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145 Das ökonomische Problem des technischen Fortschritts Von Dr. Jürg Niehans Professor an der Universität Zürich Die folgenden Ausführungen haben nicht so sehr den Zweck, die Ergebnisse abgeschlossener Untersuchungen vorzulegen, als vielmehr die Aufmerksamkeit auf ein offenes, ja noch kaum in Angriff genommenes Problem zu lenken. Sie erheben keineswegs den Anspruch, schon historisch-statistische Hypothesen über den Zusammenhang zwischen technischen Fortschritten und wirtschaftlichem Wachstum zu bieten. Sie wollen nicht einmal als ein fertiges theoretisches System betrachtet werden, mit dessen Hilfe solche Hypothesen vielleicht gewonnen werden können. Vielmehr beschränken sie sich auf den Entwurf der Grund- gedanken eines solchen Systems und mögen somit gleichsam als ein Arbeits- programm betrachtet werden. Eine ihrer Hauptaufgaben muss es somit sein, zur Kritik einzuladen 1 . I. Dass der technische Fortschritt ein soziologisches, kulturelles, ein mensch- liches Problem sei, hört man heute derart häufig, dass man geradezu in Ver- suchung gerät, daran zu zweifeln. In diesem allgemeinen Sinne ist das Problem so verschwommen und unbestimmt, dass man sich nicht eben ermutigt fühlt, wissenschaftliche Mittel zu seiner Lösung zu mobilisieren. Für uns Ökonomen hingegen ist der technische Fortschritt ein Problem, ja ein Rätsel in einem prä- ziseren Sinne in einem ähnlichen Sinne nämlich, wie für Adams und Leverrier vor gut hundert Jahren der Planet Neptun: wir stellen fest, dass die bekannten Grössen unseres ökonomischen Universums sich nicht so verhalten, wie sie eigent- lich «sollten», und wir sehen uns gezwungen, diese «Unfolgsamkeit» zu erklären durch die Annahme einer weiteren Grösse, die bisher noch niemand befriedigend in Rechnung stellte, niemand in Rechnung zu stellen wusste. Vielleicht am deutlichsten lässt sich dies zeigen am Beispiel der Versuche, die Höhe der Kapitalinvestitionen zu erklären. Die einfachste Hypothese, das altehrwürdige Akzelerationsprinzip, erklärt die Nachfrage nach zusätzlichen In- vestitionsgütern aus den Schwankungen - also nicht der absoluten Höhe der 1 Der Text der folgenden Ausführungen entspricht mit geringfügigen Änderungen und Zu- sätzen der Antrittsvorlesung des Verfassers vom 28. November 1953. Die Fussnotenund Literatur- hinweise wurden nachträglich hinzugefügt. 10

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Das ökonomische Problem des technischen Fortschritts

Von Dr. Jürg Niehans Professor an der Universität Zürich

Die folgenden Ausführungen haben nicht so sehr den Zweck, die Ergebnisse abgeschlossener Untersuchungen vorzulegen, als vielmehr die Aufmerksamkeit auf ein offenes, ja noch kaum in Angriff genommenes Problem zu lenken. Sie erheben keineswegs den Anspruch, schon historisch-statistische Hypothesen über den Zusammenhang zwischen technischen Fortschritten und wirtschaftlichem Wachstum zu bieten. Sie wollen nicht einmal als ein fertiges theoretisches System betrachtet werden, mit dessen Hilfe solche Hypothesen vielleicht gewonnen werden können. Vielmehr beschränken sie sich auf den Entwurf der Grund­gedanken eines solchen Systems und mögen somit gleichsam als ein Arbeits­programm betrachtet werden. Eine ihrer Hauptaufgaben muss es somit sein, zur Kritik einzuladen1.

I.

Dass der technische Fortschritt ein soziologisches, kulturelles, ein mensch­liches Problem sei, hört man heute derart häufig, dass man geradezu in Ver­suchung gerät, daran zu zweifeln. In diesem allgemeinen Sinne ist das Problem so verschwommen und unbestimmt, dass man sich nicht eben ermutigt fühlt, wissenschaftliche Mittel zu seiner Lösung zu mobilisieren. Für uns Ökonomen hingegen ist der technische Fortschritt ein Problem, ja ein Rätsel in einem prä­ziseren Sinne — in einem ähnlichen Sinne nämlich, wie für Adams und Leverrier vor gut hundert Jahren der Planet Neptun: wir stellen fest, dass die bekannten Grössen unseres ökonomischen Universums sich nicht so verhalten, wie sie eigent­lich «sollten», und wir sehen uns gezwungen, diese «Unfolgsamkeit» zu erklären durch die Annahme einer weiteren Grösse, die bisher noch niemand befriedigend in Rechnung stellte, niemand in Rechnung zu stellen wusste.

Vielleicht am deutlichsten lässt sich dies zeigen am Beispiel der Versuche, die Höhe der Kapitalinvestitionen zu erklären. Die einfachste Hypothese, das altehrwürdige Akzelerationsprinzip, erklärt die Nachfrage nach zusätzlichen In­vestitionsgütern aus den Schwankungen - also nicht der absoluten Höhe — der

1 Der Text der folgenden Ausführungen entspricht mit geringfügigen Änderungen und Zu­sätzen der Antrittsvorlesung des Verfassers vom 28. November 1953. Die Fussnotenund Literatur­hinweise wurden nachträglich hinzugefügt.

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Nachfrage nach ihren Produkten, die Nachfrage nach Webstühlen also aus den Schwankungen der Nachfrage nach Tuch. In gewissen Fällen ist diese Hypo­these in der Tat immer wieder brauchbar, im allgemeinen aber ist sie allzu ein­fach \ Der Holländer Tinbergen2 hat daher in seiner Pionierarbeit von 1939 an­genommen, die Investitionen seien ausserdem bestimmt durch die Höhe der Unternehmergewinne, durch die Gewinnmargen, durch die Bewegungen der Investitionsgüterpreise und durch die Zinssätze 2. Demgegenüber begnügte sich der Amerikaner Klein in der neuesten derartigen Untersuchung wieder mit nur zwei Bestimmungsgründen, nämlich der Höhe der Unternehmereinkommen oder dem Produktionswert und dem bereits vorhandenen Kapitalgüterbestand 8. So­wohl Tinbergen wie Klein gelang mit Hilfe ihrer Variablen eine recht befriedigende Erklärung der Investitionsströme in einer gegebenen Basisperiode; beide Er­klärungen aber versagten — und das ist entscheidend —, sobald sie zur Berechnung von Investitionsziffern ausserhalb der Basisperiode, also gleichsam zur Voraus­sage, verwendet wurden, und ähnlich ging es bisher mit allen derartigen Experi­menten 4. Folgt daraus, dass wir uns für immer mit der resignierten Annahme vieler Nachkeynesianer begnügen müssen, die Höhe der Investitionen sei für den Ökonomen ein Datum und unerforschlich ? Gewiss nicht. Denn aus den bisherigen Misserfolgen folgt zunächst nur, dass ausser den benützten Variablen offenbar noch weitere wichtige Kräfte am Werk sind, Kräfte, denen die Statistiker bisher nicht Rechnung getragen haben, und die Hypothese liegt nahe, dass zu ihnen vor allem jene Kraft gehört, die seit den Arbeiten eines Schumpeter in mancher qualitativen, beschreibenden Erklärung der Investitionen geradezu die Hauptrolle spielt, die aber in jenen quantitativen Schätzungen überhaupt nicht erscheint, nämlich eben der technische Fortschritt. Eine ganz ähnliche Wissenslücke wie bei den Investitionen zeigt sich auch bei der Lösung anderer wirtschaftlicher Probleme 5.

1 Vgl. z. B. J. Tinbergen, Statistical Evidence on the Acceleration Principle. Economica (new series), vol. V, 1938, p. 164 et s.; abgedruckt in: Econometrics, London 1951, p. 215 et s. Neuerdings wird dieses Urteil bestätigt von G. Haberler, Bemerkungen zum gegenwärtigen Stand der Konjunkturtheorie, in: Festgabe für A. Amonn, hg. von V. F. Wagner und F.Marbach, Bern 1953, p. 229 et s.

8 J, Tinbergen, Vérification statistique des théories des cycles économiques. Vol. I. Une méthode et son application au mouvement des investissements. Genève 1939. p. 38 et s. Die statistische Prüfung dieser Bestimmungsgründe führte Tinbergen zum Schluss, dass die Unter­nehmergewinne die Hauptrolle spielten.

3 L.R. Klein, Economic Fluctuations in the United States, 1921-1941. New York 1950. bes. p. 60, 85.

4 Vgl. die gründliche Überprüfung von Kleins Ergebnissen durch C. Christ, A Test of an Econometric Model for the United States, 1921-1947. In: Conference on Business Cycles. National Bureau of Economic Research. New York 1951. p. 35 et s. Wenn auch Kleins Modell diese Prü­fung nicht bestand, kann es doch für sich den Ruhm beanspruchen, eine der allerersten ökonomi­schen Hypothesen zu sein, die einer derart gründlichen Prüfung überhaupt fähig und würdig waren.

6 So lassen z .B . die Zahlungsbilanzprobleme der letzten beiden Jahrzehnte fast unver­meidlich den Verdacht aufsteigen, sie seien vielleicht unter anderem auch die Folge einer unter­schiedlichen Geschwindigkeit des technischen Fortschritts in verschiedenen Ländern. Vgl. etwa die Anregungen von J. Akerman, The Problem of International Balance in Progressing Econo-

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Damit stellt sich die Aufgabe, Mittel und Wege zu finden, um die Wirkungen des technischen Fortschritts auf Grössen wie Investitionen, Konjunkturwellen, wirtschaftliches Wachstum oder auch Zahlungsbilanzen quantitativ zu erfassen. Quantitativ muss die Erfassung sein, weil nur dann unsere Lösungen vom Sub­jekt hinreichend unabhängig sind, weil sie sonst ebenso unbeweisbar und un­widerlegbar bleiben wie die berühmte Behauptung, das Kind gleiche mehr der Mutter als dem Vater, weil sich also auch im günstigsten Falle nur quantitative Hypothesen in brauchbare ökonomische Gesetze verwandeln1. Die Unmöglich­keit der Quantifizierung war es denn auch, die Schumpeters Hypothese einer Wirtschaft, die vom Motor der neuen Unternehmerideen vorwärtsgetrieben wird, zu einem zwar farbigen, ja grossartigen, letzten Endes aber unverbindlichen historischen Gemälde machte, und damit das Lebenswerk ihres Urhebers, wie dieser selbst gefühlt zu haben scheint 2, um den letzten Erfolg brachte 3.

Doch ist die Erfassung der Wirkungen des technischen Fortschritts nur die eine Hälfte der Gesamtaufgabe. Denn wir wollen die Wirtschaft ja nicht nur kontemplativ erklären, sondern nötigenfalls auch aktiv beeinflussen. Wenn wir einmal die Wirkungen des technischen Fortschrittes kennen, stellt sich daher sofort die weitere Frage nach seinen Ursachen, und zwar vor allem nach solchen Ursachen, die wir wirtschaftspolitisch «in der Hand haben», die, wie man sagen kann, einen «strategischen» Charakter besitzen. So sind Fragen, wie die nach der Beeinflussung des technischen Fortschritts durch Kartelle, Patentgesetz­gebung, Steuerpolitik oder selbst Konjunkturwellen, noch immer durchaus offen.

Damit ist das ökonomische Problem umrissen. Vom allgemeinen Problem des technischen Fortschritts unterscheidet es sich dadurch, dass wir von vorn­herein darauf verzichten, diesen in seiner Gesamtheit aus seinen Ursachen zu erklären, die Gesamtheit seiner Wirkungen zu erfassen, denn diese Aufgabe würde die beschränkten Mittel der Sozialökonomie weit übersteigen. So wird von vornherein niemand erklären wollen, warum sich der technische Fortschritt in Westeuropa in den letzten Jahrhunderten so atemraubend beschleunigt hat, warum er in der Antike, warum er in China selbst in seiner Blütezeit so langsam war, warum er heute vielen Europäern so fragwürdig erscheint, ohne sozio­logischen, ideologischen, vielleicht religiösen, jedenfalls aber ausserökonomischen Überlegungen ein grosses, vielleicht sogar ausschlaggebendes Gewicht zu geben.

mies. In: The Problem of Long-Term International Balance. Round Table Discussion held by the International Economic Association, 1950. International Social Science Bulletin, vol. Ill , No. 1, 1951, p. 59 et s.

1 Dieses Quantifizierungsproblem scheint wachsende Aufmerksamkeit zu finden. So be­schäftigte sich damit eine von Kuznets angeregte Konferenz in Princeton im April 1951 ; deren Er­gebnisse wurden bis jetzt anscheinend nicht veröffentlicht. Vgl. auch die Versuche von W.R. Maclaurin, The Sequence from Invention to Innovation and its Relation to Economic Growth. Quarterly Journal of Economics, vol. LXVII, 1953, p. 97 et s.

2 J.A.Schumpeter, Business Cycles. New York, London 1939. Vol. I, p. V. 8 Diese Beurteilung findet sich schon in Kuznets grosser Besprechung von Schumpeters

Werk, American Economic Review, vol. XXX, 1940, p. 257 et s., abgedruckt in: Economic Change, New York 1953, p. 105 et s. Vgl. auch A.P. Usher, Historical Implications of the Theory of Economic Development. Review of Economics and Statistics, vol. XXXIII, 1951, p. 158 et s.

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Das Problem der Technik - vielleicht besser : das sogenannte Problem der Tech­nik — wird daher uns Ökonomen immer entgehen. Vielmehr begnügen wir uns mit einigen wenigen, dafür aber quantitativ fassbaren Kausalzusammenhängen im Vertrauen darauf, dass sie von den unfassbaren übrigen hinreichend isoliert werden können. Oder, wenn einem Nichtmathematiker ein mathematischer Ver­gleich gestattet ist: statt die Funktionen, die den technischen Fortschritt und seine Wirkungen bestimmen, in ihrer Gesamtheit aufstellen zu wollen, fragen wir nur nach gewissen partiellen Ableitungen und hoffen dabei, dass die ausser-ökonomischen und nicht-quantifizierbaren Variablen darin nicht vorkommen.

Dass solche Fragen, bescheiden wie sie klingen mögen, bisher noch keine Antwort gefunden haben, macht den technischen Fortschritt eben zu einem un­gelösten ökonomischen Problem. Seine Lösung setzt voraus, dass zuerst zwei Schlüsselfragen eine brauchbare Antwort finden. Die erste von ihnen betrifft den Einbau des technischen Fortschritts in die Produktionstheorie oder, zu­treffender ausgedrückt, die Verallgemeinerung der Produktionstheorie in der Weise, dass sie den technischen Fortschritt zu erfassen erlaubt. Die zweite Schlüsselfrage betrifft die Quantifizierung und Messung des so erfassten tech­nischen Fortschritts. Von diesen beiden Fragen wird im folgenden vor allem die Rede sein, wobei der Reihe nach zuerst auf den technischen Fortschritt selbst, dann auf seine Wirkungen und schliesslich auf seine Ursachen eingegangen wird.

II.

Zunächst ist also zu untersuchen, ob sich der technische Fortschritt selbst nicht irgendwie quantitativ erfassen lässt. Ich zerlege diese Aufgabe wiederum in zwei Teile, indem ich zuerst frage nach dem ökonomischen Wesen der Technik selbst, ihrem Stande in einem gegebenen Augenblick, und erst dann nach ihrem Fortschritt, wenn sie sich gleichsam in Bewegung setzt.

Der Stand der Technik wird für den Ökonomen nicht bezeichnet durch Fa­briken, Maschinen und Instrumente - dies sind vielmehr die Kapitalgüter -, nicht durch Bücher - diese sind nur Mittel zur Mehrung des Wissens - , sondern vielmehr durch das menschliche Wissen und Können selbst. Zur Technik gehört, kurz gefasst, alles jenes Wissen, das uns sagt, «wie man es machen kann», wobei das «es» für alle denkbaren Dinge, für Turbinen, Brot, englische Übersetzungen, Ölgemälde oder Ausgrabungen stehen mag. Sie ist keineswegs ein Reservat der Ingenieure, denn die Kenntnisse des Bauern, des Schneiders, des Unternehmungs­leiters haben ebenso an ihr teil wie die des Konstrukteurs. Der technische Stand einer ganzen Volkswirtschaft wird damit zu einer ungeheuer vielgestaltigen Struktur, in der auch das bescheidenste Wissen, angefangen beim kleinen Kinde, irgendwo seinen Platz hat.

Doch ist diese Schilderung noch allzu impressionistisch. Beschränken wir uns, um sie präzisieren zu können, auf einen einzelnen Menschen. Sein technisches Wissen wird definiert durch eine sogenannte Produktionsfunktion. Diese gleicht einem ungeheuren Kochbuche: sie besteht nämlich aus einem Katalog sämt­licher denkbarer Produktionsprozesse und gibt zu jedem von ihnen an, welche

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Produkte er verspricht. Dabei muss aber fur den Zweck dieser Untersuchung zu jedem einzusetzenden Produktionsmittel, zu jedem anfallenden Produkt nicht nur Art und Menge, sondern auch der Zeitpunkt von Einsatz oder Anfall an­gegeben sein. So reicht denn jeder solcher Prozess von der Gegenwart bis in eine ferne Zukunft, wobei in jedem Augenblick die einen Güter aufgewendet, andere herausgezogen werden, nicht selten immer wieder verschiedene. Doch ist das noch nicht alles. Kaum ein Mensch würde sich nämlich unterfangen, die Produkte, die ein bestimmter Prozess erwarten lässt, bis in alle Zukunft mit Bestimmtheit anzugeben, ist doch unsere Kenntnis der natürlichen Produktionsbedingungen immer unvollkommen. Vielmehr werden unsere Erwartungen ungewiss sein, werden also für jede Produktmenge einen Spielraum offen lassen, bald einen engeren, bald einen weiteren. Dieser Ungewissheit pflegen aber die üblichen Pro­duktionsfunktionen nicht Rechnung zu tragen, und gerade dadurch werden sie unfähig zur Erfassung des technischen Fortschritts. Denn offenbar würden in einer Welt, in der man glaubt, alles zu wissen, alle Bemühungen um eine Mehrung des Wissens unterbleiben und damit gleichzeitig der grösste Teil der technischen Fortschritte. Durch die Einführung der Ungewissheit in die Produktionsfunktion wird diese also nicht etwa nur «realistischer», sondern überhaupt erst fähig, den technischen Fortschritt zu erfassen. Versteht man aber die Produktionsfunktion so, wie es hier vorgeschlagen wird, so liefert sie uns in der Tat das lückenlose Abbild des technischen Wissens eines Menschen, und in Erinnerung an jenen Ausspruch Paretos mag man dann wohl sagen, der Mensch selbst könne ruhig verschwinden, wenn er uns nur seine Produktionsfunktion zurücklasse.

Worin zeigt sich nun, und damit komme ich zur zweiten Teilfrage, im Rah­men einer solchen Produktionsfunktion der Fortschritt des technischen Wissens ? Offenbar darin, dass unsere Ungewissheit sich verringert, dass unsere Erwar­tungen über die Produkte, die uns jeder Produktionsprozess verspricht, eindeu­tiger werden. Eine solche Verringerung der Ungewissheit muss überdies, wenn sie einen technischen Fortschritt anzeigen soll, sich daraus ergeben, dass wir neue Gesetze entdeckt haben, die uns erlauben, von den Produkten, die bisher anfielen, auf jene zu schliessen, die in der Zukunft auf uns warten, Gesetzmässig­keiten, die also die aufeinanderfolgenden Produkterträge untereinander verbin­den, Gesetzmässigkeiten von der Form: «wenn morgen X eintritt, so ist über­morgen A zu erwarten, wenn aber morgen Y erscheint, so wird B folgen», Ge­setzmässigkeiten, die also die logische Form der alten Bauernregeln haben und die wir in einem umfassenden Sinne vielleicht Naturgesetze nennen dürfen.

Diese Fortschritte lassen sich, indem man einen Vorschlag des Amerikaners Maclaurin weiterdenkt \ ordnen nach dem Grade der Ungewissheit über das schliesslich entstehende Produkt. Diese Skala würde beginnen mit der Mehrung des Grundlagenwissens, bei der die dereinstigen Produkte noch völlig ungewiss, ja uninteressant erscheinen; in diese Phase fallen etwa die Arbeiten eines Newton,

1 W. R. Maclaurin, op. cit., p. 97 et s. Für die Umschreibung dieser Stufen durch den Bereich der Ungewissheit trägt Maclaurin allerdings keine Verantwortung. Vielmehr begnügt er sich mit ihrer intuitiven Charakterisierung.

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eines Einstein. Darauf folgt die Phase der angewandten Forschung, die bereits auf verwertbare Erfindungen abzielt, dann die der Konstruktionstechnik, in der die bekannten Grundelemente zu marktfähigen Produkten durchkonstruiert werden, viertens die der Produktionstechnik, in der die Verfahren der Massen­produktion und die Absatzorganisation ausgebaut werden - man denke an Ford —, und die fünfte Phase der Gebrauchstechnik schliesslich ist erreicht, wenn nur noch geringfügige Neuerungen vorgenommen werden, deren technisches Ergebnis mit grosser Gewissheit abzusehen ist, wie heute vielfach etwa beim Automobil, beim Radio, bei der Glühlampe x.

Von diesen Fortschritten beruht immer nur der kleinere Teil auf « absolut neuen» Einsichten, der grössere hingegen auf der neuen Aneignung und Ver­wertung von Wahrheiten, die anderswo schon bekannt, vielleicht schon alt waren, und Autoritäten behaupten ja sogar, dass z. B. in der Landwirtschaft die erstaun­lichsten Fortschritte möglich wären, wenn allein nur das Wissen des 19. Jahr­hunderts ausgeschöpft und allgemein verbreitet würde 2. In ihrer Gesamtheit aber bilden alle diese einzelnen Fortschritte eben jenen Strom, der seit zwei, drei Jahrhunderten die Wirtschaft so gewaltsam mit sich reisst.

Die Hauptfrage ist nun, ob sich eine solche Veränderung des Wissens quanti­fizieren lässt, ob sich also beweisen lässt, dass sich das Wissen vermehrt und nicht im Gegenteil vermindert, dass es sich hier schneller, dort langsamer ver­mehrt. Bei einem einzelnen Menschen, für ein einzelnes Produkt, das anfällt in einem einzelnen Zeitpunkt sollte eine solche Quantifizierung grundsätzlich, logisch möglich sein, denn die Verringerung oder Vergrösserung der Ungewiss­heit drückt sich dann einzig im engeren oder weiteren Spielraum einer Güter­menge aus, und die Breite eines solchen Spielraums lässt sich messen in Kilo­gramm, Meter oder Stück, je nach der Art des Produktes. Auch die Kombination solcher Masszahlen für mehrere Produkte und mehrere zukünftige Zeitpunkte würde wohl keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bieten für einen Ökonomen, für den das sogenannte Indexproblem durch lange Gewöhnung seine Schrecken verloren hat. Doch ist die logische Möglichkeit der Messung noch nicht gleich­bedeutend mit praktischer Möglichkeit, und die praktische Messung scheint rnir auf absehbare Zeit in der Tat ausgeschlossen, und sei es auch nur deshalb, weil wir über die Erwartungen und damit über die Produktionsfunktion eines Men­schen viel zu wenig Details erfahren können. Wenn wir aber schliesslich vom einzelnen Menschen zur Gesamtwirtschaft übergehen, treten neben diese prak­tischen auch logische Schwierigkeiten, denn auch der indexerprobteste Ökonom

1 Dass der zeitliche Ablauf diese Reihenfolge einhält, ergibt sich offenbar nicht aus der Richtigkeit einer Hypothese, die auch falsch sein könnte und anhand der Geschichte der Technik zu prüfen wäre, sondern aus definitorischer Anordnung. Gewiss soll nicht behauptet werden, die Erbauer gothischer Kathedralen hätten all jenes statische Grundlagenwissen schon be­sessen, das wir heute in ihren Werken ausgedrückt finden, sondern vielmehr wird dem Kathe­dralenbau jenes Grundlagenwissen zugeordnet, das seine Leiter bei der Planung tatsächlich besassen und dessen Erwerbung somit dem Bau zwangsläufig vorausgehen musste.

8 K. Brandt, Die Ernährungskapazität der Weltlandwirtschaft und das Gespenst der Über­völkerung. Unveröffentlichter Vortrag im Schweizerischen Institut für Auslandforschung. Zürich 1952.

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wird davor zurückschrecken, aus den technischen Fortschritten oder Rück­schritten einzelner Menschen einen Durchschnitt zu bilden. Damit aber wird es vollends unmöglich, zu beweisen, mit welcher Geschwindigkeit oder auch nur in welcher Richtung das technische Wissen in einer Volkswirtschaft sich ver­ändert, und unmöglich wird es gleichzeitig auch, die Wirkungen des technischen Fortschrittes auf Investitionen, Konjunktur, Zahlungsbilanz und dgl. mit ver­nünftiger Hoffnung auf brauchbare Ergebnisse zu untersuchen. Heisst dies zu­gleich, dass es unmöglich ist, über Schumpeter hinauszukommen, dass es un­möglich ist, die eingangs beschriebene Lücke in unserem ökonomischen Wissen je zu schliessen? Ich glaube nicht — nur müssen wir anstelle des ungreifbaren technischen Fortschritts selbst entweder eine seiner unmittelbaren Wirkungen oder eine seiner unmittelbaren Ursachen, die sich quantifizieren lassen, ins Bild einsetzen. Prüfen wir also die in Frage kommenden Grössen auf ihre Eignung.

III.

Unter den Wirkungen des technischen Fortschritts besteht die allgemeinste darin, dass neue, vorteilhaftere, ergiebigere Produktionsprozesse eingeschlagen werden, und diese Routenänderung wäre nun irgendwie zu messen. Zuerst fällt der Blick wohl auf die Erfindungspatente, ist doch fast jedes von ihnen das Signal irgendeines technischen Fortschritts. Er mag auch fallen auf die Gründung neuer Unternehmungen, gibt den Anstoss doch sehr häufig irgendein neues Verfahren, eine neue wirtschaftliche Kombination. Bei näherem Zusehen aber scheiden diese Maßstäbe, wenn sie auch näherer Untersuchung gewiss wert wären, aus, denn ein allzu grosser und allzusehr schwankender Teil der Fortschritte schlägt sich weder in Patenten noch in Neugründungen nieder K

Mehr verspricht schon der Vergleich sogenannter Produktivitäten. Im ein­fachsten Falle messen diese das Verhältnis zwischen der Menge eines Produktes und dem Aufwand irgendeines Produktionsmittels, z. B. der Arbeitskraft. Wenn eine solche Ziffer steigt, wenn also mit der gleichen Produktionsmittelmenge mehr produziert werden kann als bisher, so mag man darin den Ausdruck des technischen Fortschritts sehen. So konnten, um irgendein Beispiel herauszu­greifen, mit einer Arbeitsstunde im Jahre 1931 viereinhalbmal soviele Glüh­birnen hergestellt werden als noch 1920, und niemand wird bestreiten, dass darin technische Fortschritte zum Ausdruck kommen. Solche Indices mag man dann in einem zweiten Schritt kombinieren für eine Mehrzahl, ja Vielzahl von Pro­dukten und gelangt so schliesslich zu Indices für die Produktivitätsverände­rungen ganzer Industrien oder selbst Volkswirtschaften.

1 Bei den Patenten ist dies vor allem die Folge erstens der ungleichen Bedeutung paten­tierter Fortschritte, zweitens der Veränderungen der Gesetzgebung, drittens der wechselnden Neigung, patentfähige Fortschritte patentieren zu lassen (vgl. dazu S. C.Güfülan, The Prediction of Technical Change. Review of Economics and Statistics, vol. XXXIV, 1952, p. 368 et s.). Von den Unternehmungen hat zwar Schumpeter behauptet, dass fast jeder wesentliche Fortschritt eine Neugründung verlange (Business Cycles. Vol. I, p. 94 et s.). In welchem Masse dies vielleicht im 19. Jahrhundert zutraf, sei hier dahingestellt; gewiss aber ist es in der Gegenwart nicht die Regel.

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Nach einem solchen Verfahren hat z.B. der Engländer Rostas seine bekannte Schätzung aufgestellt, dass die durchschnittliche Produktivität der Arbeit in der englischen Industrie von 1924 bis 1937 um knapp 37 Prozent, in den Ver­einigten Staaten aber um 47 Prozent gestiegen sei x. Solche Ziffern laden nun schon mehr dazu ein, etwa mit Zahlungsbilanzveränderungen in Verbindung gebracht zu werden.

Doch ist es möglich, ja wahrscheinlich, dass sich gleichzeitig mit dem Ar­beitsaufwand jeweils auch der Einsatz anderer Produktionsmittel verändert, dass also eine einfache Produktivitätsziffer ein unvollständiges Bild ergibt. Da bleibt denn nichts anderes übrig, als in einem dritten Schritt für jedes einzelne Pro­duktionsmittel eine besondere Ziffer zu ermitteln und diese alle in einer geeigneten Indexformel gegeneinander abzuwägen. Einen solchen Versuch, der sowohl an die Theorie wie an die Statistik schon grosse Anforderungen stellt, hat für die Vereinigten Staaten neuerdings erstmals Leontief unternommen 2. Für die Arbeit allein ist sein Ergebnis dem von Rostas ermutigend ähnlich, doch zeigte sich gleichzeitig, dass die Ersparnis an Arbeit mit einem Mehreinsatz von Material erkauft worden war, so dass die Steigerung der Gesamtproduktivität nur etwa halb so gross war wie die der Arbeitsproduktivität allein. Diese Ersetzung von Arbeit durch Material ging allerdings während der Arbeitslosigkeit der dreissiger Jahre viel langsamer vor sich als in der Prosperitätsdekade vorher, und damit fand eine alte, fast klassische Vermutung der Theoretiker gleichsam nebenbei vielleicht zum erstenmal eine gesamtwirtschaftliche Bestätigung.

Doch sind auch mit Leontiefs Erweiterungen noch nicht alle Mängel der Pro-duktivitätsindices als Fortschrittsmesser behoben, und zwar bleiben leider gerade die schwersten bestehen. Es sind deren zwei. Erstens gibt nämlich die laufende Gesamtproduktion vom Stande des technischen Wissens ein genau so schiefes Bild wie etwa ein Panorama der Stadt Zürich vom heutigen Stande der Archi­tektur, denn so wie das Gesicht einer organisch gewachsenen Stadt durch Denk­mäler der verschiedensten vergangenen Epochen mitbestimmt wird, so zeigen sich auch im Strukturbild einer Volkswirtschaft die Ablagerungen mancher über­holten technischen Periode. Solche Durchschnittsproduktivitäten sind daher im besten Fall sehr träge, wenig empfindliche Indices des technischen Fortschritts. Zu diesem ersten Mangel kommt der zweite. Wenn man nämlich den technischen Fortschritt aufspaltet in zwei Komponenten, einerseits die sparsamere Her­stellung der altbekannten Produkte, andererseits die Umgestaltung der Produkte selbst, so zeigt sich, dass die Produktivitätsindices von diesen beiden Kompo­nenten nur die erste und damit nur die glanzlose, alltagsgraue Seite des tech­nischen Fortschrittes erfassen. Messen mag man mit ihrer Hilfe zwar vielleicht

1 L. Rostas, Comparative Productivity in British and American Industry. Cambridge 1948. p. 42 et s. Zu Ziffern ähnlichen, jedoch nur in Grenzfällen genau gleichen Charakters gelangt man auf einem anderen Wege, indem man die Veränderungen des gesamten Produktionsvolumens einer Volkswirtschaft mit den Veränderungen des gesamten Arbeitsaufwandes vergleicht. So verfuhr z. B. J. Burkhead, Living Standards and Productivity. Review of Economics and Sta­tistics, vol. XXXIII, 1951, p. 241 et s.

2 W. W. Leontief, Studies in the Structure of the American Economy. New York 1953. p. 22 ets.

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die Fortschritte in der Herstellung von Kienspänen im Laufe der letzten Jahr­hunderte, aber nicht den Fortschritt vom Kienspan zur Gasentladungslampe. Man kann sich angesichts dieser Schwierigkeit zwar an die Hoffnung klammern, der Fortschritt in der Herstellung neuer Produkte sei, jedenfalls bei geeigneter Definition der Produkte, immer etwa gleich gross, genauer : stehe zu Investitionen, Konjunkturlage und dgl. im gleichen Verhältnis wie der in der Herstellung der alten. Aber dies ist mehr eine Formel zur Beschwörung des Problems als zu seiner Lösung, und ein Blick in die Wirtschafts- und Konjunkturgeschichte scheint zu zeigen, dass die starken Impulse, die eigentlichen Explosionen, nicht von blossen Kostenersparnissen, sondern zugleich von neuen Produkten aus­gingen. Ganz besonders aber ist die Schweiz das klassische Beispiel eines Landes, dessen Wohlstand, etwas überspitzt ausgedrückt, nicht auf der Billigkeit alter, sondern auf der Neuheit teurer Produkte beruht, und die Entwicklung der schweizerischen Zahlungsbilanz liesse sich kaum erklären unter der Fiktion, die Produkte von 1850 seien immer billiger hergestellt worden. Wir kommen somit nicht darum herum, einen Maßstab zu suchen, mit dem auch Produktvariationen bis herab zur Kalenderuhr und zum Entwurf für neuartige Seidentücher als Wir­kungen des technischen Fortschrittes erfasst werden können. Ein solches Ver­fahren aber gibt es bis heute nicht, und so findet sich denn unter den unmittel­baren Wirkungen des technischen Fortschrittes kein erfolgversprechender Index für diesen selbst.

IV.

So verbleibt uns nur noch die Suche bei den unmittelbaren Ursachen des technischen Fortschritts. Und in der Tat steht eine unter ihnen dem ungreifbaren Fortschritt selbst so nahe, ist, verglichen mit anderen Kräften, so leicht quanti­fizierbar und ladet zur Verknüpfung mit fernerliegenden Ursachen einerseits, Wirkungen andererseits derart offensichtlich ein, dass sie unsere Anforderungen zu erfüllen verspricht — nämlich die Kosten, die für technische Fortschritte auf­gewendet werden.

Was gehört alles dazu ? Vor allem natürlich der Zeitaufwand all derer, die selbst lernen, die an der Mehrung ihres Wissens arbeiten, angefangen mit dem Schüler, Lehrling und Studenten über den Arbeiter, den Angestellten und Unter­nehmer, die sich mit neuen Verfahren vertraut machen und neue Wege suchen, bis zum Gelehrten. Dazu kommt der Zeitaufwand der Lehrer aller Spielarten und ausserdem schliesslich der Aufwand für die sachlichen Hilfsmittel des Ler­nens, für Schulhäuser, Versuchsanlagen, Modelle, Apparate, für einen guten Teil der Bücher und des Nachrichtenverkehrs überhaupt und schliesslich für alle jene verfehlten Unternehmungen, deren einziger Ertrag die gewonnene Erfahrung ist.

Von diesen Lern- oder Fortschrittskosten wurde soeben gesagt, sie stünden in einem besonders engen Verhältnis zum Fortschritt selbst. Dies ist offensicht­lich falsch, soweit neue Einsichten, Erfindungen und Entdeckungen spontane Geschenke des Zufalls oder des Himmels sind, denn weder der Zufall noch der Himmel lässt sich durch Kostenaufwendungen zwingen. Doch ist man sich heute, wie nicht zuletzt der Nationalfonds zeigt, so ziemlich einig, dass nur ein kleiner

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Teil aller technischen Fortschritte in diesem Sinne spontan ist, der weitaus grösste Teil aber die Frucht systematischer Bemühungen. Gewiss, Genie ist nicht Fleiss, aber ein technischer Fortschritt ist ja meistens — und hier hatte Schum­peter unrecht x — gar nicht eine geniale Ausnahmetat, sondern eine Frucht unserer Alltagsarbeit, und hier entscheidet zum guten Teil der systematische Aufwand an Fleiss, Zeit und Mitteln.

Damit sei nicht gesagt, er entscheide allein: Unterschiede der Begabung, in der Organisation der Forschung, im sozialen und geistigen Klima, in der Be­reitschaft, Fortschritte zu akzeptieren, in der Wahl der Arbeitsgebiete werden zur Folge haben, dass gleicher Aufwand ungleichen Fortschritt zeitigt. Ins­besondere scheint der Fortschritt in den Endphasen, auf den Stufen der Kon-struktions-, der Produktions- und der Gebrauchstechnik sozusagen «billiger» zu sein als der auf den grundlegenden Stufen, und Volkswirtschaften, die einen Rückstand ihres technischen Wissens aufholen wollten — man denke an die Ver­einigten Staaten, an Japan oder Russland, ja selbst die Schweiz - haben damit denn auch regelmässig auf den letzten Stufen begonnen. Noch viel weniger wird behauptet, das technische Wissen wachse im gleichen Masse wie der Lernauf­wand, denn infolge des Generationenwechsels wird der grösste Teil des Auf­wandes zur blossen Erhaltung des bestehenden Wissens beansprucht, und wir müssen auch hier, wie Alice im Wunderland, rennen und rennen, um nur am gleichen Orte zu bleiben. Behauptet wird nur, dass uns, wenn wir mit den Fort­schrittsaufwendungen arbeiten, viele jener Einsichten zufallen werden, die uns sonst die Untersuchung des technischen Fortschritts selbst, wenn er messbar wäre, ver­sprechen würde.

Von jenen Fortschrittsaufwendungen wurde zweitens behauptet, sie seien -verhältnismässig - leicht quantifizierbar. Und in der Tat stellt ihre Bewertung in Franken logisch kaum schwierigere Probleme als etwa die des Volkseinkom­mens und eher geringere als die des Volks Vermögens. Praktisch haben wir aller­dings von Grund auf zu beginnen mit der Zergliederung einzelner Volksein­kommensposten, mit der Analyse der Rechnungen öffentlicher Körperschaften und der Bücher und Berichte von Stiftungen und privaten Unternehmungen. Aber das kann alles getan werden, wenn auch nur Schritt für Schritt 2.

1 «Die Erfindungen stellen sich ein, wenn der Unternehmer sie braucht, und steht nicht die Persönlichkeit des Unternehmers schon an ihrem Platze, um von jeder neuen Erfindung Gebrauch zu machen, so werden die Erfindungen niemals praktisch.» «Es besteht kein auto­matischer Fortschritt oder er besteht nur in einem ganz unbedeutenden Masse» (J.Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Leipzig 1912. p. 479 et s.). Zwar hätte also Schumpeter systematische Fortschritte des reinen Wissens wahrscheinlich zugegeben, aber er konnte nicht zugeben, dass dieses Wissen ohne die sozusagen «parallelen» spontanen Einfälle seiner Aus­nahmemenschen, der Unternehmer, wirtschaftliche Bedeutung erhalten konnten. Und darauf kommt es an.

2 In der Tat läuft der hier vorgebrachte Vorschlag darauf hinaus, die «Investitionen in menschlichem Wissen» seien ähnlich zu erfassen und zu messen, wie andere Investitionen in der nationalen Buchhaltung schon lange erfasst und gemessen werden, nämlich einzusetzen zu den Kosten mit Berichtigungen für die jährliche Verminderung durch Tod, «Vergessen» und Ver­alten und für Preisschwankungen. Das Hauptproblem besteht natürlich darin, dass über diese

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Drittens schliesslich wurde gesagt, dass die Lernkosten einladen zur Ver­knüpfung mit den ferneren Ursachen des technischen Fortschritts einerseits, seinen Wirkungen andererseits. Um dies zu belegen, greife ich aus den Wir­kungen wie aus den Ursachen je ein Beispiel heraus. Bei den Wirkungen wähle ich die Investitionen. Wirtschaftsgeschichte und Einzeluntersuchungen x zeigen, dass einem sehr grossen Teil der industriellen Investitionen gewisse «Investi­tionen in technischem Wissen», also Aufwendungen für technische Fortschritte, vorauszugehen pflegen. So hat, um ein Beispiel zu nennen, allein die Radio Corporation of America für blosses technisches Wissen über das Fernsehen rund 25 Millionen Franken aufgewendet, bevor sie überhaupt an grössere Investitionen für Produktionsanlagen, für Sachgüter gehen konnte 2. Über diese historische Feststellung hinaus drängt sich in vielen Fällen der Schluss auf - wenn er auch oft nicht zwingend bewiesen werden kann - , dass die betreffenden Investitionen unterblieben wären, wenn der technische Fortschritt sich nicht eingestellt hätte. Geradezu unter Lab Oratoriumsbedingungen dürfte sich diese «Zündung der In­vestitionen durch den Funken des technischen Fortschritts» etwa in den Gross­unternehmungen der chemischen Industrie beobachten lassen. So scheinen für einen wesentlichen Teil der Investitionen die Aufwendungen für technische Fort­schritte eine notwendige Bedingung und damit ein hervorragender Bestimmungs­grund zu sein. Damit wirken sie mittelbar auch auf die Konjunkturschwan­kungen und auf das Wachstum der Volkswirtschaft überhaupt.

Allerdings sind Fortschrittsaufwendungen keineswegs auch schon eine hin­reichende Bedingung der Investitionen. Es kann vielmehr leicht geschehen, dass die Zündung ausbleibt. Im besonderen ist die Verzögerungsspanne, der «time lag», zwischen technischen Fortschritten und industrieller Auswertung und zwischen den verschiedenen Stufen des technischen Fortschritts von sehr unter­schiedlicher Länge. So mag man z.B. in weltgeschichtlicher Perspektive die ganze «Industrielle Revolution» im Zeichen einer sich überstürzenden Verkür­zung dieser Spanne sehen: während zu ihrem Beginn ein grosses Reservoir noch ungenützten Grundlagenwissens zur Verfügung stand, dessen Ansammlung bis ins Altertum zurückreicht, scheint dieses Reservoir heute weitgehend ausge­schöpft, und Fortschritte auf den höheren Stufen sind nur noch Hand in Hand mit solchen auf den grundlegenden Stufen möglich. Neben solchen säkularen Problemen wirft die Veränderlichkeit jener Verzögerungsspanne ein wichtiges kurzfristiges Problem auf. Die Konjunkturgeschichte legt nämlich den Schluss

Investitionen in der Regel nicht Buch geführt wird, dass sie nicht «aktiviert» werden, so dass alle Schätzungen von Grund auf heginnen müssen. Die nächsten Aufgaben sind denn auch durchaus die Erarbeitung der theoretischen Grundlagen und Detailuntersuchungen.

1 Vgl. besonders die folgenden Arbeiten: W. R.Maclaurin und R.J.Harman, Invention and Innovation in the Radio Industry. New York, London 1949; W. R. Maclaurin, The Process of Technological Innovation: The Launching of a New Scientific Industry. American Economic Review, vol. XL, 1950, p. 90 e t s . ; W.R. Maclaurin, Patents and Technical Progress - A Study of Television. Journal of Political Economy, vol. LVIII, 1950, p. 142 et s.; A.A.Bright, The Electric-Lamp Industry - Technological Change and Economic Development from 1800 to 1947. New York, London 1949.

1 W.R.Maclaurin, Patents and Technical Progress, p. 147.

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nahe, dass im 19. Jahrhundert die Aufschwünge der mittellangen Welle typischer­weise von einer Verkürzung, die Niedergänge von einer Verlängerung dieses «lag» begleitet waren. Diese Beobachtung veranlasste ja Schumpeter zu seiner bekann­ten Hypothese, die Aufschwünge würden durch das scharenweise Auftreten von Neuerungen ausgelöst, während er in den Niedergängen Anpassungspausen sah. Heute hingegen erhält man den Eindruck, dass die Einführung von Neuerungen in zunehmendem Masse zur Milderung eines allfälligen Niederganges aufgespart würden, wodurch der frühere Rhythmus in sein Gegenteil verkehrt wird. Zu­sammengenommen scheinen diese Beobachtungen zu zeigen, dass zwar die Auf­hellung dieses komplizierten Zündungsmechanismus noch weiterer Unter­suchungen bedarf, dass aber die Fortschrittsaufwendungen immerhin einen we­sentlichen Beitrag zur Erklärung der Investitionen zu leisten versprechen.

Auf der anderen Seite, der Seite der fernerliegenden Ursachen, sei als Bei­spiel die Intensität des Wettbewerbs gewählt. Auch diese ist zunächst zu quanti­fizieren, und wir mögen sie etwa messen an der Geschwindigkeit, mit der die Vorsprungsgewinne, die der technische Fortschritt den Unternehmern einbringt, von der Konkurrenz wieder weggefressen werden: ist die Konkurrenz sehr scharf, so sind diese Vorsprungsgewinne verschwunden, fast ehe sie entstanden sind, wo sie aber fehlt, kann der Unternehmer auf dem Kissen seiner früheren Fort­schritte ewig ruhen. Welcher Grad der Konkurrenz, so mögen wir uns fragen, veranlasst den Unternehmer zu den grössten Bemühungen um technische Fort­schritte, um neue Ideen? Gewiss nicht die besonders schwache Konkurrenz, denn ein sicheres Ruhekissen spornt nicht eben zu grosser Leistung an; gewiss aber auch nicht eine besonders scharfe, denn wozu soll man sich um Fortschritte bemühen, wenn sie doch nichts einbringen ? (Für beide Extreme liefert wohl die Landwirtschaft eindrückliche Beispiele.) Das Optimum liegt, wie man bei der Patentgesetzgebung längst eingesehen hat, vielmehr in der Mitte - wo genau, wäre von Fall zu Fall zu bestimmen. Die Intensität des Wettbewerbs aber kann durch die staatliche Wirtschaftspolitik — man denke nur etwa an Zölle und Kartellgesetzgebung - in weitem Masse beeinflusst werden, und so führt denn eine geschlossene Kausalkette von der staatlichen Wettbewerbspolitik über die Intensität des Wettbewerbs und die Aufwendungen für den technischen Fort­schritt bis zu den Investitionen und damit zum Wachstum der Volkswirtschaft. Erweist sich diese Kette als haltbar, so wird die Lücke unseres Wissens — und damit kehrt der Gedankengang zum eingangs gestellten Problem zurück — zu einem guten Teil geschlossen, das ökonomische Rätsel des technischen Fort­schritts teilweise jedenfalls gelöst sein.