns hinein. Wir stellen uns vor, dass dieser Nektar alle Schleier reinigt. Das ist die Phase der Reinigung – sang, und dadurch kommen alle Qua-

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litäten vollständig zum Vorschein – gyä3. Wir werden dadurch zu einem sang-gyä, zu einem voll-kommenen Buddha. Buddha bedeutet, dass wir vollkommen in der Lage sind, den Wesen zu helfen, und damit auch den Auftrag haben, dies zu tun.

Der Nektar füllt uns ganz und gar, bis er oben aus der Brahmaöffnung austritt und zu Amitabha wird. Amitabha stellt unseren Wurzellama dar, und symbolisiert, dass alle Buddhas der Vergan-genheit, Gegenwart und Zukunft einen Lehrer hatten. Buddhas hatten Lehrer in früheren Leben, bevor sie sich dann in einem Leben als Buddhas manifestieren, und selbst in diesem Leben haben sie noch Lehrer, die sie einen Teil des Weges begleiten. Das zeigt uns, dass alle Qualitäten vom Lehrer kommen, dass ohne die Übertragung, die Erklärungen, die Hilfe auf dem Weg nichts möglich wäre. Der Weg aus Samsara wäre nicht zu finden.

Amitabha ist rot, trägt die drei Mönchsroben und hält die Bettelschale in seinen beiden Händen, die in der Meditationsgeste ruhen. In der Almosenschale befindet sich der Unsterblichkeitsnektar. Unsterblichkeitsnektar ist gleichbedeutend mit dem Nektar des ursprünglichen Gewahrseins, der ungeborenen Weisheit, die weder Anfang noch Ende kennt, oder dem Dharmakaya. Das heißt, in dem Moment, in dem der Dharmakaya verwirklicht wird, ist Unsterblichkeit erreicht. Es ist nicht die Unsterblichkeit des Körpers gemeint.

Wir sollten auch verstehen, dass wenn gesagt wird „der Dharmakaya wird verwirklicht“, hier in Wirklichkeit das Erlangen der Buddhaschaft gemeint ist. Es stimmt zwar, dass der Dharmakaya bereits beim ersten Sehen der Natur des Geistes erkannt wird, aber die volle, umfassende Ver-wirklichung des Dharmakaya, wo auch die letzten Schleier noch gereinigt werden, ist der Mo-ment, indem wir in die Buddhaschaft eintreten.

Wir sind also jetzt ein vollständiger Buddha geworden mit Buddha Amitabha über unserem Kopf als Symbol dafür, dass wir jetzt voll ermächtigte Buddhas sind. In diesem Gewahrsein meditieren wir jetzt.

Noch eine kleine Bemerkung: Wir sind als Sambhogakaya-Buddha Tschenresi gekrönt von einem Nirmāṇakāya-Buddha Amithaba, der Mönchsroben trägt genauso wie Shakyamuni-Buddha. Das bedeutet, dass nichts einen in der Welt manifesten Buddha als Lama übertrifft, dieser ist der beste Lehrer.

4a. Verbeugungen

Tschir dro drug kün-la bu tar tse, gö gangtschän dro-la lhagpar gong, gön tschänräsi-la tschag tsäl-lo, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG

Du liebst alle Wesen wie deine Kinder und schenkst insbesondere den Bewohnern des Landes des Schnees deine Aufmerksamkeit. Wir verbeugen uns vor dem Schützer Tschenresi. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfüh-lenden: OM MANI PADME HUNG.

Die nächste Zeilen werden von Opfergöttinnen gesungen, die spontan entstehen und sich hier zunächst einmal verbeugen und dabei diese Verse singen.

Bu tar bedeutet eigentlich, so wie einen einzigen Sohn. Wenn eine Frau in Asien nur ein einzigen Kind hat, ist – wie überall – die Liebe und auch die Anhaftung natürlich besonders groß. Wenn es darüber hinaus dann auch noch ein Sohn ist, dann ist sie noch stärker. Es ist einfach die stärks-te Form von Hinwendung. Es heißt zusätzlich auch, dass Tschenresi nie aufhören wird, sich für seine Kinder in allen Bereichen zu manifestieren, dass er die Wesen aus den niederen Bereichen befreien und stets den Dharma in den höheren Bereichen lehren wird. Tschir bedeutet die allge-meine Aktivität von Tschenresi und gö ist seine besondere Aktivität.

3 Rgyas pa: vollkommen werden, voll werden, wachsen

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Der Hinweis auf die Bewohner von gangtschän, dem Land des Schnees (Tibet) geht auf Prophe-zeiungen von Shakyamuni zurück, der wusste, dass der Dharma nicht in Indien bleiben würde, sondern sich in anderen Ländern verbreiten würde, um bewahrt zu bleiben. Er sagte, dass Tschenresi sich besonders in Tibet manifestieren würde, und dass viele Tibeter durch ihn Befrei-ung erlangen würden. So hat sich Tschenresi in Tibet in der Form von Königen, Ministern, Übersetzern, Yogis, Gelehrten und verschiedenen Meister manifestiert, aber auch als Jungen und Mädchen, Männer und Frauen, die unerkannt im Stillen gewirkt haben. Guru-Rinpoche, der erste große Lehrer, der den Dharma in Tibet verbreitet hat, sagte den Tibetern sogar: „Tschenresi ist Euer Yidam. Er ist die Meditationsgottheit, die für das ganze Land passend ist – praktiziert also besonders diese Art der Meditation.“

Diese Zeilen werden also von den Opfergöttinnen gesprochen, die bezeugen, dass wir vollkom-mene Buddhaschaft erlangt haben. In jeder Sitzung gehen wir wieder durch diesen Prozess: Wir erlangen der Buddhaschaft und dies wird dann durch andere Wesen bezeugt. Wir können natür-lich auch männliche Wesen visualisieren, die sich verbeugen und diese Preisung sprechen.

4b. Opferungen

Gyu ngö-su schampä tsön djä te, kyen ting-nge dsin gyi nam trülpä, sagme kyi tschö trin gyamtso bül, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG

Vertreten durch die tatsächlich aufgestellten Gaben, bringen wir mittels tiefer Meditation makellose Ozeane von ausgestrahlten Opferwolken dar. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME

HUNG.

Vertreten durch die tatsächlich aufgestellten Opfergaben, die als Basis dienen, opfern wir in tiefer Meditation makellose Ozeane von ausgestrahlten Opferwolken. Gyu bedeutet Basis, Ursache. Die Grundlage für unsere geistigen Opferungen sind die Opferungen, die tatsächlich vorhanden sind. Freigebigkeit kann sich nicht nur im Geiste vollziehen, sie muss sich auch in der konkreten Wirk-lichkeit ausdrücken. Egal, wie gering die Opferungen sind, aber Freigebigkeit kann nicht nur eine virtuelle Geisteshaltung bleiben – ich stelle mir vor, dass... Sie muss sich auch in Handlungen ausdrücken, und wenn man nur eine Blume pflückt, um sie den Buddhas zu opfern. Einmal zün-dete ein Bodhisattva ganz einfach einen Strohhalm an und brachte ihn als Lichtopfer an den Buddha dar, vor dem er das Bodhisattva-Gelübde ablegte. Das reicht, aber es ist notwendig, da-ran zu denken und Freigebigkeit konkret zu praktizieren.

Das Wort kyen im zweiten Vers bedeutet Bedingung. Die zusätzliche Bedingung unserer tiefen Meditation bewirkt dann, dass die Freigebigkeit, die äußerlich zum Ausdruck kam, ausgeweitet und unermesslich wird, wie es die Opfergöttinnen hier rezitieren, und was wir uns jetzt in der Praxis vorstellen.

4c. Preisungen

Tab scherab tschog-la nga nye sching, päl yesche yöntän sam mi-kyab, gön tschänräsi-la güpä tö, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG:

Du hast die höchste Methode und Weisheit gemeistert und besitzt die unvorstellbaren Qualitäten zeitlosen Ge-wahrseins – hingebungsvoll preisen wir dich, Schützer Tschenresi. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfüh-lenden: OM MANI PADME HUNG.

Tab ist Methode und scherab ist Weisheit. Tab sind die Mittel, die die Wesen befreien als Aus-druck des Mitgefühls, und scherab ist das Wissen darum, wie diese Mittel anzuwenden sind, wo-hin es damit geht und was dabei auch zu vermeiden ist. Der gesamte Weg zur Erleuchtung voll-zieht sich über das Zusammenspiel von Mitgefühl mit seinen Mitteln und scherab, dem tiefen

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Wissen um Erleuchtung und um das geschickte Anwenden dieser Mittel. Nur Methode ohne Weisheit führt in die Irre, und nur Weisheit hat keine Methode, um Wesen zu helfen. Die beiden müssen zusammenkommen und sind als solches der gesamte Weg.

Yesche ist wieder das ursprüngliche, zeitlose Gewahrsein. Pal ist segensreich, strahlend oder glorreich; das bedeutet einfach, dass es total überwältigend ist, was von diesem ursprünglichen Gewahrsein ausstrahlt. Es sind yöntän – Qualitäten, die vom Geist gar nicht erfasst werden können, die sam mi-kab –unvorstellbar sind, die sich in jeder Situation neu manifestieren, Qualitäten, die sich als Antwort auf die jeweiligen Bedürfnisse der Wesen zeigen. Deswegen wird Tschenresi gön ge-nannt, der Schützer aller Wesen, der tö – gepriesen wird, mit güpa –Respekt oder Hingabe.

Während der Praxis tun wir zweierlei Dinge: wir stellen uns vor, das diese Preisungen ausgeführt werden, und zugleich stellen wir uns vor, dass diese Qualitäten gegenwärtig sind.

5a. Mantraphase, allgemeine Visualisation

Tug pä-kar dab drug tewar HRIH, dabma nam yige drug-pä tsän, ngag rang dra drog sching öser bar, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG

Im Herzen ist in der Mitte eines sechsblättrigen weißen Lotus ein HRIH, dessen Blütenblätter mit den sechs Silben gekennzeichnet sind. Das Mantra ertönt mit seinem Klang und verströmt strahlendes Licht. Wir beten zur Gott-heit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Tug ist wieder: im Herzen, wo sich in der Mitte eines sechsblättrigen weißen Lotus ein HRIH befindet. Falls ihr etwas auf Tibetisch visualisieren wollt, ist HRIH die wichtigste Silbe; damit könnt ihr anfangen. Es ist die zentrale Keimsilbe von Tschenresi, die sich in der Mitte auf der flachen, kreisförmigen Mondfläche in der Mitte des Lotus befindet. Die Lotusblätter stellt man sich ein bisschen gewellt vor und sie öffnen sich in die sechs Richtungen hinein. Auf diesen sechs weißen Blütenblättern befinden sich dann die restlichen Silben des Mantras, in den Farben, wie sie später beschrieben werden, und von jeder Silbe geht ihr eigener Klang aus, was zusammen OM MANI PADME HUNG ergibt. Dieser Klang geht ununterbrochen vom Mantra aus und gleichzeitig auch fünffarbiges Licht. Fünffarbig deswegen, weil Blau zweimal vorkommt, einmal ein etwas helleres für das PÄ und das ganz dunkle Blau für das HUNG.

Die Visualisationen haben den Sinn, dass wir in die Sichtweise der Buddhas hineingehen. Des-halb müssen wir sie wirklich ausführen. Es geht darum, sich mit ihnen zu beschäftigen, um all-mählich einen Geschmack zu bekommen, wie der Erfahrungsbereich der Buddhas tatsächlich ausschaut. So finden wir allmählich in ihre Rede, die mantrische Rede, die Vorstellungen im Geist, die Visualisationen und in ihr Bewusstsein hinein.

5b. Mantraphase zur Segnung von uns selbst

Ngag däpä kyen gyi külwa lä, HRIH yig gi ö kyi pagpa tschö, djin lab kün tsur dü dag-la, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG

Stimuliert durch das Licht der Mantrarezitation bringt Licht von Silbe HRIH den Edlen Opferungen dar, kehrt mit all ihrem Segen zurück und verschmilzt mit uns. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM

MANI PADME HUNG.

Unser Rezitieren des Mantras stimuliert die Silbe HRIH, die Herzensenergie von Tschenresi. Aus der stimulierten Herzensenergie, symbolisiert durch die Silbe HRIH, strahlt dann Licht zu den Edlen aus, das sind alle Buddhas und Bodhisattvas, die die Natur des Geistes verwirklicht haben, und bringt ihnen Opferungen dar.

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Die Opferungen bewirken, dass die Buddhas angeregt werden, ihrerseits Licht auszustrahlen. Man kann sich vorstellen, dass das Licht, was von Tschenresi ausgeht, beladen mit Segen wieder zurückkommt. Tsur heißt zurückkommen und dü heißt verschmelzen, dag – mit uns, d.h. mit der Silbe HRIH und dem Mantra in unserem Herzen. Wir können lange Zeit in dieser Visualisation verweilen, den Segen zutiefst in uns aufnehmen, bis wir voll und ganz von ihm durchdrungen sind. Das ist genauso wie im Lodjong bei der Tonglen-Praxis, wo wir mit uns selbst anfangen, bis wir völlig angefüllt sind mit Segen, uns wohl fühlen in unserer Haut und völlig sicher fühlen, dass wir Tschenresi sind. Dies ist die Phase der Aktivität, die uns selbst mit Segen füllt. An dieser Stel-le können mehr Malas als üblich gemacht werden.

5c. Mantraphase zur Segnung aller Wesen: die Reinigung der sechs Bereiche

Götter

OM karpo lha yi yül-du trö, gyü nga-gyäl po tung dug-ngäl djang, dön nyam-nyi yesche ngön-du gyur, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Das weiße OM strahlt in den Bereich der Götter, reinigt ihren Geistesstrom, mit Stolz und dem Leid des Über-ganges und Absturzes, und das letztendliche Gewahrsein der Gleichwertigkeit offenbart sich. Wir beten zur Gott-heit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Hier strahlt das Licht direkt vom OM aus. Es gibt aber auch eine Visualisation, wo erst das HRIH Licht aussendet, das OM stimuliert, und das OM reagiert darauf. Es wird zum Leben er-weckt und sendet dann Buchstaben aus, lauter OM’s, die dann die Aktivität von Tschenresi aus-führen.

Gyü – unser Geistesstrom, d.h. der von allen Wesen, nicht nur der von den Göttern, wird von nga-gyäl – dem Stolz, auf Tibetisch: „Ich-König“, beherrscht. Das ist das Gefühl „Ich bin der Beste“ und geht einher mit Leid, wenn sich dieser Zustand po – ändert, d.h. in etwas Anderes übergeht, und dann mit tung – dem Absturz von meinem Elfenbeinturm endet. Dann ist dug-ngäl – Leid die Folge und diese Leid wird aufgelöst durch die Aktivität des OM.

Yesche – das letztendliche, ursprüngliche Gewahrsein offenbart sich hier unter seinem Aspekt der Gleichwertigkeit. Das ist eine Gleichheit auf dem Niveau der Essenz. Alle Wesen sind sich gleich, weil es nirgends ein Ich zu finden gibt, weil alle Wesen leer von einer Essenz sind – genauso auch alle Phänomene, alles, was auftaucht. Alle Phänomene sind ohne jegliche Essenz und deswegen nyam-nyi – gleichwertig. Es gibt kein Phänomen, das besser oder schlechter ist hinsichtlich der Essenz. Eine Gleichwertigkeit in Bezug auf die Wesen besteht auch, weil alle die Buddhanatur haben. Aber hier ist es wirklich im tiefsten Sinne verbunden mit der Leerheit.

F: Wie sollen wir uns die Götter vorstellen?

A: Ihr braucht Euch nicht vorzustellen, dass es irgendwo Götter gibt. Die Götterbereiche, was die Begierdegötter angeht, sind einfach Lichtkörperexistenzen, die sich an Sinnesfreuden erfreuen und was den Formbereich angeht, sind es Geistesströme, die in Samadhi-Zuständen verweilen, aber nicht über die Weisheit verfügen, welche die Ich-Illusion auflöst.

Halbgötter

MA djan-gu karpo lha-min yül-du trö, gyü tradog tab tsö dug-ngäl djang, dön dja-drub yesche ngön-du gyur, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Das grüne MA strahlt in den Bereich der Halbgötter, reinigt ihren Geistesstrom, mit Neid und dem Leid des Kampfes und Streites, und das letztendliche allvollendende Gewahrsein offenbart sich. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

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Von jetzt an wiederholt sich dasselbe Schema für die anderen Daseinsbereiche. MA djang-gu –das grüne MA, strahlt zu allen Wesen aus, die von Neid und Eifersucht gepeinigt sind, nicht nur zu den Halbgöttern. Diese werden zwar auch schon zu den Göttern gezählt, sind aber in ständigem Kampf mit den wirklichen Göttern, die ihnen an Kraft und Freuden überlegen sind, da sie alles besser, größer und schöner haben: die typische Situation von Neid und Eifersucht.

Wenn Neid und Eifersucht vorhanden sind, ist klar, dass es zu Ärger kommt, zu aggressiven Ge-fühlen, zu Wut mit all dem Leid des Kampfes und Streites, das aus der Rivalität, der Eifersucht entsteht. Dies wird gereinigt durch die Aktivität des Mantras und das letztendliche allvollendende Gewahrsein offenbart sich. „Allvollendet“ nicht, weil es etwas tut oder bewirkt, was noch nicht da wäre, sondern weil es die Tatsache, dass alles schon vollendet ist, sieht. Es ist das Gewahrsein, das bemerkt, dass es nichts zu tun gibt. Das ist so, als wenn wir aus dem Traum der Neid und der Eifersucht erwachen und plötzlich merken: Es ist alles in Ordnung. Ich kann mich entspannen. Es gibt nichts zu tun. Aber solange ich noch voller Neid, Eifersucht und Rivalität bin, gibt es ständig etwas zu tun.

F: Geht gleichzeitig noch das weiße Licht von der Silbe OM aus?

A: Wir bleiben nur bei dem MA, wir brauchen nicht mehr an das OM zu denken. Wir haben auch da die beiden Möglichkeiten: Entweder geht das Licht vom HRI aus, welches das MA stimuliert, welches dann Silben aussendet, oder das MA schickt einfach von allein Licht aus.

F: Wo soll ich mir das OM vorstellen?

A: OM ist vor uns, die Silbe auf dem vordersten Blatt.

F: (nicht verständlich)

A: Es ist immer dasselbe ursprüngliche Gewahrsein, von dem die Rede ist, und wir brauchen uns nicht anzustrengen, irgendetwas zu machen, um diesen Unterschied in den Facetten des ur-sprünglichen Gewahrseins zu praktizieren. Wir lassen einfach los in die tiefste Natürlichkeit hin-ein, die uns möglich ist.

F: Die Silben sind auf den Lotusblättern, das HRIH in der Mitte. Wohin geht das Licht der ein-zelnen Silben?

A: Das Licht geht in alle Richtungen. Auch nach unten.

Menschen

NI serpo mi yi yül-du trö, gyü tetsom dräl pong dug-ngäl djang, dön rangdjung yesche ngön-du dje, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Das gelbe NI strahlt in den Bereich der Menschen, reinigt ihren Geistesstrom, mit Zweifeln und dem Leid von Geschäftigkeit und Armut, und das letztendliche selbsterscheinende Gewahrsein offenbart sich. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Mi sind die Menschen und das NI reinigt dort gyü – ihren Geistesstrom, von tetsom – Zweifeln, und das ebenfalls nicht nur bei den Menschen, sondern auch in allen anderen Daseinsbereichen. Die Zweifel, von denen hier die Rede ist, sind nicht die ganz normalen, ungeklärten Fragen, die wir stellen, um genauer zu verstehen, sondern das sind die Zweifel, die die neurotische Abwehrten-denz unserer Ich-Bezogenheit darstellen. Es sind die Zweifel, die selbst das, was wir schon ver-standen haben, immer wieder in Frage stellen, und uns so daran hindern, das Verstandene umzu-setzen. „Ist es wirklich möglich, sich zu ändern? Klar, die Lehrer, Meister inspirieren mich...aber, aber, aber...“ Dieses Aber, das dann noch intellektuell mit Argumenten unterlegt wird, ist genau das, was wir Zweifel nennen, und ist eines der wichtigsten Hindernisse auf dem Weg zur Erleuch-tung.

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Jemand, der wirklich intelligent ist, weiß, wie er seine Fragen klären kann, wie Zweifel aufgelöst werden können. Er weiß, wie er vorgehen muss, wen er fragen muss, welche Handlungen er aus-führen muss, welche Praktiken, um diese oder jene Fragen zu klären. Wer sich jedoch hinter sei-nen Zweifeln versteckt und aus dem Zweifeln nicht mehr herauskommt, wie die großen Kritiker, die sich nie zu irgend etwas bekennen können, nie auf etwas einlassen können, immer nur vage Standpunkte vertreten können und grundsätzlich den Standpunkt des Anzweifelns einnehmen, das sind Menschen mit mangelnder Intelligenz. Im Dharma finden wir das eingeordnet unter Unwissenheit oder Ignoranz. Es sind Zeichen der Dummheit.

Um Beispiele zu geben, wie sich solche Dummheit anfühlt und aussieht – nehmen wir einmal an, wir hätten die Erfahrung gemacht, dass starker Ärger in einem Moment plötzlich fort ist. Diese Erfahrung war erstaunlich und sie ist sehr einfach. Zweifel bedeutet, diese Erfahrung in Frage zu stellen und zu sagen: Vielleicht war es ja gar keine richtige Emotion? Vielleicht war ich ja auch nur abgelenkt? Vielleicht ist sie ja noch irgendwo? Und dann geht uns diese einfache Erfahrung, die eine sehr gute Basis ist, um weiterzuarbeiten und vielleicht herauszufinden, dass es mit ande-ren Emotionen genauso sein könnte, verloren, weil wir die so einfache Erfahrung durch unsere komplizierte Betrachtung in Frage stellen.

Das Gleiche passiert uns oft mit Hingabe: Wir erleben Momente von Öffnung oder Hingabe gegenüber einem Lehrer oder einer Unterweisung, aber dann kommen die Zweifel: „Ach, das kann doch gar nicht sein, das sind doch nur Projektionen, darauf werde ich mich doch nicht ein-lassen.“ Der Moment der Hingabe geht im Strom der zweifelnden Gedanken wieder verloren und kann nicht dazu führen, dass eine weitere Öffnung stattfindet.

Eine andere Form von Zweifel, die wir alle kennen ist, dass wir bereits Erkanntes nicht umset-zen. Ein Verständnis ist bereits entstanden, eine Weisheit ist aufgeblüht, aber wir ziehen keine Konsequenzen daraus. Wir haben z.B. verstanden, dass es sinnvoll ist, nicht mehr zu lügen. Wir haben uns sogar entschieden, das in unserem Leben nicht mehr zu tun. Und dann geschieht es, dass wir diese auf Verständnis beruhende Entscheidung nicht ausführen, dass wir uns nicht ganz darauf einlassen. – Was ist genau passiert zwischen dem Verständnis, ich müsste mein Leben ändern, und dem Nichtausführen dieser Erkenntnis? Da schleichen sich kleine Gedanken ein und sagen: „Ist nicht so wichtig. Brauche ich doch nicht. Kann warten.“ Dieser kleinen Gedanken sind wir uns oft nicht bewusst. Diese Gedanken sind Zweifel, unnötige, neurotische Zweifel an dem, was wir bereits erkannt haben. Der Buddha hat Zweifel als einen der sechs Hauptstörfakto-ren auf dem Weg zur Erleuchtung bezeichnet.

In dieser Passage wird das Leid im Menschenbereich beschrieben. Diese so intelligenten Men-schen sind Weltmeister im Zweifeln und schaffen sich damit ein sehr kompliziertes Leben. Es scheint fast so, als ob das Schwierigste für den menschlichen Geist ist, Einfachheit zu entwickeln. Aufgrund ihrer komplizierten Geistesstruktur bemerken sie nicht, dass das Glück, das sie suchen, bereits da ist, und rennen von einem zum anderen, sind ständig geschäftig, ständig beschäftigt damit, ihr Leben zu verbessern. Sie haben immer das Gefühl, nicht genug zu haben, werden im-mer von einem Gefühl von Armut und Mangel geplagt, obwohl ein immenser Reichtum bereits da ist. Sie kriegen nicht genug Liebe, nicht genug Reichtum, nicht genug von diesem und von jenem. Unzufriedenheit treibt sie an, immer weiter zu suchen, das Leben mit immer neuen Erfin-dungen verbessern zu wollen, und so haben sie schlussendlich keine Zeit.

In der Meditation strahlt Licht aus dem NI aus, was den Daseinsbereich der Menschen und auch alle anderen Wesen von diesen Zweifeln, von Armut und Geschäftigkeit und dem damit verbun-denen Leid befreit und das spontane Gewahrsein offenbart sich – rangdjung yesche. Yesche be-deutet ursprüngliches, zeitloses Gewahrsein und rangdjung spontan oder von selbst erscheinend. Damit ist gemeint, dass es sich offenbart, sobald kein Haften da ist. Wenn keine Dualität vorhanden ist, kein dualistisches Haften, erscheint sofort und immer dieses Gewahrsein.

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Der Vers hört auf mit ngön-du dje, die Verse aller anderen Daseinsbereiche enden mit ngön-du gyur. Vielleicht wird es da noch eine kleine Verbesserung im tibetischen Text geben.

Tiere

PAD ting-ga dü-drö yül-du trö, gyü timug lün mong dug-ngäl djang, dön tschöying yesche ngön-du gyur, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Das blaue PÄ (PAD) strahlt in den Bereich der Tiere, reinigt ihren Geistesstrom, mit Dumpfheit und dem Leid von geistiger Beschränktheit, und das letztendliche Gewahrsein des Raumes der Phänomene offenbart sich. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Timug ist Dumpfheit, die Form der Unwissenheit, die darauf beruht, dass der Geist nicht genug Klarheit entwickeln kann, um etwas zu verstehen. Die beiden darauf folgenden Begriffe lün und mong sind fast identisch. Lün bedeutet Dummheit und mong bedeutet so viel wie Blindheit, nicht sehen zu können. Zusammen stehen diese Begriffe für alle Formen von geistiger Beschränktheit. Bei Tieren – dü-dro, ist die geistige Beschränktheit sehr deutlich und verunmöglicht eine echte geis-tige Entwicklung.

F: Ist dieses mong dasselbe, wie in dem Wort für Emotionen – njön mong pa?

A: Ja. Wenn man das tibetische Wort zerlegt, dann ist njön das Aufwühlende, verrückt Machen-de, das aufgrund von starker Aktivität im Geist eine große Verwirrung auslöst und mong be-schreibt, dass diese Verwirrung, diese starke Agitation den Geist blind oder dumm macht. Emo-tionen sind also auf Tibetisch „das, was verwirrt und dumm macht“.

Dann wird gesagt, dass sich das letztendliche Gewahrsein des Dharmadhatu, des Raumes der Phänomene offenbart – tschöying yesche. Ying ist die Sphäre oder der Raum und tschö sind die Phänomene, die Dharmas. Dies weist hier auf den Aspekt des ursprünglichen Gewahrseins hin, wo es als die Quelle aller Phänomene betrachtet wird, der dynamische Raum, in dem alle Phänomene von derselben Natur sind.

Hungergeister

ME marpo yidag yül-du trö, gyü dötschag trekom dug-ngäl djang, dön sortog yesche ngön-du gyur, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Das rote ME strahlt in den Bereich der Hungergeister, reinigt ihren Geistesstrom, mit Begierde und dem Leid von Hunger und Durst, und das letztendliche allunterscheidende Gewahrsein offenbart sich. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Yidag oder preta auf Sanskrit, sind eigentlich nicht Hungergeister, sondern das Wort bedeutet enger Geist, angsterfüllter Geist. Das sind für uns unsichtbare Wesen, die voller Angst, Panik und Begierde sind, was ihren Geist sehr eng macht und nur noch Eines sehen lässt. Das hat zur Folge, dass sie dann nicht mal mehr essen und trinken können. Das sollten wir behalten.

ME strahlt also Licht aus zu allen, die unter solcher Angst und solcher Begierde leiden, einer un-heilsamen Kombination, die den Geist extrem verengt, und reinigt den Geistesstrom von dem Leid der Begierde – dötschag, und von Hunger und Durst – trekom und das letztendliche unter-scheidende Gewahrsein offenbart sich.

Allunterscheidendes Gewahrsein ist sor tog yeshe. Tog bedeutet unterscheiden und sor bedeutet alles und jedes (kurz für so-sor). Damit ist gemeint, dass das zeitlose Gewahrsein nicht nur die gemein-samen Merkmale aller Phänomene erkennt, sondern auch die differenzierenden Merkmale. Es erkennt den Unterschied zwischen relativer Wirklichkeit, also der Oberflächenwahrnehmung, und der tiefen Natur, der Essenz aller Dinge. Diese Fähigkeit des Unterscheidens wohnt der Be-gierde bereits inne, ist dort aber neurotisch entartet: ich will dies und das will ich nicht, ich mag dies, aber das noch mehr. Begierde hat die Fähigkeit, genau zu unterscheiden, was als angenehm

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oder als unangenehm erfahren wird. Da dies aber mit Haften verbunden ist, wird es zur Quelle von Leid.

Diese Fähigkeit zu unterscheiden ist eine dem Geist innewohnende grundlegende Fähigkeit. Der Unterschied zur Begierde ist eigentlich nur, dass diese mit Haften einhergeht und alles in Bezug auf mich und meine Wünsche unterscheidet. Frei von diesem Haften, ist es einfach ein unter-scheidendes Gewahrsein, das verschiedene Merkmale und Ebenen der Wirklichkeit wahrnimmt.

Ich gebe jetzt keine Beschreibung der einzelnen Daseinsbereiche. Wenn Ihr die noch nicht erhal-ten habt, solltet ihr dies unbedingt nachlesen oder einen Lehrer darum bitten. Wenn wir nicht genau wissen, was in diesen Bereichen erfahren wird, ist es sehr schwierig, Mitgefühl für die We-sen dort zu entwickeln.

F: Werden die Yidaks aufgrund ihrer früheren Begierde in diesem Bereich geboren – denn einmal dort angekommen, haben sie ja gar keine Möglichkeit, ihre Begierden zu leben…?

A: Ja, sie sind aufgrund ihrer früheren Begierden dort, und es wird für sie immer schlimmer, weil sie völlig in dem Denken von „ich will“ und „ich will nicht“ gefangen sind. Die Muster verstär-ken sich noch. Einen Ausweg gibt es kaum; denn obwohl einige Bodhisattvas in diesen Bereichen unterrichten, ist es sehr schwierig für Yidaks, den Dharma zu praktizieren – fast unmöglich. Sie müssen warten, bis ein anderes Karma reif wird, das in eine andere Existenz führt.

Es ist wichtig, die Mantras voller Energie zu rezitieren, die Kehle zu öffnen, die Brust zu öffnen und wirklich Tschenresi zu sein, besonders für diese beiden letzten Daseinsbereiche, weil unsere Rezitation und unsere Visualisation für sie wie befriedende Lichtstrahlen sind. Wir müssen ihnen wirklich dieses Geschenk machen.

Höllenwesen

HUNG ting-ga nyälwä yül-du trö, gyü schedang tsadrang dug-ngäl djang, dön melong yesche ngön-du gyur, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Das dunkelblaue HUNG strahlt in den Bereich der Höllenwesen, reinigt ihren Geistesstrom, mit Hass und dem Leid von Hitze und Kälte, und das letztendliche spiegelgleiche Gewahrsein offenbart sich. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Der Geistesstrom der Wesen in den Höllen – nyälwä, wird gereinigt von schedang – Hass, Ärger und allen Formen der Ablehnung, die zu dem Leid von tsa – Hitze, und djang – Kälte führen. Es gibt die heiße und die kalte Wut und das führt zu den unterschiedlichen Höllenbereichen mit ihren unglaublichen Qualen. Ich werde jetzt nicht weiter darauf eingehen, denn das wäre eine extra Unterweisung… Vielleicht nur ein Wort dazu: Auf der Erde gibt es nichts Vergleichbares mit dem, was die Wesen in den Höllenbereichen durchstehen. Selbst die extremsten Torturen hier auf dem Erdball sind nicht vergleichbar mit den Qualen in den Höllen. Hier auf der Erde kann man immer noch ohnmächtig werden und selbst die schlimmsten Folterer unter den Men-schen brauchen hier und da Schlaf und Pausen. In den Höllen gibt es keine solchen Unterbre-chungen.

Dann heißt es weiter, dass sich das letztendliche spiegelgleiche Gewahrsein – melong yesche offenbart. Spiegelgleich bezieht sich auf die dem Gewahrsein innewohnende Klarheit, eine Quali-tät, die wir bereits im Ärger, in der Wut entdecken können: die unglaubliche Schärfe und Präzisi-on, mit der Dinge wahrgenommen werden, speziell bei Ärger natürlich die Fehler von anderen. Da dies aber mit einem solch starken Haften einhergeht, führt es zu Leid. Die Fähigkeit, klar zu erkennen, mit dieser Schärfe und Präzision ist aber eine ganz natürliche, dem Geist innewohnen-de Qualität, ein Aspekt des ursprünglichen Gewahrseins. Das spiegelgleiche Gewahrsein ist wie ein Spiegel mit der Fähigkeit, alles zugleich wahrzunehmen, ohne dass eine Wahrnehmung durch die andere behindert wird. Einen Spiegel kann man vor beliebig viele Dinge halten, er wird auch

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von hunderttausend Objekten nicht verwirrt. Er spiegelt alle Objekte zugleich; seine Schärfe und Klarheit wird in keiner Weise durch die Vielzahl der Objekte beeinträchtigt.

F: Was ist der Unterschied zwischen dem spiegelgleichen und dem alles unterscheidenden Ge-wahrsein?

A: Es ist immer dasselbe Gewahrsein. Das eine ist die Fähigkeit des Unterscheidens, während es sich hier um die klare Wahrnehmung handelt, die sich auf alle Phänomene erstreckt.

Denkt beim Rezitieren daran, dass unsere Mantras wie Lichtstrahlen sind, welche die Wesen in den Höllenbereichen erreichen können und ihnen einen kleinen Moment des Atemholens schen-ken. In diesem Atemholen kann vielleicht ein mitfühlender Gedanke auftauchen, ein altruisti-scher Gedanke, oder ein Gedanke, dass all dieses Leid doch nur wie ein Traum ist, eine Produk-tion des Geistes. Ein einziger solcher Gedanke reicht aus, um die Existenz in diesen Höllenberei-chen zu beenden. Dort ist es aber sehr, sehr schwer, solche Gedanken zu haben – es ist große Unterstützung nötig, und trotz solcher Unterstützung ist es überhaupt noch nicht gesagt, dass solche Gedanken tatsächlich auftauchen.

6. Meditation in der Einheit von Jidam-Praxis und Mahamudra

Kam sum gyi sug nang tschänräsi, dra drag kün ngag kyi rang dra ur, drän tog gi sung dsin ösäl ngang, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PEME HUNG.

Alle Formen und Erscheinungen der drei Bereiche sind Tschenresi, alle Laute sind das Summen des natürlichen Mantraklanges und Gedanken von Subjekt und Objekt sind die Dimension des Klaren Lichtes. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Kam sum sind die drei Weltenbereiche, sug sind die Formen und nang die Erscheinungen, also alles Sichtbare der drei Bereiche. Damit sind die Bereiche der Begierde, Form und Formlosigkeit ge-meint, eine andere Weise von den sechs Daseinsbereichen zu sprechen. Zu sagen, dass alle Formen und Erscheinungen Tschenresi sind, bedeutet, dass alles genauso transparent, illusorisch und leer ist wie der Körper von Tschenresi oder wie Dewatschen. Wir kontemplieren das Universum als Dewatschen, d.h. wir verfallen nicht in den Glauben an die Wirklichkeit der Dinge.

Dra sind alle Klänge, drag ist alles was gehört wird, kün bedeutet alle. Sie als ngag kyi rang dra –natürlichen Mantra-Klang zu meditieren bedeutet, alle Klänge der drei Bereiche als ebenso „leer“ wie das Mantra zu erkennen. Wir geben der Bedeutung des Klanges, seinen oberflächlichen Merkma-len keine Wichtigkeit, sondern treten in Beziehung zu ihrer tiefsten Natur, dieser vollkommen offenen Dimension der Bewusstheit. Wir stellen uns das Summen Samsaras als summenden Mant-raklang vor. Unser Geist ist Tschenresi; deshalb haften wir nicht an Klängen als angenehm oder unangenehm. Alle Klänge werden mit Gleichmut wahrgenommen, als die Klänge Dewatschens, die Klänge des Dharma, da jeder Klang uns die Leerheit lehrt, das Loslassen usw. Es sind die Klänge der Unterweisung, der Klang des OM MANI PADME HUNG. Das ewige Surren Samsaras wird zum summenden Mantra.

Drän und tog sind die Gedanken, Erinnerungen, Wahrnehmungen, die sung – für ein Objekt gehalten werden bzw. sich dsin – für ein Subjekt halten. Alle dualistischen Konzepte, alle Gedan-ken werden als Dharmakaya verwirklicht, ösäl ngang – die zeitlose Dimension des Klaren Lichtes, jenseits allen Haftens an Existenz und Nichtexistenz. Wenn es kein Haften mehr gibt, ist unser Geist der von Tschenresi und weilt stets im Klaren Licht, ein Synonym für Dharmakaya.

Diese Sätze sind die Zusammenfassung und Essenz von allem, was wir bisher praktiziert haben. Die Reinigung der Daseinsbereiche ist abgeschlossen; Körper, Rede und Geist aller Wesen sind völlig rein, frei von Haften an einem Selbst. In dieser Mantraphase können wir alles visualisieren, alles praktizieren, was wir bereits erklärt haben. Wir können uns auch vorstellen, dass sich die

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Mantrasilben drehen, Licht ausstrahlen und die ganze Welt in die Mahamudra-Dimension verset-zen. Wir können auch einfach jenseits aller Konzepte, ohne alles Haften, in der Mantrarezitation verweilen, das Mantra einfach seine Arbeit machen lassen, ohne einen einzigen Gedanken zu ergreifen. Alle Möglichkeiten sind offen. OM MANI PADME HUNG.

7. Abschließende Wunschbitte

Kye gangri gönpo tschänräsi, dag söl deb bu-la tsewä gong, gyü djin gyi labpar dsä-du söl, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Oh Tschenresi, du Schützer der Schneeberge, betrachte uns, deine betenden Kinder, mit Liebe und segne bitte unse-ren Geistesstrom! Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Diese abschließende Bitte setzt wie einen Stempel unter die Reinigungspraxis. Wir kehren noch-mals zu dem Gedanken an unseren Lama zurück, der als Tschenresi uns seinen Segen gibt. Wir sind nicht verschieden von ihm und zugleich voller Hingabe und Dankbarkeit.

III. Auflösung

Nang drag kün ösäl ying-su tim, schi ma-tschö nyugma tschag gya tsche, lam djarme pagpä rang schäl ta, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Alle Laute und Erscheinungen verschmelzen in die Weite des Klaren Lichtes. Die Basis ist das ungekünstelte, natürliche Mahamudra. Der Weg ist, nichts zu tun und das Antlitz des Edlen zu sehen. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Nang sind die Erscheinungen, es ist dasselbe Wort, das wir vorher als Bezeichnung für alles Visuel-le hatten. Drag steht für alle Laute, alles Auditive. All diese Wahrnehmungen tim – verschmelzen in die zugrunde liegende Weite des Geistes, den Dharmakaya, den wir auch Klares Licht nennen. Das bedeutet, wir lösen uns aus dem Bereich der Wahrnehmungen. Der Wahrnehmung wird in die-sem Moment keinerlei Bedeutung mehr beigemessen. Es interessiert uns nicht mehr, ob noch etwas Visuelles, Auditives oder sonst etwas im Bereich der Wahrnehmung passiert. Wir gehen ganz in der essentiellen Dimension auf und meditieren darin.

Im Dharmakaya gibt es keine Wahrnehmungen und keine Erscheinungen. Erst, wenn sich der Dharmakaya als Sambhogakaya oder Nirmanakaya manifestiert, bringt er alle Erscheinungen her-vor. Diese Dimension des Klaren Lichtes ist keine Wahrnehmung von relativen, dualistischen Erscheinungen. Wenn noch irgendeine dualistische Wahrnehmung besteht, muss man sich von ihr lösen, um in das Klare Licht eintauchen zu können.

Dann kommt die Meditationsanweisung: Die Basis – schi, ist ma-tschö – ungekünsteltes, nyugma – natürliches, tschag gya tsche – Mahamudra. Basis bedeutet: die Basis für den Weg, der zur Er-leuchtung führt. Die Frucht ist die Erleuchtung, die Erkenntnis, dass die Basis immer schon vor-handen war und alles durchdringt. Das bedeutet, dass das natürliche Mahamudra nicht erzeugt zu werden braucht, sondern sich zeigt, sobald alles Gekünstelte von uns abfällt. Gekünstelt bedeutet dualistisch. Wenn es abfällt, zeigt sich, was natürlicherweise da ist: das natürliche Mahamudra.

Wie wir das umsetzen können, wird im nächsten Satz beschrieben: Lam – der Weg ist djarme –nichts zu tun und pagpä rang schäl ta – das Antlitz des Edlen zu sehen. Ta ist sehen, rang schäl ist das Antlitz, das Gesicht, das ihm, dem Edlen – pagpä, eigen ist. Pagpä ist doppeldeutig. Es be-deutet sowohl des Edlen (Tschenresi) wie auch die Edlen oder aller Edlen. Wenn wir das Gesicht des Edlen sehen und erkennen, was alle Edlen erkannt haben, dann erkennen wir, wer Edle sind, was Edle ausmacht. Wir wissen, was einen Verwirklichten ausmacht. Obendrein kann es dann auch passieren, dass sich Tschenresi als eine Vision manifestiert und sich unserem Weisheitsauge of-

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fenbart. Das muss aber nicht sein. Der wichtige Punkt ist, die Natur des Geistes zu verstehen, zu verwirklichen. Das andere wäre sozusagen die Zugabe, aber nicht wichtig.

Wir können also zusammenfassen: Der Weg besteht darin, sich immer an den Tschenresi zu er-innern, der das Nichthandeln ist, das Handeln ohne eigenes Wollen, die Verwirklichung der Na-tur des Geistes.

An diese Rezitation schließt sich die Auflösung an und die kann sehr schnell sein. Deswegen ist es ausreichend, hier nur ein Mantra zu rezitieren. Aber man kann sie so ausführen, wie es für einen selbst am Angenehmsten ist, um wirklich Entspannung zu finden, den Geist von allen Wahrnehmungen zu lösen, von der Visualisation von uns selbst als Tschenresi, von Dewatschen und alles aufzulösen, und dann in dem natürlichen Zustand zu ruhen. Diese Natürlichkeit ist die Basis, diese Natürlichkeit ist der Weg und diese Natürlichkeit ist die Frucht.

Der Moment, wo wir in Natürlichkeit verweilen, ist oft nur kurz. Dann geht es schon weiter, und die Gedanken, die Wahrnehmungen kommen. Falls wir hier länger meditieren, so ist das die Pra-xis Geistiger Ruhe, ein Arbeiten mit dem eigenen Geist durch Loslassen und Entspannen, um immer natürlicher zu werden, so dass sich die Zeiten der Natürlichkeit ausdehnen.

F: Wieso ziehen wir das Klare Licht bzw. unser Bewusstsein aktiv in unserem Herzzentrum zu-sammen, anstatt einfach in der Weite des Klaren Lichtes zu verweilen oder es durch die Phäno-mene durchscheinen zu lassen?

A: Da ist kein Licht und da scheint auch nichts durch. Das so genannte Klare Licht ist bereits die Natur aller Erscheinungen, da brauchen wir nichts zu machen. Oft sind wir in der Meditation mit den Erscheinungen beschäftigt, mit dem Klang und den visuellen Eindrücken, und in der Auflö-sungsphase geht es nun darum, wirklich in das Klare Licht jenseits von Begriffen und Wahrneh-mungen einzutauchen. Das ist so, als würden wir die Sinne von den Wahrnehmungen zurückzie-hen, uns aus der Wahrnehmung lösen. Damit das möglich ist, haben wir die Visualisation, wo wir die Umgebung sich in uns auflösen lassen. Darauf folgt die Auflösung von uns selbst, wo wir den Körper von Tschenresi, von unten und oben zugleich ins Herzzentrum mit Lotus und Mantra verschmelzen lassen, dann ins HRI und schließlich ins Nada, den letzten Klang-Punkt, der vom HRI noch übrig bleibt und von dem es weiter in die völlige Offenheit geht. So gelingt es uns, den Geist von den Erscheinungen zu lösen. Ein fortgeschrittener Praktizierender braucht diesen schrittweisen Prozess nicht, sondern lässt einfach los. Das Haften an Wahrnehmungen loszulas-sen würde eigentlich reichen, nur ist das einfacher gesagt als getan, und daher ist es besser, den schrittweisen Prozess zu gehen und das allmählich zu lernen.

IV. Wiedererscheinen und Nachmeditation

Kakyab kyi tong-nyi namkä ngang, lar pagpä ku-ru lam gyi dang, djam nying-dje drowä dön-la tschö, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG

Aus der Offenheit des Raumes, der alldurchdringenden Leerheit, erscheinen wir wieder als der Körper des Edlen und wirken mit Liebe und Mitgefühl zum Nutzen der Wesen. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlen-den: OM MANI PADME HUNG.

Wir gehen davon aus, dass wir in der Offenheit aufgegangen sind und lar – erscheinen wieder als pagpä ku – der Körper des Edlen. Es gibt zwei Bedeutungen von lam gyi dang. Die eine ist, dass ich wieder entstehe, um auf dem Pfad zu praktizieren, um eine Aktivität im Relativen auszufüh-ren, und die andere ist, dass vom Zentralkanal, aus der tiefsten Versenkung, eine Kraft aktiv wird, die das gesamte Universum erneut entstehen lässt.

In diesem Universum wirken wir mit Liebe und Mitgefühl zum Nutzen der Wesen. Wir können uns uns selbst als den vierarmigen Tschenresi vorstellen, wie wir es gewöhnt sind, oder auch, da

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der Vierarmige im Vajrasitz ist, als den stehende zweiarmigen Tschenresi, der uns noch ähnlicher sieht und sich als Visualisation vielleicht mehr für die Aktivität eignet. Doch da wir ja jenseits von haftenden Konzepten sind (!), benötigen wir vielleicht keine extra Visualisation für die Aktivität und können bei der Visualisation mit vier Armen bleiben, so wie wir uns auch in der Meditation vorstellen. Ihr solltet jedoch beide Möglichkeiten kennen.

F: Warum hat Tschenresi eine menschenähnliche Gestalt? Könnte er nicht auch eine abstrakte Form haben, z.B. die eines Kreises oder Quadrates oder so?

A: Es hilft uns, wenn die Yidams ein bisschen wie Menschen aussehen, damit wir uns leichter darauf einlassen können, aber sie könnten tatsächlich jede Form annehmen.

V. Schlussgebete

1. Widmung

Dag gom dä di yi tsön djä te, dü sum du sagpä gewä tü, ma dro drug korwa dong trug schog, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Angedeutet durch unsere Meditation und Rezitation, mögen durch die Kraft des in den drei Zeiten angesammelten Heilsamen die Abgründe Samsaras der sechs Arten von Wesen, unseren Müttern, erschüttert werden! Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI PADME HUNG.

Tsön – angedeutet, meint das Hinweisen auf etwas und ist auch das Wort für den Zeigefinger. Hier wird auf die Verdienste hingewiesen, die gerade durch unsere Praxis entstanden sind, und die sich jetzt mit all den Handlungen der anderen Praktizierenden verbinden, mit all der heilsamen Kraft, die von Buddhas, Bodhisattvas und anderen Wesen im Universum angesammelt wurde und wird. Wir wünschen, dass durch die gesammelte Kraft dieser Handlungen Samsara erschüttert und geleert werden möge. Wir widmen immer auf dieselbe Art und Weise: Wir stellen uns vor, dass sich das Heilsame, das wir gerade angesammelt haben, wie ein Tropfen mit dem Ozean des Heil-samen aller Wesen vermischt und das Gesamte der Erleuchtung aller Wesen gewidmet wird.

Danach verweilt man in der nichtbegrifflichen Widmung. Dadurch wird jegliche Identifikation mit dem Heilsamen, das wir ausgeführt haben, geschnitten. Das heißt, wir verweilen in dem Be-wusstsein, dass es kein Ich gibt, das je praktiziert hat und wenn da ein Jemand gewesen ist, der praktiziert hat, hat dieser Jemand jetzt losgelassen und alles den Wesen übereignet. In dieser vol-len Übereignung bin ich frei von einer Identifikation mit dem Heilsamen und erhebe mich vom Sitz, ohne etwas Besonderes gemacht zu haben. Eine Handlung wurde ausgeführt und gewidmet, und das Ich hat nichts damit zu tun. Auf diese Art und Weise sind wir nicht stolz darauf, etwas Heilsames ausgeführt zu haben. Es ist so normal wie unsere gewöhnliche Arbeit, die wir tun, um zu leben; nichts Besonderes.

2. Besiegelnde Wünsche für eine Wiedergeburt in Dewatschen

Nam tse di nangwa pöma tag, nub detschän sching du kye nä kyang, djangtschub kyi gopang nyur tob schog, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Wenn die Erscheinung dieses Lebens vorübergeht, möge ich unverzüglich im westlichen Land „Wahre Freude“ geboren werden und schnell das Ziel der Erleuchtung erlangen. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlen-den: OM MANI PADME HUNG.

Diese Wünsche brauche ich nicht weiter zu erklären. Wir richten uns mit ihnen auf Dewatschen aus. Das ist der beste Ort, um die Praxis nach dem Tod fortzusetzen. Gendün Rinpotsche hat allen Praktizierenden geraten, sich darauf auszurichten, dort wiedergeboren zu werden – mit Ausnahme derer, die eine stabile Verwirklichung haben und direkt als Menschen wiederkommen

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können. Für alle anderen wäre es zu riskant, Wünsche für eine menschliche Wiedergeburt zu machen, um ihr Leben dem Dharma zu widmen und anderen zu helfen. Denn es ist nicht sicher, ob wir wirklich im kommenden Leben wieder die Bedingungen finden, um den Dharma prakti-zieren und etwas Sinnvolles für andere tun können. Es kann auch geschehen, dass wir uns ganz schön verlaufen und uns in einer Abwärtsspirale wieder finden, wie sie sich oft in einem mensch-lichen Leben einstellt. In Dewatschen geht es mit Sicherheit aufwärts. Deswegen ist es gut, Wün-sche zu machen, in diesen Geistesbereich einzutreten, das reine Land von Buddha Amitabha, wo wir tatsächlich Fortschritte im Dharma machen können, bis die Zeit gekommen ist, in dieser Welt aktiv zu sein – oder in anderen Welten.

F: Was ist nötig, um in Dewatschen wiedergeboren zu werden? Reicht es aus, das kurze Gebet für Dewatschen mehrfach täglich zu machen, oder ist noch etwas anderes notwendig?

A: Gendün Rinpotsche erklärte, um sicher zu sein, in Dewatschen wiedergeboren zu werden, sei es nötig, jeden Tag die Tschenresi Praxis auszuführen und sie mit dem kurzen Dewatschen Gebet zu beschließen und dann an speziellen Tagen, zum Beispiel am Vollmond, das lange Dewatschen-Gebet auszuführen. Als Vorbild hat uns Gendün Rinpotsche Lama Purtse genannt, der 100 Mil-lionen Tschenresi-Mantren rezitiert hat und auch seither ständig mit dieser Praxis fortfährt.

3. Glücksbitten

Kyab köntschog sum gyi ngowo-nyi, gön tschänräsi wang djin lab kyi, tschog dü kün taschi deleg schog, lha tugdje tschenpor sölwa deb: OM MANI PADME HUNG.

Mögen durch den Segen des mächtigen Schützers Tschenresi, Essenz der drei Zufluchtsjuwelen, alle Welten stets von Segen, Glück und Wohlergehen erfüllt sein. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden: OM MANI

PADME HUNG.

Zum Abschluss rezitieren wir die Glücksbitten, das Taschi-Gebet. Dabei stellen wir uns vor, dass sich hier auf diesem Planeten alles Wünschenswerte manifestiert: reiche Ernten, alle Bedingun-gen, damit die Menschen in Frieden leben und den Dharma praktizieren können, dass auch für die Tiere und unsichtbaren Lebewesen die Wünsche in Erfüllung gehen und dass das Klima und die Jahreszeiten nicht durcheinander geraten. Kurz, wir wünschen, dass die äußeren Bedingungen so sind, dass sich alles harmonisch entwickelt. Man kann visualisieren, wie ein Blumenregen über die Erde niedergeht. Dies ist ein Symbol dafür, dass ideale Bedingungen für die Dharmapraxis entstehen. Damit sind die Erklärungen für diesen Text beendet.

VI. Kolophon

Kontempliere so den Sinn all dieser Verse und rezitiere jedes Mal zwischen ihnen die sechs Silben, hundertmal oder mehr, soviel du kannst. Entwickle dabei klare, tiefe Meditation. Wenn du dies jeden Tag ohne Unterbre-chung tust, gibt es keinen Zweifel, dass du nach Tod und Übergang unverzüglich im Land Dewatschen geboren wirst.

Vereint mit dem Geistesstrom des Mahasiddhas Thangtong Gyalpo, erschien im Tal von Guge im oberen Ngari der geheime Yogi-Mahasiddha, genannt Tsültrim Sangpo. Er lebte einhundertdreißig Jahre im Menschenbereich, sein Körper blieb dabei frei von den Fehlern des Alter und löste sich am Ende in Licht auf. Der Große Mitfüh-lende gewährte ihm direkte Begegnungen und dieser Text birgt den Segen seiner Vajra-Worte. Tugend !

Im Kolophon wird gesagt, dass der Verfasser Tsültrim Sangpo eine Ausstrahlung von Thangtong Gyalpo gewesen sei, der uns als Autor unserer Tschenresi-Abendpraxis bekannt ist und ein gro-ßer Verwirklichter, ein Mahasiddha war. Thangtong Gyalpo wurde 130 Jahre alt und hinterließ keine körperlichen Spuren beim Tod und ebenso war es mit Tsültrim Sangpo, von dem es heißt, dass er mit dem Geist von Thangtong Gyalpo eins geworden sei. Dieser Hinweis soll Vertrauen

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in uns wecken, das dieser Text denselben Segen hat wie der Text von Thangtong Gyalpo. Beide sind im Geist untrennbar voneinander und ganz und gar eins mit Tschenresi. Wir können diesen Text durchaus zu unserer täglichen Praxis machen.

Anmerkungen zur täglichen Praxis

Ihr habt in diesem Kurs alles erhalten, um diese Praxis zu Hause ausführen zu können. Für eine Sitzung braucht Ihr eineinhalb bis zwei Stunden. Natürlich könnt Ihr die einzelnen Phasen noch verlängern und vertiefen. Sie ist nicht als Abendpraxis für die Gruppen hier in Kündröl Ling oder in den Stadtgruppen geeignet, denn sie ist ein wenig zu ausführlich. Dafür eignet sich die übliche Tschenresi Praxis besser, besonders wenn wir noch Dewatschen Gebete, das Gebet an Guru Rinpotsche und die Langlebensgebete anhängen wollen. Aber für diejenigen, die Tschenresi als ihren Yidam praktizieren, bis zum Lebensende, bis zur Erleuchtung, ist dieser Text hervorragend als tägliche Praxis geeignet. Sie ist eine gute Möglichkeit für jemanden, der gerne anderthalb bis zwei Stunden sitzt, sich ganz und gar auf die Tschenresi Praxis einzulassen.

Es ist durchaus möglich, dass wir die Woche über, wenn wir weniger Zeit haben, die gewöhnliche Praxis von Tschenresi machen, und dann, sobald wir z.B. am Wochenende einen Moment frei haben, diese etwas ausführlichere Praxis nehmen. Bei der gewöhnlichen Praxis sollten wir uns aber weiterhin daran halten, Tschenresi über unserem Kopf zu visualisieren und erst in der Mant-raphase, wenn alle Daseinsbereiche gereinigt sind, selbst zu Tschenresi zu werden.

Ein wichtiger Hinweis ist noch, dass wir diese Praxis nur ausführen können, wenn wir die Tschenresi Ermächtigung erhalten haben, weil sie uns erlaubt und befähigt, uns selbst als Tschen-resi zu visualisieren. Alle nicht ermächtigten Personen, denen die Tschenresi-Praxis einfach nur so begegnet, sollten die Visualisation von Tschenresi über dem Kopf ausführen. In der Einwei-hung öffnet sich durch den Segen, die Übertragung und die kurzen Erklärungen das Tor des Ver-ständnisses in uns und ermöglicht uns, uns selbst als Yidam zu visualisieren, ohne in den Stolz zu verfallen, ich sei ein Buddha, und die Ebene des Anhaftens mit der Methode, die eigentlich zur Befreiung vom Anhaften führen soll, zu vermischen.

F: Kann man das Sechs-Silben-Gebet in die normale Tschenresi Praxis einfügen?

A: Ja, wir beginnen dann in der normalen Praxis mit Liniengebet, Zuflucht, Visualisation von Tschenresi, der Preisung an ihn und dem siebenteiligen Gebet. Danach löst sich die Visualisation vor uns auf. Dann wird das Sechs-Silben-Gebet eingefügt und von A bis Z praktiziert. Daran können wir einige oder alle der abschließenden Widmungs- und Wunschgebete des üblichen Tex-tes anhängen (Dewatschen-Gebet, Guru Rinpotsche, Langlebensgebete, Widmungen) oder aber auch einfach mit dem Sechs-Silben-Text beschließen.

Ich würde vorschlagen, bei regelmäßiger Praxis vor dem Sechs-Silben-Gebet das Liniengebet an die Meister der Mahamudra-Linie auszuführen. Sie haben alle Tschenresi verwirklicht und das Gebet hilft, sich ihrem Segen zu öffnen. Dank dieser Meister ist uns diese Praxis heute zugäng-lich. In meinen Augen wäre das eine wichtige Vorbereitung, um sich auf diesen Text einzulassen.

F: Wo kann ich weitere Fragen klären?

A: Alle Lamas können normalerweise Eure Fragen beantworten, denn der Kommentar zum Sechs-Silben-Gebet ist identisch mit dem zur normalen Tschenresi-Praxis, abgesehen von den kleinen Unterschieden, die sich aus dem Text ergeben. Für die Praxis des Sechs-Silben-Gebetes wäre es auch für Euch sehr hilfreich, diesen Kommentar komplett in allen Details zu erhalten.

© Tilmann Borghardt, Januar 2015