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ZWEITER TEIL NATURWISSENSCHAFTLICHE TECHNIK

Das naturwissenschaftliche Zeitalter, Bertrand Russell 2

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ZWEITER TEIL

NATURWISSENSCHAFTLICHE TECHNIK

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KAPITEL VI

DIE ANFÄNGE DER NATURWISSENSCHAFT-LICHEN TECHNIK

Es läßt sich keine scharfe Trennungslinie zwischen natur-wissenschaftlicher Technik und dem überlieferten Hand-werk und Kunsthandwerk ziehen. Das wesentliche Kenn-zeichen der naturwissenschaftlichen Technik ist die Nutz-barmachung von Naturkräften auf eine dem gänzlich Un-eingeweihten unverständliche Art und Weise. Eine be-stimmte Reihe von Wünschen bildet dabei die Voraus-setzung: Der Mensch braucht Nahrung, er will Nachkom-menschaft, Bekleidung, Wohnung, Vergnügen und Ruhm.Der Ungebildete kann sich diese Dinge nur zu einem klei-nen Teil verschaffen; Menschen, die über das wissenschaft-liche Rüstzeug verfügen, vermögen da viel mehr. Ver-gleichen wir etwa König Krösus mit einem modernenamerikanischen Milliardär. König Krösus war dem mo-dernen Magnaten vielleicht in zweierlei Hinsicht überlegen;seine Gewänder waren kostbarer und seine Frauen zahl-reicher. Doch ist es wahrscheinlich, daß die Kleider seinerFrauen nicht so kostbar waren wie die der Gattin desmodernen Magnaten. Ein Teil der Überlegenheit desmodernen Magnaten beruht darauf, daß er sich nicht inglitzernde Gewänder hüllen muß, damit seine Größe an-erkannt werde; dies besorgen schon die Zeitungen. Ichglaube, Krösus war zu seinen Lebzeiten nicht den hundert-sten Teil so bekannt wie etwa heute ein Hollywood-Star.Die erhöhte Möglichkeit, berühmt zu werden, verdankenwir der naturwissenschaftlichen Technik. Auch. in Hinblickauf all die anderen Objekte menschlichen Wünschens istes ganz klar, daß sich durch die moderne Technik die Zahlderer ungeheuer vermehrt hat, die sich eines gewissenMaßes von Zufriedenheit erfreuen können. Die Zahl derMenschen, die jetzt ihr eigenes Auto besitzen, übersteigtbestimmt die Zahl derer, die vor 150 Jahren genug zu

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essen hatten. Durch sanitäre Einrichtungen und Hygienehaben die naturwissenschaftlichen Nationen dem Typhus,der Pest und einem Heer anderer Seuchen ein Ende be-reitet, die heute noch im Osten grassieren und früher ein-mal Westeuropa heimsuchten. Wenn man aus dem Ver-halten Schlüsse ziehen darf, dann war noch bis vor kurzemeines der brennendsten Verlangen der Menschheit, zu-mindest aber eines der energischeren Teile von ihr, einbloßes zahlenmäßiges Wachstum. In dieser Hinsicht er-wiesen sich die Naturwissenschaften als äußerst erfolg-reich. Vergleichen wir nun die Zahl der Menschen inEuropa um 1700 mit der Zahl der Menschen europäischerAbstammung von heute. Die Bevölkerung Englands be-trug 1700 ungefähr 5 Millionen, heute beträgt sie etwa40 Millionen. Die Bevölkerung der anderen europäischenLänder hat, wenn wir von Frankreich absehen, vermutlichim gleichen Verhältnis zugenommen. Die Bevölkerungeuropäischer Abstammung beträgt heute ungefähr 725 Mil-lionen. Andere Rassen haben sich aber in der gleichenZeit viel weniger rasch vermehrt. Allerdings vollzieht sichin dieser Hinsicht derzeit auf der ganzen Welt ein Wandel.Die wissenschaftlich begabten Rassen vermehren sich nicht . Imehr sehr, und ein wirklich rasches W'achstum ist auf solche ··1Länder beschränkt, deren Regierung" wissenschaftlich", de-l

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ren Bevölkerung aber "unwissenschaftlich" ist. Doch sind •die Ursachen hiefür erst jungen Datums und brauchenuns augenblicklich nicht zu beschäftigen.

Die frühesten Anfänge der naturwissenschaftlichen Tech-nik fallen in prähistorische Zeiten; wir wissen zum Bei-spiel nichts über den Ursprung der Verwendung desFeuers; daß es aber in jenen frühen Zeiten schwer warsich Feuer zu verschaffen, geht aus der Sorgfalt hervor:mit der in Rom und anderen Städten einer frühen Zivilisa-tion heilige Feuer gehütet wurden. Die Domestikationvon Tieren vollzog sich auch in der Hauptsache in prä-historischen Zeiten, doch nicht ganz. Das Pferd erobertedas westliche Asien in den Tagen der Sumerer und schenkte

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denen den militärischen Sieg, die es dem Esel vorzogen.In Ländern mit trockenem Klima fallen die Anfänge desSchreibens praktisch mit den Anfängen der Geschichtezusammen, da sich schriftliche Aufzeichnungen in Ägyptenund Babylonien viel länger erhalten konnten, als sie es inLändern mit weniger ausgetrocknetem Boden getan hät-ten. Der nächste bedeutende Abschnitt in der Geschichteder naturwissenschaftlichen Technik kam mit der Metall-bearbeitung, welche zur Gänze in historische Zeiten fällt.Zweifellos nur deshalb, weil Eisen damals erst eine jungeErfindung war, untersagen gewisse Bibelstellen seine Ver-wendung bei der Errichtung von Altären. Straßen wur-den von ihren Anfängen an bis zum Sturze Napoleonsvorwiegend aus militärischen Gründen angelegt. .Sie w~-ren wesentlich für den Zusammenhalt großer Reiche; SIewurden aus diesem Grunde zum ersten Male unter denPersern wichtig, im vollen Ausmaß wurden sie von denRömern entwickelt. Das Mittelalter brachte Schießpulverund den Schiffskompaß und an seinem Ausgang die Er-findung der Buchdruckerkunst.

Jemandem, der an die verfeinerte Technik des modernenLebens gewöhnt ist, mag all dies ziemlich bedeutungsloserscheinen, tatsächlich aber machte es den Unterschiedzwischen dem primitiven Menschen und der höchsten Stufegeistiger und künstlerischer Zivilisation aus. Es ist heuteso üblich geworden, gegen das Maschinenzeitalter zu pro-testieren und sich in bewegten Worten nach der Rückkehreinfacherer Tage zu sehnen. Das ist aber gar nichts Neues.Schon Lao Tse, der Vorläufer des Konfuzius, der, falls esihn überhaupt gab, im 6. Jahrhundert vor Christus lebte,ist ebenso beredt wie Ruskin, wenn er die Vernichtungaltertümlicher Schönheit durch moderne mechanische Er-findungen beklagt. Straßen, Brücken und Boote erfül~tenihn mit Entsetzen, weil sie unnatürlich waren. Er spnchtvon der Musik ebenso wie ein moderner Intellektuellervom Kino. Er findet das Hasten des modernen Lebensverderblich für die kontemplative Betrachtung. Als er es

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in China nicht länger aushielt, verließ er es und tauchtebei den westlichen Barbaren unter. Er glaubte, daß dieMenschen ein naturgemäßes Leben führen sollten - eineAnsicht, die immer wieder im Laufe der Jahrhunderteaufscheint, wenn auch mit wechselnden Vorzeichen. AuchRousseau glaubte an die Rückkehr zur Natur, doch er-hob er keine Einwände mehr gegen Straßen, Brücken undBoote. Das Hofleben, spätes Zubettgehen und die raffi-nierten Vergnügungen der Reichen waren es, die seinenZorn erweckten. Den Typus von Mensch, der ihm alsunverbildetes Naturkind erschien, hätte Lao Tse für un-glaublich verschieden von denen gehalten, die er "diereinen Männer der Vergangenheit" nannte. Lao Tse istgegen das Zähmen von Pferden, gegen die Künste derTöpfer und Schreiner; Rousseau hätte einen Schreinerfür den Prototyp ehrsamer Arbeit gehalten. "Rückkehrzur Natur" bedeutet praktisch Rückkehr zu jenen Zu-ständen, an die der Schreiber in seiner Jugend gewöhntwar. Wollte man den Ruf nach Rückkehr zur Natur ernstnehmen, würde 'dies den Tod oder das Verhungern voneinigen 90 Prozent der Bevölkerung der zivilisierten Län-der bedeuten. Zweifellos bringt die Industrialisierung vonheute, so wie sie ist, große Schwierigkeiten mit sich, dochkann man sie nicht durch eine Rückkehr zu vergangenenZuständen heilen, ebensowenig wie die SchwierigkeitenChinas zur Zeit des Lao Tse oder die Frankreichs zurZeit Rousseaus.

Die Naturwissenschaften als Erkenntnisquelle nahmenwährend des 17. und 18. Jahrhunderts einen raschen Auf-schwung, aber erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts be-gannen sie auf die Produktionstechnik Einfluß zu haben.Es gab weniger Veränderungen in den Arbeitsmethodenvon der Zeit der alten Agypter bis 1750 als von 1750 bisheute. Gewisse grundlegende Fortschritte vollzogen sichlangsam: Sprache, Feuer, Schrift, Ackerbau, die Domesti-kation von Tieren, die Metallbearbeitung, Schießpulver,Buchdruck, die Kunst, ein großes Reich von einem Mittel-

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punkt aus zu regieren, obwohl diese letztere Kunst nichtmit jener Vervollkommnung zu vergleichen ist, die heuteseit der Erfindung der Telegraphie und der Dampf.lokom~-tive erreicht ist. Jeder dieser Fortschritte paßte Sich, weiler langsam erfolgte, dem Rahmen der überlieferten Le-bensformen ohne allzugroße Schwierigkeiten an, und zukeinem Zeitpunkt waren sich die Menschen einer Revolu-tionierung ihrer alltäglichen Gewohnheiten bewußt. Fastalles worüber der Mann als Erwachsener gerne sprach,war 'ihm schon von Kindheit an vertraut, und ebenso sei-nem Vater und seinem Großvater vor ihm. Dies hatte be-stimmt seine guten Wirkungen, die uns durch ~en raschentechnischen Fortschritt von heute verlorengmgen. DerDichter konnte von seiner Gegenwart in Worten singen,die langer Gebrauch an Gefühlen bereichert hatte und dievon den darin eingebetteten Empfindungen vergangenerZeiten Farbe gewannen. Heutz~ta&e I?uß er entw?der ~erGegenwart ausweichen oder seme ~ichtungen mit Wor-tern füllen die unschön und rauh wirken, Man kann wohlin der Spr~che der Dichtkunst einen Brief schreiben, kaumjedoch am Telephon sprechen; es ist ~öglich, lyrisch~nWeisen zu lauschen, nicht aber dem Radio: man kan~ Wieder Wind auf einem feurigen Hengst reiten, doch ist esschwierig, in irgendeinem Versmaß schnell.er als .~er W~.ndim Auto zu fahren. Der Dichter kann sich Flugel wun-sehen, um zu seiner Liebsten zu fliegen, doch wird ihm diesziemlich töricht vorkommen, wenn er daran denkt, daß ersich zu diesem Zweck in Croydon ein Flugzeug bestellenkann.

Die ästhetische Wirkung der Naturwissenschaften wardaher im großen und ganzen eine ungü~stige,. doch hatmeiner Ansicht nach weniger eine wesentliche Eigenschaftder Naturwissenschaften schuld dar an, sondern vielmehrdie rasch sich wandelnde Umwelt, in der der moderneMensch lebt. In mancher anderen Hinsicht aber waren dieWirkungen der Naturwissenschaften viel seg.ensreic~ere.

Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die Zweifel an

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dem letzten metaphysischen Wert der naturwissenschaft-lichen Erkenntnis überhaupt keinen Einfluß auf ihre Nütz-lichkeit in bezug auf die Produktionstechnik haben. Dienaturwissenschaftliche Methode hängt eng mit der sozialenTugend der Unparteilichkeit zusammen. Piaget behauptetin seinem Buche Judgment and Reasoning in the Child,daß die Fähigkeit vernünftig zu denken ein Produkt desSozialgefühls sei. Jedes Kind, so sagt er, träumt zunächstvon Allmacht, wobei sich die Tatsachen nach seinen Wün-schen zu richten haben. Allmählich zwingt es die Berüh-rung mit anderen zu der Einsicht, daß ihre Wünsche denseinen widersprechen können und daß seine Wünsche nichtunbedingt einen Maßstab für die Wahrheit bilden. NachPiaget entwickelt sich das vernünftige Denken als eineMethode, eine soziale Wahrheit zu finden, welche die Zu-stimmung aller erhält. Diese Behauptung ist, wie ichglaube, in weitem Maße zutreffend und weist nachdrück-lich auf ein großes Verdienst der naturwissenschaftlichenMethode hin, daß sie nämlich jene unlösbaren Meinungs-verschiedenheiten zu meiden trachtet, die sich dann er-geben, wenn man das persönliche Gefühl als Prüfstein derWahrheit betrachtet. Piaget berücksichtigt aber nicht eineandere Seite der naturwissenschaftlichen Methode, nämlichdie, daß sie Macht über die Umwelt verleiht und auch dieMacht, sich ihr anzupassen. Es kann zum Beispiel ein Vor-teil sein, wenn man imstande ist, das Wetter vorherzu-sagen; wenn ein Mann dabei recht behält, während alleseine Kameraden unrecht haben, bleibt der Vorteil aufseiner Seite, obwohl uns eine rein soziale Definition derWahrheit zwingen würde, ihn als im Unrecht befindlich zubetrachten. Dieser Erfolg bei der praktischen Erprobungder Macht über die Umwelt oder der Anpassung an siewar es, welchem die Naturwissenschaften ihr hohes Ansehenverdanken. Die chinesischen Kaiser nahmen wiederholtdavon Abstand, die Jesuiten zu verfolgen, weil diese dasDatum von Sonnenfinsternissen richtig vorhersagen konn-ten, während die chinesischen Astronomen unrecht hatten.

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Das ganze moderne Leben baut auf dem praktischen Er-folg der Naturwissenschaften auf, jedenfalls soweit dieunbeseeIte Natur in Betracht kommt. Bei der direktenAnwendung auf den Menschen hatten sie bisher geringerenErfolg, und sie haben dabei mit der Gegnerschaft derüberlieferten Glaubensvorstellungen zu rechnen, doch istnicht daran zu zweifeln, daß auch der Mensch in die wis-senschaftliche Betrachtungsweise einbezogen werden wird,falls unsere Zivilisation bestehenbleibt. Dies wird großenEinfluß auf die Erziehung und Strafrecht, vielleicht auchauf das Familienleben haben. Doch sind dies Entwick-lungsmöglichkeiten der Zukunft.

Das wesentliche Neue an der naturwissenschaftlichenTechnik ist die Nutzbarmachung von Naturkräften aufeine Weise, die dem uneingeweihten Beobachter nicht ein-leuchtet, sondern die das Ergebnis bewußten Forschensist. Die Anwendung des. Dampfes, einer der frühestenSchritte auf dem Entwicklungsweg der modernen Technik,stellt einen Grenzfall dar, da jedermann die Dampfkraftin einem Kessel beobachten kann, so wie es angeblich Ja-mes Watt tat. Die Verwendung der Elektrizität ist vieldeutlicher wissenschaftlich. Die Verwendung der Wasser-kraft in einer altmodischen Wassermühle ist verwissen-schaftlich, weil der ganze Mechanismus auch dem Laienklar ist; aber die moderne Nutzbarmachung der Wasser-kräfte mittels Turbinen ist wissenschaftlich, da der da-durch ausgelöste Vorgang einer Person ohne naturwissen-schaftliche Kenntnis völlig überraschend kommt. Natiir-lieh ist die Trennungslinie zwischen wissenschaftlicher undvorwissenschaftlicher Technik keine scharfe, und niemandkann genau angeben, wo die eine aufhört und die andereanfängt. Primitive Ackerbauer verwendeten menschlicheKörper zur Düngung und hielten ihre segensreiche Wir-kung für magisch. Dieses Stadium war deutlich verwissen-schaftlich. Die Verwendung von Naturdünger, die darauffolgte und sich bis heute erhalten hat, ist dann wissen-schaftlich, wenn sie durch ein sorgfältiges Studium der

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anorganischen Chemie reguliert wird, sie ist aber un-wissenschaftlich, wenn bloß über den Daumen gepeilt wird.Die Anwendung von Kunstdüngemitteln ist klar undeindeutig wissenschaftlich, da sie auf chemischen Vorgän-gen beruht, die kluge Chemiker erst nach langwierigerForscherarbeit entdeckten.

Das wesentlichste Kennzeichen der naturwissenschaft-lichen Technik ist, daß sie nicht ein Ergebnis der Tradition,sondern des Experiments ist. Die experimentelle Denk-weise sich anzueignen, ist für die meisten Menschen sehrschwierig; ja die Wissenschaft einer Generation ist für dienächste schon zur Tradition geworden, und es gibt weiteBereiche, z. B. den der Religion, in die die experimentelleDenkweise kaum noch eingedrungen ist. Trotzdem ist esgerade diese Geisteshaltung, welche die moderne Zeit imGegensatz zu früheren Jahrhunderten kennzeichnet, undihr ist es zuzuschreiben, daß die Macht des Menschen überseine Umwelt während der letzten 150 Jahre so unermeß-lich größer war als in den Zivilisationen der Vergangen-heit.

KAPITEL VII

DIE TECHNIK IN DER UNBESEELTEN NATUR

Die angewandten Naturwissenschaften feierten bisherihre größten Triumphe auf dem Gebiete der Physik undChemie. Wenn die Menschen an Technik denken, so den-ken sie in erster Linie an Maschinen. Es ist wahrscheinlich,daß in naher Zukunft Biologie und Physiologie ähnlicheTriumphe feiern und endlich ebensoviel Macht erlangenwerden, die Denkungsweise des Menschen zu ändern, wiedie Technik bereits dort besitzt, wo sie es mit der unbeseel-ten Umwelt zu tun hat. Dieses Kapitel wird sich jedochnicht mit den biologischen Anwendungen der Naturwis-senschaften beschäftigen, sondern mit dem vertrauteren,aber auch abgedroscheneren Thema ihrer Anwendung imBereiche der Maschinen.

Die meisten Maschinen, im engeren Sinne des Wortes,haben nichts mit dem zu tun, was den Namen Naturwissen-schaften verdient. Die Maschinen waren ursprünglich nurein Mittel, die unbeseelte Materie dazu zu bringen, eineReihe regelmäßiger Bewegungen auszuführen, die vordemvon den Körpern, besonders von den Händen der Men-schen geleistet wurden. Dies wird vor allem augenfälligbeim Spinnen und Weben. Die Naturwissenschaften spiel-ten auch in den ersten Anfängen der Eisenbahn und derDampfschiffahrt eine verhältnismäßig bescheidene Rolle.Die Menschen machten sich hierbei Kräfte dienstbar, diegar nicht geheimnisvoll waren, und das Erstaunen, dasdiese Idee hervorrief, war ganz unberechtigt. Im Falle derElektrizität liegen die Dinge allerdings wesentlich an-ders. Ein Elektriker muß eine ganz neue Art des gesundenMenschenverstandes entwickeln, die dem, der nichts vonElektrizität versteht, völlig abgeht. Diese neue Art desvernunftgemäßen Denkens besteht ganz aus Wissen, dasmit Hilfe der Naturwissenschaften erworben wurde. EinMensch, der seine Tage in ländlicher Abgeschiedenheit ver-

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bringt, weiß etwa, wie sich wahrscheinlich ein wütenderStier benehmen wird, wie alt und weise er aber auch seinmag, er wird nicht wissen, wie sich der elektrische Stromwahrscheinlich verhalten wird.

Einer der Zwecke der industriellen Technik ist es seitje, die menschliche Muskelkraft durch andere Formen derEnergie zu ersetzten. Die Tiere hängen zur Befriedigungihrer Bedürfnisse ganz von ihren eigenen Muskeln ab, undder primitive Mensch vermutlich ebenso. Allmählich er-warb der Mensch mehr Wissen, er konnte in wachsendemMaße die Energiequellen beherrschen und seine eigenenMuskeln schonen. Irgendein Genie erfand in grauer Vor-zeit das Rad, und irgendein anderes Genie brachte denOchsen und das Pferd dazu, das Rad sich drehen zu las-sen. Es muß eine schwierigere Aufgabe gewesen sein, denOchsen und das Pferd zu zähmen als den elektrischen Stromzu bändigen, doch war sie doch mehr eine Frage der Ge-duld als der Intelligenz. Die Elektrizität dient wie einerder Dämonen in Tausendundeiner Nacht willig jedem, derdie Formel kennt: die Entdeckung der Formel ist schwie-rig, alles weitere ist dagegen leicht. Im Falle des Ochsenund des Pferdes bedurfte es keiner besonderen Klugheit,um zu erkennen, daß ihre Muskeln die Arbeit wirksamerleisten konnten als die der Menschen vorher, doch kostetees viel Mühe und Zeit, bis sich Ochse und Pferd dem Wil-len ihres Bezähmers unterwarfen. Manche behaupten, siewurden nur deshalb gezähmt, weil sie Verehrung genossenund daß sie erst dann praktisch verwendet wurden, als siedie Priester ganz domestiziert hatten. Diese Theorie hatihrem ganzen Wesen nach viel Wahrscheinlichkeit für sichweil fast jeder bedeutende Fortschritt desinteressiertenMotiven entspringt. Wissenschaftliche Entdeckungen wur-den um ihrer selbst willen und nicht wegen ihrer prakti-schen Verwendbarkeit gemacht, und eine Menschheit ohnedesinteressierte Liebe zur Erkenntnis hätte niemals unserderzeitiges technisches Wissen erlangen können. Betrach-ten wir z. B. die Theorie der elektromagnetischen Wellen,

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von denen die Rundfunktechnik abhängt. Die bedeutungs-volle naturwissenschaftliche Erkenntnis beginnt mit Fa-raday, der als erster experimentell den Zusammenhangdes dazwischentretenden Mediums mit elektrischen Erschei-nungen untersuchte. Faraday war kein Mathematiker, undso war es Clerk-Maxwell, der seine Ergebnisse in mathe-matische Form brachte und auf Grund von rein theoreti-schen Konstruktionen entdeckte, daß das Licht aus elektro-magnetischen Wellen besteht. Den nächsten Schritt tatHertz, der als erster elektromagnetische Wellen künstlicherzeugte. Es blieb dann nur noch die Aufgabe zu lösen,Apparate zu erfinden, mit deren Hilfe Wellen zur kom-merziellen Auswertung erzeugt werden konnten. Diestat, wie allgemein bekannt ist, Marconi. Soweit dies über-haupt feststellbar ist, dachten weder Faraday, noch Hertzoder Marconi auch nur einen Augenblick lang an die prak-tische Anwendung ihrer Forschungsergebnisse. Ja es warerst dann möglich vorauszusehen, wozu sie verwendet wer-den konnten, als sie nahezu abgeschlossen waren.

Sogar in solchen Fällen, in denen der Zweck ein durch-aus praktischer war, ergab sich die Lösung eines Problemssehr oft aus der Lösung eines anderen, mit dem es demAnschein nach gar keinen Zusammenhang hatte. Nehmenwir als Beispiel das Problem des Fliegens. Dieses hat zuallen Zeiten die Phantasie des Menschen gereizt. Leonardowidmete ihm mehr Zeit als der Malerei. Aber bis in unsereGegenwart herein wurde der Mensch durch den Gedankenirregeleitet, daß er einen Mechanismus finden müsse, derden Flügeln des Vogels entspräche. Erst die Entdeckungdes Benzinmotors und seine Entwicklung für den Autobauführte zu einer Lösung des Flugproblems, doch ließe essich in den Anfangsstadien des Benzinmotors niemandträumen, daß er sich auch dafür eigne.Eines der schwierigsten Probleme der modernen Tech-

nik ist das der Rohstoffe. Die Industrie verbraucht inimmer stärkerem Maße Stoffe, die in früheren Periodender Erdgeschichte in der Erdkruste aufgespeichert wurden

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und die auf dem natürlichen Wege nicht ersetzt werden.Eines der augenfälligsten Beispiele ist das Erdöl. DerWeltvorrat an Erdöl ist begrenzt, und der Verbrauch vonErdöl nimmt ständig und immer rascher zu. Wahrschein-lich wird es nicht mehr lange dauern, bis die Vorräte prak-tisch erschöpft sein werden - ausgenommen den Fall daßes um ihren Besitz zu so verheerenden Kriegen kommt: daßdie Zivilis<l;tion auf eine Stufe zurückgeworfen wird, aufder man kein Erdöl braucht. Wir können daher wohl an-nehmen, daß ein Ersatz für Erdöl gefunden werden wird,wenn es durch zunehmende Seltenheit immer teurer wirdimmer vorausgesetzt, daß es zu keiner Menschheitskata~strophe kommt. Dieses Beispiel zeigt zugleich auch, daßdie industrielle Technik niemals statisch werden kann, wiees die landwirtschaftliche Technik in früheren Zeiten war.Es wird dauernd notwendig sein, neue Verfahrens weisenzu erfinden und neue Kraftquellen zu erschließen, und zwarwegen der außerordentlichen Schnelligkeit, mit der wir un-ser irdisches Kapital aufzehren. Es gibt natürlich einigepraktisch unerschöpfliche Energiequellen, vor allem Windund Wasser; doch würde die letztere, auch wenn sie vollausgenützt werden könne, nicht hinreichen, um den Welt-bedarf ~u be~riedigen. Die Ausnützung der Windenergieanderseits wurde wegen der Unregelmäßigkeit Akkumu-latoren erfordern, die verlustfreier arbeiten als irgend-welche, die bisher erzeugt wurden.Die Abhängigkeit von Naturprodukten, die uns ein-

fachere Zeitalter als Erbteil hinterließen, wird sich wahr-~cheinlichmit dem Fortschritt der Chemie verringern. Undrn naher Zukunft wird vermutlich künstlicher Kautschukden Gummibaum ebenso ersetzen, wie die Kunstseide be-reits an die Stelle der Naturseide trat. Auch künstliches Holzkann bereits hergestellt werden, allerdings noch nicht aufgeschäftlich lukrativer Basis. Doch wird es der Raubbauan den Forsten der Welt mit dem fortschreitenden Wachs-tum der Zeitungen bald notwendig machen, zur Papier-erzeugung anderes Material als Pulpe zu verwenden _

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es wäre denn, daß das Abhören von Nachrichten im Rund-funk dazu führt, daß man sich vom geschriebenen Wortals Quelle der täglichen Sensation abkehrt.Eine der naturwissenschaftlichen Zukunftsmöglichkeiten

von großer Bedeutung ist die Kontrolle des Klimas durchkünstliche Mittel. Es gibt Leute, die behaupten, daß derBau eines Dammes an einer geeigneten Stelle der kana-dischen Ostküste das Klima Südostkanadas und Neueng-lands völlig umwandeln würde, weil er die kalten Strö-mungen, die jetzt dort entlang der Küste fließen, zwingenwürde, zum Meeresgrund zu sinken, so daß die Oberflächevon warmem Wasser aus dem Süden aufgefüllt würde. Ichgarantiere nicht für die Richtigkeit dieser Theorie, dochgibt sie einen Hinweis auf Möglichkeiten, die in Zukunftrealisiert werden könnten. Oder um ein anderes Beispielzu nehmen: Der größere Teil des Festlandes zwischen dem30. und 40. Breitengrad trocknet allmahlich aus und er-nährt gegenwärtig in vielen Landstrichen eine wesentlichkleinere Bevölkerung als vor 2000 Jahren. In Südkalifor-nien verwandelte Bewässerung die Wüste in eines derfruchtbarsten Gebiete der Welt. Man kennt noch keinenWeg, um die Sahara oder die Wüste Gobi zu bewässern,aber vielleicht wird sich auch dieses Problem für die Natur-wissenschaften als lösbar erweisen.Die moderne Technik hat dem Menschen ein Macht-

gefühl geschenkt, das rasch seine ganze Mentalität wan-delt. Bis vor kurzem war die physische Umwelt etwas, dasman hinnehmen und mit dem man sich, so gut es eben ging,abfinden mußte. Wenn die Regenfälle nicht mehr hinreich-ten, um das Leben zu erhalten, dann gab es nur die Wahlzwischen den bei den Alternativen Tod oder Auswande-rung. Die Kriegsstarken wählten die erste, die schwachendie zweite Möglichkeit. Dem modernen Menschen ist seineUmwelt bloß das Rohmaterial, nur eine Betätigungsmög-lichkeit. Vielleicht hat Gott die Welt erschaffen, doch ist dieskein Grund für uns, sie nicht umzuformen. Diese Grund-einsteIlung erweist sich als religionsfeindlich, mehr als

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irgendwelche intellektuellen Beweisführungen es seinkönnten. Die überlieferten Religionen sind Verkörperun-gen der Abhängigkeit des Menschen von Gott. Und ob-wohl dieser Gedanke nominell noch anerkannt wird, sobeherrscht er doch nicht länger das Denken des modernenwissenschaftlichen Industriellen wie das des primitivenBauern oder Fischers, dem Trockenheit oder Stürme denTod bringen können. Den typischen modernen Geist inter-essiert nichts auf Grund dessen, was es ist, sondern esinteressiert ihn nur die Frage, was man daraus machenkönnte. Von diesem Gesichtspunkt aus ist das wichtigeKennzeichen der Dinge nicht ihre inhärente Qualität, son-dern ihre Verwendbarkeit. Alles wird zum Mittel. Wennman die Frage stellt, was ein Mittel sei, wird die Antwortsein, daß es ein Mittel sei, um andere Mittel herzustellenund so weiter ad infinitum. Psychologisch ausgedrückt heißtdies, daß die Machtliebe alle anderen Impulse verdrängthat, die erst zusammen ein Menschenleben ausmachen.Liebe, Elternschaft, Vergnügen und Schönheit sind für denmodernen Industriellen von geringerer Wichtigkeit alseinst für den fürstlichen Magnaten der Vergangenheit.Bearbeitung und Ausbeutung sind die herrschenden Lei-denschaften des typischen wissenschaftlichen Industriellen.Der Durchschnittsmensch teilt vielleicht nicht diese Ein-seitigkeit, aber es mag gerade daher kommen, daß er nichtimstande ist, zu den Quellen der Macht vorzudringen unddeshalb die Weltherrschaft den Fanatikern des Mechanis-mus überläßt. Die Macht, Veränderungen in der Welt her-vorzurufen, über die die großen Wirtschaftsführer unsererZeit verfügen, übertrifft bei weitem die Macht, die jemalsin der Vergangenheit einzelne Menschen besaßen. Es stehtihnen wohl nicht so frei wie Nero oder Dschingiskhan,Köpfe rollen zu lassen, sie können jedoch bestimmen, werhungern und wer reich werden soll, sie können den Laufder Flüsse ändern und Regierungen stürzen. Die Geschichtelehrt, daß Macht berauscht. Glücklicherweise ist es den mo-dernen Machthabern noch nicht ganz zum Bewußtsein ge-

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kommen, wieviel sie tun könnten, wenn sie wollten; soba!ddies aber einmal der Fall sein wird, dann steht uns emneues Zeitalter menschlicher Tyrannis bevor.

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KAPITEL VIII

DIE TECHNIK IN DER BIOLOGIE

Die wissenschaftliche Technik wird vom Menschen zurBefriedigung eine Anzahl verschiedenartiger Wunsche ver-wendet. Zuerst diente sie in der Hauptsache der Herstel-lung von Bekleidung und der Beförderung von Gütern undPersonen. Die Erfindung des Telegraphen schenkte ihr inder raschen Übermittlung von Nachrichten eine neue wich-tige Funktion und ermöglichte damit das moderne Zei-tu.ngswesen ~nd die Zen.tralisation der Verwaltung. Vielwissenschaftlicher Scharfsinn wirkte fördernd auf die Ent-stehung.banaler Unterhaltungen. Aber das wichtigste allermenschhch~n Bedürfnis~e, nä,?lich das nach Nahrung,wurde zunachst von der industriellen Revolution nicht son-derlich beeinflußt; die Erschließung des Mittleren Westensder Vereinigten Staaten war in dieser Hinsicht' der erstegroße Wandel, den die wissenschaftliche Technik hervor-rief. Se~t jener Zeit wurden auch Kanada, Argentinienur:d Indlen.zu be?eu.tenden Kornkammern der europäischenL~nder. 1?le Leichtigkeit der Beförderung von Getreide,die der Eisenbahn und dem Dampfschiff zu verdanken istbeseitigte das Gespenst des Hungers, das im Mittelalteralle Staaten bed~ohte ~nd noch in jüngster VergangenheitRußland und China heimsuchte, Doch auch dieser Wandelso wichtig e: ist, vollzog sich nicht durch eine Anwendungder Naturwissenschaften auf die Landwirtschaft. Erst seitganz kur~er Zeit wuchs die ~edeutung der Biologie für dieLebensmittelversorgung. Die Nationalökonomie lehrtedaß die m?d;rne Technik nur fabriks mäßig erzeugt~Waren verbilligen konne, während Lebensmittel mit demW achstu~ der Bevölk~rung ständig im Preise steigen wür-den. Erst In letzter Zeit wurde es wahrscheinlich daß eineRevolutionierung der Lebensmittelerzeugung durch An-

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wendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ebenso inden Bereich des Möglichen gerückt werde wie eine Revolu-tionierung der Industrieproduktion. Heute erscheint unsdies durchaus nicht mehr unwahrscheinlich.

Es gibt zwar auf dem Gebiete der Landwirtschaft keineso folgenschwere und umwälzende Erfindung, die der revo-lutionierenden Erfindung der Dampfmaschine entspräche,doch leisteten verschiedene Forschungsgebiete Einzelbei-träge, deren Ergebnisse in ihrer Gesamtheit vermutlichsehr weittragende sind.

Nehmen wir zum Beispiel das Problem der Verwendungvon Stickstoff in der Landwirtschaft. Wie jedermann weiß,enthalten alle lebenden Körper, tierische wie pflanzliche,einen gewissen Prozentsatz von Stickstoff. Die Tiere be-schaffen sich die notwendige Stickstoffmenge durch dasVerzehren von Pflanzen oder anderen Tieren. Aber wiedecken die Pflanzen ihren Stickstoffbedarf? Dies war langeZeit ein ungelöstes Geheimnis; die Vermutung lag nahe,daß sie ihn aus der Luft befriedigten (genauer gesagt, ausden winzigen Mengen von Ammoniak, die diese enthält),doch bewiesen Experimente, daß dies nicht der Fall ist.Dieser Beweis führte dazu, daß man sich damit beschäf-tigte zu entdecken, wie die Pflanzen den Stickstoff aus demBoden entnehmen. Dieses Problem wurde von zwei Män-nern studiert, von Lawes und Gilbert, die 60 Jahre langeine Reihe von Versuchen in Rothamsted bei Harpendendurchführten. Sie fanden, daß die große Mehrzahl derPflanzen nicht die Fähigkeit besaß, Stickstoff zu binden.Im Jahre 1886 gelang jedoch Hellriegel und Wilfrath dieEntdeckung, daß Klee und andere Leguminosen bei derBindung des Stickstoffes eine besondere Rolle zu spielenhatten. Diese Bindung vollzog sich in Wurzelknötchen, oderbesser gesagt, war sie Bakterien zu verdanken, die in denWurzelknötchen leben. Fehlten die Bakterien, dann warendiese Pflanzen für die Bindung des Stickstoffes nicht besserdaran als andere; das Wesentliche waren also die Bak-terien.

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Im allgemeinen kann man sagen, daß, soweit wir derzeitin der Lage sind, die Dinge zu beurteilen, einzig und alleinBakterien die Fähigkeit besitzen, entweder Ammoniak inNitrate umzuwandeln oder den atmosphärischen Stickstoffzu verwerten. Ammoniak besteht aus Stickstoff und Was-serstoff, die Nitrate aus Stickstoff und Sauerstoff. GewisseB~kterien, die im Erdreich leben, besitzen nun die Fähig-keit, den Wasserstoff des Ammoniaks durch Sauerstoff zuersetzen. Die so erzeugten Mittel dienen den Pflanzen zurNahrung. Zum Teil dadurch, zum Teil mit Hilfe der Bak-terien, die den atmosphärischen Stickstoff nutzbar machenwird der Stickstoff der unbeseelten Natur in den Lebens-kreislauf einbezogen",Vor der Ausbeutung des Chilesalpeters war dies der

einzige Weg, auf dem die für das Leben nötigen Nitrateentstanden. Alle Nitrate, die als Düngemittel in Verwen-dung standen, waren organischen Ursprungs. Die Salpeter-vorkommen in Chile und anderen Teilen der Welt sindquantitativ begrenzt, und hinge die Landwirtschaft nur vonihnen ab, so müßte sie deren Erschöpfung in eine kritischeLage bringen. Heute wird jedoch Salpeter künstlich ausd~r Luft erzeugt - und diese ist praktisch unerschöpflich.DI~ so ~ergestellte Salpetermenge übersteigt heute beiweitem die Erzeugung aus anderen Quellen. Mit Hilfe derS~lpeterd~ngung kan.n nun die Lebensmittelerzeugungemes bestimmten Gebietes ganz bedeutend gesteigert wer-den. Man hat berechnet, daß eine Tonne Stickstoff in Formvon Ammoniumsulfat oder Natronsalpeter die Lebensmit-telmenge schafft, die zur Ernährung von 34 Personen aufdie Dauer eines Jahres benötigt wird", Es ergibt sich ausdieser Berechnung, daß eine Ausgabe von 3 Pfund für dieErzeugung von Stickstoffdüngemitteln so viel zur Steige-r~ng der Lebensmittelproduktion der Welt beiträgt wiedie Ausgabe von 25 Pfund zur Urbarmachung weiterenBodens. Daraus folgt, daß derzeit im allgemeinen die Er----

1 7he Materials of Life, von T. R. Parsons, 1930, p. 263.2 Nature, 11. Oktober 1930.

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zeugung von Stickstoffdünger für die Welternährung .pro-fitabler ist als die Erschließung neuen Bodens durch EIsen-bahnen oder durch Bewässerung. Dieses Beispiel einer An-wendung der Naturwissenschaften auf die Landv:irtschaftist deshalb so lehrreich, weil es sowohl anorganische alsauch organische Chemie und außerdem ein sorgfältigesStudium des gesamten Lebenskreislaufs bei Tieren undPflanzen voraussetzt.Ein sehr interessantes Betätigungsfeld eröffnete sich der

naturwissenschaftlichen Forschung in Zusammenhang mitder Seuchenbekämpfung. Die meisten Seuchenträger sindentweder Insekten oder Pilze, und für beide hat die jüngsteVergangenheit wertvolle Erkenntnisse gebr~cht. F>ieW~ch-tigkeit solcher Erkenntnisse kommt d~r breiten O~enthc~-keit kaum zum Bewußtsein, und Regierungen schatzen SIenur dann, wenn sie sich mit nationalen Aspirationen inVerbindung bringen lassen. Einige besonders bemerkens-werte Fälle haben allerdings die Phantasie der Menschenerregt. Die Bekämpfung der Malaria .und des .~~lbfie~ersdadurch daß man den Stechmücken die Brutmöglichkeitenentzieht: hat Gebiete, die einst tödlich waren, der Besied-lung durch Weiße erschlossen und bildete eine Voraus-setzung für den Bau des Panamakanals. Der Zusammen-hang der Bubonenpest mit den Flöhen der Ratten u~d desFlecktyphus mit Läusen gehört heute schon zum WIssens-bestand des Gebildeten. Aber abgesehen von solchen ver-einzelten Beispielen haben außer einigen Spezialisten undBeamten erst wenige Menschen das Vorhandensein einesweiten Forschungsgebietes zur Kenntnis genommen, das invieler Hinsicht, besonders aber für die Welternährung.wichtig ist.Was die Insekten anlangt, so kann ein Artikel, betiteltEntomologie und das britische Weltreich", der in der Zeit-

;chrift Nature (10.1. 1931) erschien, eine Vorstellung davonvermitteln. Er gibt einen Bericht über die Tätigkeit der3. Entomologentagung des Weltreiches und des ImperialInstitute of Entomology. Es werden nicht viele meiner

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Leser von der Existenz dieser Körperschaften eine Ahnunghaben, obwohl es eine Tatsache ist, daß jährlich durch-schnittlich 10 Prozent der landwirtschaftlichen Weltproduk-tion von Insekten vernichtet werden. So stellt der genannteArtikel fest: "Man schätzt, daß z. B. in Indien die Ver-luste an Feldfrüchten und Waldbestand durch Schädlingeim Jahre 1921 die ungeheure Summe von 136 MillionenPfund betrugen, während ungefähr 1 600 000 Menschenjährlich an Krankheiten sterben, die durch Insekten hervor-gerufen werden. In Kanada verursachen Insekten Schädenan Feldfrüchten und Wäldern in der Höhe von etwa 30Millionen Pfund. In Südafrika verursachte ein einzigerSchädling, der Maiskolbenbohrer (Busseola [usca) Verlustevon ungefähr 2 750000 Pfund in einem einzigen Jahr."

Es gibt zwei Arten der Insektenbekämpfung, die physi-kalisch-chemische und die biologische Methode. Die ersterebesteht gewöhnlich in Ausräucherung. Die letztere ist diewissenschaftlich interessantere und geht auf die Entdeckungvon Parasiten aus, deren Wirkung auf die Schädlinge aufdem Grundsatze beruht: "Große Flöhe haben kleine Flöhe,die sie beißen, kleine haben kleinere und so weiter ad infini-turn." Im allgemeinen gibt es in den Gebieten, wo einSchädling heimisch ist, auch Parasiten, die seine unbe-grenzte Vermehrung verhindern; wenn jedoch ein Schäd-ling zufällig in ein anderes Gebiet verschleppt wird, sokann es geschehen, daß der Parasit zurückbleibt, und dasErgebnis ist in einem solchen Falle, daß der Umfang derangerichteten Verheerungen im Verhältnis weit größer istals daheim. Die modernen Verbesserungen des Verkehrsbegünstigen natürlich die Ausbreitung schädlicher Insektenund machen das Problem ihrer Bekämpfung zu einem umso dringlicheren.

Auch dann, wenn es sich nicht um die übertragung inneue Wohnsitze handelt, kann oft durch die Begünstigungnützlicher Parasiten viel geleistet werden. Wählen wir einBeispiel, das jedem vertraut ist, der Glashaustomatenzüchtet, nämlich die Glashausfliege. Einen Bericht über

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ihre Bekämpfung gibt Mr. E. R. Speyer, in Nature (~7. 12.1930). Ein auf ihr lebender ~arasit, genan?t Encarsia [or-mosa wurde 1926 in Elstree in Hertfordshire entdeckt undseither in der Cheshunt Experimental Station sorgsam ge-züchtet von wo er auf Wunsch bezogen werden kann. Inder gesamten Grafschaft Hertfordshire, wo sich etwa dieHälfte sämtlicher Glashauskulturen des ganzen VereinigtenKönigreiches befindet, reichten die Parasiten, die ausCheshunt entkamen, aus, um den Bestand an Glashaus-fliegen auf einen Bruchteil dessen zurückzuschrauben, waser noch 6 Jahre vorher war. ...Die Entomologie ist eine ungeheuer Wlc~t~ge Wissen-

schaft in der die Vereinigten Staaten dem Britischen Welt-reich 'weit voraus sind, obwohl ihre Nützlichkeit für dasletztgenannte Gebiet mindestens ebenso g~oß wäre. Wa~r-scheinlich wird es in naher Zukunft der Wissenschaft gelin-gen, auch das Problem der Ausro-~tung der Heuschreck~nund der Tsetsefliege (der Erregerirr der Schlafkrankheit)zu lösen.

Pilze sind kaum weniger schädlich als Insekten. In Eng-land gibt sich mit ihrer Erforschung haupt~äc~Iich das Im-perial Mycological Institute in Kew ab .,Em mtere.ssanterAufsatz über die Tätigkeit dieses Instituts erschien ..am2.2. 1931 in der Times. Eine der bekanntesten und gefah~-lichsten Pilzschädigungen ist die "Brand" genannte Wel-zenkrankheit. Die kanadische Regierung fängt die S~or~ndieser Pflanze mit Flugzeugen, um zu entdecken, wie siedurch den W'ind verbreitet werden. Wie wichtig dieseFrage für Kanada ist, mag man aus der Tatsache ersehen,daß allein im Jahre 1916, also zu einer Zeit, da de~ ErsteWeltkrieg auf seinem Höhepunkt war, der Brand. l~ dendrei Prärieprovinzen Weizen im W e~te ~on 35 Mllh~nenPfund vernichtete und im Durchschmtt m Kan.ada em~njährlichen Schaden von 5 Millionen Pfund annchtet. DieKartoffelkrankheit (Phytophthora), auch durch einen Pilzhervorgerufen, verursachte die irische Hungers~o~ undführte England zur Befolgung einer Freihandelspolitik und

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schließlich Boston zur Achtung moderner Literatur. DieserKrankheit ist man nun Herr geworden und England istge~ade dabei, ~eine Freihandelspolitik aufzugeben. DieWIrkung des Pilzes auf Boston scheint allerdings dauer-hafter zu sein.Ein merkwürdiges Beispiel für Berührungspunkte zwi-

schen den verschiedenen Verfahrensweisen ergab sich inZusammenhang mit dem Flugzeugbau, bei dem das Holzder Sitkafichte, die in Britisch Kolumbien wächst, weit-gehend Verwendung findet. Darüber sagt der oben-genannte Aufsatz der Times:"Ein überraschend großer Prozentsatz von anscheinend

fehlerfreiem Holz versagte, wie man feststellen mußte.Zunächst konnte auch.kein Anzeichen einer Pilzerkrankungbemerkt werd~n; doch offenbarte eine mikroskopische Un-te.:suchu~g, d~e vom Institut ausgeführt wurde, winzigeF~den eines Pilzes. Eine Kanadierin griff das Problem auf,reiste durch die Wälder Britisch Kolumbiens und entdeckteden Erreger am lebenden Holz. Zusammenarbeit zwischendem Forest Products Research Laboratory in Prince's Ris-borough und der. entsprech~nden Stelle in Kanada zeigteaußerdem, daß die Krankheit durch die lange Seereise viaPanamakanal, die durch tropische Gebiete führte ver-schlimmert wurde. Durch sorgfältige Prüfung der Bäumevor dem Fällen und durch Überlandtransport konnte dasÜbel weitgehend eliminiert werden."

Diese fünf. Beispiele. mögen genügen, um die Bedeutungder Mykologie, der .W'Issenschaft von den Pilzen, zu zeigen.Auch noch auf emem anderen Gebiet wird sich wahr-

scheinlich in Hinkunft die Wichtigkeit der biologischen Ver-fahrensweisen zeigen, nämlich auf dem der wissenschaft-lichen Züchtung. Künstliche Zuchtwahl kennt der Menschschon.sei~}ahrhunderten bei Haustieren und Hauspflanzen,un.d SIe~uhrte zu bemerkenswerten Ergebnissen. So gibt eskeme w~ldwachsende Spezies des Weizens. Das Rind, dassc?on seit lange.m au~ seine Milchproduktion hin gezüchtetwird, unterscheidet SIch ganz wesentlich von jedem nicht

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domestizierten Tier, das je lebte. Auch das Rennpferd istein hochentwickeltes Zuchtprodukt. Doch wurden all dieseErgebnisse, so bemerkenswert sie an sich auch sind, mitMethoden erzielt, die man kaum als wissenschaftliche an-sprechen kann. Heute besteht, vor allem mit Hilfe der Men-delschen Erbgesetze, die berechtigte Hoffnung, neue Ab-arten von Tieren und Pflanzen in einer viel weniger zu-fälligen Art und Weise zu züchten. Was jedoch bisher aufdiesem Gebiete versucht wurde, stellt kaum mehr als eineAndeutung dessen dar, was die neuen Entdeckungen aufdem Gebiete der Vererbung und Embryologie ermöglichenkönnten.

Die Wichtigkeit der Tiere für das menschliche Dasein hatseit der industriellen Revolution sehr abgenommen. Abra-ham lebte inmitten seiner Herden, Attilas Heere warenberitten. In der modernen Welt spielt aber das Tier nureine unbedeutende Rolle als Kraftquelle und noch unter-geordneter ist seine Rolle als Transportmittel. Man brauchtes noch für Zwecke der Ernährung und Bekleidung, aberauch hier wird es bald überholt sein. Die Seidenraupe wirddurch die Kunstseide bedroht; echtes Leder wird bald nurnoch ein Luxus für Reiche sein. Noch verwendet man Schaf-wolle zur Herstellung warmer Bekleidung, wahrscheinlichwerden aber bald synthetische Stoffe an ihre Stelle treten.Was das Fleisch betrifft, ist es kein unentbehrliches Nah-rungsmittel, und wenn das Bevölkerungswachstum weiteranhält, so könnte man sich vorstellen, daß man überall, dieTafel von Millionären ausgenommen, synthetische Beef-steaks servieren wird. Der Schellfischwird den Ochsen viel-leicht länger überleben, und zwar wegen der Vitamine desLebertrans. Schon läßt man aber den menschlichen KörperVitamin D durch Bestrahlung mit künstlichem Sonnenlichtbilden, so daß auch der Schellfisch möglicherweise nichtmehr lange nötig sein wird. Tiere waren gute Freunde desMenschen in seiner Reifezeit, aber gefährliche Feinde inseiner frühen Kindheit. Jetzt ist der Mensch allmählicherwachsen und die Rolle des Tieres im Leben des Menschen

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ist nahezu ausgespielt, und in Zukunft wird es auf Tier-gärten beschränkt sein. Man muß dies wohl bedauern,doch ist es auch bloß eine Erscheinungsform der neuenRücksichtslosigkeit des von seiner wissenschaftlichen Machtberauschten Menschen.

Der Bedarf an Pflanzen wird länger bestehen als der anTieren, weil sie immer noch wesentlich für die chemischenVorgänge sind, von denen das menschliche Leben abhängt.Der Verwendung vegetabilischer Produkte für andere alsErnährungszwecke kann man unschwer entraten. So ist esbereits möglich, Kunststoffe zu erzeugen, die dem Holz inallen nützlichen Belangen gleichen, allerdings ist ihreHerstellung immer noch wesentlich teurer als das Wachs-tum des Naturholzes. Sobald sich jedoch die Produktionverbilligt, werden die Wälder unbedingt ihren wirtschaft-lichen Wert verlieren. Es ist kaum anzunehmen, daß manfür Bekleidungszwecke Baumwolle verwenden wird, eben-sowenig Naturseide. Synthetischer Kautschuk wird baldden Naturgummi ersetzen. Fast alle derartigen Verwen-dungen vegetabilischer Produkte werden, dies kann manmit Sicherheit annehmen, noch vor Ablauf weiterer hundertJahre ihre Bedeutung eingebüßt haben.

Die Ernährung ist ein ernsteres Problem. Angeblich solles schon möglich sein, Produkte aus der Luft herzustellen,die gegessen und verdaut werden können; allerdings lassensich zwei Einwände gegen sie erheben, daß sie nämlichekelerregend und teuer sind. Beide Einwände könnten imLaufe der Zeit hinfällig werden. Denn die Erzeugungsynthetischer Nahrung ist ein rein chemisches Problem,und nichts berechtigt uns dazu, es für unlösbar zu halten.Zweifellos wird natürliche Nahrung besser schmecken, undreiche Leute werden bei Hochzeiten und anderen Festenwirkliche Erbsen und Bohnen auftischen, worüber dieZeitungen voll ehrfürchtigem Staunen berichten werden.In der Hauptsache jedoch wird die Nahrung in gewaltigenchemischen Fabriken erzeugt werden. Die Äcker werdenbrachliegen und an die Stelle der Landwirte werden Che-

DIE TECHNIK IN DER BIOLOGIE 143

miker als Fachleute treten. In einer solchen Welt werdennur noch die biologischen Vorgänge für den Menschen vonInteresse sein, die sich in ihm selbst abspielen. Sie werdenaber so sehr aus dem gewohnten Rahmen fallen, daß ersich immer stärker selbst als Kunstprodukt betrachten undden Anteil, den die Natur an Werden und Wachsen desMenschen hat, immer mehr gering schätzen wird. Es wirdso weit kommen, daß er nur das schätzen wird, was bewußtdurch menschliche Betätigung geschaffen wird, und nichts,was das Ergebnis eines unbeeinflußten Waltens der Naturist. Der Mensch wird die Macht erlangen, sich zu ändern,und er wird auch unweigerlich von dieser Macht Gebrauchmachen. Was dabei aus der Spezies Mensch werden mag,das wage ich allerdings nicht vorherzusagen.

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KAPITEL IX

DIE TECHNIK IN DER PHYSIOLOGIE

Ein lebender Körper, als physikalisch-chemischer Mechanis-mus betrachtet, besitzt einige sehr bemerkenswerte Eigen-schaften, die bis heute keine von Menschenhand konstruierteMaschine nachahmen kann. Die physikalischen Teile desMechanismus, wie das Pumpen des Blutes durch die Tätig-keit des Herzens oder das Funktionieren von Muskeln undKnochen, sind weniger bemerkenswert als die chemischen,dafür besitzen sie den Vorteil, daß sie seltener ernstlichin Unordnung geraten. Das Herz muß während der ganzenDauer eines Menschenlebens Tag und Nacht arbeiten --sagen wir siebzig Jahre lang. Wenn sich Reparaturen alsnotwendig erweisen, müssen sie in der Arbeitszeit durch-geführt werden. Ein Mensch von normaler Gesundheitist viel weniger oft krank als das beste Auto, trotz der Tat-sache, daß seinem Motor nie ein Augenblick der Ruhegegönnt wird. Die physikalische Konstitution des mensch-lichen Körpers ist ganz ausgezeichnet, sie ist aber trotzdemviel weniger kompliziert und auch uninteressanter als seinechemische.

Die bemerkenswertesten Eigenschaften des lebendenKörpers im Gegensatz zum leblosen sind Ernährung,Wachstum und Prädetermination. Die Ernährung bestehtin der Tatsache, daß ein lebender Körper mit Hilfe einesmannigfaltigen physikalischen Apparats in chemischenKontakt mit geeigneten Fremdkörpern tritt und sie einerLaboratoriumsbehandlung unterwirft, die soviel wie mög-lich von ihnen in chemische, ihm selbst ähnliche Substanzenverwandelt und den nutzlosen Rest wieder ausstößt. DasWachstum besteht in der Tatsache, daß sich der sichtbareKomplex eines lebenden Körpers mittels Zellteilung undErnährung zugleich mit seiner Masse vergrößern kann.

DIE TECHNIK IN DER PHYSIOLOGIE 145

Prädetermination. eine Eigenschaft sowohl der Ernährungwie des Wachstums, besteht in der Tatsache, daß die Er-nährung einen erwachsenen Körper in Bau und chemischerZusammensetzung nahezu unverändert erhält, währendbeim jungen Menschen das Wachstum mit engbegrenztenAbweichungen den Bau der Eltern reproduziert. So defi-niert, mnfaßt Prädetermination Fortpflanzung und Ver-erbung. Auf den ersten Blick scheint dies eine fast mystischeEigenschaft der lebenden Materie zu sein, allmählich, wennauch bisher bei weitem noch nicht vollständig, lernt aberdie Wissenschaft sie zu verstehen.

Die Ernährung, d. h. die Umsetzung von Nahrung in dieverschiedenen Bestandteile des Körpers, ist ein Vorgangvon erstaunlicher Komplexität. Einiges daran, z. B. dasWirken der Vitamine, ist dabei noch dunkel. Das wesent-liche Merkmal der Ernährung ist jedoch verhältnismäßigeinfach. Vom Speichel angefangen wirken eine Reihe che-mischer Stoffe auf unsere Nahrung ein, bis sie einen Zu-stand erreicht, in dem sie in die Blutbahn gebracht werdenkann, aus der die verschiedenen Teile des Körpers das ent-nehmen, was sie brauchen, und auch hier wieder mittelsverschiedener chemischer Wirkstoffe.

Das Wachstum in seiner bemerkenswertesten Form wirdam eben befruchteten Ei sichtbar, das sich sehr rasch inzwei, dann in vier, acht und so weiter Zellen teilt, währendes gleichzeitig ständig an Größe zunimmt. Das Wachstumkann auch krankhafte Formen annehmen, wie zum Beispielbeim Krebs.

Die Prädetermination zeigt sich nicht bloß in der Ver-erbung, sondern auch im Ersetzen des sich normal Abnüt-zenden. Wenn man Haare oder Nägel abschneidet, sowachsen sie nach; wenn man ein Stück Haut abschürft, sobildet sich eine neue Haut; wurde ein Körper durch Krank-heit geschwächt, so formt er sich nach eingetretener Gene-sung wieder zu dem, was er vorher war. Innerhalb be-stimmter Grenzen besitzt der Körper die Fähigkeit, seinefrühere Struktur wieder herzustellen, wenn die erlittene

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146 NATURWISSENSCHAFTLICHE TECHNIK

Störung keine allzu heftige war. Die Vererbung ist einweiteres Beispiel für die gleiche Fähigkeit. Die Unter-schiede zwischen Spermatozoen der Menschen und Affenmüssen den Unterschieden zwischen diesen beiden Speziesentsprechen, obwohl die Mikroskope von heute noch nichtstark genug sind, diesen Unterschied zu zeigen. Wh müssenannehmen, daß eine schon vorher bestehende Komplexitätim Laufe des embryonalen Wachstums sichtbar wird, dennsonst bliebe die Tatsache der Vererbung unverständlich.Die Entwicklung des Embryo verläuft demnach genau ana-log der selbsterhaltenden Eigenschaft des erwachsenenKörpers. Dies gilt natürlich auch nur innerhalb ähnlicherGrenzen.

In der Physiologie hat die Technik bisher die Gestalt derMedizin im weitesten Sinne des Wortes angenommen, d. h.ihre Aufgabe war Verhütung und Heilung von Krank-heiten und Tod. Was in dieser Hinsicht geleistet wurde,geht aus den Sterblichkeitsstatistiken hervor. Die Änderun-gen der Sterblichkeitsziffern für England und Wales seit1870 sind die folgenden:

1870 . 22.9 pro Tausend1929 . 13.4 pro Tausend.

In anderen zivilisierten Ländern liegen die Verhältnisseähnlich. Gleichzeitig nahm auch, ebenfalls das Ergebniseiner anderen Form der Technik in der Physiologie, dieGeburtenziffer ab, wie die folgenden Zahlen beweisen:

1870 . 35.3 pro Tausend1929 . 16.3 pro Tausend.

Aus diesen Zahlen lassen sich verschiedene Schlüsse ziehen.Einer davon ist, daß in zivilisierten Ländern jede Art dernatürlichen Bevölkerungszunahme aufhört, ja, daß binnenkurzem eine tatsächliche Abnahme eintreten kann. Eineandere Schlußfolgerung ist die, daß es weniger junge undmehr alte Menschen gibt. Wer der Ansicht ist, daß dieAlten klüger seien als die Jungen, wird sich von dieserÄnderung im Verhältnis der Jungen zu den Alten heilsameErgebnisse erhoffen. Anderseits wird dies Tatsache von

DIE TECHNIK IN DER PHYSIOLOGIE 147

denen bedauert werden, die das Gefühl haben, daß inunserer sich so rasch wandelnden Welt wahrscheinlich dieAlten viel weniger Verständnis für neue Kräfte auf-bringen, wohl aber alte, absterbende Kräfte, die an Be-deutung verlieren, eher überschätzen werden als die Jun-gen. Dieser Nachteil mag jedoch durch eine Verlängerungder physiologischen Jugend wieder aufgewogen werden.

Bis vor kurzem wirkte die Fortpflanzung so blind wieeine Naturkraft. Dies gilt jedenfalls für Europäer, dennviele wilde und barbarische Völkerschaften wandten ver-schiedene Methoden zur künstlichen Einschränkung derFortpflanzung an. Während der letzten fünfzig Jahrewurde die Fortpflanzung der weißen Rasse in zunehmen-dem Maße bewußt statt zufällig. Bisher hat diese Tatsachenoch nicht die politischen und sozialen Folgen gehabt, diesich sicher über kurz oder lang ergeben müssen. Was dieseFolgen wahrscheinlich sein werden, wollen wir später er-örtern.Künstliche Schwangerschaftsverhütung ist nicht der ein-

zige Wandel, den die moderne Technik in dieser Hinsichtbewirkt hat, obwohl es der wichtigste ist. Man kannSchwangerschaft nunmehr auch künstlich hervorrufen. Bis-her wurde von dieser Möglichkeit nur wenig Gebrauchgemacht; sobald aber dieses Verfahren einmal vervoll-kommnet ist, kann es zur Quelle äußerst wichtiger Verän-derungen in bezug auf Eugenik und Familie werden.

Sollte es jemals möglich werden, das Geschlecht nachWunsch zu bestimmen, so würde dies unweigerlich zu einerNeuanpassung der Beziehungen zwischen Mann und Frauführen. Die erste Wirkung wäre vermutlich ein beträcht-licher überschuß an männlichen Neugeborenen. Dies würdeim Laufe einer Generation der Frau Seltenheitswert ver-leihen und zu offener oder versteckter Vielmännerei füh-ren. Die Achtung vor der Frau würde durch ihre Selten-heit erhöht, und das Ergebnis wäre ein überwiegen derweiblichen Neugeborenen. Schließlich würde wahrschein-lich der Staat die Angelegenheit regeln müssen, vielleicht

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148 NATURWISSENSCHAFTLICHE TECHNIK

durch einen Bonus auf das Geschlecht, an dem geradeMangel herrscht. Diese sich ständig wiederholendenSchwankungen und administrativen Maßnahmen würdeneine verwirrende Wirkung auf das Gefühlsleben und dieMoral ausüben.

Wahrscheinlich wird letzten Endes die bedeutsamste An-wendung der physiologischen Technik in das Gebiet derEmbryologie fallen. Bisher war die Gesundheit das einzigeZiel der Medizin und auch der Biochemie; mit anderenWorten, ihr Ziel war das reibungslose Funktionieren einesKörpers, der durch natürliche Ursachen geschaffen wurde.Die einzige Methode, die man zur Verbesserung des Be-standes an Menschen in Vorschlag gebracht hatte, war dieder Eugenik. Soweit es sich um höhere Tiere und den Men-schen handelt, ist die Vererbung noch nicht der Gewaltdes Menschen unterworfen. Ein gegebener Embryo kannsich zu einem gesunden oder kränklichen Individuum ent-wickeln, ist es aber ein gesundes, dann kann es nur eineArt von Individuum sein, jedenfalls soweit seine erblichenMerkmale in Betracht kommen. Mutationen kommen vor,man kann sie jedoch nicht willkürlich hervorrufen. Vermut-lich wird sich jedoch dieser Stand der Dinge ändern. Eswird viel darüber diskutiert, ob es eine Vererbung erwor-bener Eigenschaften gäbe, und so viel scheint klar zu sein,daß eine solche nicht in der Form vorkommt, wie Lamarckmeinte. Keine Änderung in einem Organismus ist erblich;außer sie berührt die Chromosomen, die Träger der erb-lichen Merkmale; doch kann eine Änderung vererbt wer-den, welche die Chromosomen berührt'. Wenn die Larvender Obstfliege in einem frühen Entwicklungsstadium derEinwirkung von Röntgenstrahlen ausgesetzt werden, ent-wickeln sie sich zu ausgewachsenen Exemplaren, die sicherkennbar von den meisten gewöhnlichen Obstfliegenunterscheiden. Es kann nun sein, daß die durch die Rönt-genstrahlen hervorgerufenen Veränderungen die Chromo-

1 Vgl. Hogben, The Nature of Living Matter, p. 186.

DIE TECHNIK IN DER PHYSIOLOGIE 149

somen ebenso wie den übrigen Körper berühren, wenndas aber der Fall ist, dann sind sie vererblich. AuchTemperaturänderungen oder geänderte Ernährung kön-nen möglicherweise Einfluß auf die Chromosomen haben.Doch steckt unser Wissen auf diesem Gebiet noch in denKinderschuhen. Da jedoch Mutationen vorkommen, ist esklar, daß es Kräfte gibt, die den erblichen Charakter einesOrganismus ändern. Sobald diese Kräfte einmal entdecktsind, kann es möglich sein, sie künstlich so anzuwenden,daß ein beabsichtigtes Resultat daraus folgt. In einem sol-chen Falle wird die Eugenik nicht mehr länger der einzigeWeg sein, um eine Rasse zu verbessern. .

Bisher wurden noch keine Versuche unternommen, dieW'irkungen der Röntgenstrahlen auf den menschliche.nEmbryo zu studieren. Ich stelle mir vor, daß solche Experi-mente ebenso wie andere, die unsere Kenntnisse wesentlichbereichern könnten, ungesetzlich -sind. Früher oder späterwird man aber wahrscheinlich in Rußland, solche Experi-mente anstellen, Wenn die Naturwissenschaften auch wei-terhin so rasche Fortschritte machen wie bisher, danndürfen wir uns in der Hoffnung wiegen, noch im Laufeunseres Jahrhunderts Wege zu entdecken, um den mensch-lichen Embryo wohltätig beeinflussen zu können, nicht nur,was solche erworbenen Eigenschaften betrifft, die nicht ver-erbt werden können, weil sie nicht die Chromosomen be-rühren, sondern auch, was die Chromosomen selbst anlangt.Wahrscheinlich wird dieses Ergebnis nur auf dem Umwegüber eine Reihe mißglückter Experimente zu erlangen sein,die zur Geburt von Idioten und Monstrositäten führen.Wäre dies ein zu hoher Preis, den man für die Entdeckungeiner Methode zahlen müßte, mit deren Hilfe die gesamteMenschheit innerhalb einer Generation intelligent gemachtwerden könnte? Vielleicht könnte durch eine entsprechendeAuswahl der in die Gebärmutter zu injizierenden Chemi-kalien der Reihe nach ein Kind in einen Mathematiker,einen Dichter, einen Biologen oder sogar in einen Politikerverwandelt werden, und zwar mit der absoluten Gewiß-

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heit, daß dies. au~h für alle seine Nachkommen geltenwer.de, wenn SIe nicht durch chemische Gegenmittel dar angehindert :~,ve~den:D~e soziologischen Auswirkungen einersolch~.nMoghchkeIt SInd ein zu weites Gebiet, um sie hier~u erortern. Doch wäre es voreilig, zu leugnen, daß es schonIn naher Zukunft eine solche Möglichkeit geben könnte ...Ob.wohl es bestimmt voreilig wäre, Einzelheiten der zu-

künftigen .~nt~ick~ung vorhersagen zu wollen, so halte iches doch fur ziemlich sicher, daß man in Hinkunft einenmenschlic?en !<-örperni~t bloß als etwas betrachten wird,daß ~an In EInklang mit den Naturkräften seinem Wachs-tum u?erlassen müsse und nicht länger die Ansicht vertre-ten wird, daß der Mensch nicht über das hinaus, was zurE~haltung der Gesundheit geboten ist, eingreifen dürfe.~Ie Tendenz der wissenschaftlichen Technik geht dahin,nichts bloß ~ls nackte Tatsache zu betrachten, sondernals Roh.matenal zur Erfüllung eines menschliches Zweckes.Da~ K~nd und auch der Embryo werden immer aus-schlIe~hcher von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet wer-den, J.e mehr die Geisteshaltung, die mit der wissen-schaftliehen Technik im Zusammenhang steht, zur vor-~errschenden wird. Wie jede andere Form wissenschaft-licher ~ec~nik ?irgt auch diese Möglichkeiten des GutenUI;d MoglIc?keIten des Bösen in sich. Die Wissenschaftwird aber nicht allein darüber zu entscheiden haben wel-che den Ausschlag geben sollen. '

KAPITEL X

DIE TECHNIK IN DER PSYCHOLOGIE

In der Zeit, als ich das erhielt, was man seinerzeit Erzie-hung nannte, bildete die Psychologie noch ihrem Wesenund ihren Zielen nach einen Teil der Philosophie. Die gei-stigen Vorgänge wurden in Erkennen, Wollen und Fühleneingeteilt. Man versuchte Perzeption und Sinneswahrneh-mung zu definieren, und im allgemeinen bestand der Ge-genstand aus Wortanalysen von Begriffen, welche die Phi-losophie vertraut, wenn auch nicht verständlich gemachthatte. Zwar begann jedes Lehrbuch mit einer Darstellungdes Gehirns, doch wurde im weiteren Verlauf auf diesenKörperteil nicht mehr angespielt. Es gab auch schon eineForm der Psychologie, die sich des Laboratoriums bedienteund versuchte, sich wissenschaftlich zu geben. Sie wurdebesonders von Wundt und seiner Schule praktiziert. Manzeigte jemandem das Bild eines Hundes und fragte: "Wasist das?" Dann maß man genau, wie lange er brauchte, um"Hund" zu sagen, und sammelte auf diese Weise eineUnmenge wertvoller Erkenntnisse. Nur war es merk-würdig, daß man trotz des ganzen Apparates für Messun-gen mit den ganzen wertvollen Erkenntnissen nichts an-deres anfangen konnte als sie vergessen. Jede junge Wis-senschaft wird durch allzu sklavische Nachahmung derTechnik einer älteren Wissenschaft gehemmt. Zweifellossind Messungen das Kennzeichen einer exakten Wissen-schaft, und aus diesem Grunde sahen sich Psychologen, dieWissenschaftler sein wollten, nach etwas Meßbarem imBereiche ihres Faches um. Sie irrten sich aber, wenn siemeinten, daß Zeit intervalle das Gegebene für solche Mes-sungen wären; später stellte sich heraus, daß der Speicheldes Hundes das geeignete Material war.Die Psychologie, so wie sie einst überall betrieben wurde,

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kann keine praktische Herrschaft über geistige Vorgängeverleihen, und dies war auch gar nicht das angestrebte Ziel.Von dieser Verallgemeinerung gibt es jedoch eine wichtigeAusnahme, nämlich die Psychologie, wie sie von der So-cietas Jesu betrieben wurde. Viel von dem, was der Restder Menschheit erst in jüngster Zeit begriff, war bereitsvon Ignatius von Loyola erfaßt und seinem Orden ein-geschärft worden. Die beiden Richtungen, welche die mo-dernen Psychologen in zwei Lager spaltet, nämlich Psycho-analyse und Behaviorismus, haben ihr Gegenstück in derPraxis der Jesuiten. Im allgemeinen kann man meinerMeinung nach sagen, verließen sich die Jesuiten für ihreeigene Schulung auf den Behaviorismus, auf die Psycho-analyse aber, wenn es galt, Macht über die reuigen Sünderzu erlangen. Es handelt sich dabei jedoch mehr um einengraduellen Unterschied, denn die Lehren, die Loyola inden Meditationen über die Passion gab, fallen eher in diePsychologie Freuds als die Watsons.Alles moderne wissenschaftliche Denken ist, wie ich be-

reits Gelegenheit hatte zu bemerken, ein Machtdenken,das heißt, der grundlegende menschliche Impuls, an denes sich wendet, ist die Machtliebe oder, anders ausgedrückt,das Verlangen, die Ursache von möglichst vielen und star-ken Wirkungen zu sein. Das jesuitische Denken war natür-lich ein Machtdenken in einem sehr groben und direktenSinne, während ein wahrhaft wissenschaftliches Denken denMachtimpuls veredelt und sublimiert. Sobald die Jesuiteneinmal das Verfahren kannten, um eine gegebene Wir-kung zu erzielen, dann interessierte sie der Mechanismus,durch den die Wirkung zustande kam, nicht mehr länger,wenn nur die richtigen Verhaltensweisen ausgebildet wur-den; ob sie aber ihren Ursprung im Kehlkopf oder in inner-sekretorischen Drüsen hatten, das war ihnen völlig gleich-gültig. So bemerkenswert ihr praktisches Verständnis auchwar, so können sie doch nicht als wissenschaftliche Psycho-logen in diesem Sinne bezeichnet werden. Ihre Kunst ähneltder eines Zureiters oder Löwenbändigers; sie waren zu-

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frieden, solange sie Erfolg hatten. Im Gegensatz dazuwollen moderne Psychologen wie Hamlet von ihrer Auf-gabe auch erbaut sein. Die Hypothese z. B., so wichtig undeinzigartig sie auch ist, wurde deshalb lange Zeit von denPsychologen ignoriert, weil sie nicht wußten, wie sie in ihrSchema einzuordnen sei. Lange Zeit hindurch betrachtetenes die Psychologen nicht als ihre Aufgabe, sichmit geistigenPhänomenen auseinander zusetzen, die nicht als vernünftigangesehen werden konnten, wie z. B. mit Träumen, Hy-sterie, Wahnsinn und Hypnose. Der Mensch war ein ver-nunftbegabtes Tier, und Zweck der Psychologie war es, unseine gute Meinung von ihm zu vermitteln. Aber seltsam,solange diese Ansicht vorherrschte, machte die Psychologiekeine Fortschritte. Ein Fortschritt auf dem Gebiete derErziehung stellte sich erst ein, als man versuchte, Schwach-sinnige zu unterweisen, und auf dem der Psychologie, alsman den Versuch unternahm, Geisteskranke zu verstehen.Man gab zu, daß der Schwachsinnige nicht unbedingt bös-willig war, wenn er nicht zu lernen vermochte, und daßman ihm Intelligenz nicht durch Prügel einbläuen könne.Aus der Erfahrung mit den Schwachsinnigen gelangten be-sonders erlauchte Geister zu der Schlußfolgerung, daß viel-leicht auch im Falle normal Intelligenter Prügel nicht dasbeste Aufmunterungsmittel darstellen. Ein ähnlicher Um-schwung bahnte sich in den Glaubenssätzen der Psychologiedurch das Studium der Geisteskranken an. Man entdeckte,daß die Verrückten nicht durch eine Reihe von Syllogismenmit allgemeingültigen Obers ätzen zu ihren Ansichten ge-langt waren; im 18. Jahrhundert nahm man aber tatsäch-lich an, daß Menschen mit normaler Intelligenz auf dieseWeise zu ihren Ansichten kämen. Damit will ich nichtsagen, daß Menschen von normaler Intelligenz dies von~in-ander annahmen; ich meine damit nur, daß Theoretikerder Psychologie diese Anschauung vertraten. Als sich Vol-taires Cacambo einer Horde Kannibalen gegenübergestelltsieht, die Vorbereitungen treffen, ihn aufzufressen, hälter ihnen eine wohlgesetze Rede, die mit "Meine Herren"

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beginnt, und in der er ihnen syllogistisch aus den Grund-sätzen des Naturrechtes deduziert, daß sie nur Jesuitenfressen sollten, und daß es daher, weil er und Candidekeine Jesuiten seien, ein Unrecht wäre, sie zu braten. DieKannibalen finden seine Rede sehr vernünftig und lassenihn und Candide per Akklamation frei. Voltaire machtsich natürlich hier über den Intellektualismus seines Zeit-alters lustig, doch verdiente sein Zeitalter auch den Spott,zumindest soweit es sich um Theoretiker der Psychologiehandelt. Heutzutage wissen auf Grund einer ganz jungenEntwicklung auch Theoretiker der Psychologie so viel übergeistige Vorgänge, wie die Jesuiten und Männer von Weltschon früher darüber wußten. Man fand heraus, daß dieUrsachen von Vorstellungen im wachen Zustand in derHauptsache denen der Träume, des Irreseins und des Hyp-notisiertseins entsprechen. Sie sind natürlich nicht ganzanalog: der einzige Unterschied liegt in ein wenig Sauer-teig der Vernunft, doch ist Vernunft eher eine Ursache desUnglaubens als des Glaubens. Das Positive stammt ausdem animalischen Bereich des Instinkts, die Vernunft lie-fert nur das Negative. Bildlich ausgedrückt, die Wissen-schaft ist ein Baum, der aus dem Boden des Tierisch-In-stinkthaften sprießt,· beschnitten von den Scheren der Ver-nunft, und die Rolle, die das erstere spielt, hat die modernePsychologie angefangen zu verstehen.Die moderne Psychologie kennt zwei Verfahrensweisen,

die einander immer noch mehr oder weniger feindlichgegenüberstehen, die Freuds und die Pawlows.

Freuds Ziele waren zunächst rein therapeutische. Erbefaßte sichmit der Heilung der weniger extremen Formengeistiger Störungen. Im Laufe seiner Versuche gelangte erzu einer Ansicht über die Ursachen solcher Beschwerden.Freuds Theorie über diesen Gegenstand erwies sich alswichtiger als sein Beitrag zu den Heilverfahren. Eine freieWiedergabe der allgemeinen Grundsätze, die sich aus derArbeit Freuds und seiner Schüler ergeben, würde etwafolgendermaßen lauten: Die menschlichen Wesen besitzen

DIE TECHNIK IN DER PSYCHOLOGIE 155

gewisse grundlegende Triebe, die gewöhnlich mehr o~erweniger unbewußt sind, und unser geistiges Leben Wirdnun so gestaltet, daß. diese Triebe die größtmögliche Be-friedigung finden. W'o immer sich ihrer RealisierungHindernisse in den Weg stellen, sind die Mittel, die manzu ihrer überwindung anwendet, etwas töricht, in demSinne nämlich, daß sie nur im Bereich der Phantasie undnicht in dem der Realität wirken. Ich glaube nicht, daß diePsychoanalytiker sehr tief über die Unterscheidung vonPhantasie und Realität nachgedacht haben. Ich nehme aberan, daß für praktische Zwecke "Phantasie" das ist, worander Patient glaubt, und Realität das, woran der Psycho-analytiker glaubt, Es darf jemand erst ein Analytiker :-ver-den, bis er analysiert wurde, und man erwartet von ihm,daß er bei diesem Verfahren die offizielle Ansicht überRealität akzeptieren werde. Wenn es ihm nun seinerseitsgelingt, diese Ansicht auf seine Pa1:ien.t~~zu ~ber.tragen,dann wird diese Auffassung von Realität schheßhch denSieg davontragen, hoffen wir es zumindest. Ohne uns inmetaphysische Feinheiten zu verlieren, kann man sagen,daß Realität das ist, was allgemein anerkannt wird, undPhantasie das; woran bloß ein Individuum oder eineGruppe von Individuen glaubt. Diese Definition darf ~.annatürlich nicht allzu wörtlich nehmen, denn sonst warez. B. die Meinung des Kopernikus zu seinen LebzeitenPhantasie und zur Zeit Newtons Realität gewesen. Nungibt es aber eine Reihe von Ansichten, die of~en~ar aufden individuellen Wünschen derer beruhen, die Sie ver-treten, und nicht auf allgemein anerkannten Grundlagen.Mich besuchte einmal ein Mann, der den Wunsch hegte,meine Philosophie zu studieren, doch gestand er, daß es indem einzigen meiner Bücher, das er gelesen hatte, nur eineBehauptung gab, die er verstand, und gerade sie war eineBehauptung, der er nicht zustimmen konnte. Ich fragte, umwelche Behauptung es sich handle, und er erwiderte: "Eshandelt sich um die Behauptung, daß Julius Caesar totsei." Natürlich erkundigte ich mich, warum er diese Be-

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156 DIE TECHNIK IN DER PSYCHOLOGIE 157NATURWISSENSCHAFTLICHE TECHNIK

h.aup~ung ~icht ak~e~tieren könne, und er entgegnete~lemhch .st~lf: "Weil Ich Julius Caesar bin." Da ich mitIh~ ~lleIn In ~er Wohnung war, trachtete ich so rasch wiernogbch auf die Straße zu gelangen, denn es erschien mirwahrscheinlich, daß er zu seiner Ansicht nicht auf Grundei~es objektiven Studiums der Realität gelangt sein konnte.DIeser Vorfall beleuchtet den Unterschied zwischen ver-nünftigen und Wahnvorstellungen. Vernünftige Vorstel-lungen werden von Wünschen ausgelöst, die mit den Wün-schen anderer Menschen übereinstimmen, Wahnvorstellun-g~n geraten mit den Wünschen anderer Menschen in Kon-flikt. ~ir alle würden gerne Julius Caesar sein, wir sehena?er ein, daß,. wenn einer Julius Caesar ist, es nicht auchein anderer sem kann. Deshalb ärgert uns ein Mensch derglaubt, er sei Julius Caesar, und wir halten ihn für 'ver-rückt. Wir alle würden auch gerne unsterblich sein dochgerät die Unsterblichkeit eines Menschen nicht in Wider-streit mit der eines anderen, und deshalb ist ein Menschder sich für unsterblich hält, nicht verrückt. Wahnvorstel-lungen sind demnach Ansichten, denen es an der nötigen~ozialen ~npas~ung mangelt, und Zweck der Psychoanalyse1~~es, die sozialen Anpassungen herzustellen, die dazufuhren, daß solche Ansichten aufgegeben werden.

Hoffentlic? wird der Leser gefühlt haben, daß obigeDarstellung m mancher Hinsicht unzureichend ist. Wie sehrich mich ~uch bemühte, so ist es doch fast unmöglich, demmetaphysischen Begriff des "Faktums " zu entrinnen.Freud selbst wurde z. B. mit der Art von Entsetzen be-trachtet, die man gefährlichen Irren entgegenbringt, als erzum e:sten Male seine Theorie vom alles durchdringen-den Emfluß des Geschlechtlichen darlegte. Wenn sozialeA~passung tats.ächlich als Prüfstein für geistige Gesund-h~lt anzuse~en 1St,dann war er danach verrückt; als jedochseme Theone so weit anerkannt war, daß sie zu einer Ein-n~hm.equelle wurde, da wurde auch er geistig normal.D~es ist aber offenbar unsinnig. W'er mit Freud überein-stimmt, muß behaupten, daß in seinen Theorien eine ob-

jektive Wahrheit steckt, und nicht, daß sie bloß so beschaf-fen sind, daß man viele Menschen dazu bringen kann, siezu akzeptieren. Was von der Theorie der sozialen An-passung als Prüfstein der Wahrheit übrigbleibt, ist, daßsolche Ansichten, die nur von persönlichen Wünschen in-spiriert werden, selten richtig sind, wobei ich unter reinpersönlichen Wünschen solche verstehe, die den Interessenanderer zuwiderlaufen. Nehmen wir als Beispiel denMann, der auf der Börse reich wird. Seine Betätigung istzwar von dem Wunsche inspiriert, reich zu werden, unddies ist ein rein persönlicher Wunsch. Doch müssen seineAnsichten von einer unparteiischen Einschätzung der Markt-lage getragen sein. Wenn er sich von rein persönlichenAnsichten leiten läßt, wird er sein Geld verlieren, undseine Wünsche werden nicht in Erfüllung gehen. Wiedieses Beispiel zeigt, werden auch unsere persönlichstenWünsche mehr Aussicht haben, in. Erfüllung zu gehen,wenn unsere Ansichten unpersönlich sind, als wenn siepersönlich sind. Dies ist auch der Grund, warum sich dieWissenschaft und die wissenschaftliche Methode einersolch hohen Wertschätzung erfreuen. Wenn ich von un-persönlichen Ansichten spreche, so meine ich damit, daßdie Wünsche, die sie verursachen, allgemein menschlicheWünsche sind und nicht solche, die bloß für die fraglichePerson kennzeichnend sind.

Als psychologische Theorie besteht die Psychoanalysein der Entdeckung von gewöhnlich unbewußten Wünschen,die den Glauben besonders an Träume und Wahnvorstel-lungen inspirieren, aber auch an die weniger vernünftigenBestandteile unseres sogenannten vernünftigen Alltags-lebens. Vom therapeutischen Standpunkt aus betrachtet, istdie Psychoanalyse eine Verfahrensweise, die darauf ab-zielt, persönliche Wünsche durch unpersönliche als Quellevon Anschauungen zu ersetzen, und zwar dann, wenn per-sönliche Wünsche so vorherrschend wurden, daß sie mitdem sozialen Verhalten in Widerspruch gerieten. SoweitErwachsene in Frage kommen, ist die Verfahrensweise der

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158 NATURWISSENSCHAFTLICHE TECHNIK

Psychoanalyse immer noch langsam, schwerfällig und teuer.Das wichtigste Anwendungsgebiet der psychoanalytischenTheorie ist das der Erziehung. Doch stecken wir hier in-folge der feindseligen Einstellung der verantwortlichenBehörden noch im Versuchsstadium-. Doch läßt sich be-reits erkennen, daß die moralische Erziehung und die desGefühlslebens bisher nach falschen Grundsätzen erfolgteund zu Fehlanpassungen führte, die zur Ursache vonGrausamkeit, Furchtsamkeit, Dummheit und anderen nach-teiligen Charaktereigenschaften wurden. Ich halte es fürdurchaus möglich, daß die psychoanalytische Theorie voneiner wissenschaftIicheren absorbiert werden könnte, dochzweifle ich nicht daran, daß das, was die Psychoanalyseüber frühe Erziehung zu sagen hat, dauernden Wert undungeheure Bedeutung besitzt.Der Behaviorismus, der seine experimentellen Grund-

lagen in der Arbeit Pawlows hat und durch Dr. John B.Watson allgemein bekannt wurde, ist auf den ersten Blickvon der Psychoanalyse grundverschieden und kaum mitihr vereinbar. Doch bin ich davon überzeugt, daß in bei-den Wahres steckt und daß es wichtig wäre, zu einer Syn-th~se beider z~ gelangen. Freud geht von grundlegendenTneben aus WIedem Geschlechtstrieb, die nach seiner An-s~cht jetz~ in einer und dann in einer anderen RichtungeIn. Ventil suchen. Der Behaviorismus geht von einerReihe von Reflexen und dem Vorgang des Bedingtmachensaus. Vielleicht ist der Unterschied gar nicht so groß, wiees den Anschein hat. Der Reflex entspricht im großenund ganzen Freuds grundlegenden Trieben, und der Vor-gang des Bedingtmachens der Suche nach verschiedenenVentilen. Als Verfahrensweise zur Erlangung von Machthalte i.chden Behaviorismus der Psychoanalyse überlegen,denn Jener stellt eine Verkörperung der Methoden dardie schon immer von denen angewandt wurden, die Tiere

1 Vgl. Susan Isaacs, The Intellectual Growth in Young Chil-dren, 1930.

DIE TECHNIK IN DER PSYCHOLOGIE 159

abrichten oder Soldaten drillen; er macht sich die Machtder Gewohnheit dienstbar, deren Stärke man schon seitjeher kannte; und wie wir bereits bei unserer Betrachtungder Arbeit Pawlows gesehen haben, kann man mit seinerHilfe Neurasthenie und Hysterie sowohl hervorrufen alsauch heilen. Die Konflikte, die sich in der Psychoanalyseals solche des Gefühls darstellen, tauchen im Behavioris-mus wieder auf, und zwar als Konflikte zwischen Gewohn-heiten oder zwischen einer Gewohnheit und einem Reflex.Würde man ein Kind jedesmal prügeln, wenn es niest, sowürde sich wahrscheinlich im Laufe der Zeit in seinemGeiste eine Phantasiewelt ausbilden, in deren Mittelpunktder Begriff des Niesens stünde. Es würde vom Himmelals einem Ort träumen, in dem die Geister der Seligenununterbrochen niesen oder es könnte sich die Hölle alseinen Ort der Bestrafung für alle ausmalen, die an Stock-schnupfen leiden. Auf diese Weise. könnte man, wie ichglaube, nach behavioristischen Richtlinien die Problemebehandeln, welche in der Psychoanalyse eine Rolle spie-len. Zugleich sollte man auch zugeben, daß diese Pro-bleme, deren Bedeutung groß ist, wahrscheinlich ohne diepsychoanalytische Forschung nicht zur Diskussion gestelltworden wären. Für die praktischen Zwecke des Erziehungs-vorganges wird man, wie ich glaube, finden, daß sich derErzieher dort, wo es sich um mächtige Instinkte handelt,als Psychoanalytiker, und in Fragen, denen das Kind ohneGefühlsbetontheit gegenübertritt, als Behaviorist verhal-ten sollte. So sollte z.B. Elternliebe vom psychoanalytischen,das Zähneputzen jedoch vom behavioristischen Standpunktaus betrachtet werden.Bisher haben wir die Arten der Einflußnahme auf das

Geistesleben betrachtet, die sich seelischer Mittel - wiedie Psychoanalyse - oder des bedingten Reflexes bedie-nen - wie der Behaviorismus. Es gibt aber noch andereMethoden, die im Laufe der Zeit ungeheure Bedeutunggewinnen könnten. So gibt es Methoden, die durch physio-logische Mittel, wie z. B. das Verabreichen von Arzneien,

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160 NATURWISSENSCHAFTLICHE TECHNIK

wirken. Das Heilen des Kretinismus durch Jod ist das be-merkenswerteste Beispiel für solche Methoden. In derSchweiz muß das gesamte für den menschlichen Konsumbestimmte Salz jodiert werden, und diese Maßnahme hatsich als Vorbeugungsmittel gegen Kretinismus bewährt.Weithin bekannt wurde auch das Werk Cannons undanderer über den Einfluß der innersekretorischen Drüsenauf das Gefühlsleben, und es ist klar, daß eine tiefeW'irkung auf Temperament und Charakter durch künst-liche Verabreichung der Substanzen erzielt werden kann,die normalerweise die innersekretorischen Drüsen lie-fern. Die Wirkungen des Alkohols, des Opiums undverschiedener anderer Drogen ist schon seit langembekannt; ihre Wirkung ist durchwegs eine schädliche,wenn sie nicht mit ungewöhnlicher Mäßigung ein-genommen werden. Doch besteht apriori kein Grund zuder Annahme, daß nicht auch Drogen entdeckt werdenkönnten, die überhaupt nur eine wohltätige Wirkung aus-üben. Einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwartführt, vielleicht nur scherzhaft, den Umstand, daß er seinenBrüdern geistig überlegen ist, auf die Tatsache zurück, daßsich seine Mutter kurz vor seiner Geburt in einem Waggonbefand, der bei einem Unfall den Simplon hinunterrollte.Ich möchte diese Methode zwar nicht empfehlen, um unsauf diese Weise alle zu Philosophen zu machen, vielleichtwird man aber im Laufe der Zeit ein weniger riskantes Mit-tel entdecken, um den Fötus mit Intelligenz auszustatten.Früher setzte die Erziehung im Alter von acht Jahren mitder Erlernung der lateinischen Deklinationen ein, heute be-ginnt sie, unter dem Einfluß der Psychoanalyse, mit derGeburt. Es steht zu erwarten, daß man mit dem Fortschrittder Embryologie erkennen wird, daß der wichtigste Teilder Erziehung in die Zeit vor der Geburt fällt. Bei Fischenund Molchen ist dies bereits der Fall, doch stellen sich hierdem Wissenschaftler keine Erziehungsbehörden hinderndin den W'eg.

Das Vermögen der psychologischen Verfahrensweisen,

DIE TECHNIK IN DER PSYCHOLOGIE 161

die Mentalität des Individuums zu formen, steckt noch inden Kinderschuhen und man ist sich seiner noch nicht ganzbewußt geworden. Doch besteht meiner Meinung nach kaumein Zweifel daran, daß es in naher Zukunft ungeheuerwachsen wird. Die Naturwissenschaften schenken uns derReihe nach Herrschaft über die unbeseelte Natur, über diePflanzen und Tiere und schließlich über den Menschen.Sie alle haben Gefahren ihrer eigenen Art im Gefolge"vielleicht die größte Gefahr droht jedoch von der Machtüber die Menschen, doch werden wir dieses Thema erstspäter zu behandeln haben.

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KAPITEL XI

DIE TECHNIK IM SOZIALEN LEBEN

Die Anwendung der Naturwissenschaften auf soziale Fra-gen ist noch jüngeren Datums als ihre Anwendung auf diePsychologie des Einzelmenschen. Es gibt zwar schon zu Be-ginn des 19. Jahrhunderts einige wenige Richtungen, dieeine wissenschaftliche Haltung verraten; so ist die Be-völkerungstheorie von Malthus, ob sie nun stimmt odernicht, sicher wissenschaftlich. Die Beweisgründe, durch dieer sie stützt, berufen sich nicht auf Vorurteile, sondernauf Bevölkerungsstatistiken und die Ertragsgesetze derLandwirtschaft. Auch Adam Smith und Ricardo sind inihrer Nationalökonomie wissenschaftlich. Auch in ihremFalle behaupte ich gar nicht, daß die von ihnen vertretenenTheorien unweigerlich richtig seien, aber ihre ganze Ein-stellung und die Art des Folgerns weisen die Merkmaleauf, die charakteristisch für die wissenschaftliche Methodesind. Auf Malthus folgte Darwin, und auf Darwin derDarwinismus, der in seiner Anwendung auf die Politikweit davon entfernt ist, wissenschaftlich zu sein. DasSchlagwort vom "Überleben des Tüchtigsten" erwies sichals zu verlockend für den Intellekt derer, die über sozialeFragen nachdenken. Der Ausdruck "Tüchtigste" scheintzu ethischen Schlußfolgerungen zu verleiten und es scheintdaraus zu folgen, daß die Nation, Rasse und Klasse, derein Autor angehört, zwangsläufig die tüchtigste sein müsse.So entwickeln sich unter der Ägide eines Pseudodarwinis-mus Lehren, wie die von der Gelben Gefahr, "Australienfür die Australier" und von der Überlegenheit der nordi-schen Rasse. Wegen ihrer ethischen Voreingenommenheitmüssen alle darwinistischen Beweisführungen über sozialeFragen mit größter Vorsicht aufgenommen werden. Diesgilt nicht nur für Rassenunterschiede, sondern auch für

DIE TECHNIK IM SOZIALEN LEBEN

solche der Klasse innerhalb derselben Nation. Alle dar-winistischen Autoren gehören den freien Berufen an, ~n.des ist daher eine selbstverständliche Maxime der darwini-stischen Politik, daß die freien Berufe biologisch die wert-vollsten seien. Es folgt weiter daraus, daß ihre Söhne aufKosten des Staates eine bessere Erziehung genießen soll-ten als die Söhne der Lohnempfänger. Es ist unmöglich,solche Argumente als Anwendung der wissenschaftlichenErkenntnisse auf praktische Fragen zu betrachten. Es han-delt sich dabei bloß um das Entlehnen wissenschaftlicherAusdrucksweisen, um ein Vorurteil achtbar erscheinen zulassen.

Es wird aber doch auch in Fragen des Gesellschaftslebenseine große Menge echter experimenteller wissenschaftlicherArbeit geleistet. Vielleicht die wichtigste Rei~e von Ex-perimenten auf diesem Gebiet verdanken WIr den Re-klamefachleuten. So wertvoll dieses Material auch ist, sowird es doch von der Experimentalpsychologie nicht ge-nützt weil die Hochschulen so erhaben darüber sind, daß siedas Gefühl hätten, sich etwas zu vergeben, wenn sie sichmit so gemeinen Dingen beschäftigen würden. Wer aberernstlich die Psychologie des Glaubens studieren will, kannnichts Besseres tun, als die großen Reklamefirmen .zu ~0t;t-sultieren. Kein Test in dieser Hinsicht ist so beweiskräftigwie der finanzielle. Wenn jemand bereit ist, für das, woraner glaubt, Geld auszugeben, dann handelt ~s si.chbestimmtum eine echte Überzeugung. Und gerade dies ist der Test,den der Werbefachmann ständig anwendet. Die Seifenverschiedener Erzeuger werden auf verschiedene Weise an-gepriesen; einige davo~ haben das ~ew~nschte Res~ltat,andere nicht oder zumindest haben SIemcht den gleichenGrad von Erfolg. Es ist klar, daß eine Reklame, die dazuverlockt die Seife eines bestimmten Erzeugers zu kaufen,einen wirksameren Glauben schafft, als eine, die nichtdiese Wirkung hat. Ich glaube nicht, daß irgendein ge-wiegter Reklamefachmann behaupten wird,. daß die Qual~-tät der betreffenden Seifen an dem erzielten Ergebnis

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irgend wie beteiligt war. Man zahlt große Geldsummendenen, die gute Plakate und andere Werbemittel erfindenund zwar mit Recht, denn die Fähigkeit, in einer großenZahl von Leuten den Glauben an das zu erwecken, was mananpreist, ist eine sehr wertvolle Fähigkeit. Bedenken Siebloß, welche Bedeutung ihr im Falle von Religionsstifternzukommt. In früheren Zeiten mußten diese oft in rechtpeinlicher Art und Weise die öffentlichkeit auf sich auf-merksam machen. Was hätten sie aber für ein gutes Le-ben geführt, wenn sie zu einem Agenten hätten gehenkönnen, der ihnen für einen bestimmten Prozentsatz derkirchlichen Einnahmen die Achtung ihrer Schüler verschaffthätte!.Aus der Werbungstechnik scheint sich zu ergeben, daß

die Mehrzahl der Menschen einem Satze zustimmen wirdwenn er so wiederholt wird, daß er sich dem Gedächtniseinprägt. Vieles von dem, was wir glauben, glauben wirnur deshalb, weil wir Positives darüber gehört haben;wir können uns aber nicht erinnern, wo oder warum wirPositives darüber gehört haben, und so fehlt uns die Mög-lichkeit zu einer kritischen Einstellung, auch wenn dieAussage von einem Manne ausging, dessen Einkommensich im Falle unserer Billigung erhöht hätte, und auch dann,wenn sie durch gar kein Beweismaterial gestützt war. Mitder Vervollkommnung ihrer Technik zeigt die Reklameimmer stärker die Tendenz, weniger zu überzeugen und~ehr aufzufallen. Solange sie Eindruck macht, erreichtsie den angestrebten Zweck.

Wissenschaftlich betrachtet, hat die Reklame noch einweiteres Verdienst, daß nämlich ihre Wirkungen, soweitman aus der Aufnahme, die sie findet, schließen kann,Massenwirkungen sind und nicht Wirkungen auf einzelneIndividuen, so daß die daraus gewonnenen Daten solcheder Massenpsychologie sind. Leider ist ihr Zweck eherpraktisch als wissenschaftlich. Für wissenschaftliche Zweckewürde ich folgendes Experiment vorschlagen. Man er-zeuge zwei Seifen, A und B, von denen A ausgezeichnet

DIE TECHNIK IM SOZIALEN LEBEN 165

und B miserabel ist; man mache für A durch Angabe sei-ner chemischen Zusammensetzung und durch Zeugnissehervorragender Chemiker, für B aber durch die einfacheFeststellung Reklame, daß sie die beste sei, begleitet vonPorträts berühmter Hollywood-Schönheiten. Ist der Menschtatsächlich ein vernunftbegabtes Tier, dann müßten von Amehr als von B verkauft werden. Glaubt aber wirklichjemand an ein solches Ergebnis?

Die Politik hat die Vorzüge einer guten Reklame imvollen Ausmaße erkannt, nicht so die Kirchen, die erstdamit beginnen. Wenn die Kirchen einmal einsehen wer-den, daß ihre Vorteile bei weitem die der traditionellenreligiösen Technik (die aus der Zeit vor Erfindung desBuchdruckes stammt) übertreffen, dann können wir aufeine Neubelebung des Glaubens hoffen. Im großen undganzen haben bisher die Sowjetregierung und die kom-munistische Religion den Nutzen der Reklame am bestenverstanden. Allerdings werden sie etwas durch die Tat-sache gehemmt, daß die meisten Russen nicht lesen können;sie tun aber ihr mögliches, um dieses Hindernis zu be-seitigen.

Diese Betrachtung führt uns ganz natürlich zum Themader Erziehung, der zweiten bedeutenden Methode öffent-licher Propaganda. Die Erziehung hat zwei verschiedeneZwecke: einerseits zielt sie darauf ab, das Individuum zuentwickeln und ihm nützliches Wissen zu vermitteln,anderseits bemüht sie sich, Staatsbürger zu schaffen, wiesie dem Staate oder der Religionsgemeinschaft, die Ju-gendliche erziehen, passen. Bis zu einem gewissen Punktfallen praktisch diese beiden Zwecke zusammen: es paßtdem Staat, daß seine Bürger lesen können und daß sieüber praktische Fertigkeiten verfügen, mit deren Hilfe sieproduktive Arbeit zu leisten imstande sind, daß sie aus-reichende moralische Stärke besitzen, um sie von erfolg-losen Verbrechen abzuhalten und genügend Intelligenz, umihr eigenes Leben führen zu können. Wenn wir jedochüber diese elementaren Erfordernisse hinausgehen, können

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166 NATURWISSENSCHAFTLICHE TECHNIK

die Interessen des einzelnen leicht mit denen des Staatesoder der Kirche in Konflikt geraten. Dies gilt vor allemim Falle der Gliiubigkeit. Für den, der das öffentlicheLeben beherrscht, ist Gläubigkeit ein Vorteil, während dieFähigkeit kritischen Urteilens wahrscheinlich für das In-dividuum segensreich sein wird; daher zielt der Staat garnicht darauf ab, wissenschaftliches Denken zu fördern, ab-gesehen von einer verschwindenden Minderheit von Fach-leuten, die meist gut bezahlt und daher in der Regel An-hänger des status qua sind. Bei denen jedoch, die nichtgut bezahlt sind, ist Gläubigkeit für den Staat vorteil-hafter. Deshalb lernen die Kinder in der Schule, das zuglauben, was man ihnen sagt, und ausgesprochener Un-glaube wird bestraft. Auf diese Weise bildet sich ein be-dingter Reflex aus, der dazu führt, daß man alles glaubt,was von älteren Respektspersonen in autoritativer Weisegesagt wird. Ich und du, lieber Leser, verdanken es dieserwohltätigen Vorsicht unserer beiderseitigen Regierungen,daß wir vor Plünderung bewahrt blieben.In einer Hinsicht ist die Erziehung durch den Staat be-

stimmt von wohltätiger Wirkung, soweit es sich nämlichum die Ausbildung des sozialen Zusammengehörigkeits-gefühls handelt. Im Europa des Mittelalters und immodernen China erwies sich dessen Fehlen als verheerend.So notwendig für das Wohl großer Menschenmassen Zu-sammenarbeit auch ist, so schwer ist es, sie auch zu erreichen.Vor der Neigung zu Anarchie und Bürgerkrieg muß manimmer auf der Hut sein, wenn man von jenen ganz seltenenFällen absieht, in denen ein großes Prinzip auf dem Spielesteht, das so wichtig ist, daß selbst ein Bürgerkrieg ge-rechtfertigt erscheint. Deshalb muß man jenen Teil derErziehung, der Loyalität dem Staat gegenüber zum Zielehat, begrüßen, soweit er sich gegen Anarchie im Innerenrichtet. Dort aber, wo er auf Verewigung internationalerAnarchie abzielt, ist er von übel. Im allgemeinen legtderzeit die Erziehung zur Loyalität dem Staate gegenüberden Nachdruck auf das Hassen des Feindes. Niemanden

DIE TECHNIK IM SOZIALEN LEBEN 167

erschütterte es, als im ersten Halbjahr 1914 Nordirlandgegen die britische Regierung kämpfen wollte, jedermannwar aber entrüstet, als in der zweiten Hälfte desselbenJahres Südirland sich weigerte, gegen die Deutschen zukämpfen.

Die modernen Erfindungen und die moderne Technikbegünstigen in gewaltigem Ausmaß die Bildung uni-former Meinungen und machen den einzelnen viel weni-ger individuell, als er einstens war. Lesen wir z. B. TheStammering Century von Gilbert Seldes und vergleichenwir das Gelesene mit dem Amerika von heute. Im Laufedes 19. Jahrhunderts schossen immer neue Sekten aus demBoden, und neue Propheten gründeten Gemeinschaften inder Wildnis; Zölibat, Polygamie, freie Liebe, sie allehatten ihre Anhänger, und zwar waren es nicht bloß ver-einzelte Sonderlinge, sondern ganze Städte. Ein ähnlichesBild boten Deutschland im 19. Jahrhundert, England im17. und Rußland bis zur Einrichtung der Sowjetherrschaft.In der modernen Welt gibt es aber außer der Erziehungnoch drei große Quellen der Gleichförmigkeit: die Presse,das Kino und das Radio.Die Presse wurde zu einem Mittel der Uniformierung

als Ergebnis technischer und finanzieller Ursachen; je grö-ßer die Verbreitung einer Zeitung ist, desto höhere Sätzekann sie für ihre Annoncen verlangen und desto niedrigersind die Erzeugungskosten des einzelnen Exemplars. EinAuslandskorrespondent kostet gleich viel, ob nun die Zei-tung viele oder wenige Abnehmer hat; daher verringernsich mit zunehmender Verbreitung der Zeitung ihre rela-tiven Kosten. Eine Zeitung mit einem großen Abnehmer-kreis kann sich einen teuren Rechtsanwalt leisten, der sie beiVerleumdungsklagen verteidigt und kann oft vor denAugen aller, von ernsten Forschern abgesehen, eine un-richtige Darstellung von Tatsachen verschleiern. Aus alldiesen Gründen, von denen das Inseratengeschäft der wich-tigste ist, zeigen große Zeitungen die Tendenz, kleinereaufzusaugen. Es gibt natürlich kleine Wochenschriften für

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die Bedürfnisse von Sonderlingen oder Intellektuellen undBlätter, die Sonderinteressen gewidmet sind, dem Segelnoder dem Angelsport, aber die überwältigende Mehrheitd~r ~eitungsl.eser begnügt sich entweder, wie in England,mit einer kleinen Zahl von Zeitungen oder, wie in Ame-rika, mit den Zeitungen einer kleinen Gruppe von Syndi-katen. Der Unterschied zwischen England und Amerikain dieser Hinsicht beruht auf dem Größenunterschied derLänder. Wenn in England Lord Rothermere oder LordBeaverbrook wünschen, daß etwas bekannt werde dannwird es bekannt; wenn sie aber wünschen, daß etwas un-bekannt bleibe, dann bleibt es auch unbekannt, wenn manvon einigen hartnäckigen Individuen absieht, die ihreNase in alles stecken müssen. Obwohl es in der Welt derZeitungen auch rivalisierende Gruppen gibt, besteht na-türlich in vielen Fragen eine Übereinstimmung der Mei-nungen. Wenn in der Frühe in einem Vorortzug einer dieDaily Mail und ein anderer den Daily Expreß liest und siedurch irgendein Wunder miteinander ins Gespräch kom-men sollten, so ergäbe sich wenig Abweichung in den An-sichten, die sie in sich eingesogen haben, oder in den Tat-sachen, die man ihnen mitteilte. So wurden aus Gründendie letzten Endes technische und wissenschaftliche sind, di~Zeitungen zu einem Mittel, diese Uniformierung des Den-kens und das Seltenerwerden ungewöhnlicher Ansichtenzu fördern.

Eine andere moderne Erfindung, die im gleichen Sinnewirkt, ist das Radio. Dies gilt in stärkerem Maße für Eng-land, wo es Staatsmonopol ist, als für Amerika, wo es freiist. Während des Generalstreiks im Jahre 1926 stellte estatsächlich das einzige Mittel zur Verbreitung von Nach-:ichten ~ar. Dies machte sich die Regierung zunutze, umIhren eigenen Standpunkt zu verbreiten und den derStreikenden zu unterdrücken. Ich selbst befand mich da-mals in einem entlegenen Dorfe, wie ich glaube, dem vonLondon am weitesten entfernten Dorfe Englands. AlleDorfbewohner, mich nicht ausgenommen, versammelten sich

DIE TECHNIK IM SOZIALEN LEBEN 169

allabendlich im Postamt, um die Nachrichten zu hören.Eine wichtigtuerische Stimme verkündete: "Das Innen-ministerium verlautbart." Leider muß ich sagen, daß alleDorfbewohner lachten; hätten sie aber näher bei Londongelebt, wären sie wahrscheinlich respektvoller gewesen.In Amerika, wo sich die Regierung nicht in den Rundfunkeinmischt, müßte man bei gleichbleibender Lage entspre-chend den Verhältnissen im Zeitungswesen ein allmäh-liches Anwachsen großer Interessengruppen erwarten, unddaß diese eine ebensolche Herrschaft ausüben werden wiedie syndikalisierte Presse.Vielleicht das wichtigste aller modernen Propaganda-

mittel ist aber das Kino. In seinem Falle überwiegen tech-nische Gründe für eine Organisation großen Stils, die zueiner nahezu weltweiten Uniformierung führte. Die Kosteneines guten Films sind ungeheuer, sie ble~ben aber d~e-selben, gleich ob er nur vereinzelt oder uberall gezeigtwird. Die Russen haben ihre eigene Produktion, undnatürlich ist sie ein wichtiges Propagandamittel in der

• Hand der Sowjetregierung. Den übrigen Teil der zivili-sierten Welt beherrscht die Produktion von Hollywood.Die allermeisten jungen Menschen beziehen ihre Vor-stellungen von Liebe und Ehre, vom G~ldverdienen. undvon der Wichtigkeit guter Kleidung aus Ihren abendhchenBetrachtungen dessen, was Hollywood für sie geeignethält. Ich möchte es bezweifeln, daß alle Schulen undKirchen zusammengenommen auf die Ansichten jungerMenschen über so persönliche Dinge wie Liebe, Ehe undGeldverdienen so viel Einfluß haben wie das Kino. DieProduzenten von Hollywood sind die Hohepriester einerneuen Religion. Seien wir dankbar für die erhabene Rein-heit ihrer Gefühle. Sie lehren uns, daß das Verbrechenimmer bestraft und Tugend stets belohnt wird. Zwar istder Lohn etwas materiell und so beschaffen, daß er kaumdie Billigung einer altmodisch gewordenen Moral findenwird. Aber was liegt schon daran? Das Kino lehrt uns,daß nur die Tugendhaften zu Reichtum gelangen, und aus

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d~m ~irklichen Leben wissen wir, daß der alte Sowiesoreich 1St. Daraus folgt, daß der alte Sowieso tugendhaft istund daß die Leute, die behaupten, er beute seine Ange-st~llten . aus, Verleumder und Unruhestifter sind. DasKino spielt somit eine wichtige Rolle dabei den Reichenvor dem Neid der Armen zu schützen. '

Es ist zweifellos eine wichtige Tatsache der modernenWelt, daß nur ungeheuer reiche Kapitalisten oder Regie-~'ungen fast a~le Unterhaltungen der Armen zu schaffenm der L.ag: smd. Wie wir gesehen haben, sind die U r-sachen hiefiir technischer Natur, das Ergebnis ist jedochdaß S~häden ?es. stat~s qua nur denen zur Kenntnis gelan~gen, die bereit smd, Ihre Mußestunden mit anderen Din-g.~n.als Unterhaltungen zu verbringen. Ihre Zahl ist na-turl.l~h verschwin.dend gering, und vom Standpunkt desPolitikers au~ meist unbeachtlich. Doch leidet dieses ganzeSystem an emem Mangel an Stabilität. Im Falle einesverlorenen Krieges könnte es zusammenbrechen und eineB.~völkerung, ~ie sich an Unterhaltungen ge~öhnt hat,k~nnte durch die Langeweile zu ernstem Nachdenken ge-trieben werden. Als man im Kriege den Russen denWodka raubte, kam es zur Revolution. Was täten dieWesteuropäer, wen?' man .~hnen die allabendliche Drogeaus.Hollywood entzo~e? Fur wes~europäische Regierungenergibt SIC~da:aus ~Ie Moral, SIch mit Amerika gut zustellen. Vielleicht wird sich einmal zeigen, daß die Film-produzenten die Pioniere des amerikanischen Imperialis-mus waren.. Bisher haben wir uns mit der Wirkung der wissenschaft-lidien Technik ~uf die Meinungsbildung beschäftigt, einemet:vas unerfreulichen. Thema. Sie hat aber auch ihre gutenSe~ten. Betrachten WIr etwa 2 Jahre öffentlicher Gesund-heitspflege. 1870 betrug die Sterblichkeitsziffer für Eng-land un~ Wales 22,9%0 und die Säuglingssterblichkeit1600/00; im Jahre 1929 waren sie auf 134°/ b74°/ k . ' 00 zw.00 . gesun en.. DIeser Wandel ist fast ausschließlichder wissenschaftlichen Technik zuzuschreiben. Fortschritte

DIE TECHNIK IM SOZIALEN LEBEN 171

der Medizin, der Hygiene, der sanitären Verhältnisse undder Ernährung spielten alle bei der Verringerung des Lei-dens und des Leids, wie sie in diesen nackten statistischenZahlen ihren Niederschlag finden, eine wichtige Rolle.Einst rechnete man damit, daß ungefähr die Hälfte derKinder einer Familie in jungen Jahren sterben würde;dies bedeutete Leiden, Krankheit und Schmerz der Mut-ter, oft ein qualvolles Sterben der Kinder und eine Ver-geudung natürlicher Hilfsmittel bei der Pflege der Kin-der, die nicht lange genug lebten, um produktiv zu wer-den. Solange nicht die Dampfmaschine den Transport vonLebensmitteln zu Wasser und zu Land ermöglichte, warenHungersnöte unvermeidlich, und diese waren die Ur-sache unaussprechlicher Pein bei der langsamen Vernich-tung menschlichen Lebens. Aber nicht nur, daß, auch innormalen Zeiten, mehr Menschen starben, sie warenaußerdem viel öfter krank. Heute ist im Westen Typhusunbekannt, die Pocken sind äußerst selten geworden unddie Tuberkulose ist in den meisten Fällen heilbar; alleindiese drei Tatsachen stellen einen Beitrag zur menschlichenWohlfahrt dar, der schwerer wiegt als jeder Schaden, dendie Technik dadurch anrichtete, daß sie die Schrecken desKrieges erhöhte. Ob sich auch in Zukunft die Waagschalenzugunsten der Technik neigen werden, diese Frage mußoffen bleiben, jedenfalls aber neigten sie sich bisher zuihren Gunsten.

Es wurde bei Intellektuellen zur Mode, unser Zeitalterals eines der Müdigkeit und der Entmutigung zu betrach-ten; für sie selbst gilt dies zweifellos, weil sie auf den Ver-lauf der Dinge heute viel weniger Einfluß besitzen alsfrüher, auch ist ihre ganze Einstellung zum modernen Le-ben mehr oder weniger unangebracht. Auf den Durch-schnittsmenschen trifft dies aber keineswegs zu. Groß-britannien hat in den letzten zwanzig Jahren eine Wirt-schaftskrise und einen Krieg durchgemacht, und doch hates den Anschein, daß es einer gewöhnlichen Arbeiter-

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172 NATURWISSENSCHAFTLICHE TECHNIK

familie heute besser geht als in der Zeit der Prosperitätvor 45 jahren'.Der Einfluß der wissenschaftlichen Technik auf soziale

Angelegenheiten ist heute noch sehr lückenhaft und vomZufall abhängig. Nehmen wir als Beispiel das Bank- undKreditwesen. Vor langer Zeit tat der Mensch in dieserHinsicht den ersten Schritt auf dem Wiege zu einer wis-senschaftlichen Technik, als er den Tauschhandel durch dieGeldwirtschaft ersetzte; der nächste Schritt geschah Tau-sende von Jahren nach Einführung des Geldes, als Bankenund das Kreditwesen an Stelle des Bargeldes traten. DerKredit ist zu einer ungeheuren Macht geworden, die dasWirtschaftsleben aller entwickelten staatlichen Gemein-wesen beherrscht, aber obwohl die Fachleute mit seinenGrundsätzen ziemlich gut vertraut sind, stehen doch po-litische Schwierigkeiten einer richtigen Anwendung dieserGrundsätze im Wiege, und die barbarische Praxis, immernoch vom Golde abzuhängen, ist die Ursache von vielElend. In dieser und in anderer Hinsicht erfordern dieWirtschaftskräfte und die technischen Bedürfnisse eineweltweite Organisation, doch bilden die Kräfte des Na-tionalismus ein Hindernis und sind die Ursache dafür,daß Menschen vermeidbare Leiden geduldig ertragen,weil sie der Gedanke tröstet, daß andere Völker sogarnoch mehr leiden.

Die wissenschaftliche Technik wirkt sich praktisch soaus, daß sie in jeder Hinsicht eine umfassendere und inten-sivere Organisation verlangt. Wenn ich von Intensitätder Organisation spreche, so verstehe ich darunter denTeil der Betätigungen eines Menschen, der von der Tat-sache beherrscht wird, daß er einer sozialen Einheit an-gehört. Die Tätigkeit eines primitiven Ackerbauers wirdpraktisch fast ganz von ihm selbst bestimmt: er erzeugt

1 In London lagen 1928 die Wochenlöhne unter Berücksich-tigung der erhöhten Lebenshaltungskosten 30 Prozent über denendes Jahres 1886. Vgl. Forty Years of Change (P. S. King, 1930),p. 130.

DIE TECHNIK IM SOZIALEN LEBEN 173

seine eigene Nahrung, kauft sehr wenig und schickt seineKinder nicht zur Schule. Der moderne Mensch, auch dann,wenn er Bauer ist, erzeugt selbst nur einen kleinen Teildessen, was er ißt; baut er etwa Weizen, so verkauft erwahrscheinlich die gesamte Ernte und kauft wie jederandere sein Brot beim Bäcker; aber auch dann, wenn erdies nicht tut, muß er die meisten übrigen Lebensmittelkaufen. Bei seinem Kaufen und Verkaufen hängt er vongewaltigen Organisationen ab, die gewöhnlich internatio-nal sind; für Lesestoff sorgen die großen Zeitungen, fürseine Unterhaltung Hollywood, für die Erziehung seinerKinder der Staat; um sein Kapital kümmert sich, minde-stens um einen Teil davon, eine Bank, um seine politischenAnsichten seine Partei, und um seine Sicherheit und vieleandere Annehmlichkeiten ist die Regierung besorgt, derer Steuer zahlt. So hört der Mensch in seinen wichtigstenBetätigungen auf, eine separate Einheit zu sein, und istabhängig von irgendeiner sozialen Organisation. Mit derfortschreitenden Entwicklung der wissenschaftlichen Tech-nik wächst auch die vorteilhafteste Größe der meisten Or-ganisationen. Nationale Schranken sind schon in vielerHinsicht vom technischen Standpunkt aus widersinnig ge-worden, und jeder weitere Fortschritt verlangt, daß siefallen. Leider ist der Nationalismus noch ungeheuer stark,und die wachsende Macht der Propaganda, welche dieWissenschaftliche Technik in die Hände nationaler Staatengelegt hat, wird dazu verwendet, diese anarchische Machtzu stärken. Solange sich diese Sachlage nicht ändert, wirddie wissenschaftliche Technik die menschliche Wohlfahrtnicht in dem Maße fördern, wie sie es tun könnte.

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DRITTER TEIL

DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

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KAPITEL XII

KÜNSTLICH GESCHAFFENE GESELLSCHAFTEN

Die wissenschaftliche Gesellschaft, mit der sich die folgen-den Kapitel beschäftigen werden, ist in der Hauptsacheeine Angelegenheit der Zukunft, obwohl sich verschiedeneihrer Merkmale bereits heute in verschiedenen Staaten ab-zuzeichnen beginnen. Unter wissenschaftlicher Gesellschaftverstehe ich eine Gesellschaft, die sich in Produktion, Er-ziehung und Propaganda der besten wissenschaftlichenVerfahrensweisen bedient. Dazu tritt aber noch ein wei-teres Merkmal, das sie von den Gesellschaften der Ver-gangenheit unterscheidet, die ihr Wachstum natürlichenUrsachen verdankten und die, was ihren kollektiven Zweckund ihre Struktur anlangt, ohne bewußte Planung ent-standen. Keine Gesellschaft kann als rein wissenschaftlichegelten, die nicht absichtlich mit einer bestimmten Strukturgeschaffen wurde, um bestimmte Aufgaben zu erfüllen.Hierbei handelt es sich natürlich um graduelle Unter-schiede. So könnte man sagen, daß Reiche, insoweit sieEroberungen ihre Entstehung verdanken und nicht reineNationalstaaten sind, geschaffen wurden, um ihre Herr-scher berühmt zu machen. Doch war dies in der Vergan-genheit eine Frage, die bloß die Regierenden anging undkaum einen Einfluß auf das Alltagsleben des Volkes aus-übte. Es gibt allerdings halbmythische Gesetzgeber dergrauen Vorzeit wie Zoroaster, Lykurg und Moses, vondenen man annimmt, daß sie den Gesellschaften, die sichihrer Autorität unterwarfen, den Stempel ihrer Persön-lichkeit aufdrückten. In allen solchen Fällen müssen je-doch die Gesetze, die man ihnen zuschreibt, in der Haupt-sache schon vorher als Gewohnheitsrecht bestanden haben.Verweisen wir in diesem Zusammenhang auf ein bekann-teres Beispiel: Als die Araber die Autorität Mohammeds

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178 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

anerkannten, änderten sich ihre Lebensgewohnheiten kaummehr als die der Amerikaner nach Annahme des VolsteadAct. Als sich Mohammeds skeptische Verwandten end-lich dazu entschlossen, ihm ihr Schicksal anzuvertrauen,taten sie es einfach deshalb, weil die von ihm gefordertenÄnderungen gering waren.

Je mehr wir uns modernen Zeiten nähern, desto größerwerden die bewußt herbeigeführten Änderungen in dersozialen Struktur, besonders dann, wenn es sich um Revo-lutionen handelt. Die Amerikanische und die FranzösischeRevolution schufen beide absichtlich bestimmte Gesellschaf-ten mit bestimmten Merkmalen; in der Hauptsache warendiese jedoch politischer Natur, und ihre Wirkungen inanderer Richtung bildeten keinen Bestandteil der ur-sprünglichen Absichten der Revolutionäre. Die wissen-schaftlichen Verfahrensweisen haben jedoch die Macht derRegierungen so gewaltig gesteigert, daß nun viel tiefer-greifende Änderungen der sozialen Struktur möglich sind,als Jefferson oder Robespierre je in Erwägung ziehenkonnten. Zunächst lehrte uns die Wissenschaft, Maschinenzu bauen; jetzt lehrt sie uns mit Hilfe der MendelschenZuchtgesetze und der experimentellen Embryologie neuePflanzen und Tiere zu schaffen. Es ist kaum daran zuzweifeln, daß sie uns in naher Zukunft die Macht verleihenwird, mit Hilfe ähnlicher Methoden innerhalb eines weit-gespannten Rahmens neue Menschen zu schaffen, die sichin einer vorausbestimmten Art und Weise von den Indi-viduen unterscheiden werden, die auf natürlichem Wegegezeugt wurden. Und mit Hilfe psychologischer und öko-nomischer Verfahrensweisen wird es möglich, Gesellschaf-ten zu schaffen, die ebenso künstlich sind wie die Dampf-maschine und ebenso verschieden von allem, was nacheigenen Gesetzen ohne bewußte Absicht von seiten mensch-licher Faktoren entsteht.

Solange die Sozialwissenschaften nicht einen höherenGrad von Vervollkommnung erreicht haben werden alsheute, werden natürlich solche künstliche Gesellschaften

KüNSTLICH GESCHAFFENE GESELLSCSHAFTEN 179

viele unbeabsichtigte Merkmale aufweisen, selbst dann,wenn es ihren Schöpfern gelingen sollte, ihnen alle vonihnen beabsichtigten Merkmale zu verleihen. Und es kannleicht der Fall eintreten, daß sich die unbeabsichtigtenMerkmale als wichtiger herausstellen als die vorhergesehe-nen und dazu beitragen werden, auf die eine oder andereArt zum Zusammenbruch künstlicher Gesellschaftsgebildezu führen. Doch besteht, wie ich glaube, kein Anlaß,dar an zu zweifeln, daß das künstliche Schaffen von Ge-sellschaften so lange bestehen und sich verstärken wird,als es wissenschaftliche Verfahrensweisen gibt. Die Freudeam Planen ist bei Menschen, in denen sich Kraft mit In-telligenz paart, eines der machtvollsten Motive; solcheMänner werden stets bemüht sein zu konstruieren, wassich auf Grund eines Planes konstruieren läßt. Solangees Verfahrensweisen zur Schaffung eines neuen Gesell-schaftstyps gibt, wird es immer auch Männer geben, dieversuchen werden, dieses Verfahren anzuwenden. Wahr-scheinlich werden sie ihrem Tun irgendein idealistischesMotiv unterschieben, und es ist auch ganz gut möglich, daßsolche Motive bei der Wahl der Gesellschaft, die sie zuschaffen die Absicht haben, eine Rolle spielen. Der Schaf-fensdrang an sich ist aber nicht idealistisch, sondern nureine Form der MachtIiebe, und solange es eine Macht zuschaffen gibt, werden Männer das Verlangen in sich tra-gen, diese Macht zu gebrauchen, selbst dann noch, wenndie unbeeinflußte Natur ein besseres Ergebnis zustandebrächte als irgendeines, das bewußte Absicht je erzielenkönnte.

In unserem Jahrhundert hat es drei Mächte gegeben,die die Möglichkeit solcher künstlicher Schöpfungen illu-strieren, nämlich Japan, Sowjetrußland und Deutschland.

Bis zu seiner Niederlage war das moderne Japan fastgenau so, wie es die Urheber der Revolution von 1867beabsichtigt hatten. Es ist dies eine der bemerkenswerte-sten politischen Errungenschaften der ganzen Menschheits-geschichte trotz der Tatsache, daß das von den Neuerern

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180 181DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT KONSTLICH GESCHAFFENE GESELLSCSHAFTEN

angestrebte Ziel ein einfaches war und eines, von dem an-zunehmen war, daß jeder Japaner damit sympathisierenkönnte. Das Ziel war nichts Unerhörtes, nämlich die Be-wahrung der nationalen Unabhängigkeit. Man hatte ge-sehen, daß China den westlichen Mächten keinen Wider-stand leisten konnte, und Japan schien sich in einer ähn-lichen Lage zu befinden. Einige japanische Staatsmännererkannten, daß westliche Erziehung und westliche indu-strielle Technik in jenen Ländern die Grundlage dermilitärischen Stärke zu Wasser und Land bildeten. Soentschlossen sie sich zur Einführung beider und zwar mitsolchen Modifikationen, wie sie die japanische Geschichteund die japanischen Verhältnisse erforderten. Aber wäh-rend sich im Westen die Industrialisierung fast ohnestaatliche Unterstützung vollzogen hatte, und die wissen-schaftlichen Erkenntnisse schon weit vorgeschritten waren,ehe sich die westlichen Regierungen an die Aufgabe einerallgemeinen Erziehung heranwagten, befand sich Japanin Zeitnot, und daher mußten Erziehung, Wissenschaft undIndustrialisierung unter staatlichem Druck erfolgen. Einesolche Umstellung der Denkgewohnheiten des Durch-schnittsbürgers ließ sich natürlich nicht durch bloßen Appellan die Vernunft und das eigene Wohl erzielen. Kluger-weise stellten daher die Reformer die geheiligte Persondes Mikado und die göttliche Autorität des Shintoismus inden Dienst der modernen Naturwissenschaften. Der Mikadohatte jahrhundertelang eine unbeachtete und unwichtigeRolle gespielt, doch war seine Macht schon einmal vorher,im Jahre 645 v. Chr. wiederhergestellt worden; es gab alsoeinen altehrwürdigen Präzedenzfall für das, was nun ge-schah. Der Shintoglaube war zum Unterschied vom Bud-dhismus die autochthone Religion Japans, aber durch dieaus China und Korea eingeführte Religion in den Hinter-grund gedrängt worden. Die Reformer faßten nun denweisen Entschluß, bei der Einführung der christlichenmilitärischen Technik nicht versuchen zu wollen, auch diechristliche Theologie zu übernehmen, die bisher damit in

Verbindung stand, sondern ihre eigene nationale Theologiezu haben. Der Shintoglaube, wie er in Japan durch denStaat gelehrt wurde, war eine mächtige Waffe in der Handdes Nationalismus; seine Gottheiten sind japanische, undseine Kosmogonie lehrt, daß Japan früher als andereLänder geschaffen wurde. Der Mikado stammt von derSonnengöttin ab und ist daher den rein irdischen Herr-schern anderer Staaten überlegen. Der Shintoismus, wieer nach 1868 gelehrt wurde, unterscheidet sich daher sogrundlegend von den alten eingesessenen Glaubensvor-stellungen, daß ihn berufene Forscher als eine neue Re-ligion beschrieben'. Mit Hilfe dieser klugen Verbindungvon aufgeklärter Technik mit unaufgeklärter Theologiegelang es den Japanern nicht nur eine Zeitlang, die west-liche Gefahr abzuwehren, sondern sogar eine der Groß-mächte und die drittstärkste Seemacht zu werden.

Japan beweist außerordentliche Klugheit bei der An-passung der Wissenschaften an die politischen Erforder-nisse. Die Wissenschaft als geistige Macht ist skeptischund wirkt etwas destruktiv auf den sozialen Zusammen-halt, während sie als technische Macht genau die ent-gegengesetzten Eigenschaften besitzt. Die technischen Ent-wicklungen, die den Naturwissenschaften zu verdankensind, erhöhten Größe und Wirkungsbereich der Organisa-tionsformen und vermehrten in besonderem Maße dieMacht der Regierungen. Diese hatten daher allen Grund,wissenschaftsfreundlich eingestellt zu sein, solange es ge-lang, die Wissenschaften von gefährlichen und staatsfeind-lichen überlegungen abzuhalten. In der Hauptsache er-wiesen sich die Wissenschaftler in dieser Hinsicht als zu-gänglich. Der Staat begünstigte in Japan eine Art desAberglaubens, im Westen eine andere, und die Wissen-schaftler paßten sich in Japan wie im Westen, von einigenAusnahmen abgesehen, willig den staatlichen Lehren an,

1 Vgl. Professor B. H. Chamberlain, The Invention 01 a Net»Religion, herausgegeben von der Rationalist Press Association.

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182 KüNSTLICH GESCHAFFENE GESELLSCSHAFTEN 183DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

weil die .meiste? von. i~ne~ in erster Linie Staatsbürgerund erst In zweiter Linie DIener der Wahrheit waren.

W'ie das japanische endete auch das nationalsozialistischeE~peri~ent m.it der Niederlage im Kriege. In bei denFal~en ist es eine Frage reiner Spekulation, wie sich dienationale Psyche entwickelt hätte, wenn kein Einfluß vonaußeI? her dazwi.schenge~reten wäre. Man konnte, beson-ders In Japan, eme gewisse Nervosität, vor allem bei der~roßstadtbevölkerung, bemerken, die man der plötzlichenA.nderung .der. Lebens?e~oh~he~~en zuzuschreiben geneigtwar und die eine Anfälligkeit fur Hysterie hervorrief. Inbei den Ländern erwies es sich als unmöglich die Lohn-empfänger anders als durch Eroberungen zu beschwichti-gen; so kam es, daß sich letzten Endes beide Herrschafts-systeme vor die Wahl zwischen einer Revolution im In-neren oder der Feindschaft der übrigen Welt gestelltsahe? .. ~s b.esa~ daher keines der bei den Systeme jeneStabilität, die em Gesetzgeber mit Hilfe einer wissen-s~~aftlichen Konstruktion sicherzustellen den Wunschhatte.

Der Versuch einer wissenschaftlichen Konstruktion wieer. ,,:on der Sowjetregierung unternommen wird, ist' ehr-geI~Iger als ~er d~r japanischen Neuerer des Jahres 1867;er z~elt .auf eme VIel weitgehendere Änderung der sozialenInstitutionen und auf die Schaffung einer Gesellschaft abdie sich viel grundlegender von allem, was man bishergek~nnt ha~, au~ von dem japanischen Experiment, unter-s~eIde.t. DIe DInge sind noch im Flusse, und es wäre vor-eilig, eine ~or.hersage.zu ",:agen, ob das Experiment gelin-gc:n oder mißlingen WIrd; Jedenfalls ist die Haltung seinerF:rrsprecher ~nd ~ie seiner Gegner von einzigartiger Un-wissensdiaftlichkeit. Ich meinerseits gehe nicht darauf ausd~s Sowjetsystem zu loben oder zu tadeln, ich will bloßdie Elemente einer bewußten Planung hervorheben diees zu dem bisher vollendetsten Beispiel einer wissenschaft-lichen Gesellschaft machen. Erstens werden alle wesent-lichen Faktoren der Produktion und der Verteilung vom

Staate gelenkt; zweitens ist die gesamte Erziehung daraufabgestimmt, zur Betätigung im Sinne des staatlichen Ex-periments anzuspornen; drittens tut der Staat alles, wasin seiner Macht steht, um die verschiedenen überliefertenGlaubensformen, die auf dem Gebiete der UdSSR bisherbestanden, durch seine eigene Religion zu ersetzen; vier-tens werden Literatur und Presse von der Regierung be-herrscht, und von bei den glaubt man, daß sie den kon-struktiven Zielen dienlich sein werden; fünftens wird dieFamilie, soweit es sich dabei um ein Treueverhältnis han-delt, das mit der Loyalität dem Staate gegenüber wett-eifern könnte, schrittweise geschwächt; sechstens ist dieRegierung darauf bedacht, soweit Krieg und Außenpolitikes gestatten, die gesamten konstruktiven Kräfte der Nationfür die Erreichung eines gewissen wirtschaftlichen Gleich-gewichts und einer Produktionskraft zu mobilisieren, mitderen Hilfe man hoffen kann, jedermann einen gewissenGrad von materiellem Wohlstand' zu sichern. In jederanderen Gesellschaft der ganzen Welt gibt es viel wenigerzentrale Lenkung als in der Sowjetunion. Zwar warenwährend des Zweiten Weltkrieges die Kräfte aller Natio-nen in einem beträchtlichen Ausmaß zentral organisiert,doch war jedermann bekannt, daß es sich dabei um einezeitlich begrenzte Maßnahme handelte, und selbst aufihrem Höhepunkt war die Organisation nicht so allumfas-send, wie sie es in Rußland ist. In diesem Lande bestehtkein Grund zur Annahme, daß sich die Intensität derStaatskontrolle verringern werde, da für einen Organisa-tor die zentrale Organisation der Betätigung einer großenNation als Ziel zu verlockend ist, um bereitwillig aufge-geben zu werden.

Das russische Experiment kann gelingen oder mißlingen;aber auch in letzterem Falle werden weitere Experimentefolgen, die mit ihm die wesentlichsten Merkmale gemein-sam haben werden, nämlich die vereinheitlichende Aus-richtung der Betätigungen einer ganzen Nation. In frühe-ren Zeiten war derartiges unmöglich, weil es von der

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184 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

Propaganda technik abhängt, d. h. von einer allgemeinenErziehung, von Zeitungen, Kino und Rundfunk. DieMacht des Staates war schon durch Eisenbahn und Tele-graph erhöht worden, die rasche Nachrichtenübermittlungund Truppenkonzentration ermöglichten. Außer den mo-dernen Methoden der Propaganda haben auch die moder-nen Methoden der Kriegführung den Staat in seinemKampf gegen unzufriedene Elemente gestärkt; Flugzeugeund Atombomben erschweren Revolutionen, wenn diesenicht die Unterstützung von Piloten und Chemikern fin-den. Jede kluge Regierung wird diese beiden Klassenbegünstigen und bemüht sein, sich ihrer Loyalität zu ver-gewissern. Wie das Beispiel Rußlands zeigt, ist es heut-zutage energischen und intelligenten Männern möglich,sobald sie sich einmal der Verwaltungsmaschine bemäch-tigt haben, auch an der Macht zu bleiben, selbst wenn siezunächst die Mehrheit des Volkes gegen sich hatten. Essteht daher zu erwarten, daß die Macht in zunehmendemMaße Herrschaftsgruppen zufallen wird, die nicht durchGeburt, sondern durch politische überzeugung dazu ge-langen. In Ländern, die seit langem demokratische For-men gewöhnt sind, wird sich die Herrschaft solcherOligarchien vielleicht ein demokratisches Mäntelchen um-hängen, wie es im Rom des Augustus der Fall war; inanderen Ländern aber wird sich ihre Herrschaft ohneMaske zeigen. Wenn die Konstruktion neuer Gesellschafts-formen ein wissenschaftliches Experimentieren sein soll,dann ist die Herrschaft einer Oligarchie der politischenüberzeugung unerläßlich. Vermutlich wird es zu Konflik-ten zwischen den verschiedenen Oligarchien kommen, aberschließlich wird eine Oligarchie die Weltherrschaft erlangenund eine weltumspannende Organisation schaffen, dieebenso vollkommen und bis ins letzte Detail durchdachtsein wird wie die, die heute in der UdSSR besteht.

Ein solcher Zustand wird seine Vor- und Nachteilehaben; wichtiger noch aber ist die Tatsache, daß nichtsanderes den Bestand einer von der wissenschaftlichen Tech-

185KüNSTLICH GESCHAFFENE GESELLSCSHAFTEN

nik beherrschten Gesellschaft zu sichern vermag. Die wis-senschaftliche Technik erfordert Organisation, und je voll-endeter sie ist, desto umfassender müssen ihre Organisa-tionsformen sein. Ganz abgesehen vom Krieg, ist eineinternationale Organisation des Bank- und Kredit~~sensnicht nur für das Gedeihen einiger, sondern aller Landernotwendig. Die internationale Organisation der industriel-len Produktion wird durch deren wirksame Methoden be-dingt. Eine moderne Industrieanlage kann mit Leichtig-keit in vieler Hinsicht mehr erzeugen, als der Bedarf derganzen Welt beträgt. Das Ergebnis sollte wohl Reichtumund überfluß sein, aber als Folge von Wettbewerb undKrieg ist es Armut und Mangel. Ein Fehlen der K.onkur-renz würde es den Menschen auf Grund der gesteigertenProduktion ermöglichen, den richtigen Ausgleich zwischenMuße und Güterproduktion zu finden. Sie hätten dieWahl, sechs Stunden im Tag zu arbeiten und reich zu sein,oder nur vier Stunden zu arbeiten und sich dafür nureines mäßigen Wohlstandes zu erfreuen. Die Vorteileeiner weltumspannenden Organisation, die darin bestehe?,daß sie eine überflüssige Konkurrenz ausschalten und dieGefahr eines Krieges verhüten, sind so groß, daß sieeine wesentliche Voraussetzung für den Bestand solcherGesellschaftsformen bilden, die über eine wissenschaftlicheTechnik verfügen. Was dafür spricht, ist derartig üb~r-wältigend, verglichen mit dem: was ma~ d~gegen ~1l1-wenden kann, daß die Frage beinahe unwichtig ers~e1l1t,ob das Leben in einem organisierten Weltstaat zufrieden-stellender sein werde als das heutige. Denn die Entwick-lung der Menschheit kann nur in der Richtu~g auf ~inenorganisierten Weltstaat hin erf?lgen, au~er s~e v~rzl~tetauf jede wissenschaftliche Techmk, und dies WIrd SIeho~-stens als Ergebnis einer gewaltigen Katastrophe tun, diedas gesamte Zivilisationsniveau herabsetzt. .Die Vorteile, die ein organisierter Weltstaat zu bieten

hat, sind groß und liegen auf der Hand. Erstens wird mangegen Kriege gesichert sein und sich die ganzen Anstren-

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186 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

gun gen und Ausgaben ersparen, die jetzt dem Wettrüstengewidmet sind: es wird vermutlich eine einzige, äußerstwirksame Kampfmaschinerie geben, die sich hauptsächlichauf Flugzeuge und chemische Methoden der Kriegführungstützt, die offenbar unwiderstehlich sein wird und derman deshalb auch keinen Widerstand leisten wird'. DieZentralregierung mag gelegentlich durch Palastrevolutio-nen gestürzt werden, doch wird dies bloß einen Personen-wechsel an der Spitze bedeuten, aber die Organisationder Regierung nicht wesentlich verändern. Natürlich wirddie Zentralregierung jede nationalistische Propagandaverbieten, durch die der derzeitige Zustand der Anarchiegewahrt bleibt und an ihrer Stelle Anhänglichkeit an denWeltstaat propagieren. Die Folge wird sein, daß einesolche Organisation, wenn sie sich eine Generation langan der Macht halten kann, von Dauer sein wird. Die Ge-winne werden, vom wirtschaftlichen Standpunkt aus be-trachtet, ungeheuer sein: es wird keine Vergeudung durchkonkurrierende Erzeugnisse geben, keine Gefahr der Ar-beitslosigkeit, keine Armut, kein plötzliches Schwankenzwischen guten und schlechten Zeiten; jedem Arbeitswilli-gen wird ein behagliches Leben gewährt werden, und dieArbeitsunwilligen wird man in ein Gefängnis sperren.Wird sich die Arbeit, die ein Mensch bisher geleistet hat,als überflüssig erweisen, wird man ihn auf eine neue Ar-beit umschulen und in der Lehrzeit angemessen erhalten.ökonomische Erwägungen werden das Wachstum der Be-völkerung regeln, die man wahrscheinlich stationär erhal-ten wird. Fast alles, was am menschlichen Leben tragischist, wird eliminiert werden, und selbst der Tod wird sel-ten früher als im hohen Alter eintreten.

Ob aber der Mensch in diesem Paradies glücklich seinwird, das weiß ich nicht. Vielleicht wird uns die Bio-chemie lehren, wie man jeden Menschen glücklich macht,vorausgesetzt daß er das Lebensnotwendige hat; vielleicht

1 Vgl. The Problem oi the Twentieth Century: a Study inInternational Relationships, v. David Davies, 1930.

KüNSTLICH GESCHAFFENE GESELLSCSHAFTEN 187

wird man gefährliche Sportarten für die organisieren, diesonst durch Langeweile zu Anarchisten werden könnten;vielleicht wird die Grausamkeit, die man aus der Politikverbannt hat, im Sport Eingang finden; vielleicht wirdFußball durch Luftschlachten ersetzt werden, bei denender Tod die Strafe für die Niederlage ist. Es mag sein,daß es dem Menschen, solange er den Tod suchen darf,auch nichts ausmacht, für eine banale Sache zu sterben.Vielleicht wird man es für ein ruhmvolles Ende halten,vor Millionen Zuschauern aus den Lüften zu stürzen, selbstdann, wenn der Tod keinen anderen Zweck verfolgt, alseine Feiertagsmenge zu unterhalten. Vielleicht kann manauf solch eine Art und Weise ein Sicherheitsventil für dieanarchischen und unberechenbaren Mächte im Menschenschaffen; vielleicht wird es aber auch so sein, daß eine weiseErziehung und eine angemessene Diät den Menschen vonall seinen unbeherrschten Trieben heilen werden und daßdas gesamte Leben so geruhsam wie das in einer Sonntags-schule dahinfließen wird.Es wird natürlich auch eine Weltsprache geben, Espe-

ranto oder Pidgin-Englisch. Die Literaturen der Vergan-genheit wird man zum größten Teil nicht in diese SpracI:eübersetzen, da man sie in ihrer ganzen Haltung und inihrem gefühlsmäßigen Hintergrund für ungeeignet undbeunruhigend ansehen wird, doch werden ernste Ge-schichtsforscher von der Regierung die Erlaubnis erlangenkönnen, Werke wie H amlet oder Othello studieren zudürfen, der breiten Offentlidikeit werden sie aber vorent-halten werden, weil sie den Mord verherrlichen; Knabenwerden weder Seeräuber- noch Indianerbücher lesen diir-fen· die Liebe wird man als Thema ablehnen, weil sie alsein' unbeherrschter Trieb töricht, wenn nicht gar böse ist.All dies wird das Leben für den Tugendsamen sehr an-genehm machen.Die Wissenschaft erhöht unsere Macht, sowohl Gutes

wie Böses zu tun, und es ergibt sich daraus die verstärkteNotwendigkeit, destruktive Impulse zurückzudrängen.

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188 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

Wenn eine wissenschaftliche Welt Bestand haben soll müs-sen die Menschen zahmer werden, als sie vorher waren.Der große Verbrecher darf nicht länger das Ideal sein,und Unterwürfigkeit muß mehr Bewunderung finden alsin der Vergangenheit. Dies alles bedeutet zugleich Ge-winn und Verlust, und es liegt außerhalb der menschlichenMacht, Soll und Haben ins richtige Gleichgewicht zubringen.

KAPITEL XIII

INDIVIDUUM UND GEMEINSCHAFT

Das 19. Jahrhundert litt unter einem merkwürdigen Zwie-spalt zwischen politischen Idealen und wirtschaftlicherPraxis. Auf politischem Gebiet verwirklichte es die libe-ralen Ideen Lockes und Rousseaus, die einem Gemein-wesen von selbständigen Kleinbauern angemessen waren.Seine Schlagworte waren Freiheit und Gleichheit, doch er-fand es zu gleicher Zeit auch die Technik, die das 20. Jahr-hundert dazu führt, die Freiheit zu vernichten und dieGleichheit durch neue Formen der Oligarchie zu ersetzen.Das Überwiegen des liberalen Gedankens war in mehr-facher Hinsicht ein Unglück, weil es Manner mit Weitblickdaran hinderte, ganz sachlich die Probleme zu durchdenken,die durch die Industrialisierung aufgeworfen wurden. DerSozialismus und der Kommunismus allerdings sind ihremganzen Wesen nach soziale Glaubensbekenntnisse, dochwerden sie so sehr von dem Gedanken des Klassenkampfesbeherrscht, daß sie nicht dazukommen, an etwas anderesals die Erringung des politischen Sieges zu denken. Auchdie traditionelle Moral hilft in einer modernen Welt rechtwenig. Ein Reicher darf Millionen durch eine Handlungs-weise in Armut und Elend stürzen, die auch der strengstekatholische Beichtvater nicht als Sünde betrachten würde,während er der Absolution für den kleinsten geschlecht-lichen Fehltritt bedarf, mit dem er schlimmstenfalls eineStunde vergeudet hat, die er nutzbringender hätte verwen-den können. Es bedarf einer Neufassung unserer Pflich-ten dem Nächsten gegenüber. Weder die überkommenenreligiösen, noch auch die liberalen Lehren des 19. Jahr-hunderts sind auf diesem Gebiet die geeigneten Führer.Nehmen wir als Beispiel ein Buch wie das von Mill überdie Freiheit. Mill behauptet, daß der Staat wohl das

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190 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

Recht habe, sich in solchemeiner Handlungen einzumischen,die ernste Folgen für andere haben, daß er mir aber Frei-heit zugestehen soll, wenn sich die Auswirkungen meinerHandlungen in der Hauptsache auf meine eigene Personbeschränken. In der Welt von heute läßt jedoch ein sol-ches Prinzip der individuellen Freiheit kaum irgend-welchen Spielraum. Je organischer die Gesellschaft wird,desto zahlreicher und wichtiger werden die Einwirkungender einzelnen aufeinander, so daß schließlich fast nichtsübrigbleibt, worauf sich Mills Verteidigung der Freiheitanwenden ließe. Betrachten wir beispielsweise die Rede-und Pressefreiheit. Es ist klar, daß sich eine Gesellschaft,die diese gewährt, verschiedener Errungenschaften beraubt,die einer Gesellschaft offenstehen, die sie verbietet. InKriegszeiten sieht dies jedermann ein, weil in solchen Zei-ten das nationale Ziel einfach ist. Bisher war es einerNation unmöglich, in Friedenszeiten andere Ziele zu ha-ben als die Erhaltung ihres Territoriums und ihrer Ver-fassung. Eine Regierung wie die Sowjetrußlands hat auchin Friedenszeiten ein klar umrissenes Ziel, das von ihrebenso leidenschaftlich verfolgt wird wie das anderer Na-tionen in Kriegszeiten, und dies zwingt sie dazu, die Rede-und Pressefreiheit so zu beschneiden, wie es andere Natio-nen nur tun, wenn sie sich im Kriegszustand befinden.Die ständige Verringerung der individuellen Freiheit,

die sich in den letzten 25 Jahren vollzog, wird wahrschein-lich noch weitergehen, da sie zwei gleichbleibende Ur-sachen hat. Einerseits zwingt die moderne Technik dieGesellschaft zur Organisation und anderseits werden sichdie Menschen durch die moderne Soziologie der Kausal-gesetze des richtigen Verhaltens immer mehr bewußt, aufGrund deren die Handlungen eines Menschen einem an-deren nützlich oder schädlich sind. Wenn irgendeine be-sondere Form der individuellen Freiheit in der wissen-schaftlichen Gesellschaft der Zukunft Berechtigung habensoll, kann es nur eine sein, die zum Vorteil der Gesellschaftin ihrer Gesamtheit ist, nicht jedoch eine, die deshalb als

INDIVIDUUM UND GEMEINSCHAFT 191

gerechtfertigt gilt, weil die betreffenden Handlungen nie-manden anderen als den Handelnden berühren.

Betrachten wir einige Beispiele überkommener Grund-sätze, die nicht länger vertretbar erscheinen. Das erste Bei-spiel, das mir einfällt, betrifft die Anlage von Kapitalien.Derzeit kann jeder, innerhalb weitgesteckter Grenzen,sein Geld investieren, wie es ihm paßt. Diese Freiheitwurde in der Blütezeit des laissez faire mit der Begründungverteidigt, daß das einträglichste Geschäft auch das sozialnützlichste sei. Es wird nicht viele geben, die heute nocheine solche Lehre zu vertreten wagen. Trotzdem besteht diealte Freiheit weiter. Natürlich würde in einer wissen-schaftlichen Gesellschaft das Kapital dort angelegt werden,wo sein sozialer Nutzen am größten ist, nicht aber dort,wo es die höchsten Gewinne abwirft. Die Höhe des Ge-winns hängt oft von Zufälligkeiten ab, etwa im Falle derKonkurrenz zwischen Eisenbahn and Auto. Die Eisen-bahnen müssen für ihren bestehenden Schienenweg zahlen,die Autobusse nicht. Es kann deshalb der Fall eintreten,daß dem Investierenden Eisenbahnen als unprofitabel undAutobuslinien als gewinnbringend erscheinen, währendvom Standpunkt des Gemeinwesens in seiner Gesamtheitvielleicht das genaue Gegenteil zutrifft. Oder betrachtenwir daraufhin die Gewinne jener, die so vernünftig waren,Grundstücke neben dem Millbank-Gefängnis zu erwerben,kurz bevor dieses in die Tategalerie umgewandelt wurde.Die Ausgaben, die diesen Leuten ihren Gewinn sicherten,waren öffentliche Ausgaben, doch bilden ihre Gewinne kei-nen Beweis dafür, daß sie ihr Geld in einer für die Gesamt-heit nützlichen Weise angelegt hatten. Oder nehmen wirein noch wichtigeres Beispiel und überlegen wir, welcheungeheuren Summen für Reklame ausgegeben werden.Man kann wohl mit Recht behaupten, daß der Staat nureinen sehr mageren Gewinn daraus zieht. Es ist also dasPrinzip, daß jeder Kapitalist sein Geld anlegen dürfe, wiees ihm paßt, sozial nicht zu vertreten.

Oder betrachten wir das Wohnungsproblem. In England

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hat der Individualismus dazu geführt, daß die meistenFamilien ein kleines Eigenheim der Wohnung in einemgroßen Miethaus vorziehen. Das Ergebnis ist, daß sich,sehr zum Nachteil der Frauen und Kinder, die VororteLondons trostlos und meilenweit vom Zentrum aus nachjeder Richtung erstrecken. Jede Hausfrau bereitet untergroßen Mühen abscheuliche Mahlzeiten für einen ent-rüsteten Gatten. Wenn die Kinder aus der Schule kommenoder in der Zeit, da sie noch zu jung sind, um die Schulezu besuchen, sind sie in kleine, enge Räume eingepferchtund die Plage ihrer Eltern, oder die Eltern fallen ihnenlästig. In einem vernünftigeren Gemeinwesen, würde jedeFamilie einen Teil eines riesigen Gebäudes mit einem Hofin der Mitte bewohnen; es gäbe kein Kochen in den ein-zelnen Haushalten, sondern Gemeinschaftsverpflegung. DieKinder aber würden, sobald sie der Mutterbrust nicht mehrbedürfen, ihre Zeit in großen, luftigen Hallen unter derAufsicht von Frauen verbringen, die Wissen, Ausbildungund eine Gemütslage besitzen, um Kinder glücklich zumachen. Den Frauen aber, die jetzt den ganzen Tag langschuften und unnütze Arbeit schlecht verrichten, stünde esfrei, sich außer Hauses ihren Lebensunterhalt zu ver-dienen. Die Vorteile eines solchen Systems für Mütter undKinder wären unberechenbar. Man stellte im Rachel-Mac-millan-Kindergarten fest, daß ungefähr 90 Prozent derKinder bei ihrem Eintritt Rachitis hatten, und fast allewaren nach Ablauf eines Jahres geheilt. In einem gewöhn-lichen Haushalt läßt sich die notwendige Durchschnitts-menge an Licht, Luft und guter Nahrung kaum bieten,während all diese Dinge ganz billig zu stehen kommen,wenn sie für viele Kinder gleichzeitig beschafft werden. DieFreiheit, seine Kinder deshalb gehemmt und verkrüppeltaufwachsen zu lassen, weil man sie zu liebhat, um sich vonihnen zu trennen, ist eine Freiheit, die bestimmt nicht imInteresse der Allgemeinheit liegt.

Oder betrachten wir das Problem der Arbeit, sowohl dasder Berufswahl wie das der Arbeitsmethode. Derzeit wäh-

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len die jungen Leute ihren Beruf oder ihr Handwerk selbst,und zwar auf Grund der Aussichten, die sich ihnen in demAugenblick der Wahl eröffnen. Jemand, der über die ent-sprechenden Informationen und Voraussicht verfügt,könnte wissen, daß in ein paar Jahren die Lage in dembetreffenden Beruf viel ungünstiger sein wird. In einemsolchen Falle würde sich eine staatliche Lenkung für denjungen Menschen als vorteilhaft erweisen. Und was dietechnischen Verfahrensweisen betrifft, so liegt es selten imöffentlichen Interesse, daß ein veraltetes und unwirtschaft-liches Verfahren beibehalten wird, wenn man eine wirt-schaftlichere Technik kennt. Dank dem irrationalen Cha-rakter des kapitalistischen Systems sind die Interessen deseinzelnen Lohnempfängers denen des Gemeinwesens ent-gegengesetzt, weil ihm wirtschaftlichere Methoden seinenArbeitsplatz kosten können. Dies ist auf das Überlebenkapitalistischer Prinzipien in einer Gesellschaft zurückzu-führen, die in ihrer Organisation so weit fortgeschritten ist,daß sie sie nicht mehr dulden sollte. In einem wohlorgani-sierten Gemeinwesen müßte es unmöglich sein, daß einegroße Gruppe einzelner aus der Beibehaltung eines unwirt-schaftlichen Verfahrens Gewinne zieht. Die Anwendung derwirksamsten Verfahren müßte erzwungen werden, und esdürfte kein Lohnempfänger dadurch zu Schaden kommen.

Ich komme nun zu einer Frage, die den einzelnen vielnäher angeht, nämlich die der Fortpflanzung. Bisher warman der Ansicht, daß jeder Mann und jede Frau, sofernesie nicht zu nahe miteinander verwandt sind, das Rechthaben zu heiraten, und daß sie als Verheiratete das Recht,wenn schon nicht die Pflicht hätten, so viele Kinder zubekommen, als die Natur vorsah. Dies ist ein Recht, daseine wissenschaftliche Gesellschaft der Zukunft aller Vor-aussicht nach nicht dulden wird. Für jedes Stadium derindustriellen oder landwirtschaftlichen Technik gibt es eineoptimale Bevölkerungsdichte, die einen höheren materi-ellen Wohlstand gewährleistet, als sich bei einer Zu- oderAbnahme der Bevölkerung ergeben würde. Von unent-

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wickelten Ländern abgesehen, wurde bereits überall dieseoptimale Bevölkerungsdichte überschritten, 'obwohl viel-leicht auch in dieser Hinsicht Frankreich in den letztenDekaden eine Ausnahme bildet. Abgesehen von denFällen, wo es Eigentum zu erben gibt, leiden die Ange-hörigen einer kleinen Familie ebenso unter der über-bevölkerung wie die einer großen. Wer deshalb über-völkerung verursacht, fügt nicht nur der eigenen Familiesondern der Gesamtheit ein Unrecht zu. Deshalb liegt dieVermutung nahe, daß die Gesellschaft ein solches Verhal-ten notfalls entmutigen wird, sobald sich nicht mehr reli-giöse Vorurteile dem in den Weg stellen. Das gleiche Pro-blem wird sich auch für verschiedene Völker und Rassen,und zwar in einer viel gefährlicheren Form, ergeben. Wenneine Nation erkennt, daß sie infolge einer niedrigerenGeburtenziffer ihre militärische überlegenheit über einenRivalen einbüßt, kann sie versuchen, wie dies bereits inähnlichen Fällen geschah, die Geburtenfreudigkeit zuheben und wenn sich dies, wie wahrscheinlich zu erwartenist, als unwirksam erweist, wird sie eine Begrenzung derGeburtenziffern des Rivalen verlangen. Wenn es je zueiner übernationalen Regierung kommen sollte, wird siesolche Dinge in Rechnung stellen müssen, und so, wie esderzeit Quoten für die Einwanderung in die VereinigtenStaaten gibt, wird es dann nationale Quoten für die Ein-wanderung in die übrige Welt geben. Kinder, die über diebewilligte Zahl hinaus geboren werden, wird man vermut-lich töten. Dies wäre immer noch weniger grausam als diebestehende Methode, sie durch Hunger oder Krieg umzu-bringen. Was mich anlangt, so prophezeie ich nur einesolche Zukunft, rede ihr aber nicht das Wort.Wahrscheinlich werden sowohl Qualität wie Quantität

öffentlich geregelt werden. Es ist bereits in vielen StaatenAmerikas erlaubt, Geisteskranke zu sterilisieren, und ähn-liche Maßnahmen werden in England praktisch erwogen.Dies ist aber nur der erste Schritt. Im Laufe der Zeit wirdman vom Standpunkt der Fortpflanzung aus einen immer

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größeren Teil der Bevölkerung als geisteskrank ansehen.Jedenfalls ist es aber ein Unrecht, sowohl dem Kind alsauch der Gesellschaft gegenüber, wenn Kinder gezeugt wer-den, die höchstwahrscheinlich geisteskrank sein werden.Es gibt kein vertretbares Prinzip der Freiheit, das die Ver-hütung eines solchen Verhaltens verbieten könnte.

Wenn es sich um die Beschränkung der persönlichenFreiheit handelt, muß man stets zweierlei erwägen.Erstens, ob bei weiser Handhabung eine solche Beschrän-kung im allgemeinen Interesse liegt, und zweitens, ob sieauch im allgemeinen Interesse läge, wenn sie mit einemgewissen Maß von Unkenntnis und Perversität durch-gefüh~-t wird. Theoretisch handelt es sich um zwei ganzve:s(~llede~e Fra~en, vom Standpunkt der Regierung auseXIs~Iert die zweite aber überhaupt nicht, da sich jedeRegierung von diesen zwei Fehlern völlig frei glaubt. In-folgedessen wird jede Regierung, soweit sie nicht durchtraditionelle Vorurteile gehemmt wird, eine größere Be-schneidung der Freiheit befürworten, als klug ist. Wennwir daher in diesem Kapitel Betrachtungen darüber an-stellen, was für Freiheitsbeschränkungen theoretisch zurechtfertigen sind, darf uns dies nicht ohneweiteres zu derSchlußfolgerung verleiten, daß man sie auch praktisch ver-treten sollte. Doch halte ich es für durchaus wahrschein-lich, daß alle Beschränkungen der Freiheit, für die estheoretisch eine Rechtfertigung gibt, im Laufe der Zeit auchp~aktisch zur Durchführung gelangen werden, weil diewissenschaftliche Technik allmählich die Regierungen sostark macht, daß sie die Ansichten Außenstehender immerweniger zu berücksichtigen gezwungen sind. Das Ergebnisdavon wird sein, daß die Regierungen imstande sein wer-den, die persönliche Freiheit überall dort zu beschränkenwo ihrer Ansicht nach ein vernünftiger Grund dazu besteht:und eben deshalb werden sie es häufiger tun, als sie es tunsollten. Aus diesem Grunde wird die wissenschaftlicheTechnik wahrscheinlich zu einer Tyrannei führen, die sichals verheerend erweisen mag.

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Ebenso schwer wie die Freiheit läßt sich auch die Gleich-heit mit der wissenschaftlichen Technik in Einklang bringen,da diese einen großen Apparat von Fachleuten und Beam-ten bedingt, die ungeheure Organisationen lenken undkontrollieren. Es werden sich in der Politik vielleicht demo-kratische Formen erhalten, sie werden aber nicht dieselbeRealität besitzen wie in einem Gemeinwesen, das aus selb-ständigen Kleinbauern besteht. Beamte haben unweigerlichMacht. Und dort, wo lebenswichtige Fragen ein solchesSpezialwissen erfordern, daß der Laie gar nicht hoffenkann, sie je zu verstehen, müssen Fachleute notwendiger-weise eine beträchtliche Macht erlangen. Nehmen wir alsBeispiel das Währungs- und Kreditwesen. William BryanJennings machte zwar 1896 die Währungs frage zu einemPunkt seines Wahlprogrammes, doch hätten die Männer,die für ihn stimmten, auf jeden Fall für ihn gestimmt, ganzgleichgültig, was für Punkte er auf sein Programm gesetzthätte. Derzeit wird nach der Ansicht vieler Fachleute,deren Wort Beachtung verdient, durch eine falsche Be-handlung der W'ährungs- und Kreditfrage unermeßIichesUnheil gestiftet, doch wäre es ausgeschlossen, diese Frageanders als in einer durch Leidenschaften aufgewühlten,völlig unwissenschaftlichen Form einer Wählerschaft zurEntscheidung zu unterbreiten; der einzige gangbare Wegist der, die leitenden Beamten der großen Zentral bankenzu überzeugen. Solange diese Männer ehrenhaft und inEinklang mit der Tradition handeln, kann sie die Allge-meinheit nicht kontrollieren, da nur sehr wenige Leutedavon Kenntnis erlangen werden, wenn sie sich irren. Dieszeigt ein weniger wichtiges Beispiel: Jeder, der Gelegen-heit hatte, die Methoden des Güterverkehrs auf Eisen-bahnen in Großbritannien mit denen in Amerika zu ver-gleichen, weiß, daß die amerikanischen Methoden unver-gleichlich besser sind. Es gibt keine privaten Lastwagen,und die der Eisenbahnen sind standardisiert und besitzeneine Tragfähigkeit von 40 Tonnen. In England ist alleskunterbunt und unsystematisch, und die Verwendung pri-

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vater Lastwagen ist äußerst unwirtschaftlich. Würde manhier Ordnung schaffen, so könnten die Frachttarife herab-gesetzt werden und die Verbraucher hätten den Vorteildavon, doch kann man eine solche Frage nicht zu einemPunkt des Wahlprogramms machen, da weder die Eisen-bahngesellschaften noch die Eisenbahnarbeiter einen sicht-baren Gewinn daraus zögen. Wenn es zu einem einheit-licheren System kommen sollte, so wird dies das Verdienstvon Regierungsbeamten sein, nicht das Ergebnis einerdemokratischen Forderung.Die wissenschaftliche Gesellschaft wird unter sozialisti-

scher oder kommunistischer Leitung ebenso oligarchischsein wie unter kapitalistischer, denn auch dort, wo diedemokratischen Formen bestehenbleiben, können sie demDurchschnittswähler nicht das erforderliche Wissen schen-ken und ihn auch nicht dazu befähigen, im entscheidendenAugenblick zur Stelle zu sein. -Die Männer, die den kom-plizierten Mechanismus eines modernen Gemeinwesensverstehen und daran gewöhnt sind, die Initiative zu er-greifen und Entscheidungen zu treffen, müssen unvermeid-lich in weitem Maße den Ablauf der Ereignisse kon-trollieren. Vielleicht trifft dies auf einen sozialistischenStaat in noch größerem Maße zu als auf jeden anderen,denn in einem sozialistischen Staate sind wirtschaftlicheund politische Macht in der gleichen Hand vereinigt, unddie nationale Organisation des Wirtschaftslebens ist inihm vollständiger als in einem, der noch eine Privat-wirtschaft kennt. Außerdem wird wahrscheinlich ein sozia-listischer Staat das Propagandawesen noch umfassenderkontrollieren, so daß er mehr Macht besitzen wird, dieLeute das wissen zu lassen, was er für geeignet hält, undihnen das zu verschweigen, was er nicht mitteilen will. Ichfürchte deshalb, daß Gleichheit ebenso wie Freiheit nichtmehr als ein Wunschtraum des 19. Jahrhunderts sind.Die Welt der Zukunft wird eine herrschende Klasse haben,deren Herrschaft vermutlich nicht erblich sein wird, sondernmehr der Herrschaftsschicht der katholischen Kirche gleichen

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~ird. I?iese herrschende Klasse, wird sich dann, je mehrIhr W'issen und Selbstvertrauen wächst, in immer stär-kerem Maße in das Leben der einzelnen einmischen undsie wird immer besser die Technik meistern, wie man esmacht, daß eine solche Einmischung geduldet wird. IhreAbsichten werden wohl die besten und ihr Verhalten wirdehrenhaft sein; man darf auch annehmen, daß sie wohl-informiert und fleißig sein wird, doch glaube ich nicht, daßsie sich durch die Erwägung, daß die Initiative des ein-zelnen etwas Gutes ist, davon abhalten lassen wird, ihreMacht zu gebrauchen, auch nicht durch die überlegung, daßeine Oligarchie kaum die Interessen ihrer Sklaven berück-sichtigen werde; denn Männer, die einer solchen Zurück-haltung fähig wären, werden niemals Machtpositionenerringen, außer sie sind erblich. Solche Stellungen werdennur Männern zufallen, die energisch und frei von Zweifelnsind. Wie wird nun eine Welt aussehen, die das Werkeiner solchen herrschenden Klasse ist? In den folgendenKapiteln wollen wir den Versuch wagen, einen Teil derAntwort zu erraten.

KAPITEL XIV

WISSENSCHAFTLICHE REGIERUNG

Ich will zunächst erklären, was ich mit dem Ausdruck"wissenschaftliche Regierung" meine. Ich verstehe dar-unter nicht einfach eine Regierung, die sich aus Wissen-schaftlern zusammensetzt. So saßen viele Männer derWissenschaft in der Regierung Napoleons, z. B. Laplace,der sich jedoch als so unfähig erwies, daß er schon nachganz kurzer Zeit seines Amtes enthoben wurde. Die Regie-rung Napoleons ist in meinen Augen weder eine wissen-schaftliche, weil sie Laplace enthielt, noch wurde sie durchseinen Verlust zu einer unwissenschaftlichen. Meine Defi-nition wäre, daß eine Regierung i..ndem Maße, als es ihrgelingt, beabsichtigte Resultate zu erzielen, eine mehr oderweniger wissenschaftliche genannt werden kann; je größerdie erzielte Anzahl beabsichtigter Resultate ist, desto wis-senschaftlicher ist sie. Die Männer, welche die nordameri-kanische Verfassung schufen, waren in dem Sinne wissen-schaftlich, als sie das Privateigentum sicherten, aber un-wissenschaftlich, als sie versuchten, ein indirektes Wahl-system für die Präsidentschaft einzuführen. Die für denAusbruch des Ersten Weltkrieges verantwortlichen Regie-rungen waren unwissenschaftlich, weil sie alle in dessenVerlauf gestürzt wurden. Doch gibt es eine Ausnahme: dieserbische Regierung, die allein ganz wissenschaftlich war,da das Ergebnis des Krieges genau das war, was die ser-bische Regierung beabsichtigt hatte, als sie zur Zeit desMordes von Sarajewo an der Macht war.

Dem Umstand, daß wir heute über ein reiches Wissenverfügen, ist es zu verdanken, daß in unseren Tagen Regie-rungen viel mehr beabsichtigte Ergebnisse erzielen könnenals in früheren Zeiten, und wahrscheinlich werden in nichtallzu ferner Zukunft Resultate möglich sein, die sogar heute

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noch unmöglich sind. Eine vollständige Beseitigung derArmut wäre z. B. auch heute schon technisch möglich, dasheißt, die heutigen Produktionsmethoden würden beikluger Organisation ausreichen, um so viel Waren zu er-zeugen, daß ein erträglicher Wohlstand der gesamtenWeltbevölkerung erzielbar wäre. Trotz der technischenMöglichkeit ist dieser Zustand aber psychologisch noch un-möglich. Internationaler Konkurrenzkampf, Klassengegen-sätze und das anarchische System der Privatwirtschaft ste-hen dem im Wege, und sie zu beseitigen, ist keine leichteAufgabe. Die Seuchenbekämpfung ist ein Ziel, dem sichauf seiten der westlichen Nationen weniger Hindernissein den Weg stellen, und darum wurde es auch mit größe-rem Erfolg in Angriff genommen; doch sind die Schwie-rigkeiten in ganz Asien noch groß. Die Eugenik ist, wennman von der Sterilisierung Schwachsinniger absieht, nochkein Ziel einer praktischen Politik, doch könnte sie es imVerlauf der nächsten fünfzig Jahre werden. Wie wirbereits gesehen haben, könnte sie im Zusammenhang mitden Fortschritten der Embryologie durch noch fortschritt-lichere Methoden ersetzt werden, nämlich durch direkteEinwirkung auf den Fötus.

All dies sind Ziele, die, sobald ihre praktische Durch-führbarkeit möglich erscheint, auf energische und prak-tische Idealisten einen starken Anreiz ausüben werden. Diemeisten Idealisten stellen eine Mischung zweier Typendar, des Träumers und des Tatmenschen. Der reine Träu-mer ist ein Narr, der reine Tatmensch strebt nur nachpersönlicher Macht, der Idealist jedoch lebt in einem Zwi-schenreich zwischen diesen beiden Extremen. Manchmalgewinnt der Träumer in ihm, manchmal behält der Tat-mensch die Oberhand. WiIliam Morris machte es Freude,"News from Nowhere" zu träumen; Lenin fand keine Be-friedigung in einer solchen Beschäftigung, solange er seinenIdeen nicht Realität verleihen konnte. Beide Typen desIdealisten wollen die Welt, in der sie leben, verändern;der Tatmensch fühlt sich stark genug, eine neue zu er-

WISSENSCHAFTLICHE REGIERUNG 201

schaffen, während sich der Träumer gehemmt fühlt und indas Reich der Phantasie flüchtet. Dieser Typ des idea-listischen Tatmenschen ist es, der die wissenschaftliche Ge-sellschaft formen wird. Von den Männern unserer Tageist Lenin der Archetyp. Dieser idealistische Tatmenschunterscheidet sich von dem Mann mit persönlichem Ehrgeizdadurch, daß er nicht bloß für sich bestimmte Dingewünscht, sondern auch eine bestimmte Gesellschaft. Crom-weIl würde sich nicht damit zufriedengegeben haben, alsNachfolger Straffords Lord Lieutenant von Irland oderals Nachfolger Lauds Erzbischof von Canterbury zu wer-den. Wesentlich für seine Glückseligkeit war es, Englandzu einer bestimmten Art von Land zu machen, nicht nurdarin eine führende Rolle zu spielen. Dieses unpersönlicheElement unterscheidet den Idealisten von anderen Men-schen. Männer dieser Art fanden in Rußland nach derRevolution ein weiteres Betätigungsfeld als in irgendeinemanderen Land zu irgendeinem anderen Zeitpunkt, undje mehr die wissenschaftliche Technik vervollkommnetwird, um so mehr Möglichkeiten werden sich ihnen überallbieten. Ich bin daher fest davon überzeugt, daß Männerdieser Art berufen sind, bei der Formung der Welt inden nächsten zweihundert Jahren eine hervorragendeRolle zu spielen.

Die derzeitige Einstellung der praktischen Idealistenunter den Wissenschaftlern zu Problemen der Regierungs-kunst spiegelt sich sehr deutlich in einem Leitartikel wider,der in Nature am 6. September 1930 abgedruckt wurde,und aus dem ich im folgenden einige Sätze zitiere:Zu den Veränderungen, deren Zeugen die British Assocation

for the Advancement of Science seit ihrer Gründung im Jahre1831 wurde, gehört das allmähliche Schwinden der Grenzliniezwischen Industrie und Wissenschaft. Wie Lord Melchett neulichin einer Rede ausführte, hat es heute jeden Sinn verloren, sichum eine Trennung von angewandter und reiner Wissenschaftzu bemühen. Auch zwischen Wissenschaft und Industrie ist eineklare Scheidung unmöglich. Auch die abstraktesten Forschungs-ergebnisse führen oft zu den erstaunlichsten praktischen Resul-

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taten. Fortschrittliche Firmen wie Imperial Chernical IndustriesLtd. haben nun in Großbritannien eine Praxis eingeführt, die inDeutschland schon seit langem befolgt wurde, indem sie einenengen Kontakt mit den wissenschaftlichen Forschungsarbeitender Universitäten pflegen ...W ennes tatsächlich stimmt, daß die Wissenschaft die verant-

wortliche Rolle bei der Führung der Industrie spielt, so wird ihrjetzt eine noch weiterreichende Verantwortung aufgebürdet. Ineiner modernen Zivilisation hängen ständiger Fortschritt undGedeihen der Gemeinschaft und der Industrie von der reinenund angewandten Wissenschaft ab. Unter dem Einfluß modernernaturwissenschaftlicher Entdeckungen und ihrer Anwendungwird in zunehmendem Maße nicht nur die Industrie, sondernin vieler Hinsicht die gesamte Grundlage der Gesellschaft wissen-schaftlich, und in wachsendem Maße machen sich bei den Pro-blemen, denen sich die nationale Verwaltung gegenübergestelltsieht, Faktoren bemerkbar, die zu ihrer Lösung wissenschaftlicheErkenntnis verlangen .. ,

In den letzten Jahren hat das rasche Wachstum jeder Artvon internationaler Verbindung und des internationalen Trans-ports der Industrie eine Einstellung und Organisation auf-gezwungen, die in ganz erstaunlicher Weise international sind.Die gleichen Kräfte haben jedoch auch die Grenzen viel weitergesteckt, innerhalb deren eine verfehlte Politik üble Folgennach sich ziehen kann. Die jüngsten historischen Forschungs-arbeiten haben gezeigt, daß die schwierigen Rassenprobleme, dieheute von der Südafrikanischen Union gelöst werden sollen, dasErgebnis einer verfehlten Politik sind, die aus den politischenVorurteilen erwuchs, die vor drei Menschenaltern herrschten.In einer modernen Welt sind jedoch die Gefahren, die sich ausFehlern ergeben, deren Ursachen Vorurteile und fehlende un-parteiische oder wissenschaftliche Untersuchung sind, noch vielernster. In einer Zeit, da fast alle Probleme der Verwaltung unddes Fortschritts wissenschaftliche Faktoren bedingen, kann essich eine Zivilisation nicht mehr leisten, die Kontrolle über dieVerwaltung Männern anzuvertrauen, welche die Wissenschaftnicht aus erster Hand kennen ...

Die modernen Verhältnisse verlangen daher vom Wissen-schaftler weit mehr als bloß eine Erweiterung unseres Wissens.Diese können es nicht länger dulden, daß sich andere der Ergeb-

WISSENSCHAFTLICHE REGIERUNG

nisse ihrer Entdeckungen bemächtigen und sie unbeaufsichtigtverwerten. Die Wissenschaftler müssen die Verantwortung fürdie Kontrolle der Kräfte auf sich nehmen, die erst durch ihreArbeit entbunden wurden. Ohne ihre Hilfe sind eine wirksameVerwaltung und wahre Staatskunst praktisch unmöglich.Das praktische Problem, Wissenschaft und Politik, Wissen und

Macht aufeinander abzustimmen oder, noch präziser, die Arbeitdes Wissenschaftlers mit der Beherrschung und Verwaltungeines Gemeinwesens in Einklang zu bringen, ist eines der schwie-rigsten, die der Demokratie gestellt sind. Doch ist die Gemein-schaft berechtigt, von den Mitgliedern der British Associationdie Erwägung eines solchen Problems und Richtlinien hinsichtlichder Mittel zu erwarten, mit deren Hilfe die Wissenschaft dieFührung übernehmen könnte .,.Es ist bezeichnend, daß - im Gegensatz zur relativen Ohn-

macht der Wissenschaftler in nationalen Fragen - Ausschüssevon Fachleuten mit beratender Funktion seit dem Kriege in derinternationalen Sphäre einen beachtlichen und auch wirksamenEinfluß ausgeübt haben, sogar dann, wenn es ihnen an legisla-tiver Vollmacht mangelte. Solchen vom Völkerbund eingesetztenFachausschüssen mit beratender Funktion sind die Pläne zu ver-danken, die einen europäischen Staat vor Bankrott und Chaosretteten und eine Behandlung der Arbeitslosenfrage, die nachder größten Wanderbewegung der Geschichte eineinhalb Millio-nen Emigranten eine neue Heimat gab. Diese Beispiele zeigenmit hinreichender Deutlichkeit, daß bei entsprechender Begei-sterung und entsprechendem Anreiz der wissenschaftliche Fach-mann einen wirksamen Einfluß dort auszuüben vermag, wo dienormalen Bemühungen der Verwaltungsmaschinerie versagthaben oder dort, wo den Staatsmännern ein Problem bereits aus-sichtslos erschien.Tatsächlich nehmen die Wissenschaftler in Gesellschaft und

Industrie eine Vorzugsstellung ein, und es sind verheißungsvolleAnzeichen dafür vorhanden, daß dies den Wissenschaftlern selbstnunmehr zum Bewußtsein kommt. So meinte im vergangenenJahr in Leeds der Vorsitzende der Chemical Society, ProfessorJocelyn Thorpe, in seiner Ansprache, daß die Zeit nicht mehrfern sei, da ein Regierungswechsel auf Grund geänderter Majo-ritätsverhältnisse die Grundzüge der Politik nicht mehr zu än-dern imstande sein werde, es sei denn nach Richtlinien, die vonden Industrieorganisationen gebilligt werden; deshalb befür-

II. !

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wortete er eine engere Zusammenarbeit zwischen Industrie undWissenschaft und betonte die politische Macht, die so zu erlangensei. Der Vortrag über "Den Schutz von Southend gegen Geschütz-feuer", der vor der "British Association" zur Verlesung gebrachtwerden soll, ist ein weiterer Beweis dafür, daß die Wissen-schaftler bereit sind, die Verantwortung der Führung in Fragender sozialen und industriellen Sicherheit auf sich zu nehmen.Was immer auch für Anregungen und Ermutigungen die Ver-sammlungen der British Association den Wissenschaftlern fürihre Forschungsarbeiten geben mögen, so kann diese Vereinigungdoch durch nichts der Menschheit einen besseren Dienst erweisenals dadurch, daß sie die Wissenschaftler auffordert, jene weit-reichende Verantwortung bei der Führung der Gesellschaft undder Industrie zu übernehmen, die ihre eigenen Bemühungen zuihrem unvermeidlichen Los gemacht haben.

Das Oben gesagte zeigt, daß sich die Wissenschaftler all-mählich der Verantwortung bewußt werden, die sie aufGrund ihres Wissens der Gesellschaft gegenüber tragen,und daß sie es als ihre Pflicht zu fühlen beginnen, an denAngelegenheiten der Allgemeinheit mehr als bisher Anteilzu nehmen.

Wer von einer wissenschaftlich organisierten Weltträumt und seinen Traum verwirklichen möchte, der stößtauf viele Hindernisse. Da ist zunächst der Widerstand derTrägheit und Gewohnheit zu überwinden: die Leute möch-ten sich auch weiter so verhalten wie bisher und so leben,wie sie bisher gelebt haben. Da ist ferner die Gegnerschaftder verbrieften Rechte: ein Wirtschaftssystem, das sich ausden Zeiten der Feudalherrschaft vererbt hat, bietet Men-schen Vorteile, die sie nicht verdienen, und diese Menschenkönnen, da sie reich und mächtig sind, jedem grundlegen-den Wandel gewaltige Hindernisse in den Weg legen. Zudiesen Mächten tritt noch die feindselige ideelle Einstel-lung. Die christliche Ethik steht in bestimmten grund-legenden Fragen der emporkommenden wissenschaftlichenEthik feindselig gegenüber. Das Christentum betont dieW'ichtigkeit der einzelnen Seele und ist nicht dazu bereit,einen Unschuldigen einem zukünftigen Gewinn der Mehr-

WISSENSCHAFTLICHE REGIERUNG 205heit aufzuopfern. Mit einem Wort, das Christentum istunpolitisch, und dies ist auch ganz natürlich, weil es sichzu einer Zeit entwickelte, da es den Menschen an politischerMacht fehlte. Die neue Ethik, die sich allmählich zusam-men mit der wissenschaftlichen Technik entwickelt, wirdihre Blicke mehr auf die Gesellschaft als auf den Einzel-menschen richten. Sie wird für den Aberglauben vonSchuld und Strafe wenig übrighaben, sondern bereit sein,einzelne dem allgemeinen Wohle zu opfern, ohne nachGründen zu suchen, die beweisen sollen, daß sie es ver-dienen zu leiden. In diesem Sinne wird sie erbarmungslosund nach traditionellen Begriffen unmoralisch sein, dochwird sich der Wandel auf ganz natürlichem Wege voll-ziehen, und zwar als Folge der Gewohnheit, die Gesell-schaft eher als Ganzes denn als eine Menge einzelner In-dividuen zu betrachten. Wir betrachten auch den mensch-lichen Körper als Ganzheit, und wenn es sich z. B. als not-wendig erweist, ein Glied zu amputieren, halten wir esfür unnötig, erst zu beweisen, daß das Glied böse sei. Un-serer Ansicht nach ist das Wohl des Körperganzen ein hin-reichender Grund für den Eingriff. In ähnlicher Weisewird auch der Mensch, der die Gesellschaft als Ganzes imAuge hat, eines ihrer Mitglieder dem Wohle der Gesamt-heit opfern, ohne sich viel über die Wohlfahrt des Indi-viduums Gedanken zu machen. Im Kriege war dies immerschon der Fall, weil der Krieg ein kollektives Unterneh-men ist. Soldaten werden der Gefahr des Getötetwerdensausgesetzt, und niemand vertritt dabei die Ansicht, daßsie den Tod verdienen. Doch haben die Menschen bishersozialen Zielen nicht die gleiche Bedeutung beigemessenwie Kriegen, und deshalb scheuen sie sich, Opfer zu ver-langen, die sie als ungerecht empfinden. Ich halte es fürwahrscheinlich, daß die wirtschaftlichen Idealisten derZukunft von solchen Skrupeln frei sein werden, nicht nurin Kriegszeiten, sondern auch im Frieden. Um die Schwie-rigkeiten zu überwinden, die sich ihnen von gegnerischerSeite her in den Weg stellen, werden sie gezwungen sein,

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sich als geistige Herrenschicht zu organisieren, ähnlichwie die Kommunistische Partei in der UdSSR.

Der Leser wird aber fragen, wie es zu all dem kommensoll. Ist dies nicht bloß ein Phantasiegebilde, ein Wunsch-traum, unendlich weit von praktischer Politik entfernt? Ichglaube nicht. Die Zukunft wird, wie ich voraussehe, nur zugeringem Teil mit meinen eigenen WÜnschen Übereinstim-men. Mir machen bedeutende Einzelmenschen mehr Freudeals mächtige Organisationen, leider wird aber in Hinkunftfür bedeutende Einzelmenschen viel weniger Raum sein alsin der Vergangenheit. Doch abgesehen von dieser rein per-sönlichen Meinung, ist es leicht, sich Wege auszumalen, aufdenen die Welt der Zukunft eine wissenschaftliche Regie-rung erhalten kann, wie ich sie mir vorstelle. Es ist klar,daß der nächste Weltkrieg, wenn er nicht unentschiedenausgeht, der Welt entweder die Herrschaft Rußlands oderdie der Vereinigten Staaten bringen wird. So wird eineWeltregierung zustande kommen, in der die Männer ander Spitze viel von ihrer Macht auf Fachleute verschieden-ster Art werden Übertragen müssen. Man darf wohl an-nehmen, daß die obersten Herrscher mit der Zeit verweich-lichen und damit träge werden. Wie die Merowinger-könige werden sie es dulden, daß ihre Macht von wenigerherrenmäßig wirkenden Fachleuten usurpiert wird, undallmählich werden diese Fachleute dazu gelangen, die tat-sächliche Weltregierung zu bilden. Ich stelle sie mir alseine Korporation vor, die, solange ihre Herrschaft bedrohtist, von gleichgesinnten Männern gebildet werden wird,die aber später auf Grund von Prüfungen, Intelligenz-tests und Tests für Willensstärke gewählt werden wird.

Ich stelle mir vor, daß dieser Schicht von Fachleuten allehervorragenden Wissenschaftler außer ein paar Quer-köpfen und Eigenbrötlern angehören werden. Sie wirdallein Über die modernsten Waffen verfügen und alleGeheimnisse der Kriegskunst kennen. Weil jeder W'ider-stand der Laien offensichtlich zum Scheitern verurteiltwäre, wird es auch keine Kriege mehr geben. Diese Schicht

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von Fachleuten wird auch die Propaganda und Erziehungbeherrschen. Sie wird Treue zur Weltregierung lehren undNationalismus als Hochverrat brandmarken. Die Regie-rung wird, da es sich um eine Oligarchie handelt, dergroßen Masse der Bevölkerung den Geist der Unterwer-fung einflößen und Initiative und die Gewohnheit, Befehlezu erteilen, auf ihre eigenen Mitglieder beschränken. Viel-leicht wird sie auch geniale Methoden ersinnen, um ihreeigene Macht zu verschleiern, die Formen der Demokratiebeibehalten und den Plutokraten oder Politikern gestatten,sich einzubilden, daß sie die Herren seien. Je mehr diePlutokraten jedoch durch Trägheit verdummen, desto mehrvon ihrem Reichtum werden sie verlieren, und dieser wirdin immer stärkerem Maße Staatseigentum werden, das vondieser Schichtvon Fachleuten kontrolliert wird. Wie immerdie äußeren Formen daher auch beschaffen sein mögen,alle tatsächliche Macht wird sich in den Händen dererkonzentrieren, die die Kunst des wissenschaftlichen Han-delns verstehen.

All das Gesagte ist natürlich ein Phantasiegemälde,und was auch in Zukunft geschehen mag, so wird es wahr-scheinlich etwas sein, das nicht vorhergesagt werden kann.Es kann auch sein, daß eine wissenschaftliche Zivilisationihrem Wesen nach labil sein wird. Aus verschiedenenGründen ist eine solche Ansicht durchaus vertretbar. Einerder einleuchtendsten ist der Krieg. Die neuesten Erfindun-gen auf dem Gebiete der Kriegskunst haben die Angriffs-kraft gegenüber der Verteidigung sehr verstärkt, und es istkaum anzunehmen, daß diese das verlorene Terrain nochvor dem nächsten Weltkrieg aufholen wird. In diesemFalle legt die einzige Hoffnung, die Zivilisation zu erhal-ten, darin, daß sich eine Nation genügend weit vomKriegsschauplatz befindet, und hinreichend stark ist, umaus dem Kampfe ohne Vernichtung seiner sozialen Struk-tur hervorzugehen. Die Vereinigten Staaten und Rußlandsind die einzigen beiden Staaten, für die die Aussicht be-steht, daß sie sich in dieser Lage befinden werden. Wenn

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aber auch diese beiden Staaten der vollständigen Auf-lösung, die im nächsten Krieg fast mit Sicherheit Europadroht, zum Opfer fallen, dann werden wahrscheinlichviele Jahrhunderte vergehen, ehe die Zivilisation ihr der-zeitiges Niveau wieder erreicht. Auch wenn Amerika in-takt bleibt, wird sich eine sofortige Errichtung einer Welt-regierung als notwendig erweisen, da die Zivilisation kaumdie Erschütterungen eines weiteren Weltkrieges überlebenkönnte. Unter diesen Umständen wird die wichtigsteTriebfeder auf seiten der Zivilisation der Wunsch deramerikanischen Unternehmer sein, ihre Investitionen inden verwüsteten Ländern der Alten Welt zu sichern. Soll-ten sie sich aber mit Investitionen auf ihrem eigenen Kon-tinent begnügen, dann wäre es wahrlich schlecht um dieWelt bestellt.

Ein anderer Grund, an der Stabilität einer wissenschaft-lichen Zivilisation zu zweifeln, ergibt sich aus dem Sinkender Geburtenziffer. Die intelligentesten Schichten der wis-senschaftlichsten Nationen sterben aus, und die westlichenVölker als Einheit betrachtet tun kaum mehr, als ihreBevölkerungszahlen erhalten. Wenn man nicht sehr baldzu sehr radikalen Maßnahmen greift, wird die weiße Be-völkerung der Erde abnehmen. Die Franzosen sind schonso weit, daß sie sich auf afrikanische Truppen verlassen,und wenn dort die weiße Bevölkerung noch weiterschrumpft, wird die Neigung zunehmen, die grobe ArbeitMenschen anderer Rassen zu überlassen. Letzten Endeswird dies zu Aufständen führen, und Europa wird aufden Stand von Haiti herabsinken. Unter solchen Um-ständen bliebe es den Chinesen überlassen, unsere wissen-schaftliche Zivilisation weiterzuführen, doch würde auchbei ihnen in dem gleichen Maße, in dem deren ErwerbungFortschritte macht, die Geburtenziffer absinken. Darumkann eine wissenschaftliche Zivilisation unmöglich stabilsein, wenn man nicht zu künstlichen Methoden greift, umdie Zeugung anzuregen. Einer solchen Methode stellen sichaber gewaltige finanzielle und gefühlsmäßige Hindernisse

WISSENSCHAFTLICHE REGIERUNG

in den Weg. Auf diesem Gebiet wird die wissenschaftlicheZivilisation ebenso wie auf dem der Kriegsführung nochviel wissenschaftlicher werden müssen, wenn sie dem Un-tergang entrinnen will. Ob sie aber mit genügender Rasch-heit wissenschaftlicher werden kann, läßt sich unmöglichvoraussehen.Wir haben erkannt, daß eine wissenschaftliche Zivilisa-

tion eine weltumspannende Organisation erfordert, wennsie von Dauer sein soll. Wir haben die Möglichkeit einersolchen Organisation auf dem Gebiete des Regierens er-örtert. Nun wollen wir unsere Erwägungen auf das Gebietder Wirtschaft erstrecken. Derzeit beruht die Organisationder Produktion vorwiegend auf nationaler Basis, und zwarmit Hilfe von Schutzzollmauern, d. h. jede Nation ver-sucht, möglichst viel von dem, was sie verbraucht, daheimzu erzeugen. DieseTendenz ist noch im Wachsen, und sogarGroßbritannien, das früher darauf abzielte, mit Hilfe desFreihandels seinen Export maximal zu steigern, hat diesePolitik zugunsten einer relativen Isolierung aufgegeben.

Vom rein ökonomischen Gesichtspunkt aus ist es selbst-verständlich klar, daß es eine Vergeudung bedeutet, dieProduktion national statt international zu organisieren.Es wäre bestimmt ökonomischer, sämtliche Autos, die aufder ganzen Welt verwendet werden, in Detroit zu erzeu-gen. Dann könnte ein Wagen von gegebener Güte miteinem geringerem Aufwand von Menschenkraft erzeugtwerden, als dies heute der Fall ist. In einer wissenschaft-lich organisierten Welt würden die meisten Industrie-produkte auf diese Weise lokalisiert werden. Näh- undStecknadeln würden an einer Stelle erzeugt, Scheren undMesser an einer anderen, Flugzeuge oder landwirtschaft-liche Maschinen wieder an einer anderen. Wenn eine Welt-regierung, wie wir sie betrachtet haben, jemals Wirklich-keit werden sollte, würde die internationale Organisationder Produktion eine ihrer ersten Aufgaben sein. Man wirdsie nicht, wie dies derzeit der Fall ist, der Privatinitiativeüberlassen, sondern sie nach Weisungen der Regierung

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210 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

verteilen. Dies geschieht auch heute schon z. B. beim Bauvon Schlachtschiffen, weil man Leistungsfähigkeit in Fra-gen, die mit der Kriegsführung zusammenhängen, fürwichtig hält. Auf den meisten Gebieten bleibt jedoch dieProduktion der Willkür der privaten Unternehmer über-lassen, die dann zu viel von einer Sorte und zu wenig voneiner anderen erzeugen. Das Ergebnis ist Armut inmittenvon unverwendbarem Überfluß. Die Industrieanlagen, diederzeit auf der ganzen Welt bestehen, übersteigen in vielerHinsicht den Weltbedarf. Durch Ausschaltung des Wett-bewerbs und Konzentration der Produktion in einemeinzigen Konzern ließe sich diese ganze Vergeudung ver-meiden.

Auch die Verteilung der Rohstoffe würde in einerwissenschaftlich organisierten Gesellschaft zentral gelenktwerden. Derzeit werden wichtige Rohstoffe von Militär-steIlen kontrolliert. Schwache Nationen, die über Olvor-kommen verfügen, finden sich bald unter der Oberherr-schaft einer stärkeren Nation. Wegen seines Goldes verlorTransvaal seine Unabhängigkeit. Rohstoffe sollten nichtdenen gehören, die zufällig durch gewaltsame oder diplo-matische Methoden in den Besitz der betreffenden Gebietegelangten; sie sollten einer Weltautorität unterstellt sein,die sie denen zuteilen sollte, die sich bei ihrer Nutzbar-machung am klügsten erwiesen. Außerdem verleitet unserbestehendes Wirtschaftssystem alle dazu, Rohstoffe zuvergeuden, da kein Anlaß zu Rücksichtnahme besteht. Ineiner wissenschaftlichen Weh würden zunächst die vorhan-denen Vorräte der lebenswichtigen Rohstoffe gewissenhaftgeschätzt werden, und die Aufmerksamkeit der Forschungauf das rechtzeitige Finden eines Ersatzstoffes gelenkt wer-den, sobald damit zu rechnen ist, daß ein Rohstoff in ab-sehbarer Zeit erschöpft sein wird. Uran und Thorium odersonst ein Rohstoff, der zur Erzeugung von Atomenergiedient, sollte ausschließlich in den Händen einer internatio-nalen Autorität liegen.Die Landwirtschaft wird aus Gründen, die wir schon in

WISSENSCHAFTLICHE REGIERUNG 211

einem früheren Kapitel erörterten, in Zukunft wenigerBedeutung haben, als sie derzeit noch besitzt. Wir werdennicht nur Kunstseide, sondern auch künstliche Schafwolle,Kunstholz und synthetischen Gummi haben. Mit der Zeitwird es auch künstliche Nahrung geben. In der Zwischen-zeit wird jedoch die Landwirtschaft immer stärker indu-strialisiert werden, sowohl was die Methoden als auch diegeistige Einstellung der Produzenten anlangt. Die Menta-lität der amerikanischen und kanadischen Landwirte istschon längst die des Industriellen, nicht die des geduldigenBauern. Auch die Maschine wird eine immer größere Rollespielen. In der Nachbarschaft großer städtischer Märktewird eine Intensivierung durch Erwärmung des Bodensviele Ernten im Laufe eines Jahres ermöglichen. Da unddort, über das ganze Land verstreut, wird es Kraftstationengeben, die den Kern bilden, um den sich die Bevölkerungsammelt. Vom bäuerlichen Denken, wie es seit alters herbekannt ist, wird sich nichts erhalten, weil der Boden undsogar das Klima vom Menschen kontrolliert werden.

Es ist anzunehmen, daß für jeden Mann und jede FrauArbeitspflicht bestehen wird, und daß man die Menschenumschulen wird, wenn aus irgendeinem Grunde ihr frü-herer Beruf nicht mehr benötigt wird. Die angenehmsteArbeit wird natürlich die sein, die am meisten Macht überdie Mechanismen verleiht. Die Stellen, die die meisteMacht gewähren, wird man vermutlich den Fähigsten zu-weisen, die man mit Hilfe von Intelligenztests heraus-finden wird. W'o dies nur irgendwie möglich ist, wird dieinferiorste Arbeit wohl von Negern verrichtet werden.Man kann auch annehmen, daß die wichtigsten Arbeitslei-stungen höher entlohnt werden als die minder wichtigen,da sie mehr Geschicklichkeit erfordern. Es wird in einersolchen Gesellschaft keine Gleichheit herrschen, doch be-zweifle ich, daß die Ungleichheit erblich sein wird, wennman von der rassischen Ungleichheit, z. B. zwischen weißenund farbigen Arbeitern, absieht. Jeder wird aber einengewissen Wohlstand genießen, wobei sich die Inhaber

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212 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

besser bezahlter Stellungen einen beträchtlich größerenLuxus werden leisten können. Es wird nicht wie heute einSchwanken zwischen Zeiten der Konjunktur und solchender Depression geben, denn diese sind bloß eine Folgeunseres anarchischen Wirtschaftssystems. Niemand wirdHunger leiden und niemand wird diese wirtschaftlichenSorgen kennen, wie sie heute arm und reich in gleichemMaße beseelen. Anderseits wird es nichts Abenteuer-liches geben, außer für die höchstbezahlten Fachleute. Seit-dem es eine Zivilisation gibt, haben die Menschen nichtsheißer begehrt als Sicherheit. In einer solchen Welt wirdsie ihnen beschieden sein, doch zweifle ich, daß sie ihnenden Preis wert erscheinen wird, den sie dafür entrichtenmußten.

KAPITEL XV

DIE ERZIEHUNG IN EINERWISSENSCHAFTLICHEN GESELLSCHAFT

Die Erziehung hat zwei Ziele: einerseits den Geist zu for-men, anderseits zum Staatsbürger zu erziehen. Die Athe-ner betonten das erstere, die Spartaner das letztere. DieSpartaner siegten zwar, die Athener leben aber im Ge-dächtnis weiter.

Ich glaube, man kann sich die Erziehung in einer wissen-schaftlichen Gesellschaft am ehesten nach dem Vorbild derjesuitischen denken. Die Jesuiten kannten zwei Arten derKnabenerziehung, und zwar eine für solche Kinder, diefür ein gewöhnliches weltliches Leben bestimmt waren,und eine andere für zukünftige Mitglieder der SocietasJesu. In gleicher Weise werden auch die wissenschaftlichenMachthaber eine Art von Erziehung für gewöhnliche Män-ner und Frauen vorsehen und eine andere für die, diespäter Träger der wissenschaftlichen Macht sein sollen.Von gewöhnlichen Männern und Frauen wird man erwar-ten, daß sie folgsam, fleißig, pünktlich, gedankenlos undzufrieden sind. Als wichtigste dieser Eigenschaften wirdman wahrscheinlich die Zufriedenheit ansehen. Und umsie zu schaffen, wird man alle Forschungsergebnisse derPsychoanalyse, des Behaviorismus und der Biochemie her-anziehen. Man wird die Kinder vom zartesten Alter an soerziehen, daß aller Wahrscheinlichkeit nach möglichstwenig Komplexe entstehen. Fast alle werden normale,glückliche und gesunde Knaben und Mädchen sein. IhreErnährung wird man nicht den Launen der Eltern über-lassen, sondern sie wird so beschaffen sein, wie es diebesten Biochemiker empfehlen. Sie werden viel Zeit imFreien verbringen, und man wird ihnen nur so viel Bücher-wissen beibringen, wie unbedingt notwendig ist. Dem sogeformten Temperament wird man Gehorsam entweder

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214 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

mit den Methoden des Kasernenhofdrills oder vielleichtauch mit den sanfteren Methoden, die bei Pfadfindernüblich sind, einimpfen. Schon sehr früh werden Knabenund Mädchen lernen, sich der Gemeinschaft einzuordnen,d. h. genau das zu tun, was alle tun. Bei diesen Kindernwird man Se1bständigkeitsdrang entmutigen und Insubor-dination ohne besondere Strafmittel wissenschaftlich ab-erziehen. Ihre Erziehung wird überwiegend auf das Ma-nuelle ausgerichtet sein, und nach Abschluß ihrer Schulzeitwerden sie einen Beruf erlernen. Bei der Entscheidung,welchen Beruf sie ergreifen sollen, werden Fachleute ihreFähigkeiten prüfen. Der Klassenunterricht, soweit ein sol-eher dann noch besteht, wird mit Hilfe des Kinos erteiltwerden, so daß ein Lehrer gleichzeitig in allen Klasseneines ganzen Landes den Unterricht erteilen kann. DasUnterrichten wird natürlich als hochqualifizierter Berufanerkannt und Mitgliedern der herrschenden Klasse vor-behalten sein. Alles, was notwendig sein wird, um an deneinzelnen Orten den heutigen Schullehrer zu ersetzen, wirdeine Dame zum Aufremterhalten der Ordnung sein; dochbesteht begründete Aussicht, daß die Kinder so artig seinwerden, daß die Dienste ihrer geschätzten Person nurselten in Anspruch genommen werden dürften.Die Kinder dagegen, welche dazu bestimmt sind, Mit-

glieder der herrschenden Klasse zu werden, dürften eineganz andersgeartete Erziehung erhalten. Man wird sieauswählen, einige schon vor ihrer Geburt, andere wäh-rend ihrer ersten drei Lebensjahre und ganz wenige imAlter von drei bis sechs Jahren. Alle Erkenntnisse derWissenschaft werden in den Dienst der Entwicklung vonIntelligenz und Willenskraft gestellt werden.Man wird alle Errungenschaften der Eugenik, der chemi-

sehen und Thermalbehandlung des Embryo und die Diätin den ersten Lebensjahren dem Ziele nutzbar machen, diegrößtmögliche Tauglichkeit zu erreichen. WissenschaftlicheDenkungsart wird dem Kind von dem Augenblick, da essprechen kann, eingeflößt werden, und man wird es sorg-

DIE AUFGABE DER ERZIEHUNG 215

fältig vor der Berührung mit den Unwissenden und Un-wissenschaftlichen bewahren. Von Kindheit an bis zu ihrem21. Lebensjahre wird man ihnen wissenschaftliche Er-kenntnisse eintrichtern, und zumindest von diesem Alteran werden sie sich in den Wissenschaften spezialisieren, fürdie sie die meiste Eignung besitzen. Gleichzeitig wird mansie auch abhärten; man wird sie dazu ermutigen, sich nacktim Schnee zu wälzen, gelegentlich 24 Stunden lang zufasten, an heißen Tagen mehrere Kilometer weit zu laufen,in abenteuerlichen Lagen Mut zu zeigen und nicht zu kla-gen, wenn sie körperliche Schmerzen leiden. Die Zwölf-jährigen werden zu lernen beginnen, Jüngere zu organi-sieren, und man wird sie heftig tadeln, wenn ihnen solcheKindergruppen nicht gehorchen. Das Gefühl einer hohenBerufung wird ständig in ihnen wacherhalten werden, undLoyalität gegenüber der eigenen Sendung wird so selbst-verständlich sein, daß ihnen nie Zweifel daran kommenwerden. Jeder Junge wird so eine; dreifachen Erziehungunterworfen: man wird seine Intelligenz, seine Selbst-beherrschung und seine Führerqualitäten anderen gegen-über ausbilden. Sollte er in einer dieser drei Richtungenversagen, wird er die furchtbare Strafe der Degradationzum gewöhnlichen Arbeiter erleiden und den Rest seinesLebens in der Gemeinschaft von Männernund Frauen ver-bringen müssen, die ihm erziehungsmäßig, aber auch ihremIntelligenzgrad nach wahrscheinlich weit unterlegen sind.Diese Furcht wird ein solcher Ansporn zum Fleiß sein, daßer, abgesehen von einer verschwindenden Minderheit, fürdie Knaben und Mädchen der herrschenden Klasse genügenwird.

Abgesehen von der Frage der Loyalität dem Weltstaatund ihrer eigenen Sendung gegenüber, werden die Mit-glieder der herrschenden Klasse dazu angeeifert werden,Wagemut und Unternehmungsgeist zu zeigen. Man wirderkannt haben, daß es ihre Aufgabe ist, die wissenschaft-liche Technik zu verfeinern und die manuellen Arbeiterdurch immer neue Vergnügungen zufriedenzuerhalten. Da

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216 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

sie es sind, von denen jeder weitere Fortschritt abhängt,dürfen sie weder ungebührlich zahm, noch so gedrillt sein,daß sie zu selbständigem Denken unfähig sind. Zum Un-terschied von den Kindern, die zu manueller Arbeit aus-ersehen sind, werden sie persönlichen Kontakt mit ihrenLehrern haben und dazu ermutigt werden, mit ihnen zudebattieren. Es wird Aufgabe des Schülers sein, zu bewei-sen, daß er recht hat, wenn er dies kann, oder seinen Irr-tum in ziemen der Weise zuzugeben. Aber auch für dieKinder der herrschenden Klasse wird es Grenzen dergeistigen Freiheit geben. Man wird ihnen nicht gestatten,den Wert der Wissenschaft oder die Berechtigung derZweiteilung der Bevölkerung in manuelle Arbeiter undFachleute anzuzweifeln. Sie werden nicht mit dem Gedan-ken kokettieren dürfen, daß die Poesie vielleicht wertvollersei als die Maschine, oder daß Liebe ebenso gut wiewissenschaftliche Forschung sei. Sollten einem wagemutigenGeist solche Gedanken doch kommen, so wird man sie miteinem betretenen Schweigen aufnehmen und vorgeben, siegar nicht gehört zu haben.

Ein tiefes Gefühl für die Verantwortlichkeit gegenüberder Gesamtheit wird man den Knaben und Mädchen derherrschenden Klasse einprägen, sobald sie alt genug sind,um einen solchen Gedanken zu erfassen. Man wird ihnendie überzeugung beibringen, daß die Menschheit vonihnen abhänge und daß es ihre Pflicht sei, voll Wohlwollenbesonders den weniger glücklichen unteren Klassen zudienen. Aber glauben Sie ja nicht, daß sie deshalb dünkel-haft sein werden - weit davon entfernt. Sie werden miteinem geringschätzigen Lachen jede Bemerkung abtun,die das ausdrücklich in Worte kleidet, was sie alle im tief-sten Herzen glauben. Ihr Benehmen wird selbstsicher undangenehm sein, und sie werden einen untrüglichen Sinnfür Humor besitzen.

Das letzte Stadium der Erziehung der meisten Intellek-tuellen der herrschenden Klasse wird die Ausbildung zuwissenschaftlicher Forschungsarbeit sein. Die Forschung

DIE AUFGABE DER ERZIEHUNG 217

wird weitgehend spezialisiert sein, und man wird es denjungen Menschen nicht freistellen zu wählen, welche be-sondere Forschungsarbeit sie leisten wollen. Sie werdennatürlich zur Forschungsarbeit auf jenen Gebieten gelenktwerden, für die sie eine spezielle Begabung gezeigt haben.Ein großer Teil der wissenschaftlichen Erkenntnis wird,abgesehen von einigen wenigen, den meisten verborgenbleiben. Es wird Geheimwissen geben, das einer Priester-kaste von Forschern vorbehalten bleiben wird, die wegeneiner ganz besonderen Verbindung von Intelligenz undLoyalität ausgewählt wurden. Man könnte, wie ich glaube,erwarten, daß die Forschung viel mehr technischer alstheoretischer Natur sein wird. Die Männer an der Spitzeder einzelnen Forschungsgebiete werden nicht zu den Jüng-sten gehören und sich mit dem Gedanken zufriedengeben,daß die grundlegenden Theorien ihres Faches hinlänglichbekannt seien. Entdeckungen, die dieoffiziellen Ansichtenüber die Grundlagen erschüttern könnten, werden, wennsolche von jungen Menschen gemacht werden sollten, Miß-fallen erregen, und ihre voreilige Veröffentlichung wirdDegradation nach sich ziehen. Junge Menschen, die irgend-eine grundlegende Neuerung entdecken, werden versuchen,ihre Professoren vorsichtig dazu zu bekehren, die neueEntdeckung wohlwollend zu erwägen; sollten jedoch dieseVersuche mißlingen, dann werden sie ihre neuen Ideenso lange geheimhalten, bis sie selbst eine führende Stellungerlangt haben; zu diesem Zeitpunkt werden sie sie aberwahrscheinlich schon vergessen haben. Die Atmosphäre vonAutorität und Organisation wird für das Gedeihen vontechnischen Forschungsarbeiten äußerst günstig sein, sichjedoch etwas nachteilig für umstürzende Neuerungen er-weisen, wie wir bereits an dem Beispiel der Physik inunserem Jahrhundert gesehen haben. Es wird natürlicheine offizielle Metaphysik geben, die man vom geistigenStandpunkt aus als unwichtig, vom politischen aus aber alsgeheiligt ansehen wird. Schließlich wird sich das Tempodes wissenschaftlichen Fortschritts verlangsamen, und die

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218 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

Achtung vor der Autorität wird die Entdeckungen töten.Was die manuellen Arbeiter anlangt, so wird man bei

ihnen ernstes Nachdenken entmutigen; man wird es ihnenso angenehm wie möglich machen, ihre Arbeitszeit wirdviel kürzer sein als heute und sie werden keine Angst vorVerelendung oder Sorgen um die Zukunft ihrer Kinderhaben brauchen. Sobald die Arbeitsstunden vorüber sind,wird für Vergnügungen gesorgt sein, die allgemeine Er-heiterung auslösen und Gedanken von Unzufriedenheitverscheuchen, die sonst ihr Glücksgefühl beeinträchtigenkönnten.

In den seltenen Fällen, da Knaben oder Mädchen ineinem Alter, in dem sonst die Entscheidung über ihregesellschaftliche Stellung längst gefallen ist, so außer-gewöhnliche Fähigkeiten entwickeln, daß sie geistig denHerrschenden ebenbürtig sind, wird sich eine schwierigeLage ergeben, die einer ernstlichen überlegung wert ist.Wenn ein solcher junger Mensch bereit ist, seine früherenVerbündeten im Stich zu lassen und sich aus ganzemHerzen den Herrschenden anzuschließen, kann er, nachentsprechenden Tests, befördert werden, zeigt er jedocheine bedauerliche Solidarität mit seinen ehemaligen Stan-desgenossen, dann werden die Herrschenden widerstre-bend zu dem Schluß gelangen, daß man mit ihm nichtsanderes anfangen kann, als ihn in eine Todeskammer zuschaffen, ehe seine irregeleitete Intelligenz Zeit dazu findet,revolutionäre Ideen zu verbreiten. Diese Pflicht wird denHerrschenden zwar peinlich sein, doch glaube ich nicht, daßsie sich ihr entziehen werden.

Normalerweise werden aber Kinder mit hinreichendguter Erbmasse vom Augenblick der Empfängnis an zurherrschenden Klasse zugelassen werden. Ich fange liebermit diesem Augenblick an als mit dem der Geburt, da vonihm an die Behandlung der zwei Klassen eine verschiedenesein wird. Wenn es jedoch zu dem Zeitpunkt, da das Kinddrei Jahre alt wird, ziemlich klar ist, daß es den erforder-lichen Standard nicht erreicht, wird es schon zu diesem

DIE AUFGABE DER ERZIEHUNG 219

Zeitpunkt degradiert werden. Ich nehme an, daß es dannmöglich sein wird, bereits auf so früher Altersstufe mitgenügender Genauigkeit den Intelligenzgrad eines Kindeszu bestimmen. Die wenigen zweifelhaften Fälle wird manbis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres sorgfältigbeobachten, und man kann annehmen, daß dann mit Aus-nahme ganz weniger eine offizielle Entscheidung möglichsein wird. Umgekehrt können die Kinder manueller Arbei-ter jederzeit zwischen drei und sechs Jahren, aber nur inganz seltenen Ausnahmefällen zu einem späteren Zeit-punkt, befördert werden. Vermutlich wird jedoch eine sehrstarke Neigung bestehen, die Zugehörigkeit zur herrschen-den Klasse erblich zu machen, und nach nur wenigenGenerationen werden kaum noch viele Kinder von einerKlasse in die andere versetzt werden. Dies wird um sowahrscheinlicher dann der Fall sein, wenn die embryolo-gischen Methoden der Rassenverbesserung wohl auf dieherrschende, nicht aber auf die andere Klasse angewandtwerden. W'as die angeborene Intelligenz betrifft, kann sichauf diese Weise die Kluft, die die beiden Klassen trennt,immer mehr erweitern. Doch wird dies nicht zur Ab-schaffung der weniger intelligenten Klassen führen, daes nicht der Wunsch der Herrschenden sein wird, selbstuninteressante manuelle Arbeiten zu verrichten oder sichder Annehmlichkeit zu berauben, Wohltätigkeit zu übenund Gemeinsinn zu zeigen, wie dies die Lenkung dermanuellen Arbeiter erlaubt.

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KAPITEL XVI

WISSENSCHAFTLICHE FORTPFLANZUNG

Sobald sich einmal die Naturwissenschaften der sozialenOrganisation bemächtigt haben, werden sie kaum vor jenenAspekten des menschlichen Lebens haltmachen, die bisdahin von Religion und Instinkt gemeinsam gelenkt wur-den. Wir können wohl als gewiß annehmen, daß sowohlQuantität als auch Qualität der Bevölkerung vom Staatesorgsam gelenkt werden dürften, daß man jedoch denGeschl~chtsverkehr, soweit es sich nicht um das Zeugenvon Kindern handelt, solange als Privatsache betrachten~ird, als ~r..nicht die Arbeitsleistung beeinträchtigt. Wasdie Quantität anlangt, werden die Statistiker des Staatesso genau wie möglich prüfen, ob die Zahl der Weltbevöl-kerung zu einem gegebenen Zeitpunkt oberhalb oder unter-halb der Zahl liegt, die den größten materiellen Wohl-stand für den einzelnen garantiert. Sie werden auch alletechnischen Änderungen, die vorausgesehen werden kön-nen, in Rechnung stellen. Zweifellos wird das ideale Zieleine stationäre Bevölkerung sein; wenn aber eine wichtigeNeuerung, wie etwa künstliche Nahrung, die Produktiond~s Lebensnotwendigen wesentlich verbilligen sollte,~.lfd man vielleicht zeitweise ein Bevölkerungswachstumfur kl~g halten. Ich nehme jedoch an, daß die Weltregie-rung m normalen Zeiten eine gleichbleibende Bevölke-rungszahl dekretieren wird.

Wenn unsere Annahme stimmt, daß die wissenschaft-liche Gesellschaft je nach der Art der geleisteten Arbeitverschiedene soziale Abstufungen haben wird dann dürfenwir auc~ vermuten, daß. sie für Menschen 'Verwendunghaben wird, deren Intelligenzgrad nicht der höchste ist.Wahrscheinlich werden bestimmte Arbeiten hauptsächlichvon Negern geleistet werden, und man wird den manu-

WISSENSCHAFTLICHE FORTPFLANZUNG 221

ellen Arbeiter eher auf Geduld und Muskelkraft hin alsauf Intelligenz züchten. Im Gegensatz dazu wird man beide~ Regierenden und Fachleuten mehr auf geistige Fähig-keiten und Charakterstärke Bedacht nehmen. Angenom-men, daß beide Arten des Züchtens nach wissenschaftlichenGrundsätzen durchgeführt werden, wird es zu einer immerstärkeren Divergenz zwischen den bei den Typen kommen,die schließlich beinahe verschiedene Arten sein werden.

Züchtung in wahrhaft wissenschaftlicher Form würdederzeit sowohl gefühlsmäßig wie auch von seiten der Reli-gion auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen. Um siewissenschaftlich durchzuführen, wäre es so wie bei denHaustieren notwendig, nur einen kleinen Prozentsatzmännlicher Wesen für Zuchtzwecke zu verwenden. Mankönnte nun meinen, daß es Gefühl und Religion immergelingen werde, ein starres Veto gegen ein solches Systemeinzulegen. Ich wollte, ich könnte der gleichen Ansicht sein.Ich glaube aber, daß das Gefühl äußerst beeinflußbar istund daß ferner die individualistischen Religionen, an diewir uns gewöhnt haben, in immer stärkerem Maße durcheine Religion der Staatsverehrung ersetzt werden dürften.Bei den russischen Kommunisten ist dies bereits geschehen.Jedenfalls ist das, was verlangt wird, eine kaum schwie-rigere Beherrschung natürlicher Triebe als das Zölibat derkatholischen Priester. Immer dann, wenn es um großeErrungenschaften geht, die gleichzeitig auch den sittlichenIdealismus des Menschen befriedigen, ist die Machtliebeimstande, das instinktive Gefühlsleben zu absorbierenbesonders dann, wenn man dem Geschlechtstrieb eine reinphysische Befriedigung ermöglicht. Die überlieferte Reli-gion, die in Rußland so weitgehend entmachtet wurde,wird überall einen Rückschlag erleiden, wenn sich das rus-sische Experiment als erfolgreich erweist. Jedenfalls istreligiöses Denken nur schwer mit Industrialisierung undwissenschaftlicher Technik in Einklang zu bringen. DieReligion beruht auf dem Gefühl von der Ohnmacht desMenschen angesichts der Naturgewalten, während die wis-

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222 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

senschaftliehe Technik eher das Gefühl von der Ohnmachtder Naturkräfte angesichts der menschlichen Intelligenzerweckt. Mit diesem Gefühl der Macht läßt sich gut einegewisse Härte gegenüber den zarteren Annehmlichkeitendes Lebens verbinden. Dieser Zug ist bei vielen deutlichausgeprägt, die im Begriffe sind, die mechanistische Gesell-schaft der Zukunft zu schaffen. In Amerika tritt er als pro-testantische Frömmigkeit, in Rußland als Anhänglichkeitan den Kommunismus zu Tage.Darum glaube ich, daß den Abweichungen vom über-

lieferten Gefühlsleben, die sich im Zusammenhang mit derFrage der wissenschaftlichen Fortpflanzung ergeben kön-nen, kaum irgendwelche Grenzen gesetzt sind. Wenn inZukunft die gleichzeitige Regelung von Quantität undQualität der Bevölkerung ernst genommen wird, steht zuerwarten, daß man in jeder Generation jeweils etwa 25Prozent der Frauen und ungefähr 5 Prozent der Männerals Eltern der nächsten Generation auswählen wird; dieübrige Bevölkerung wird man sterilisieren, was keines-wegs ihren Geschlechtsgenuß mindern, ihn aber sozial be-deutungslos machen wird. Die Frauen, die zu Zuchtzweckenausgewählt wurden, werden jede acht oder neun Kinderhaben, man wird aber von ihnen außer dem Stillen derKinder während einer gewissen Zahl von Monaten keineandere Arbeitsleistung verlangen. Keine Hindernisse wirdman ihrem Verkehr mit sterilen Männern in den Weglegen und ebensowenig den Beziehungen steriler Männerund Frauen miteinander, doch wird die Fortpflanzung aus-schließlich eine Sache des Staates sein und nicht der freienPartnerwahl der betreffenden Personen überlassen wer-den. Vielleicht wird sich auch herausstellen, daß die künst-liche Befruchtung sicherer und weniger peinlich ist, weil siedie Notwendigkeit einer persönlichen Berührung zwischendem Vater und der Mutter des zukünftigen Kindes aus-schaltet. Das Gefühl der persönlichen Zuneigung wirdimmer noch bei dem Verkehr zwischen unfruchtbaren Per-sonen eine Rolle spielen, die Zeugung hingegen wird man

WISSENSCHAFTLICHE FORTPFLANZUNG 223ganz anders, mehr im Lichte einer klinischen Operation,betrachten, so daß man Fortpflanzung auf natürlichemWege als einer Dame nicht mehr angemessen ansehenwird. Die Eigenschaften, nach denen die Auswahl derEltern erfolgen wird, werden je nach dem zukünftigenStatus des Kindes verschieden sein. Bei Mitgliedern derherrschenden Klasse wird man von den Eltern einen außer-gewöhnlich hohen Intelligenzgrad verlangen; vollkom-mene Gesundheit wird natürlich die erste Voraussetzungsein. Solange man die natürliche Schwangerschaftsdauerbestehen läßt, werden die Mütter mit Rücksicht auf ihreGebärfähigkeit ausgewählt und Frauen mit zu engemBecken ausgeschaltet werden. Wahrscheinlich wird manjedoch im Laufe der Zeit die Schwangerschaftsdauer ver-kürzen und die letzten Monate der embryonalen Entwick-lung werden sich in einem Brutkasten abspielen. Dieswürde den Müttern auch das Stillgeschäft abnehmen unddie Mutterschaft zu einer wenig anstrengenden Aufgabemachen. Die Säuglingspflege würde man bei Kindern derherrschenden Klasse nur in den seltensten Fällen den Müt-tern überlassen. Die Auswahl der Mütter würde nacheugenischen Gesichtspunkten erfolgen, und die erforder-lichen Eigenschaften wären nicht unbedingt die von einerKinderpflegerin verlangten. Anderseits könnten dieersten Monate der Schwangerschaft beschwerlicher sein alsheute, da der Fötus verschiedenen wissenschaftlichen Be-handlungsweisen unterworfen sein würde, die den Zweckverfolgen, nicht nur seine eigenen charakteristischen Merk-male, sondern auch die seiner möglichen Nachkommengünstig zu beeinflussen.Die Väter würden natürlich mit ihren eigenen Kindern

nichts zu schaffen haben. Auf je fünf Mütter käme im all-gemeinen bloß ein einziger Vater, und höchstwahrscheinlichwird er die Mütter seiner Kinder nicht einmal zu Gesichtbekommen haben. Das Vatergefühl würde auf diese Weisevöllig schwinden. Wahrscheinlich würde sich im Laufe derZeit auch Ähnliches, wenn auch um einige Grade milder,

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224 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

mit dem Muttergefühl vollziehen. Wenn Geburten vor-zeitig herbeigeführt werden und das Kind der Mutterbei der Geburt weggenommen wird, hätte ja das Mutter-gefühl nur wenig Entwicklungsmöglichkeit.Bei den Arbeitern würde man wahrscheinlich mit weniger

Sorgfalt vorgehen, weil ja Muskeln leichter zu züchten sindals Gehirn; vermutlich wird man auch den Frauen gestat-ten, ihre Kinder in der althergebrachten Art und Weiseaufzuziehen. Fanatische Anhänglichkeit an den Staat wäreauch unter den Arbeitern nicht so notwendig wie unter denHerrschenden, und es müßte daher die Regierung nicht mitder gleichen Eifersucht über private Gefühle wachen. DieseGefühle würden nur bei den Herrschenden Verdacht er-we<;ken.Ein Mann und eine Frau, die glühende Zuneigungzueinander verrieten, würden mit ebenso scheelen Augenbetrachtet werden, wie es heute Moralisten tun, wenn essich um Unverheiratete handelt. Man wird Pflegerinnenin Säuglingsheimen und Lehrkräfte in Kindergärten an-stellen, doch wird man es als Pflichtverletzung ansehen,wenn sie bestimmten Kindern gegenüber eine besondereZuneigung an den Tag legten. Kinder, die eine besondereAnhänglichkeit an eine bestimmte erwachsene Person zei-gen, würden von dieser Person getrennt werden. Derglei-chen Ideen sind jetzt schon weitverbreitet; derartige Vor-schläge finden sich z. B. in Dr. John B. Watsons Buch überErziehung". Es besteht bei Wissenschaftlern die Neigung,alle persönlichen Gefühle als Unglück zu betrachten. Sozeigen uns die Anhänger Freuds, daß solche Gefühle dieQuelle von Komplexen sind, und Verwaltungs beamte er-kennen, daß sie einem völligen Aufgehen in den Berufs-aufgaben hinderlich sind. Die Kirche billigte gewisseFormen der Liebe und verdammte andere; der moderneAsket ist jedoch noch viel gründlicher und verdammt alleArten der Liebe als Narretei und Zeitvergeudung.

W'ie können wir uns den Geistes- und Seelenzustand in1 Vgl. Psydiological Gare o] Infant and Child, v. John B.

Watson, p. 83.

WISSENSCHAFTLICHE FORTPFLA~ZUNG 225einer solchen Welt vorstellen? Der manuelle Arbeiterdürfte, wie ich glaube, ziemlich glücklich sein. Vermutlichwerden die Herrschenden darin Erfolg haben, den manu-ellen Arbeiter töricht und oberflächlich zu machen; seineArbeit wird nicht allzu schwer sein, und nachher wird ihmeine endlose Reihe banalster Vergnügungen geboten wer-den. Als Ergebnis der Sterilisierung werden Liebesverhält-nisse keine unangenehmen Folgen haben, außer zwischenMännern und Frauen, die nicht sterilisiert wurden. Sowinkt dem manuellen Arbeiter ein Leben voll leichter undtrivialer Unterhaltungen, verbunden allerdings mit einerg~r~dezu abergläubischen Verehrung für die Regierenden,die Ihnen schon in frühester Kindheit eingeimpft und durchdie Propaganda, der die Erwachsenen ausgesetzt sein wer-den, noch vertieft wird.Die Psyche der Herrschenden wird bedeutend schwerer

zu verstehen sein. Man wird vonIhnen erwarten, daß siein unausgesetzter, harter Arbeit ihr Leben dem Idealdes wissenschaftlichen Staates weihen und diesem Idealalle weicheren Regungen, wie Liebe zu Frau und Kindern,zum Opfer bringen. Die Freundschaft zwischen Arbeits-kameraden des gleichen oder anderen Geschlechts wird ofteine äußerst innige sein und nicht selten die Grenzenüberschreiten, die von den öffentlichen Sittenrichtern ge-steckt wurden. In einem solchen Falle werden die Behör-den die Freunde trennen, außer es würde dadurch einewichtige Forschungsarbeit oder ein bedeutendes Verwal-tungsvorhaben gestört. Ist aus einem solchen Grunde eineTrennung untunlich, dann wird man sie ermahnen. MitHilfe von Regierungsmikrophonen werden die Zensorenihre Gespräche abhören, und man wird zu Disziplinarstra-fen greifen, wenn diese eine gewisse Gefühlsbetontheitverraten. Man wird jedes tiefere Gefühl, ausgenommendas der Verehrung für Wissenschaft und Staat, ausrotten...~atürlich werden auch die Regierenden Unterhaltungenfur Ihre Mußestunden haben. Ich kann mir zwar nicht vor-stellen, daß Kunst und Literatur in einer solchen Welt

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226 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

gedeihen könnten, und glaube auch nicht, daß die Gefühle,denen sie entspringen, die Billigung der Regierendenfinden könnten. Doch wird man unter den jüngeren Mit-gliedern der herrschenden Klasse athletische Übungen an-strengender Art ermutigen, und gefährliche Sportartenwird man als wertvoll ansehen, um die körperlichen undseelischen Eigenschaften weiter auszubilden, durch welchedie Herrschaft über die manuellen Arbeiter aufrecht-erhalten wird. Der Geschlechtsverkehr zwischen Sterili-sierten wird nicht durch Gesetz oder öffentliche Meinungirgendwelchen Beschränkungen unterworfen sein, dochwird er bloß etwas Flüchtiges und Vorübergehendes sein,ohne daß dabei tiefere Gefühle oder ernste Zuneigung imSpiele sein werden. Personen, die unter unerträglicherLangeweile leiden, wird man den Rat erteilen, den MountEverest zu besteigen oder den Südpol zu überfliegen, dochwird man das Bedürfnis, auf solche Weise Ablenkung zufinden, als ein Zeichen geistiger oder körperlicher Erkran-kung betrachten.

In einer solchen Welt wird es wohl Vergnügungen, aberkeine Freude geben. Das Ergebnis wird die Ausbildungeines Typus sein, der die Merkmale eines willensstarkenAsketen zeigt. Die Menschen werden rauh und unbeugsamsein und in ihren Idealen und der Bereitwilligkeit, dasZufügen von Schmerzen als notwendig für das allgemeineWohl anzusehen, zur Grausamkeit neigen. Ich kann mirallerdings nicht vorstellen, daß man Schmerzen als Strafefür Vergehen zufügen wird, weil man nur ein Vergehenkennen wird, nämlich Insubordination und Unfähigkeit,die vom Staate gestellten Aufgaben zu erfüllen. Wahr-scheinlich ist, daß die sadistischen Triebe, die die Askese _züchtet, beim wissenschaftlichen Experiment ihre Befriedi-gung finden werden. Man wird den Fortschritt der Wissen-schaft als hinreichende Rechtfertigung ansehen, um Einzelnedurch Chirurgen, Biochemiker und Experimentalpsycho-logen martern .zu lassen. Mit der Zeit wird sich der Um-fang des gewonnenen Wissens immer mehr verringern,

WISSENSCHAFTLICHE FORTPFLANZUNG

hingegen wird sich die Zahl der Re?"ierenden, ~.ie sich zusolchen grausamen Experimenten hmgezogen fuhlen, er-höhen. Geradeso wie die Sonnenanbetung der Azteken all-jährlich den qualvollen Tod Tausender ,,:onMen~c~en ;rer-langte, wird auch die neue wissenschafthche Religion ~hreMassenopfer fordern. Seltsame Verirrungen des Tneb-lebens werden zunächst nur in dunklen Winkeln lauern,aber allmählich die Männer an den höchsten Stellen über-wältigen, und die Welt wird immer finsterer und schr~ck-licher werden. Sadistische Vergnügungen werden nichtdieselbe moralische Verurteilung finden, wie sie sanfterenFreuden zuteil wird, da sie ebenso wie die Verfolgungendurch die Inquisition mit der herrschenden Askese im Ein-klang stehen. Letzten Endes muß jedoch ein solches Systemzusammenbrechen, entweder in einer Orgie des Blutver-gießens oder durch die Wiederentdeckung der Freude.

Dies ist aber auch der einzige Hoffnungsstrahl, der dashöllische Dunkel dieser Visionen erhellt; doch ist vielleichtschon dies. daß wir uns erlaubten, diesen Hoffnungsstrahlaufleuchte~ zu lassen, nur törichter Optimismus. Vielleichtkann man durch Injektionen, Drogen und Chemikalieneine ganze Bevölkerung so weit bringen, d.~ß.sie al~es er-trägt, was ihren wissenschaftlichen Herren fur Ihr Hell not-wendig dünkt. Man wird vielleicht neue Formen der Trun-kenheit ohne unangenehme Nachwirkungen ersinnen undneue Arten von Rauschgiften erfinden, die ein solches Ent-zücken schenken daß die Menschen um ihretwillen bereitsind ihre nücht~rnen Stunden im Elend zu verbringen. Alldies' sind Möglichkeiten in einer Welt, di~ von. Wissenohne Liebe und von Macht ohne Freude regiert wird. DerMensch der von seiner Macht berauscht ist, ist bar derWeish;it, und solange er Herr der Welt ist, wird dieseein Ort ohne Schönheit und Freude sein.

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DIE WISSENSCHAFT UND DAS REICH DER WERTE 229

KAPITEL XVII ben, weil wir das Objekt lieben oder weil wir es beherr-schen möchten. Der erstgenannte Impuls führt zu kon-templativem Wissen, der zweite zu praktischem. Im Laufeder Entwicklung hat in den Naturwissenschaften derMachtimpuls immer stärker die Oberhand gewonnen. DerMachtimpuls findet seine Verkörperung in der Industri-alisierung und in der Technik des Regierens, aber auch inden philosophischen Systemen, die unter dem NamenPragmatismus und Instrumentalismus bekannt sind. Jedesdieser Systeme vertritt, grob ausgedrückt, den Standpunkt,daß unsere Ansichten über ein Objekt insoweit wahr sind,als sie uns erlauben, uns des betreffenden Objekts zu un-serem Vorteil zu bedienen. Dies könnte man die macht-politische Seite der Wahrheit nennen. Natürlich bietet unseine solche Auffassung von den Naturwissenschaften sehrviel; ja, ihren Triumphen scheinen überhaupt keine Gren-zen gesteckt zu sein. Dem Menschen, der seine Umwelt um-wandeln will, bieten die Naturwissenschaften erstaunlichwirksame Waffen, und wenn Wissen allein in der Machtbesteht, die beabsichtigten Änderungen durchzuführen,dann schenken uns die Naturwissenschaften überreichesWissen.Doch gibt es noch eine andere Form des Wissensdranges,

die einer ganz abweichenden Gruppe von Gefühlen an-gehört. Auch der Mystiker, der Liebende und der Dichtersind Suchende - ihr Suchen ist vielleicht bedeutendweniger erfolgreich, verdient aber darum nicht wenigerAchtung. Jede Erscheinungsform der Liebe strebt nachErkenntnis dessen, was geliebt wird, aber nicht, um Machtdarüber zu gewinnen, sondern aus Freude an der Kon-templation. "Auf der Erkenntnis Gottes beruht unserewiges Leben", aber nicht deshalb, weil uns eine Erkennt-nis Gottes Macht über ihn verleiht. überall dort, wo einObjekt Gegenstand der Ekstase, der Freude, des Ent-zückens wird, besteht auch der Wunsch, das Objekt zukennen - doch handelt es sich dabei nicht um ein Kennenin der manipulativen Art, das darin besteht, daß wir es in

DIE WISSENSCHAFTUND DAS REICH DER WERTE

Die wissenschaftliche Gesellschaft, so wie wir sie in denKapiteln dieses Teiles skizziert haben, darf nicht ganz alsernstgemeinte Prophezeiung aufgefaßt werden. Sie stellteinen Versuch dar zu zeigen, wie die Welt aussehen würde,wenn die wissenschaftliche Technik ungehemmt herrschte.Der Leser wird bemerkt haben, daß sich Züge, die jeder-mann als wünschenswert bezeichnen würde, fast unent-wirrbar mit abstoßenden vermengen. Der Grund dafürliegt darin, daß wir uns eine Gesellschaft vorstellten, diesich in Einklang mit bestimmten Seiten der menschlichenNatur unter Ausschluß aller anderen entwickelte. Als ein-zelne Seiten sind sie gut, als alleinige Triebkräfte würdensie wahrscheinlich verheerend wirken. Die Neigung zuwissenschaftlichen Konstruktionen ist so lange bewunderns-wert, als sie nicht alle anderen wichtigen Impulse ver-kümmern läßt, die dem Menschenleben erst Wert ver-leihen. Andernfalls wird sie zur grausamen Tyrannei. Mei-ner Meinung nach besteht nun wirklich die Gefahr, daßdie Welt tatsächlich einer derartigen Tyrannei unter-

, worfen werden könnte, und deshalb schreckte ich auchnicht davor zurück, die Nachtseiten einer Welt auszumalen,die ein ungehemmtes Wirken der Naturwissenschaften denWunsch hegen könnte zu schaffen.Die Naturwissenschaften haben im Laufe einer nur

wenige Jahrhunderte umfassenden Geschichte eine innereEntwicklung mitgemacht, die noch nicht abgeschlossen zusein scheint. Man könnte diese Entwicklung als den über-gang von Kontemplation zu aktivem Handeln bezeichnen.Der Wissensdrang, dem das Wachstum der Naturwissen-schaften zu verdanken ist, ist selbst das Ergebnis zweierImpulse. Wir können nach Erkenntnis eines Objekts stre-

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230 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

etwas anderes verwandeln können, sondern in der Arteiner seligen Vision, weil es an sich und für sich allein demLiebenden Glückseligkeit schenkt. In der Liebe zwischenden Geschlechtern gibt es wie in jeder anderen Form derLiebe diese Art der Erkenntnis, außer die Liebe ist einerein körperliche und praktische. Dies könnte man geradezuzum Prüfstein jeder Liebe machen, die wertvoll ist. JedeLiebe, die wertvoll ist, neigt zu jener Art der Erkenntnis,aus der die Unio mystica entspringt.Die Naturwissenschaften verdanken ihre ersten Erfolge

Männern, die in die Welt verliebt waren. Sie waren sichder Schönheit von Sternen und Meer, von Winden undBergen bewußt. Und weil sie diese liebten, darum weiltensie in ihren Gedanken bei ihnen; sie wollten sie noch besserverstehen, als es bei einer rein äußerlichen Betrachtungmöglich war. "Die Welt", sagt Heraklit, "ist ein ewiglebendiges Feuer, nach Maßen sich entzündend und ver-löschend nach Maßen." Heraklit und die anderen ioni-schen Philosophen, die der wissenschaftlichen Erkenntnisden ersten Anstoß gaben, fühlten die seltsame Schönheitder Welt fast wie Besessenheit in ihrem Blute. Ihr Intel-lekt war von einer titanischen Leidenschaft, und aus derintellektuellen Intensität ihrer Leidenschaft entsprang dieganze Bewegung unserer modernen Welt. Mit fort~chrei-tender Entwicklung der Naturwissenschaften wurde Jedochdieser Impuls zu lieben, der ihnen einst das Leben schenkte,zugunsten des Machtimpulses zurückgedrängt, der, ur-sprünglich ein bloßer Mitläufer, allmählich auf Gru?dseiner unvorhergesehenen Erfolge das Kommando an SIchriß. Die die Natur liebten, wurden unsicher, die Tyrannenüber die Natur hingegen wurden belohnt. Mit fortschrei-tender Entwicklung raubte uns die Physik Schritt umSchritt immer mehr von dem, was wir über das innersteWesen der physikalischen Natur zu wissen wähnten. Farbeund Klang, Licht und Schatten, Form und Beschaffenheitgehören nicht mehr jener äußeren Natur an, welche dieIonier wie eine Braut verehrten. All dies wurde vom

DIE WISSENSCHAFT UND DAS REICH DER WERTE 231

Gezenstand der Liebe auf den Liebenden selbst über-tragen; was man liebte, wurde jedoch zu einem schlottern-den und klappernden Knochengerüst, kalt und furchterre-gend, vielleicht zu einem bloßen Phantom. Die armenPhysiker, entsetzt über die Einöde, die ihre Formeln offen-baren beten zu Gott um Trost, Gott aber muß das gespen-sterhafte Sein mit seiner Schöpfung teilen, und das, was diePhysiker für die Antwort auf ihr Flehen halten, ist ~urdas erschrockene Klopfen ihrer eigenen Herzen. Als Lie-bender enttäuscht, wurde der Mann der Wissenschaft zumTyrannen der Natur. "Was kümmert es mich", sagt derPraktiker ob die Außenwelt wirklich besteht oder nur, " h .ein Traum ist, vorausgesetzt, ich kann sie nac mememBelieben lenken." So haben die Naturwissenschaften mehrund mehr Erkenntnis aus Liebe durch Machterkenntnis er-setzt, und je weiter diese Entwicklung fortschreitet, um ~ostärker zeigt die Wissenschaft sadistische Neigungen. DIewissenschaftliche Gesellschaft der Zukunft, so wie wir sieuns ausmalten, ist eine, in der der Machtimpuls den derLiebe völlig überwunden hat, und dies ist die psycholo-gische Gefahrenquelle der Grausamkeiten.Die Naturwissenschaft, die als Wahrheitssuche begann,

läßt sich mit Glaubwürdigkeit immer weniger vereinbaren,da volle Glaubwürdigkeit immer mehr zu wissenschaft-lichem Skeptizismus führt. Betrachten wir die Naturwissen-schaften nicht praktisch, sondern kontemplativ, so findenwir, daß wir das, was wir glauben, immer mehr auf Grundinstinktiver Regungen glauben, und daß nur unser Un-glaube wissenschaftlich fundiert ist. Wenn wir andererseitsdie Naturwissenschaften als technische Möglichkeit betrach-ten, uns selbst und unsere Umwelt zu wandeln, so findenwir, daß sie uns eine Macht verleiht, die von ihrer meta-physischen Gültigkeit gänzlich unabhängig ist. Doch kön-nen wir diese Macht nur ausüben, wenn wir aufhören, nachdem Wesen der Realität zu fragen. Dies ist aber geradeder Beweis für die Einstellung des Liebenden zur Welt.Nur wenn wir die Welt als Liebende zu verleugnen bereit

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232 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

sind, können wir sie als Techniker erobern. Doch wird einesolche Entscheidung gerade dem Besten im Menschen zumVerhängnis. Sobald wir uns als Metaphysiker des Ver-sagens der Naturwissenschaften bewußt werden, ist uns dieMacht, die uns die Naturwissenschaften als Technik gewäh-ren, nur durch etwas zu erlangen, das mit dem SatanskultÄhnlichkeiten besitzt, nämlich durch Verzicht auf Liebe.

Dies ist auch letzten Endes der Grund, warum man dieAussichten auf eine wissenschaftliche Gesellschaft mit Miß-trauen und Unbehagen betrachten muß. Die wissenschaft-liche Gesellschaft in ihrer reinsten Form, so wie wir sie unsausgemalt haben, ist unvereinbar mit Wahrheitssuche, mitLiebe, mit Kunst, mit spontanem Entzücken und mit jedemIdeal, das bisher der Mensch gehegt hat, mit einer einzigenAusnahme; nur asketisches Verzichten ist nämlich damitvereinbar. Nicht das Wissen an sich ist die Quelle dieserGefahren. Wissen ist gut und Unwissenheit schlecht; werdie Welt liebt, darf keine Ausnahme von diesem Prinzipgelten lassen. Auch Macht an und für sich ist noch keineGefahrenquelle. Gefährlich ist einzig und allein Macht umder Macht willen, nicht Macht im Dienste des wahrhaftGuten. Die Führer der modernen Welt sind machttrunken:bloß die Tatsache, daß sie etwas tun können, was frühereinmal kein Mensch für möglich gehalten hätte, ist ihnenGrund genug, es zu tun. Die Macht ist nicht Zweck desLebens, sondern nur ein Mittel zu anderen Zwecken; erstwenn die Menschen sich erinnern werden, welchen Zweckendie Macht dienen sollte, wird die Wissenschaft zu einemguten Leben beitragen können. Aber was ist der Zweck desLebens?, wird der Leser fragen. Ich glaube nicht, daßjemand das Recht hat, anderen in dieser Hinsicht Vor-schriften zu machen. Für jeden Menschen ist es das, was eram innigsten ersehnt und das ihm bei seiner Erfüllung denFrieden zu schenken vermöchte. Und wenn es zu viel ver-langt wäre, sich schon im Diesseits den Frieden zu wün-schen, dann drücken wir es so aus, daß die LebenszieleEntzücken, Freude oder Begeisterung schenken sollen. In

DIE WISSENSCHAFT UND DAS REICH DER WERTE 233

dem bewußten Streben des Menschen nach Macht an sichsteckt aber etwas Vergebliches: wenn er sie besitzt, verlangter nur noch nach mehr Macht und findet keine Beruhigungin einem bloß kontemplativen Genießen des Erreichten.Der Liebende, der Dichter, der Mystiker, sie alle findeneine tiefere Befriedigung als der jemals erfährt, der nachMacht strebt, denn sie finden Ruhe in dem geliebtenObjekt, während ein Mensch, der nach Macht strebt, stän-dig in neue Tätigkeiten verstrickt ist, wenn er nicht untereinem Gefühl der Leere leiden will. Darum glaube ich,daß jede Befriedigung, die der Liebende im weitestenSinne des Wortes finden kann, die des Tyrannen über-trifft und in der Wertskala der Lebensziele einen höherenRang beanspruchen darf. Wenn ich einmal sterben werde,so werde ich nicht das Gefühl haben, umsonst gelebt zuhaben. Ich habe das Dämmerrot des Abends gesehen, dasBlitzen des Taus am Morgen und das Glänzen des Schneesunter einem frostklaren Himmel, ich habe den Regen nacheiner Dürre gerochen und gehört, wie die stürmendenWogen des Atlantischen Ozeans an die felsigen Küstenvon Cornwall schlugen. Die Naturwissenschaften mögendiese Freuden noch mehr Menschen schenken, als sie heutegenießen. Wenn dem so ist, dann wird man ihre Machtweise gebraucht haben. Wenn sie jedoch jene Augenblickeaus dem Dasein streichen, die das Leben erst wertvollmachen, dann wird die Wissenschaft keine Bewunderungverdienen, wie klug und geschickt sie auch den Menschenauf den Pfad der Verzweiflung führen mag. Das Reich derWerte ist den Naturwissenschaften nicht zugänglich, wennsie etwas anderes als reiner Drang nach Erkenntnis sind.Der Wissenschaft als Machtstreben muß dieses Reich derWerte verschlossen bleiben, und wenn die wissenschaftlicheTechnik das Leben bereichern soll, darf sie nicht zumSelbstzweck werden.Die Zahl der Männer, die einem Zeitalter ihren Stempel

aufprägen, ist klein. Columbus, Luther und Karl V. be-herrschten das 16. Jahrhundert, Galilei und Descartes das

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234 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

17. Die bedeutenden Männer in dem Zeitalter, das um1930 zu Ende ging, sind Edison, Rockefeller, Lenin undSun Yat-sen, Mit Ausnahme von Sun Yat-sen waren sieohne Kultur, voll Verachtung für die Vergangenheit, vollSelbstvertrauen und rücksichtslos. Die überlieferte Weis-heit fand nicht Raum in ihrem Denken und Fühlen' nurMechanik und Organisation interessierten sie. Vielleichthätte eine abweichende Erziehung diese Männer gewan-delt. Edison hätte sich in seiner Jugend ein Wissen um dieGeschichte, um Dichtung und bildende Kunst aneignenkönnen; RockefeIler hätte lernen können, daß er in Krösusund Crassus Vorläufer hatte; Lenin hätte sich mit demAufstieg des Islam und der Entwicklung des Puritanismusvon einer religiösen Bewegung zur Plutokratie vertrautmachen können, wenn ihn nicht die Hinrichtung des Bru-ders in seinen Studententagen mit Haß erfüllt hätte. Durcheine solche Erziehung hätte sich ein ganz klein wenig Zwei-fel in die Seelen dieser großen Männer eingeschlichen,und dann wären ihre Leistungen vielleicht etwas wenigerfolgenschwer, aber bestimmt um vieles wertvoller gewesen.Unsere Welt besitzt ein reiches und schönes Kulturerbe

leider haben wir jedoch dieses Erbe nur den wenigen akti-ven und unbedeutenderen Angehörigen jeder Generationweitergereicht. Man ließ die Weltherrschaft, und damitmeine ich nicht die Ministerposten, sondern die Schlüssel-stellungen der Macht, in die Hand von Männern fallen, dienichts von der Vergangenheit wissen, die ohne Ehrfurchtvor der Überlieferung sind und ohne Verständnis für das,was sie vernichten. Und es gibt überhaupt keinen stich-haltigen Grund dafür, warum dies so sein muß. Es zuverhindern, ist ein reines Erziehungsproblem, und nichteinmal ein besonders schwieriges. Der Gesichtskreis derMänner der Vergangenheit war oft räumlich eng begrenzt,der der führenden Männer unseres Zeitalters ist es in zeit-licher Hinsicht. Sie bringen der Vergangenheit eine Ver-achtung entgegen, die diese nicht verdient, der Gegenwartaber eine Verehrung, die ihr noch viel weniger gebührt.

DIE WISSENSCHAFT UND DAS REICH DER WERTE 235

Die Schulbuchmaximen früherer Zeiten sind abgebrauchtund sollten durch neue ersetzt werden. An die erste Stellewürde ich den Satz stellen: "Es ist besser, ein wenig Gutesals viel Unheil zu stiften." Um dieser Maxime Gehalt zuverleihen, würde es natürlich notwendig sein, das Gefühldafür zu wecken, was gut ist. Man kann z. B. heutzutagenur wenige Menschen davon überzeugen, daß rasche Fort-bewegung an sich nichts inhärent Gutes enthält. Von derHölle zum Himmel emporzusteigen, ist gut, obwohl derVorgang ein mühsamer und langwieriger ist; vom Him-mel zur Hölle abzustürzen, ist schlecht, auch dann, wennsich dieser Absturz mit derselben Geschwindigkeit wie dervon Miltons Satan vollzieht. Auch kann man nicht behaup-ten, daß eine bloße Produktionssteigerung von Luxus-gütern an sich von großem Wert sei. Bitterste Armut zuverhüten, ist wichtig, den Besitz derer aber zu vermehren,die ohnehin schon zu viel haben," ist nutzlose Kraftvergeu-dung. Verbrechen zu verhüten mag notwendig sein, aberneue Verbrechen zu ersinnen, damit die Polizei bei derenVerhütung ihre Geschicklichkeit beweisen kann, ist wenigerbewundernswert. Die neue Macht, die die Naturwissen-schaften dem Menschen geschenkt haben, kann nur vondenen gefahrlos ausgeübt werden, die entweder durch einStudium der Geschichte oder durch ihre eigene Lebens-erfahrung Achtung für menschliche Gefühle und zärtlicheLiebe zu jenen Gefühlsregungen erlangt haben, die demtäglichen Leben von Männern und Frauen erst Farbeschenken. Ich habe nicht die Absicht zu leugnen, daß diewissenschaftliche Technik im Laufe der Zeit imstande seinwird, eine künstliche Welt zu schaffen, die in jeder Hin-sicht der vorzuziehen ist, in der die Menschen bisher gelebthaben, doch behaupte ich, daß dies nur dann möglich seinwird, wenn es vorsichtig und schrittweise geschieht undman sich zugleich dabei auch bewußt ist, daß es nicht alleinZweck des Regierens ist, den Regierten das Leben erträg-lich zu gestalten. Die wissenschaftliche Technik darf nichtlänger die ganze Kultur der Machthaber formen, sondern

I

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236 DIE WISSENSCHAFTLICHE GESELLSCHAFT

NAMENREGISTERes muß die Überzeugung, daß nicht der Wille allein eingutes Leben verbürge, zu einem wesentlichen Bestandteilder ethischen Anschauungen der Menschen werden. Wissenund Fühlen bilden sowohl im Leben des einzelnen wie indem der Gemeinschaft gleichwichtige Faktoren. Wenn dasWissen umfassend und eingehend genug ist, bringt esauch Einsicht in weitentfernte Zeiten und Räume mit sichund schenkt das Bewußtsein, daß der einzelne Mensch nichtallmächtig und nicht von überragender Bedeutung ist; esvermittelt auch eine Perspektive, in der die wahren Wertedeutlicher geschaut werden, als sie von jenen gesehenwerden können, die keinen solchen Weitblick besitzen.Noch wichtiger aber als das Wissen ist das Gefühlsleben.Eine Welt ohne Freude und Liebe ist eine wertlose Welt.Daran muß der wissenschaftlich Handelnde denken, undnur wenn er dies tut, kann sein Tun ein wahrhaft wohl-tätiges sein. Es bedarf nur des einen: daß sich die Menschennicht so von der neuen Macht berauschen lassen, daß siedie Wahrheiten vergessen, die jeder früheren Generationvertraut waren.

Bisher wurde der Mensch durch seine Unterwerfungunter die Natur in Schranken gehalten. Nun, da er sichvon diesen Fesseln befreit hat, zeigt er einige der Fehlerdes Sklaven, der plötzlich zum Herrn gemacht wird. Eineneue Moral ist nötig, in der die Unterwerfung unter dieNaturgewalten durch Achtung vor dem ersetzt wird, wasdas Beste im Menschen ist. Dort aber, wo diese Achtungfehlt, wird die wissenschaftliche Technik zu einer Gefahr.Solange es jedoch eine Wissenschaft gibt, die den Menschenaus seiner Knechtschaft der Natur gegenüber erlöst hat,besteht auch die Möglichkeit, daß sie ihn von dem befreit,was in seinem Wesen knechtisch ist. Die Gefahren sind da,sie sind aber nicht unentrinnbar, und Zukunftshoffnungist mindestens ebenso berechtigt wie Furcht.

Adrian, E.D. 112Archimedes 14 ff.Aristarchos 14 ff.Aristoteles 19 f., 28, 36

Bacon, Roger 17Becquerel, Henri 54Bergson, Henri 65Berkeley, George 68, 73, 97Bohr, Niels 57

Chamberlain, B.H. 181Columbus, Christoph 233

Darwin, Charles R. 34 ff., 39,47, 162

Davies, David 186Demokritos 104Descartes, Rene 32, 39, 92, 104,

233Dirac, Paul 60

Eddington, Sir Arthur 75 ff.,79 ff., 90 ff., 94, 100, 102 ff.

Edison, Thomas A. 234Einstein, Albert 20, 31, 33 f.,

51 f., 75, 79, 91Eratosthenes 15Euklid 16

Fahie, J. J. 27Faraday, Michael 129Freud, Sigmund 12, 152, 154,

156, 158, 224

Galilei, Galileo 5, 11 ff., 17 ff.,30 f., 39, 50 f., 53, 83, 233

Gantt, W. Horsely 44

Gilbert of Colchester 135Gladstone, William E. 105

Haas, Arthur 74Halley, Edmond 30Havelock, EIlis 13Hegel, G. Fr. W. 104Heisenberg, Werner 79, 91Hellriegel 135Heraklit 230Hertz, Heinrich 129Hippokrates 44Hogben, Lancelot 35,48, 108f.,

115, 148Hume, David 65, 104Huxley, Thomas H. 105

Ignatius von Loyola 152Isaacs, Susan 158

Jeans, Sir James 84, 94 ff., 104Jefferson, Thomas 178Jennings, William B. 196

Kant, Immanuel 46, 104Kar! V., 233Kepler, J ohannes 17 f., 28, 30,

51, 82Konfuzius 121Kopernikus, Nikolaus 15, 18,

21, 155

Lamarck, Jean-Baptist 148Lane, Homer 86Lao Tse 121 f.Laplace, Pierre-Simon 199Lawes 135Lawrence, Martin 44

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238 NAMENREGISTER

SACHREGISTERLeibniz, Gottfried W. 29, 32,

104Lenin, W. J. 200 f., 234Leonardo da Vinci 15, 17, 129Lobatschefski, N. J. 52Locke, John 189Loeb, Jaques 108Luther, Martin 233

Malthus, Thomas R. 162Marconi, Guglielmo 129Maxwell, James Clerk 129Mendel, Gregor J. 85Mill, John Stuart 189 f.Millikan, Robert A. 83Montaigne, Michel E. de 17Morgan, Lloyd 112 f.Morris, William 200

Napoleon Bonaparte 32, 61 f.Newton, Sir Isaac 29 ff., 39, 47,

51 r., 75, 79, 81, 155

Parmenides 81Parsons, T. R. 136Pawlow, Iwan Petrowitsch

39 ff., 44, 65 f., 93, 108, 154,158 f.

Piaget 124Plato 84, 96, 104Plutarch 15Pythagoras 51 f., 62

Aberglaube 74, 86, 115, 181,205

Abstraktheit 70, 72Abstraktion 71, 111Allgemeingültigkeit 14Analyse 59Anarchie 166, 186animal faith 69Araber 16 f.Arbeit 192Arbeitspflicht 211Astronomie 14, 30, 34, 74, 95,

106Atomphysik 34Außenwelt 97Autorität 20, 62Autoritätsglaube 19

Behaviorismus 158 r., 213Beobachtung 11Bevölkerungsdichte 193

- theorie 162_ wachstum 146,220

Beweis 68Bigotterie 33Biochemie 148, 186, 213Biologie 35, 106, 127, 134 ff.

Chemie 16

Erbgesetze 141Erfahrung 66, 68Ernährung 142, 144 f., 149, 213Erziehung 151, 158, 165 f. 183,

187, 207, 213 ff., 224Ethik 204 f.Eugenik 147 ff., 200, 214Evolution 35 f., 38 f., 80, 105,

112 f.Experiment 12, 14, 53, 97, 126

Fallgesetz 20Fehler, wahrscheinlicher 55Film 169Forschungsarbeit 217Fortpflanzung 108, 145, 147,• 193 f., 220 ff.Fortschritt 31, 107, 128, 173.

216- der Chemie 130_ , wissenschaftlicher 6

freier Wille 39Freiheit 189 ff., 195 ff., 216

Geburtenziffer 208Gemeinschaft 189 ff.Genauigkeit, quantitative 57Geometrie 14, 33, 51 r., 84Gesellschaft 177 ff., 190

_. sleben 163- , wissenschaftliche 177,232

Gesetze 6, 11, 17, 49, 53, 56,58, 75, 94, 97 f.

_ , allgemeine 37, 40, 49 ff._ , des Indeterminismus 79- , Erb- 141- , Gravitations- 51

Rabelais, Franccis 17Ricardo, David 162Robespierre, Maximilien de 178Rockefeller, John Davison 234Rousseau, Jean Jaques 122, 189

Santayana, George 69Schrödinger, Erwin 79Seldes, Gilbert 167Smith, Adam 162Sokrates 28Speyer, E. R. 139Sun Yat-sen 234

Todhunter 62Turner, J. E. 91 f.

Voltaire, Franccis 32, 153 f.

Watson, John B. 44, 152, 158,224

Wundt, Wilhelm 151

Darwinismus 36Deduktion 27, 33, 50Determinismus 80

Einheit 84Ekologie 35Embryologie 109, 112,141,148,

160, 178, 200Energie 101, 128Entomologie 137, 139

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240 SACHREGISTER SACHREGISTER 241

Kausal- 60, 68, 72, 75,93 f., 103, 111, 190Keplersche 30, 33, 51Natur- 53, 81 f., 88 f.,101, 103statistische 90

, Vererbungs- 38Gleichheit 189Gravitation 52- sgesetz 31, 33 f., 51 f., 56,

75 f.- stheorie 54

Griechen 14, 17 f., 33, 51

Häresie 26Heilige Schrift 21, 23, 28homo saplens 39Hygiene 171Hypothese 49, 57, 59, 103Hysterie 182

Individuum 189 ff.Induktion 27, 33, 50, 53, 58,64 ff.

Inquisition 20 f., 27 f., 227Instinkt 42Intelligenzgrad 219 f.

Kausalgesetz 60, 68, 72, 75.93 f., 103, 111, 190

Kausalitätsprinzip 79Kausation 92Kino 169Klassenkampf 189Kontemplation 229Kunststoffe 142

Lebensziele 232 f.Liebe 187, 224, 227, 229 ff.,235 f.

Logik 52, 57, 59, 71, 86

Quantentheorie 53, 75, 77, 79,91

Temperamente 44Theologie 82, 89, 104, 181Tradition 126Trugschluß 64, 71, 97Tyrannei 195, 228

Macht 7, 71, 81, 86, 124, 126,132, 143, 158, 161,178 f., 184,187, 196 ff., 207, 211, 222,227,229, 232f., 235f.

Machtimpuls 231Maschinen 127Massenpsychologie 164Materialismus 88, 101, 104 f.Materie 104, 107, 110Mathematik 14, 56, 71Medizin 148Meinungsbildung 170Mendelsche Theorie 38Metaphysik 28, 47,65,81,217

- , naturwissenschaftliche73 ff.

metaphysischer Glaube 84Methode, naturwissenschaft-

liche 11 ff., 49 ff.Mutationen 39Mykologie 140

Radio 168Reflex 41, 48, 63, 107 ff., 158,

166Regierung, wissenschaftliche

199 ff.Reklame 163 ff., 191Relativitätstheorie 31,33,52,96Religion 88 ff., 114, 126, 132,

183, 221, 227Renaissance 17, 81Revolution 178, 182

- , industrielle 134, 141Rohstoffe 210Royal Society 32

Schlußfolgerung 63 f.Seele 40Shintoismus 180 f.Sicherheit 212Skeptizismus 85 ff., 115, 231Sowjetsystem 182soziale Anpassung 156 f.

- Organisation 220- Struktur 178

soziales Leben 162 ff.Soziologen 29Soziologie 190Sterilisierung 194Symbole 97

Nationalismus 33, 172 f., 181,207

Ordnung 7, 82, 99, 102Organisation 172 f., 185, 190,

209, 234

Philosophie der Physik 73Physik 33, 50 ff., 60, 64, 72,

75 f., 79, 88, 91, 93,97, 104,106, 110 f., 127, 217, 230

Physiologie 40, 112, 127, 144ff.Planung 178 f., 182Prädetermination 144 f.Presse 167Propaganda 165, 173, 184, 197,207, 225

Psychoanalyse 152, 156 ff., 213Psychologie 44 f., 54, 86, 1l0,

151 ff., 162

Tatmensch 200 f.Tatsachen 49Technik 7, 119 ff., 127 ff., 167,

171 f., 181, 185, 189 f., 221,2.33, 235

Unbestimmtheitsprinzip 91Ursache 59

Variation 36Verallgemeinerung 11Vererbung 108, 141, 146, 148Vererbungsgesetze 38Verhalten 47f., 107, 1l0f., 157,

190vis viva 92Vitalismus 40

Wachstum 144 f.Wahrheit 85, 87, 157, 229, 236Wahrheitsfindung 27

- suche 231 f.Wahrscheinlichkeit 77 f.Weltregierung 206 ff., 220

- sprache 187- staat 185, 215

Willensfreiheit 79f., 88ff., 102,104

Wirtschaft 209Wunschträume 12

Zentralregierung 186Zölibat 221Zuchtwahl, künstliche 140

- , natürliche 35 f.Zufall 57, 77, 101